Gegen Fake-News und "toxische Propaganda": "Desinformation tötet täglich"

Der tschechische Minister Jan Lipavský fordert ein schärferes Vorgehen gegen "toxische Propaganda" aus Russland und China. Die EU-Kommission will proaktiv sein.

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(Bild: sdecoret/Shutterstock.com)

Von
  • Stefan Krempl
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Die EU muss "toxische Propaganda" aus Russland und China besser bekämpfen und stoppen. Dafür machte sich der tschechische Außenminister Jan Lipavský am Mittwoch auf einer hochrangigen Konferenz der EU-Kommission und der tschechischen Präsidentschaft des EU-Ministerrats zur Zukunft des Internets in Prag stark. "Desinformation tötet täglich", betonte das Mitglied der Piratenpartei. Sie schleiche sich "in unsere Gesellschaften", die sie zu spalten versuche, und zerstöre konstruktiven Dialog.

Schon während der Hochzeit der Corona-Pandemie seien hunderttausende EU-Bürger von russischen Agitatoren verleitet worden, sich nicht behandeln oder impfen zu lassen, brachte Lipavský ein Beispiel. Aktuell sei der Informationskrieg Russlands gegen die Ukraine genauso real und bösartig wie der an der Front. Formen solcher hybrider Kriegsführung verbreiteten sich "wie ein Tumor", warnte der IT-Manager. Es sei daher entscheidend, scharf gegen illegale und schädliche Inhalte im Internet vorzugehen.

Westliche Werte wie Demokratie und Meinungsfreiheit seien fragil, gab Lipavský zu bedenken: "Russland und China missbrauchen das Verlangen der Menschen, die Wahrheit herauszufinden." Manipulation und Lügen dieser neokolonialistischen Staaten müssten daher ständig widerlegt werden. Es gelte, die westlichen Gesellschaften resilient gegenüber Desinformation zu machen.

Der russische Angriffskrieg erhöhe auch den Druck auf die osteuropäische Partnerschaft, räumte der Minister ein. Länder wie Polen, Ungarn, Bulgarien oder Rumänien müssten sich daher klarer positionieren und eine enge Zusammenarbeit zwischen Innen-, Außen- und Verteidigungsministern pflegen. Klar sei aber auch, dass die EU weiter einen "Pluralismus ohne Angst vor Zensur fördern" sollte. Der digitale Raum sei mit Menschenrechten verknüpft: Es brauche einen freien, offenen und stabilen Cyberraum.

Für die baltischen Staaten sei die Propaganda aus dem Osten nichts Neues, erinnerte Estlands IT-Minister Kristjan Järvan an die Zeiten der Sowjetunion. Nun heiße es aus dieser Richtung, die NATO wolle Camps in der Ukraine errichten und die Weltherrschaft übernehmen. Zivile Infrastruktur müsse zerstört werden, um Terroristen auszuräuchern. Russland halte es offenbar mit Joseph Goebbels und dessen Motto: Je verrückter die Propaganda, desto besser. Trotzdem plädierte der Konservative prinzipiell für mehr Medienkompetenz und Selbstregulierung, auch wenn Facebook, YouTube & Co. ihr eigenes, auf kontroverse Inhalte und gezielte Werbung aufgebautes Geschäftsmodell nicht zerstören wollten.

"Wir waren alle nicht vorbereitet", fasste Claire Wardle von der Ukraine-Taskforce der Europäischen Beobachtungsstelle für digitale Medien (EDMO) die Ergebnisse eines im Juni veröffentlichten Berichts zusammen. Um dies künftig zu verhindern, müsse die EU eine Infrastruktur gegen Desinformation aufbauen und ethische Richtlinien vorgeben. Es gelte, die sich zunehmend in einem rechtlichen Graubereich bewegende und bestehende Vorurteile bestärkende Propaganda zu verstehen und auch mit spielerischen, künstlerischen Taktiken zu erwidern.

Allein im März habe man gut 120.000 Versuche zum Verbreiten von Desinformation über rund 10.000 Social-Media-Konten in Polen festgestellt, berichtete Karina Stasiuk-Krajewska von der Zentraleuropäischen Beobachtungsstelle für digitale Medien (CEDMO). Gehetzt werde vor allem gegen ukrainische Flüchtlinge. Die Sage von lauter Faschisten und Nazis in dem angegriffenen Land glaubten zwar nur 10 Prozent der polnischen Bevölkerung. Ein größerer Anteil fühle aber eine allgemeine Bedrohung durch die Flüchtlinge.

Auf nach wie vor bestehende "systemische Probleme" bei der Kooperation großer Plattformen mit staatlichen Institutionen und der Zivilgesellschaft verwies Dominika Hajdu von der slowakischen Denkfabrik Globsec. 90 Prozent der Eingaben zu illegalen oder schädlichen Inhalten sogar von als vertrauenswürdig eingestufter Hinweisgeber würden ignoriert. Die Netzwerke vertrauten zu stark auf Künstliche Intelligenz, die aber bei Content in osteuropäischen Sprachen nicht sonderlich gut funktioniere.

