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Gastkommentar

Die moralische Klimaerwärmung

In der Rassismus-Debatte sucht uns wieder einmal eine moralische Epidemie heim. Sie unterminiert das Vertrauen in die bisher freieste Gesellschaft.
Uwe C. Steiner

Es dürfte selten eine Gesellschaft oder Epoche gegeben haben, in der weniger Feindlichkeit gegen Fremde geherrscht hat als gegenwärtig in Europa. Dafür sprechen ausgerechnet solche Belege, die das Gegenteil bezeugen wollen. So die vielleicht gönnerhafte, aber doch harmlose Bemerkung, die migrantisch wirkende Person spräche so gut Deutsch, die Ächtung des Blackfacing oder der «kulturellen Aneignung». Schon dass es die Debatte gibt, spricht nicht für, sondern gegen den Befund einer Eskalation des Übels. Bezeugt sie doch die Existenz einer Sensibilität, auf die die natürlich noch in zu grosser Zahl vorkommenden Fälle von Ressentiment, Aggression oder Diskriminierung umso verstörender wirken müssen. Auch hier wirkt das Gesetz der besonderen Aufdringlichkeit von Restübeln.

Zugewanderte Freude an der Schweiz: Eine erfreuliche Realität über die eigenartigerweise kaum jemand spricht. (Bild: Steffen Schmidt /Keystone)

Zugewanderte Freude an der Schweiz: Eine erfreuliche Realität über die eigenartigerweise kaum jemand spricht. (Bild: Steffen Schmidt /Keystone)

Eine gesteigerte Moralität bürgt nicht notwendig für moralische Folgen. Sicher, die Streiter wider einen vermeintlich erstarkten Rassismus fühlen sich vom glühenden Impuls getrieben, das Gute zu bewirken. Darin liegt aber weniger die Lösung als das Problem. Behauptet wurde, Rassismus sei ansteckend. Vielleicht gilt das noch mehr für die Debatte. Angesichts ihrer ebenso raschen wie flächendeckenden Verbreitung und in Anbetracht ihrer Erregungswerte kann man kaum umhin, metaphorisch natürlich, eine moralische Epidemie zu diagnostizieren.

Mimetische Rivalität

Eine moralische Epidemie verbreitet sich unter bestimmten Voraussetzungen. Ein Erreger, ein hinreichend vager und emotionsträchtiger Begriff wie der des Rassismus, erfährt eine kleine, aber heikle Mutation («Rassismus ohne Rasse») und trifft dann auf eine erregte Öffentlichkeit. Zuvor konnte er quasi endemisch in einem institutionell umfriedeten Milieu wie dem der Universität heranreifen. Dort trifft er auf die gerade aktuelle Form kultureller Hypersensibilität, genannt «Mikroaggression». Mediale Infrastrukturen wie Twitter fördern die Verbreitung. Noch gesteigert werden kann die Ansteckungskraft, wenn populäre Galionsfiguren, Fussballer oder Schauspielerinnen, zur Patronage antreten.

Kommt doch schon die Anklage dem Schuldspruch gleich und mündet in die soziale Ächtung.

Ein starkes Symptom für den Ausbruch ist die Inanspruchnahme immer subtilerer Anzeichen. Wer sich über einen nie erkannten Tiefenrassismus empört, erringt in der Pose des Anklägers einen moralischen Vorteil. Immer niedriger sinkt die Schwelle zum sanktionsbedürftigen Verhalten und zum skandalösen Sprachgebrauch. Auf einmal versündigt sich schon, wer «Flüchtlinge» statt «Geflüchtete» sagt. Man masst sich an, als Stimme der unterstellt Erniedrigten zu sprechen, um milieukonform um moralische Distinktionsgewinne zu rivalisieren. Es stellt sich ein, was René Girard mimetische Rivalität genannt hat. Man steckt sich gegenseitig mit seiner Erregung an. Bald eskaliert der Konflikt und heischt Sündenböcke, Opfer, denen das sonst allerorten geforderte Opferprestige verweigert wird. Kommt doch schon die Anklage dem Schuldspruch gleich und mündet in die soziale Ächtung.

Moralische Epidemie

Der Begriff der moralischen Epidemie ist nicht neu. Er kommt auf, als die späte Aufklärung gravierende Ernüchterungen verbucht. In einem Aufsatz von 1783 fragt sich Christoph Martin Wieland, warum die Befreiung von den alten Autoritäten nicht die erhofften Resultate gebracht habe. Im «Uebermuth» bediene man sich der neu erkämpften Freiheit, nur um sie auf dem «geradest(en) Weg» wieder aufzugeben. Man hegt neue Schwärmereien und zerstört mit den Traditionen auch das, was gut an ihnen gewesen sein mochte.

