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Digitalstrategie der EU Was Europa braucht, um das Online-Spiel doch noch zu gewinnen

Relevanz, Reichweite, Reaktion: Ein digitaler Weltmarktführer kann in Europa kaum aus einem einzelnen Land definiert werden. Ausnahmen wie Spotify aus Schweden bestätigen die Regel

Relevanz, Reichweite, Reaktion: Ein digitaler Weltmarktführer kann in Europa kaum aus einem einzelnen Land definiert werden. Ausnahmen wie Spotify aus Schweden bestätigen die Regel

Foto: Dado Ruvic/ REUTERS

Laut einem unlängst geleakten Strategiepapier will die EU-Kommission bis 2030 vom digitalen Verteidigungsmodus in den Angriffsmodus schalten und einen echten souveränen Binnenmarkt für Daten schaffen. Dieser soll mit der Wirtschaftskraft für elektronische Geschäftsmodelle einhergehen. Erste Reaktion: Längst überfällig! Zweite Reaktion: Muss schneller gehen! Dritte Reaktion: Neben einer damit verbundenen digitalen Souveränität brauchen wir auch eine digitale Innovativität. Ansonsten können unsere Unternehmen und Start-ups das Online-Spiel um Relevanz, Reichweite und Reaktion nicht gewinnen.

Neben den wirtschaftlichen und geopolitischen Strukturen in der realen Welt haben sich im Zuge des vernetzten Zeitalters auch digitale Wirtschafträume gebildet, die jedoch vollkommen andere Spielregeln haben. Denn während in der Realität die Anbieter und Nachfrager mit den zugehörigen realen Ressourcen einem gewissen Standort zugeordnet werden können, ist das weltweite Netz virtuell und im Wortsinne grenzenlos. Das gilt sowohl für die Nutzer als auch für die Daten, aus denen die elektronische Wertschöpfung resultiert.

Tobias Kollmann

Tobias Kollmann ist Professor für BWL und Wirtschaftsinformatik an der Universität Duisburg-Essen. Seine Schwerpunkte sind Digital Business und Digital Entrepreneurship.

Datenraum = Handlungsraum

Und so definiert sich die damit verbundene Wirtschaftskraft aus den Daten neben den zugehörigen Netzwerk- und Skalierungseffekten der Plattform-Ökonomie auch über die zugehörigen Rahmenbedingungen der 3R-Faktoren im digitalen Wettbewerb: Relevanz, Reichweite und Reaktion.

1. Relevanz: Wer kann mit seinem digitalen Angebot bzw. seiner digitalen Plattform für die Nutzer bzw. Teilnehmer einen relevanten Mehrwert bieten? Und wie kann man diesen relevanten Mehrwert für ein bestimmtes Thema bzw. einen bestimmten Prozess dauerhaft adressieren? Und wie kann man über diesen relevanten Mehrwert über eine zugehörige Content Value Proposition den Kunden gegenüber der Konkurrenz schneller und besser an sich binden?

2. Reichweite: Wer erreicht wie schnell und wie gut die kritische Masse an Nutzern bzw. Teilnehmern für sein Angebot bzw. seine Plattform? Und wer generiert aus dieser kritischen Masse heraus die meisten und besten Netzwerk- und Skalierungseffekte mit Lock-in-Szenarien für seine Kunden? Und wer setzt die daraus resultierenden Datenmengen in ein zugehöriges ökonomisches Geschäftsmodell um?

3. Reaktion: Wer kann mit Hilfe der Datenmenge/-qualität auf Basis der zugehörigen Auswertung am besten die Trends, Bedürfnisse, Absichten und Handlungen der Nutzer bzw. Teilnehmer berechnen? Und wer wird aufgrund der zugehörigen Erkenntnisse über die Kunden schneller und besser als der Wettbewerber agieren und reagieren können?

Handlungsraum = Wirtschaftsraum

Vor diesem Hintergrund ist es kein Wunder, dass sich die digitalen Wirtschaftsräume mit den zugehörigen Playern so entwickelt haben, wie es heute zu beobachten ist. Einerseits die USA mit einem großen, offenen digitalen Binnenmarkt, kreativen Startups, enormer privater Investitionskraft aus dem Venture Capital-Sektor und einem starken Wachstums- und Expansionswillen: Im Ergebnis stehen Google  , Facebook  , Amazon  & Co.

Andererseits Asien und insbesondere China mit einem großen, jedoch geschlossenen Binnenmarkt, starken Copycats und kreativen KI-Startups, enormer staatlicher Investitionskraft und einem starken Wachstums-, Expansions-, aber eben auch Kontrollwillen: Im Ergebnis stehen Alibaba  , Tencent, SenceTime & Co.

Und nicht zuletzt Russland mit einem großen, ebenfalls geschlossenen Binnenmarkt mit einer enormen privaten/staatlichen Investitionskraft, der sich über Copycats/Klone quasi definiert und in sich geschlossen bleiben soll. Der Wachstums- und Expansionswille ist hier dem Kontrollwillen untergeordnet: Im Ergebnis stehen Mail.ru, Yandex, Avito, Julmart & Co.

Und Deutschland? Und Frankreich? Und Schweden? Also Europa?

