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An Bord der "Gorch Fock": Einmal um die halbe Welt

Foto: dpa/Wulf Pfeiffer

Dienst auf der "Gorch Fock" Segeln, bügeln, kotzen

Freiwillig auf die Galeere: Generationen von Marinesoldaten lernten auf der "Gorch Fock" das Seemannshandwerk - die einen lieben das Segelschulschiff bis heute, die anderen hassen es. SPIEGEL-ONLINE-Redakteur Hasnain Kazim erinnert sich an seine eigenen Bordabenteuer.

Es war im September 1994, als wir in Kiel als junge Offiziersanwärter zum ersten Mal das weiße Segelschulschiff betraten, jenen Kahn, der uns jahrelang auf dem Zehn-Mark-Schein begleitet hatte und mit dem die deutsche Marine bei jeder Gelegenheit wirbt: ein weißes Schiff mit weißen Segeln, lächelnde Marinesoldaten in strahlend weißen Uniformen, auch wenn die Realität bei der Marine eher grau ist. Der Wehrdienstberater hatte mich im letzten Moment mit seinen Erzählungen über das Schiff überzeugt, doch nicht zum Heer zu gehen, zu diesen olivgrünen Langweilern in ihren Erdlöchern.

"Das ist eine einmalige Gelegenheit! Nie wieder werden Sie sonst die Chance haben, Besatzungsmitglied eines solch großartigen Schiffes zu sein", pries der Marinemann in der Beratungsstelle. Der Heeresmensch mit seinen alten Panzern und der Luftwaffentyp in seiner Schaffneruniform, die ich danach besuchte, hatten längst verloren. Zum Abschied hatte mir der Marineberater noch mit auf den Weg gegeben: "Sehen Sie die militärische Grundausbildung nur als kleine Hürde auf dem Weg zur 'Gorch Fock'. Wenn Sie die genommen haben, bereisen Sie die Welt!"

Alles klar, gekauft.

"In was sind wir da bloß geraten?"

Ich wühlte also zwei Monate lang im Dreck, putzte jeden Tag meine schwarzen Stiefel, lernte bei 30-Kilometer-Märschen, wie langweilig die Gegend um Flensburg herum ist, und ließ mir zeigen, wie man militärisch korrekt grüßt ("Kazim, wir klacken seit Mitte der Vierziger nicht mehr mit den Hacken!").

Und dann, am Lagerfeuer, sagte uns einer dieser üblicherweise nur herumschreienden Ausbilder: "Männer, bald kommt ihr auf die 'Gorch Fock'. Wenn ihr glaubt, dass wir euch hier fertigmachen, dann macht euch schon mal darauf gefasst, was euch da blüht. Da ficken sie euch richtig."

Beim Wehrdienstberater hatte das noch ganz anders geklungen.

"In was sind wir da bloß geraten?", sagte ein Kamerad - so nannte man sich unter Kollegen -, als er seinen Seesack in den olivgrünen Bus hievte, der uns nach Kiel zum Schiff bringen sollte. "Ich mach drei Kreuze, wenn die kommenden zwei Monate vorbei sind!" Uns stand eine halbe Weltreise mit der "Gorch Fock" bevor: von Kiel über Flensburg nach Funchal, Madeira, weiter in die senegalesische Hauptstadt Dakar und schließlich nach Lanzarote. Von dort sollten wir von einem Luftwaffen-Airbus abgeholt werden.

In der Bundeswehr geht nichts ohne Organisation

Wir gingen sehr ehrfürchtig an Bord. Seit Tagen spukten Horrorszenarien durch unsere Köpfe, von brüllenden Unteroffizieren, Tagen ohne eine Minute Schlaf, übelsten Stürmen. Kein Mensch sprach mehr von der "Gorch Fock" - sie hieß nur noch "die Galeere", "Sklavenschiff", "schwimmende Folterkammer", "Scheißkahn".

Und dann begrüßte uns ein kleiner dicker Mann. Ein Unteroffizier in klassischer Marine-Tropfenform: gute Verpflegung, viele feuchtfröhliche Abende und wenig Bewegung hatten ihre Spuren hinterlassen. Man sah sofort, dass er nicht häufig in den Masten herumkletterte. Aber das war auch nicht seine Aufgabe als Decksmeister, sein Job war, uns herumzukommandieren. Und das tat er leidenschaftlich gern. Später erfuhren wir, dass er zwar etwas kauzig, in Wahrheit aber die gute Seele an Bord war.

