ZEIT ONLINE: Herr Gazeas, die Generalstaatsanwaltschaft Schleswig hat einen Auslieferungshaftbefehl gegen den katalanischen Unabhängigkeitskämpfer Carles Puigdemont beantragt. Hat Sie das überrascht?

Nikolaos Gazeas: Ich bin nicht überrascht über den Auslieferungshaftbefehl. Aber ich bin überrascht darüber, dass die deutsche Generalstaatsanwaltschaft darin alle Vorwürfe der spanischen Seite übernommen hat. Puigdemont soll nicht nur wegen des Vorwurfs der Untreue, sondern auch wegen Rebellion ausgeliefert werden. Wegen der schweren politischen Straftat der Rebellion sehe ich nach deutschem Recht jedoch keine auslieferungsfähige Tat. 

ZEIT ONLINE: Die spanische Justiz sucht Puigdemont, weil er in Katalonien ein illegales Unabhängigkeitsreferendum organisierte und danach – zumindest zeitweise – die Unabhängigkeit von Spanien ausrief.

Gazeas: Die drei Richter am schleswig-holsteinischen Oberlandesgericht müssen jetzt prüfen, ob das Geschehen, das Herrn Puigdemont im Haftbefehl vorgeworfen wird, auch nach deutschem Strafrecht strafbar wäre, wenn es sich bei uns in Deutschland ereignet hätte. Die Generalstaatsanwaltschaft meint offensichtlich, dass dem so ist. Dem trete ich entschieden entgegen. Das Verhalten von Herrn Puigdemont wäre bei uns nur als Hochverrat strafbar. Der Hochverrat ist in den Paragrafen 81 und 82 des Strafgesetzbuches geregelt. Er greift aber nur, wenn der Täter mit Gewalt oder durch Drohung mit Gewalt handelt. Beides ist hier nicht der Fall. Herr Puigdemont hat weder Gewalt angewandt noch damit gedroht. Gewalt liegt nach zutreffender juristischer Definition zum deutschen Hochverratstatbestand nur vor, wenn sich die staatlichen Institutionen zur Kapitulation vor den hochverräterischen Absichten des Täters gezwungen sehen, sei es auch, um die Bürger vor schwerwiegenden Schäden zu schützen.

ZEIT ONLINE: Klingt nach einer sehr hohen Schwelle.

Gazeas: Richtig. Das ist auch wichtig. Das deutsche Recht verlangt zu Recht, dass eine Regierung in Drucksituationen auch heftigen politischen Auseinandersetzungen standhält. Die Gewaltschwelle sehe ich im Hinblick auf Herrn Puigdemont im Katalonien-Konflikt nicht überschritten. Die Unabhängigkeitskämpfer in Katalonien haben immer dazu aufgerufen, friedlich zu bleiben und auch gegen die Zwangsverwaltung durch die Regierung in Madrid, unter der Katalonien seit der Unabhängigkeitserklärung steht, wurde nicht aufbegehrt.

ZEIT ONLINE: Die Generalstaatsanwaltschaft bezieht sich in ihrer Gewalt-Begründung auf ein Treffen der Separatisten im September 2017. Damals habe Puigdemont entschieden, das illegale Unabhängigkeitsreferendum am 1. Oktober durchzuführen, obwohl die katalanische Polizei eine "Eskalation der Gewalt" am Tag der Abstimmung für möglich hielt. Tatsächlich gab es dann Zusammenstöße, vor allem zwischen der zentralspanischen Nationalpolizei, die nach Barcelona entsandt wurde, um das Referendum zu verhindern, und den Wählern. 

Gazeas: Deswegen gibt es auch unter spanischen Strafrechtlern zu Recht viel Kritik am Vorgehen der spanischen Justiz. Denn wenn allein die Möglichkeit, dass es zu Gewalt kommt, den Rebellionsvorwurf rechtfertigt, dann könnte letztlich jeder Organisator einer Demonstration am Ende des Tages wegen schwerster politischer Straftaten angeklagt werden. Das wäre ein tiefer Eingriff in die Meinungs- und Versammlungsfreiheit, die unser freiheitlich-demokratisches Grundgesetz schützt. Auch die spanische Verfassung ist sehr rechtsstaatlich orientiert. Das spanische Strafrecht ähnelt in vielen Punkten dem deutschen Recht. Deswegen sagen sehr viele spanische Juristen: Hier wurde ein neuer Straftatbestand erfunden. Schon die Möglichkeit, dass ein Demonstrationsteilnehmer gewalttätig wird, soll einen politischen Führer wegen Rebellion ins Gefängnis bringen. Die bloße Gefahr soll reichen. Ein solches Verständnis entfernt sich von jeder akzeptablen Interpretation eines rechtsstaatlichen Strafrechts. Rebellion – beziehungsweise das deutsche Pendant des Hochverrats – ist eine der schwerwiegendsten politischen Taten, die das Strafgesetzbuch kennt. Politisches Strafrecht muss immer eng ausgelegt werden, auch und gerade weil es sonst sehr schnell missbraucht werden kann, um politische Widersacher auszuschalten. Auch die deutsche Generalstaatsanwaltschaft ist hier sehr weit, ich meine zu weit, gegangen. Die nun abzuwartende Entscheidung des Oberlandesgerichts ist daher auch wichtig für die Rechtsauslegung in Deutschland.

ZEIT ONLINE: Wieso?

Gazeas: Ein offener und weiter Gewaltbegriff gilt im Zweifel auch bei uns. Und das würde massiv ein ganz elementares Grundrecht in jeder Demokratie, die freie Meinungsäußerung und die Versammlungsfreiheit, aber auch die Grenzen zulässiger politischer Betätigung womöglich einschränken.