Wirtschaftsraum = Binnenmarkt

Digitale Weltmarktführer aus Deutschland und Europa sucht man meist vergeblich! Mal von den bekannten Ausnahmen wie BlaBlaCar, Adyen, HelloFresh & Co. abgesehen, die jedoch auch noch zu stark kontinental orientiert sind, haben wir es nicht verstanden, den digitalen Wirtschaftsraum zu erobern. Und das hat Gründe! Denn gegeben den 3R-Faktoren im digitalen Wettbewerb können digitale Weltmarktführer in Europa nicht bzw. kaum aus einem einzelnen Land heraus definiert werden. Ausnahmen wie Spotify  aus Schweden mit weltweit 271 Millionen Nutzern in 79 Ländern, bestätigen die Regel.

Wenn im Internet die Relevanz, Reichweite und Reaktion mit einer zugehörigen kritischen Masse die Basis zum Erfolg sind, dann muss jedem klar sein, dass nur ein gemeinsames digitales Europa dafür die Rahmenbedingungen schaffen kann. Jeder einzelne europäische Mitgliedsstaat ist dafür zu klein und deswegen kann es auch kein Nord oder Süd und kein Ost oder West auf einer digitalen europäischen Landkarte geben, sondern nur ein gemeinsames digitales Europa! Der europäische digitale Binnenmarkt ist daher keine Kann-Option, sondern eine Muss-Pflicht für uns Alle. Vielleicht ist die Digitalisierung auch eines der stärksten Argumente für die Wiederbelebung des europäischen Gedankens.

Binnenmarkt = Europapolitik

Und hier stehen wir aktuell am europäischen digitalen Scheideweg, (wenn wir die politisch unzureichende Option eines geschlossenen digitalen Binnenmarkts außen vorlassen): Wollen bzw. müssen wir diesen europäischen Binnenmarkt mit seinen Nutzern und Unternehmen schützen und die internationalen Digital-Player, die viel früher auf die digitalen Möglichkeiten zugegriffen haben, in die Schranken weisen (Abwehrstrategie über Regulierung) oder müssen wir ein digitales Europa 4.0 für eigene Wachstums- und Expansionsmöglichkeiten im digitalen Datenraum schaffen, um eigene digitale Weltmarktführer zu entwickeln (Angriffsstrategie über Förderung)?

Vielleicht ist es keine Entweder-Oder-, sondern eine Und-Verknüpfung, denn schließlich stehen wir (leider) nicht mehr am Anfang einer Entwicklung, sondern sind mittendrin. Damit brauchen wir sicherlich einen Mittelweg zwischen dem Startblock für eigene digitale Geschäftsmodelle über Startups (neue Player als neue digitale Weltmarktführer) und die digitale Transformation von Mittelstand und Industrie (alte Player als neue digitale Weltmarktführer) und einer Diskussion über die Zielgerade mit einer Regulierung der momentanen digitalen Gewinnern wie Google, Amazon, Alibaba & Co., die nun auch (noch) in die realen Wirtschaftsbranchen eindringen (z.B. Banken, Versicherungen, Handel). Wie wird Europa und die zugehörige Politik damit umgehen?

Europapolitik = Digitalpolitik

Eins ist ganz klar: Europapolitik ist auch Digitalpolitik! Und wenn jetzt eine europäische Datenstrategie endlich mal Formen annimmt und einen echten europäischen digitalen Binnenmarkt mit zugehörigem Datenraum schafft, dann kann und muss das auch gut für den Wirtschaftsstandort Deutschland sein. Laut dem geleakten Vorabentwurf sollen für diesen europäischen Datenraum persönliche und nicht-personenbezogene Informationen einschließlich sensibler Bits und Bytes aus allen Unternehmen zusammenfließen, sicher verwahrt und dann wiederum für die europäische Wirtschaft abrufbar werden. Ein Vorgehen, was insbesondere für die datenintensiven Anwendungen von KI-Systemen und der natürlich auch hierfür im Zusammenhang stehenden 3R-Faktoren notwendig erscheint.

Die zugehörige digitale Souveränität soll zudem über europäische Rechenzentren und gemeinsame Cloud-Infrastrukturen gewährleistet werden (Stichwort Gaia X). Doch Achtung! Nur mit technischen Infrastrukturen und gemeinsamen Datenpools hat man noch keine wettbewerbsfähigen Innovationen im Digitalbereich geschaffen. Neben der notwendigen Datenbasis muss es auch die hinreichend innovativen Anwender aus dem Industrie-, KMU- und Startup-Bereich geben, die damit elektronische Geschäftsprozesse und -modelle für den Kunden aufbauen. Auch hierfür brauchen wir eine Digitalstrategie der EU. Denn auch für den digitalen Wirtschaftsraum "Europa 4.0" gilt: Wer "A" bzw. "S" für Souveränität sagt, muss auch "B" bzw. "I" für Innovativität sagen.

Prof. Tobias Kollmann ist Vorsitzender des Beirats Junge Digitale Wirtschaft (BJDW) im Bundeswirtschaftsministerium. Kollmann ist Mitglied der MeinungsMacher von manager-magazin.de. Trotzdem gibt diese Kolumne nicht notwendigerweise die Meinung der Redaktion des manager magazins wieder.