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An Bord der "Gorch Fock": Einmal um die halbe Welt

Foto: dpa/Wulf Pfeiffer

Es ging gleich so los, wie wir erwartet hatten: Wir wurden angeschrien, rein vorbeugend, weil wir in den kommenden acht Wochen sowieso eine Menge Fehler machen würden und von nichts eine Ahnung hätten. "Männer, Sie werden hier die Grenzen Ihrer Leistungsfähigkeit kennenlernen!", wurde uns mehrfach gesagt. Danach wurden wir in sogenannte Korporalschaften und Wachhälften eingeteilt - in der Bundeswehr geht nichts über Organisation.

Spüldienst und Kartoffelschälen

Ein Offizier führte uns gruppenweise über und durch das Schiff, zeigte uns die Kombüse, in der wir regelmäßig Spüldienst haben würden, und die Wasch- und Duschräume, in denen wir auch Kartoffeln schälen müssten. "Sie können froh sein, dass es jetzt fließend Wasser gibt. Ihre Vorgänger mussten sich noch bei jedem Wetter an Oberdeck mit freiem Oberkörper aus Schüsseln waschen." Er musterte uns aufmerksam, um zu sehen, wie wir bisher auf die neuen Eindrücke reagierten. Er blickte in teils erfreute, überwiegend aber bleiche Gesichter. Dann zählte er auf, was auf uns zukommen würde: praktische Ausbildung während der Seefahrt, Arbeit an Oberdeck und in den Segeln sowie theoretischer Unterricht. In Navigation, Wetterkunde, und was man sonst noch so braucht, um ein ordentlicher Marinesoldat zu werden. Denn dazu sei die "Gorch Fock" da: uns zu Marineoffizieren zu machen, die die Grundlagen der Seefahrt verstehen. Und wo, wenn nicht auf einem Segelschiff, könnte man die besser lernen?

Schließlich drückten uns ein paar Unteroffiziere, unsere neuen Ausbilder, mannsgroße rote Würste in die Arme: unsere zusammengerollten Hängematten. "Männer, in früheren Zeiten dienten die als Rettungsringe! Wenn sie nicht ordentlich zusammengebunden waren, sogen sie sich mit Wasser voll, und das war's dann mit der Rettung. Sehen Sie also zu, dass Sie Ihre Hängematten morgens vernünftig zusammenrollen und schnüren. Anschließend tragen Sie sie zur Musterung an Oberdeck."

Der Decksmeister teilte die berüchtigte "Flunder" aus: einen Zettel, auf dem ein Decksaufriss zu sehen war. An den Rändern waren eine Menge Punkte eingezeichnet, die die Seile markierten, die in der Marine aber unter gar keinen Umständen Seile heißen, sondern Tampen. Da jeder Tampen also eine bestimmte Funktion für ein ganz bestimmtes der 23 Segel habe, bläute uns der Decksmeister ein, sei es wichtig, jeden ganz genau zu kennen, damit man nicht aus Versehen ein falsches Segel losmache und in See unter Umständen die Sicherheit des Schiffes gefährde. "Das wäre so, als würde man im Auto Bremse und Kupplung verwechseln", sagte er.

Das leuchtete uns ein.

Monströse Penisse mit blumenkohlartigen Geschwüren

Und so prügelten wir ab sofort in jeder freien Sekunde die Namen dieser hundert Tampen in unsere Köpfe, so Merkwürdiges wie: Großstengestagsegelniederholer, Besanstagsegelpreventerschot, Unterer Einholer Oberer Besan und Focknockgording. Während der gesamten Reise sollten wir immer wieder vom Decksmeister oder einem der Offiziere befragt werden, wo beispielsweise das Vorobermarsfall ist - und Gnade dem, der nicht sofort hinrennen und auf das entsprechende Seil zeigen konnte. Für den war eine der wenigen Pausen gestrichen, stattdessen war dann Lernen angesagt.

Der Bordarzt führte uns Diabilder von Geschlechtskrankheiten vor: monströse Penisse mit blumenkohlartigen Geschwüren. Was um Himmels willen sollte das? "Nur als Warnung, damit Sie es in den Auslandshäfen nicht zu bunt treiben", sagte er. Wir, alle frisch vom Gymnasium, kicherten.

