Radfahrer im Visier. Sie bewegen sich in einem anderen System

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Wien – "Heast Deppata, hau di über d' Häuser!" Der Depp, der gefälligst verschwinden soll, ist der Autofahrer, die Radfahrerin, der Fußgänger – jeweils der andere halt. Und daran wird sich auch nichts ändern, ob nun am Tag mit oder ohne Licht gefahren wird. Aus "Kann der Koffer net des Licht aufdrahn" wird nun "Schau da des Hirnederl an, der fahrt no mit Licht". Schuld ist der andere, lautet die eherne Regel im Verkehrsgeschehen. Wobei die Schimpfenden aber ausgesprochen flexibel sind. Pocht jemand als Passant auf die Anhaltepflicht vor dem Schutzweg, indem er buchstäblich aufs Blech klopft, das ihm vor den Zehen vorbeizischt – so denkt er sich am nächsten Tag als Autofahrer vorm Zebrastreifen: "Des geht sich scho' aus. Geh, reg di net auf."

"Du Wappler"

Als Autofahrer ziehen einem die Radfahrer den letzten Nerv ("halt mi net auf"), als Strampler sind die Fußgänger die letzten Deppen ("schleich di vom Radweg"), und als Passant sind die Radler schlicht aggressiv und scheren sich um keine Regeln ("es is Rot, du Wappler").

Doch wo liegen die Ursachen für dieses objektiv irrationale Verhalten im Straßenverkehr? "Die eigene Vorgeschichte und der Lebensstil beeinflussen das Fahrverhalten viel stärker, als man glaubt", ist Christine Scholl-Kuhn überzeugt, die an der Wiener Sigmund-Freud-Universität ein Curriculum für Verkehrspsychologie leitet. Gemeinsam mit Ralf Risser hat Scholl-Kuhn bereits eine Studie über diese "Diskrepanz zwischen Wissen und Handeln" erstellt.

Wichtiger sein

"Eine Ursache könnte beispielsweise sein, dass man als Kind das Gefühl hatte, in der Familie zu kurz zu kommen – und jetzt dokumentieren muss, dass man wichtiger ist." Allzu oft seien Autofahrer auch "Menschen mit Revierdenken, die glauben, ihr Territorium verteidigen zu müssen". Was helfen könnte, wäre "Selbstreflexion", rät Scholl-Kuhn. "Man hat ja oft das Selbstbild, dass man ein rücksichtsvoller, vernünftiger Mensch sei – und dann verhalte ich mich wie ein Urmensch mit der Keule."

"Die Verkehrsteilnehmer erleben sich selbst in einem geschlossenen, anonymen System", interpretiert Ursula Messner vom Kuratorium für Verkehrssicherheit. "Wir wissen zum Beispiel, dass Cabrioletfahrer mit offenem Dach deutlich weniger aggressiv fahren als mit geschlossenem. Da man mit dem Öffnen des Daches ein Stück Anonymität aufgibt." Zwischen zwei Radfahrern gebe es etwa weit weniger Aggressionen, "weil beide im selben System sind".

"Jetzt komme ich"

Und oft sind auch schlicht Kommunikationsprobleme der Auslöser für "solche Kabel": "Wenn ein Autofahrer vor einem Zebrastreifen die Lichthupe betätigt, interpretiert das der Fußgänger meist als: Geh schnell drüber. Der Autofahrer meint aber eigentlich: Jetzt komme ich." Oder: Sieht ein Autofahrer eine Gruppe vor dem Zebrastreifen, gibt er schnell Gas, damit er nicht behindert wird. Der Pulk Fußgänger fühlt sich aber als starke, amorphe Masse."

Für den Wiener Psychotherapeuten Bernhard Brömmel ist das alles schlicht eine "so genannte paranoid-schizoide Position. Man fühlt sich selbst besser, wenn man über die anderen schimpft. Je weiter weg man das Schlechte schieben kann, desto besser." Geradezu einladend sei dabei, "dass man den anderen ja nicht sieht und nicht hört, sondern nur das unpersönliche Auto. Darüber kann man leicht schimpfen – die eigenen Fehler und Missgeschicke anzusehen tut hingegen ein bisserl weh", erläutert Brömmel. Und genau nach diesem Mechanismus funktionierten übrigens auch die Xenophobie und der Ausländerhass. (Roman David-Freihsl, DER STANDARD Printausgabe, 12.9.2007)