Wenn utopische Illusionen zerstieben, schlägt die Stunde der Skepsis und der Anthropologie: Menschen seien nicht gemacht, weise zu sein, resigniert der Aufklärer: «Moralische Epidemien lassen sich so wenig durch Vernunftsgründe als leibliche Krankheiten durch Zauberworte heilen.» Moralisch überhitzte Bewegungen, befindet Wieland, neigen dazu, «ihre Endzwecke durch ihre Mittel zu zerstören». Wie recht er hatte, sollte sich bald herausstellen. Es war die Französische Revolution, in der das Mittel, die Terreur, das Ziel, die Freiheit, bald ins Gegenteil verkehrte. In ihrem Roman «Schönes Bild der Resignation» von 1795 lässt Sophie La Roche, Deutschlands erste Bestsellerautorin, einen freigeistigen Arzt auftreten, der die Revolution als «moralisch(e) Epidemie in den Gemüthern» bezeichnet.

Als eine «moralische Epidemie» karikiert 1800 der Wiener Spätaufklärer Johann Pezzl die Empfindsamkeit. In der erkennt auch Goethe, inmitten der nationalmoralischen Mobilisierung der Befreiungskriege 1812/13, Züge eines sittlichen Massenleidens. Er allerdings wechselt ins meteorologische Bildregister und konstatiert, dass «moralische Epochen eben so gut wie die Jahreszeiten wechseln». Eine Nähe zwischen Krankheit und Klima war ja durch die noch geläufige Vorstellung gegeben, Ansteckungen verbreiteten sich durch Miasmen, durch schlechte Luft.

Inmitten der Brief-, Lese- und Sensibilitätskultur des 18. Jahrhunderts sieht Goethe, der bald eine Witterungslehre verfassen wird, einen naturgleichen Determinismus am Werke, gleichsam eine moralische Klimaerwärmung. Goethe adressiert das «zarte ja kranke Gefühl», das in «schönen Seelen unter der Form der Gerechtigkeit» erscheine und das fatalerweise eine «gewisse sittliche Befehdung» auslöse. Im rührenden Lustspiel, im bürgerlichen Trauerspiel lehrt man jetzt Empathie für die Opfer. Um den Preis freilich einer neuen Sündenbockmast: Angeführt von Lessings «Emilia Galotti», fröne der aufgeregte Zeitgeist der Mode, die höheren Stände herabzusetzen. Die jetzt angesagten theatralischen Bösewichter sind immer Adlige, adlige Männer, um genau zu sein.

Sündenböcke gefragt

Die mimetische Konkurrenz um die vorderen Moralplätze bedarf der Sündenböcke. Wie die Mittel die Zwecke zerstören, bestätigt heute der gar nicht mal heimliche Rassismus der Antirassisten. Rassismus gegen Weisse könne es nicht geben, versichert die Szene allen Ernstes. Entsprechend könnten heterosexuelle, weisse Männer keinen Sexismus erfahren, behaupten Anhänger und Anhängerinnen der Intersektionalität.

Von toxischer Männlichkeit darf gesprochen, ein Hashtag #MenAreTrash verbreitet werden, ohne dass sich nennenswerter Widerspruch regt. Nicht, dass solch ein Ressentiment neu wäre. In seiner bahnbrechenden Untersuchung «Das unmoralische Geschlecht» hat Christoph Kucklick bereits 2008 gezeigt, wie schon die frühe Moderne seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ihr Unbehagen an sich selbst auf die Geschlechter projiziert: Sie sieht in Männern alle Weltübel verkörpert, Kapitalismus, Kolonialismus, Krieg und breitbeiniges Sitzen im ÖPNV.

Rassismus gegen Weisse könne es nicht geben, versichert die Szene allen Ernstes.

Wer «Rassismus» kritisiert, suggeriert, es gebe Rassen. So hält die Rassismusdebatte am Leben, was sie zu bekämpfen vorgibt. Schon jetzt hat sie viel kulturelles Kapital verbrannt. Sie unterminiert das Vertrauen in die bisher freieste Gesellschaft, sie leugnet die realiter erzielten Fortschritte, und sie macht es der AfD oder rechtsextremen Sektierern allzu leicht, sich in der Pose des Tabubruchs zu gefallen.

Herrscht nicht eh eine ungute Affinität zwischen der Identitätspolitik der kulturalistischen Linken und den Identitären auf der vermeintlich anderen Seite? Beide lehnen die moderne Gesellschaft ab. Opfer wollen sie alle sein, die neuen Stämme, und sie ähneln einander, indem sie sich bekämpfen. Hier wie dort wirkt der Wille, die Kultur zu verwerfen, die einen verwöhnt. Massnahmen gegen die globale Erwärmung werden gewiss zu Recht angemahnt. Wie aber lassen sich moralische Grosswetterlagen temperieren?

Uwe C. Steiner ist Professor für neuere deutsche Literatur- und Medienwissenschaft an der Fernuniversität in Hagen.

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