Beinahe wäre die Reise mit der "Gorch Fock" kurz vor dem geplanten Abreisetermin ins Wasser gefallen - wir hatten eine Krankheit an Bord. Fast alle der rund 200 Besatzungsmitglieder hockten einen Großteil ihrer Zeit auf dem Klo beziehungsweise hingen über der Schüssel. Vor den besetzten Toiletten gab es dramatische Szenen. Ich war einer der wenigen, der sich keine Salmonellenvergiftung eingefangen hatte. "Kann schon mal vorkommen, wenn das Geschirr nicht richtig sauber ist", sagte uns ein erfahrener Unteroffizier und verwies auf die zerbeulten Metalltabletts mit Mulden, in denen wir unser Essen bekamen - das gleiche Essen, das die Offiziere von Porzellantellern zu sich nahmen.

Wir durften das Schiff nicht verlassen, aber um Aufsehen zu vermeiden, entschied der Kommandant, keine Quarantäne-Flagge zu hissen. Wir wurden eindringlich ermahnt, bloß kein Wort an die Öffentlichkeit dringen zu lassen. Nach ein paar Tagen war der Spuk vorbei. Wir legten planmäßig in Kiel ab, mit Rumtata-Musik und Verwandten, die mit Taschentüchern winkten. So manche Mutter hatte Tränen in den Augen.

Ungesichert in 45 Metern Höhe

Um es gleich zu verraten: Ja, jeder Lehrgangsteilnehmer musste in die Masten, bis ganz nach oben. Der mittlere, Großtopp genannt, ist mit 45,5 Metern der höchste. Und nein, es gab keine Absicherung, jedenfalls nicht während des Hoch- und Runterkletterns, was man aber auch nicht so nennen durfte, sondern Auf- und Abentern. Erst wenn man oben angekommen war, durfte man sich mit einem Karabinerhaken festmachen. "Männer, Ihre beste Lebensversicherung ist Ihr Überlebenswille", sagte uns der dicke Decksmeister, der von oben aussah wie ein kläffender Mops. Tödliche Unfälle hat es im Laufe der vergangenen fünf Jahrzehnte trotzdem einige gegeben.

Nach der Segelvorausbildung durfte sich jeder eine feste Arbeitsposition in den Masten wünschen. Die besonders Ehrgeizigen wollten nach ganz oben. Ich suchte mir lieber einen Posten ganz vorne an Deck - da konnte man sich gelegentlich unbeobachtet in das Netz direkt über der Galionsfigur, einem goldenen Vogel, legen und ein paar Minuten das Rauschen der Wellen genießen.

In der wenigen Freizeit kletterte ich gerne in die Takelage, um ein paar Minuten Stille zu haben. Auf der "Gorch Fock" ist man niemals allein, nicht auf dem Klo, wo immer jemand klopft und zur Eile ruft, nicht im Schlafraum, wo zig Leute in zwei Etagen in den Hängematten schlafen, die abends gespannt und morgens wieder abgenommen werden. Wir waren froh, wenn wir vier Stunden Schlaf am Stück bekamen. Ansonsten war immer Dienst angesagt.

Zu tun gab es ständig etwas. Jeden Tag putzten wir das Schiff. Morgens, mittags, abends, permanent. Wir schrubbten das Holzdeck, polierten Messing, wischten und wuschen. Als jemand den Decksmeister fragte, wieso man eigentlich auch dann putzen müsse, wenn das Schiff doch sauber ist, sagte der: "Hör mal, Junge, wenn du nicht putzt, gammelt dir der Kahn unterm Arsch weg. Also hör auf zu fragen und schrubb!"

"Wollen Sie Deutschland Schande bereiten?"

Wir verstanden. Und lernten: Soldaten müssen besessen sein von Ordnung und Sauberkeit. Der Schmutz war unser größter Feind. Der Kampf hieß "Rein Schiff machen".

Und so segelten wir mit unserer blitzblanken "Gorch Fock" nach Madeira, wo wir in schwarz-weißer Uniform und mit Matrosenmützen an Land gingen. Ich lernte, dass man sich vor dem Verlassen des Schiffes militärisch korrekt beim wachhabenden Unteroffizier abmelden musste. Das tat ich. Der Unteroffizier, ein Obermaat, musterte mich kritisch.

"Matrose Kazim, haben Sie Ihre Hose als Kopfkissen benutzt?"

Ich blickte an meiner Uniformhose herunter. Die Bügelfalte war so scharf wie eine Rasierklinge. Wo lag sein Problem?

