Gesellschaft

Der Fake der Netzgemeinde

Das Internet war einmal ein Freiheitsraum. Doch der Diskurs im Netz hat sich verengt, heute herrschen dort Meinungskollektive. An der Wurzel dieser Entwicklung steht eine falsche Begrifflichkeit, die unser Nachdenken über digitale Freiheit verzerrt.

Text: Wolfram Eilenberger

Es ist immer wieder ein verwirrendes Schauspiel, wenn sich mutmaßlich ausgeprägte Individualisten zu einem Meinungskollektiv zusammenschließen. Besonders faszinierend ist dies im Fall der sogenannten Netzgemeinde, die auch in Deutschland Woche um Woche mit aller digitalen Wucht und sicherem Gespür für den nächstgelegenen Pranger den Diskurs in ihrem Sinne prägt, bestimmt und allzu oft verengt. In ihren frühen Tagen der Revolte gegen alles und jeden, der es wagte, den utopisch aufgeladenen Freiheitsraum des sogenannten Netzes mit so etwas wie einem Regelgerüst oder gar verbindlichen Normen zu versehen, konzentrierte sich ihr Agitationspotenzial meist auf Themen wie „Urheberrechte“ (böse, böse), Infrastruktur (natürlich vom Staat zu stellen) oder „flüssige Demokratie“ (die einzig wahre Lösung). Das war einmal. Heute reicht das Einsatzspektrum der Netzgemeinde längst vom Kampf gegen die Tamponsteuer bis zur Flugscham, von der Eingrenzung der akademischen Lehrfreiheit bis zu offen erpresserischen Eingriffen in die Gestaltung von Verlagsprogrammen. Als Wächter eines originär freiheitlichen Aufbruchs gestartet, besteht ihre derzeitige Hauptfunktion in der Überwachung eigener Weltbildfundamente. Sie begann libertär und endet im plattest amerikanischen Sinne „liberal“, also links. Wie kam es dazu?

Womöglich liegt die Wurzel dieser Entwicklung im Begrifflichen. Wörter und Menschen erziehen einander gewissermaßen. Deshalb beginnen nicht wenige praxisrelevante Fehler mit der Verwendung irreführender Sprachschöpfungen. Schließlich wirken Begriffe wie mentale Uploadfilter, die nur gewisse Inhalte, Selbstbilder und also Handlungsmöglichkeiten vor das geistige Auge treten lassen. Dies gilt gerade im Bereich des Politischen. Eine verstellendere und strukturell widersinnigere Begrifflichkeit als die der „Netzgemeinde“ ist aus Sicht einer freiheitsliebenden digitalen Existenz aber schlicht nicht denkbar.

Der politische Traum, der mit dem Erscheinen des „Netzes“ verbunden war und ist, besteht in der maximalen Distanzierung selbstbestimmter Individuen von der Macht des Kollektivs in all seinen denkbaren Spielformen – als Staat, als Volk, als Rasse, als Klasse, als Geschlecht.
Wolfram Eilenberger

Nicht eine Gesellschaft, nicht eine Gemeinschaft, nein, gleich eine Gemeinde soll es sein! Als ob sich das, was der Medientheoretiker Marshall McLuhan einst visionär als „Global village“ ansah, im Deutschland der Zwanzigerjahre des 20. Jahrhunderts noch immer nicht ohne den dazugehörigen Kirchturm denken ließe. Und welcher „Gott“ oder „Glaube“ würde von dieser „Gemeinde“ derzeit eigentlich angebetet oder verteidigt – außer dem der je eigenen, allzu liebgewonnenen und in der Regel durch und durch parasitären Klickgewohnheit? Worin bestand denn die ursprünglich mit der digitalen Wende verknüpfte politische Utopie? Doch gewiss nicht in der effektiveren Organisation thematisch vorverständigter Interessen- und Schmähungskollektive. Gewiss nicht in der Verballung und Verklumpung von Themenmacht durch monopolistische Meinungsplattformen. Und gewiss nicht in der sanktionslosen Aufhebung eben jener Grundrechte, die im Anfang aller wahrhaft liberalen Aufbrüche stehen: nämlich den (auch geistigen) Eigentums- und Äußerungsrechten. Der politische Traum, der mit dem Erscheinen des „Netzes“ verbunden war und ist, besteht in der maximalen Distanzierung selbstbestimmter Individuen von der Macht des Kollektivs in all seinen denkbaren Spielformen – als Staat, als Volk, als Rasse, als Klasse, als Geschlecht. Die engmaschigste und in der Regel auch engstirnigste Form menschlicher Kollektivität ist nach gängigem Sprachgebrauch aber was? Genau, das ist die „Gemeinde“. Nur noch übertroffen von der „Sekte“ ist die „Gemeinde“ die ideologische Form entdifferenzierter Meinungsverklumpung par excellence. Genau das macht sie so stark. Genau das macht sie leider oft auch so dumm und manipulationsanfällig – so durch und durch „fake“ und also bigott. An ihren Namen sollt Ihr sie erkennen! Dabei gilt bis heute: Keine andere Struktur in der Geschichte der Menschheit trägt – mit Blick auf die allzu alltägliche Bedrohung unseres „Gemein-Werdens“ – ein größeres Befreiungspotenzial in sich als das Netz. Und kein anderer gängiger Begriff verstellt eben dieses utopische Potenzial wirksamer als der allzu alltägliche gewordene Kampfbegriff der „Netzgemeinde“. Verantwortungsvolle Urheber ihres eigenen Denkens sollten ihn deshalb nicht länger im Munde führen. Fangen wir am besten sofort mit diesem Verzicht an. Sei es im Netz oder auch außerhalb davon – was immer das heute noch bedeuten könnte.


Wolfram Eilenberger ist Philosoph und Schriftsteller. Zuletzt erschien von ihm „Zeit der Zauberer – Das große Jahrzehnt der Philosophie (1919–1929)“ bei Klett-Cotta. Neben dem Bayerischen Buchpreis 2018 wurde es in Frankreich auch mit dem renommierten „Prix du Meilleur Livre Étranger“ ausgezeichnet. Es wird derzeit in mehr als 20 Sprachen übersetzt.