Facebook lasse so etwa die Seite von Pogled.info aktiv, obwohl die Portalmacher sich offen aus russischen Quellen bedienten und die Nazi-Narrative stärkten. Der Atlantic Council Bulgarien sei dagegen ohne Erläuterung aufgrund angeblicher anti-russischer Inhalte blockiert worden. Ferner habe Facebook erst nach Monaten strafrechtlich verfolgte Hassprediger blockiert. Bei TikTok müsse Globsec nun mit einem Sperrantrag und der Argumentation von vorn anfangen, obwohl beide Betreiber den im Juni verschärften EU-Kodex gegen Desinformation unterzeichnet hätten.

Am Beispiel einer Meldung des ungarischen Nachrichtenportals Origo nach der staatlichen Umbesetzung monierte Peter Erdelyi von der Faktenprüf-Organisation Lakmusz, dass große US-Internetkonzerne nach wie vor Geld machten mit "Fake News". Die Überschrift des Beitrags habe gelautet: "Schockierender UN-Bericht über ukrainische Kriegsverbrechen", womit der eigentliche Inhalt der Untersuchung ins Gegenteil gekehrt worden sei. Trotzdem laufe Werbung über Google auf der Seite und auch bei Facebook habe die Schlagzeile über 20.000 Nutzer erreicht. Mit dem EU-Kodex sei das offensichtlich unvereinbar.

Sie appelliere immer wieder an die Plattformen: "Sie müssen der Versuchung widerstehen, Geld mit Hass zu verdienen", unterstrich die für Werte zuständige Kommissionsvizepräsidentin Věra Jourová. Sie sollten sich auf die Seite der Demokratie stellen und "Nein zum Bösen sagen".

"Wir haben staatliche Medien in der EU, die Narrative fernab der Wahrheit unterstützen, auch staatliche Akteure", warnte die Tschechin zugleich. Noch mehr von Russland Beeinflusste säßen in den Parlamenten: Sie seien zwar demokratisch gewählt, bauten ihr politisches Kapital aber auf Lügen. Ihre einschlägigen Beiträge auf sozialen Medien müssten daher entsprechend gekennzeichnet werden.

"Wir wollten nie jemanden als Schiedsrichter der Wahrheit haben", blickte Jourová zurück. Mit der Pandemie sei diese Position aber nötig geworden. Nun gehe es darum, die mit dem überarbeiteten Kodex herauszugebenden Daten über Desinformationskampagnen auszuwerten. Viele davon beträfen immer wieder Migranten, den Klimawandel und den Green Deal sowie Minderheiten und seien damit vorhersehbar. Die EU müsse in ihrem Kampf dagegen daher proaktiver werden und solche Lügengeschichten schon vor dem Erscheinen verhindern.

In Richtung der Plattformen hob die Kommissarin hervor: "Wir meinen es ernst damit, dass das Internet eine angemessene Regulierung und Durchsetzung der Vorgaben braucht." Dabei gelte es aber zu verhindern, übers Ziel hinauszuschießen: Die Brüsseler Regierungsinstitution versuche, die Meinungsfreiheit "fast vollständig unberührt" zu erhalten und rückte die entsprechende, von der EU, den USA und Partnern unterstützte Erklärung zur Zukunft des Internets von April in den Fokus.

Jourovás stellvertretender Kabinettchef Daniel Braun zeigte sich aber besorgt über Gerüchte, dass manche Netzwerkbetreiber der Inhaltemoderation weniger Bedeutung zumessen wollten. Twitter sei vor der Übernahme durch Elon Musk ein wichtiger Partner beim Kodex gewesen. Rechtliche Pflichten bestünden unabhängig von der Eigentümerstruktur.

Plattformvertreter legten Wert darauf, dass sie pro Quartal Millionen von Videos und anderen Inhalten löschten. Man führe ständig Schlachten gegen Desinformation, versicherte Leslie Miller von YouTube. Die Sichtbarkeit von grenzwertigem "Borderline-Content" werde reduziert, vertrauenswürdige Quellen nach vorn geschoben. Dazu komme die Analyse und Entfernung ganzer Gruppen bekannter Akteure.

Markus Reinisch von der Facebook-Mutter Meta hob hervor, mit insgesamt 40.000 Faktenprüfern zu arbeiten. Es sei aber schwierig, die Zahl derjenigen auszuweisen, die einzelne Sprachen beherrschen. TikTok habe als eine der ersten großen Plattformen RT geblockt, sagte Theo Bertram als Abgesandter des letztlich in China beheimateten Betreibers. Inhalte von anderen russischen Staatssendern würden entsprechend gekennzeichnet. An einer globalen Linie, die auch chinesische Medien einschließe, arbeite der Konzern noch.

(olb)