"Gehen Sie unter Deck, und bügeln Sie Ihre Hose ordentlich!"

Ich verschwand, verwundert über diese Szene, in den Schlafraum, kramte ein Reisebügeleisen aus meinem umzugskartongroßen Metallspind, zog die Hose aus und fuhr ein paar Mal darüber. Dann rannte ich wieder an Oberdeck.

"Das soll eine Bügelfalte sein? Gehen Sie mir aus den Augen, und kommen Sie erst wieder, wenn Sie vernünftig angezogen sind!"

Jetzt war ich wütend. Ich bügelte die gebügelte Hose noch einmal.

"Matrose Kazim, wollen Sie Deutschland Schande bereiten? Oder warum kommen Sie schon wieder mit so einer knittrigen Hose zu mir?"

Genervt machte ich kehrt, ab unter Deck, aber diesmal bügelte ich nicht, sondern ließ einfach ein paar Minuten vergehen, bevor ich wieder nach oben ging.

"Na also, warum nicht gleich so? Schönen Landgang! Und benehmen Sie sich!"

Die Skyline von Dakar am Horizont

Es waren vier wunderbare Tage. Wir konnten so lange wegbleiben, wie wir wollten, nur morgens um sieben Uhr mussten wir uns an Bord melden - zum Putzen. Einmal in vier Tagen musste jeder Wache gehen, also in Uniform vor dem Schiff oder an Oberdeck postieren und dabei freundlich lächeln. In Gruppen erkundeten wir ansonsten die Insel, besuchten Restaurants in Madeira, wurden oft von deutschen Touristen angesprochen, manchmal sogar eingeladen. Dafür ertrugen wir ihre verträumten Blicke und ihre übertriebene Begeisterung: "Muss das schön sein, auf so einem Schiff!" Hatten die eine Ahnung!

Wir segelten weiter, sieben Tage am Stück, bis nach Westafrika. Bei aller Anstrengung genoss ich die Arbeit, den Blick aufs Meer, die nächtlichen Wachen, als es mitten im Atlantik nach frischen Brötchen roch, weil in der Kombüse gebacken wurde. Lange bevor die Skyline von Dakar am Horizont auftauchte, kamen uns Händler in Booten entgegen. Sie hatten Obst und Gemüse, frischgefangenen Fisch, afrikanische Kleidung und allerlei Nippes dabei. Wir winkten ihnen, und sie winkten fröhlich zurück.

In Dakar selbst fielen Horden von Händlern über uns her und ließen sich nur mühsam abwimmeln. Der Kommandant erließ uns daraufhin die Pflicht, nur in Uniform an Land gehen zu dürfen. Jetzt fielen wir zwar nicht mehr sofort als Marineleute auf, aber wir zogen immer noch eine Menge Menschen an, die uns bei der Stadtbesichtigung verfolgten. Viel einkaufen konnten wir sowieso nicht, unsere Spinde reichten ja kaum für das Notwendige aus.

Wenig Schlaf, viele einzigartige Momente

Das alles ist 14 Jahre her. Ich denke gerne an die Zeit an Bord zurück, daran, wie sich das Schiff durch die Biskaya kämpfte und der Kommandant die ganze Zeit selbst an Oberdeck stand und die Kommandos gab. Wie uns Delfine ab Nordafrika über Stunden begleiteten, wie Wale neugierig herankamen, und Schwärme von Fliegenden Fischen ganz nah ihre Bahnen zogen, manche dabei sogar auf unserem Deck landeten. Dieses Gefühl, dass allein der Wind dieses große Schiff bewegt, kräftig, aber leise, war großartig. Es gab, trotz Schwielen an den Händen vom vielen Ziehen an den Tampen, trotz permanenter Arbeit und wenig Schlaf, viele einzigartige Momente an Bord.

Am Ende der Reise, in Lanzarote, sagte der Kamerad, der zwei Monate zuvor voller Furcht an Bord gegangen war: "Wenn mir dieses Schiff jemals vors Zielrohr kommt, dann drücke ich ab! Ich versenke dieses Scheißding, wenn mich niemand davon abhält!" Er gehört bis heute zu denen, die die "Gorch Fock" hassen. Ich zähle mich eher zur anderen Hälfte. Das Negative verblasst bei mir schnell.

Manche ließen sich zum Abschied mit der Stammbesatzung fotografieren. Einige von ihnen sind, Jahre später, als Offizier an Bord zurückgekehrt.