Okay, Mein Kalifat als Buchtitel ist natürlich eine Provokation. Weil ein Kalifat, so wie es zuletzt durch die Terrororganisation "Islamischer Staat" ins Bewusstsein vieler Menschen gerückt ist, etwas Furchtbares, Grausames, Schlimmes ist. Und dann erinnert der Titel an ein anderes Buch, gemessen an der gedruckten und verbreiteten Auflage immerhin eines der erfolgreichsten in der deutschen Geschichte. 

Aber Kalifat ist ja nicht gleich Kalifat, so wie alles Religiöse nicht in Stein gemeißelt ist, auch wenn Fundamentalisten keine Freunde von Interpretationen religiöser Vorgaben sind. "Mein Kalifat" ist eben nicht deren Kalifat, sondern das Gegenteil. Ich bin von jeher ein Freund von Freiheits- und Menschenrechten, von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Religionen haben diese Dinge oft mit Füßen getreten. 

Ich habe viele Jahre in islamischen Ländern gelebt, bis heute schreibe ich über Entwicklungen dort. Und ja, es gibt ein Problem der Islamisierung: In allen möglichen islamisch geprägten Ländern treten Islamisten auf die Bühne, drangsalieren und knebeln die Gesellschaft und missbrauchen Religion als Machtinstrument. In Afghanistan erleben wir ganz aktuell, wie religiöse Extremisten einen ganzen Staat übernehmen. In Pakistan findet seit Anfang der Siebzigerjahre eine mal schleichende, mal sprunghafte Islamisierung statt. In Bangladesch hat sie in den zurückliegenden zehn Jahren dramatisch zugenommen. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan betreibt einen religiösen Nationalismus, eine ausgrenzende Identitätspolitik. Und die Geschichte der Muslimbrüder ist eine Geschichte der Islamisierung weit über Ländergrenzen hinweg. 

Also ja, noch einmal: Es gibt ein Problem mit Islamisierung. Aber ganz gewiss nicht in Sachsen. 

Gegen Islamisierung, Radikalisierung, ein Erstarken der Extremisten müssen wir politisch vorgehen, wir müssen vor allem diejenigen, die von der Gewalt betroffen sind, und diejenigen, die etwas von Islam verstehen, stärken, nämlich weltoffene Muslime. Indem man aber mit selbst gebastelten Galgen durch die Dresdner Innenstadt marschiert und Flüchtlingen pauschal "Absaufen! Absaufen!" entgegenbrüllt, erreicht man nichts gegen Islamisierung, sondern stößt auch noch jene vor den Kopf, die unter religiösem Extremismus zu leiden haben. Die Proteste von AfD und Pegida gegen die "Islamisierung des Abendlandes" bewirken nichts, außer dass man sich "die Muslime" und "die Flüchtlinge" als Feindbild erschafft, also genau jene, die vor Islamisten und Extremisten und deren Gewalt geflüchtet sind. 

Als Kind fürchtete ich mich vor einem vermeintlichen Monster, das im Flur unseres Zuhauses in einer Holztruhe lebte. Als ich mit vielleicht sieben oder acht Jahren begriff, dass es dieses Monster überhaupt nicht gab, ärgerte ich mich darüber, wie sehr ich unnötig Angst gehabt hatte.  

Ich hatte häufiger Auseinandersetzungen mit Pegida-Demonstranten, und auch sie, das war meine Überzeugung, hatten Angst vor einem Phantom. Werden sie je herausfinden, dass sie gegen ein Phantom protestieren? Dass es "Überfremdung", "Islamisierung des Abendlandes", "Meinungsdiktatur" und "Bevölkerungsaustausch" so, in dieser Form, wie sie es sich ausmalen, gar nicht gibt? Was, wenn sie nie von selbst darauf kommen? Also dachte ich mir: Vielleicht sollte ich diesen Menschen einfach bieten, wovor sie Angst haben und wogegen sie demonstrieren. Ich gebe ihnen Islamisierung! Ich werde Kalif von Deutschland und rufe in Dresden, vor der Semperoper, das Kalifat aus! Dann haben sie wenigstens einen Grund für ihre "Spaziergänge", wie sie es nennen. Und merken vielleicht, wie irrational ihr Verhalten ist. 

Aus diesem Witz, den ich 2015 in den sozialen Medien machte, wurde ein Running Gag: Mir schrieben Frauen – und auch Männer –, ob sie Mitglied meines Harems werden dürften. Andere wollten Wesir werden, wieder andere fragten, wo sie schnell und formlos konvertieren könnten. Bei Lesungen huldigten mir plötzlich Leserinnen und Leser, nannten mich einen "weisen Kalifen" und fragten sehnsüchtig, wann denn nun endlich das Kalifat ausgerufen werde. Und immer wieder wurde in Diskussionen und Schlagabtäuschen ausgelotet, wie weit Kritik gehen muss, wo Grenzen liegen, wie viel – oder wie wenig – Respekt Religion verdient und worüber wir reden müssen und worüber nicht. 

Zum Beispiel gibt es auch in Deutschland Muslime, die ziemlich überkommene Vorstellungen von Familie und Gesellschaft, von Frauen und Partnerschaft haben. Menschen, die Nichtmuslime für "Ungläubige" halten, mit denen man besser keinen Kontakt haben und schon gar nicht irgendwelche Bindungen eingehen sollte. Und dann wieder gibt es Menschen, die Kritik daran für rechtsextrem und gefährlich halten – was dann stimmt, wenn man pauschal diffamiert, anstatt differenziert zu kritisieren. Letzteres ist dringend nötig, das wurde in vielen Gesprächen deutlich, die aus dem Kalifatswitz resultierten. Denn um ein Problem zu lösen, muss man es erst einmal identifizieren und benennen.