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Leserdebatte zum Tempolimit Autoliebe, Autowahn

Die Diskussion über ein Tempolimit auf der Autobahn spaltet Deutschland - und die Leserschaft von SPIEGEL+, wie unser Autor Marco Evers gemerkt hat. Hier dokumentiert er die Debatte und nimmt Stellung.
Autobahnschild

Autobahnschild

Foto: Marius Becker/ DPA

Sie, liebe Leserinnen und Leser, haben meinen Debattenbeitrag von Donnerstag vergangener Woche "Was Deutschland von Schweden lernen kann" sehr oft angeklickt und sehr engagiert und kenntnisreich kommentiert. Herzlichen Dank dafür! 

Die Spanne der Leserreaktionen ist dabei ungewöhnlich breit - sie reicht von "der Artikel ist einfach scheiße" (Hauke L.), und "für so einen Mist zahle ich kein Geld" (Steve) und "grottenschlechter Journalismus" (Ingo A.) bis hin zu "sehr guter Artikel, bitte mehr davon" (Andreas F.), "ein sehr interessanter Bericht" (Martin S.) und "toller Artikel", "Danke, Spiegel!" (Anne B.). 

Das Tempolimit berührt die Seele der Deutschen offenbar stärker als viele andere Angelegenheiten. In den Zuschriften blitzen besonders zwei Themen auf. Die Freiheit des Einzelnen sei in Gefahr, sagen die einen, falls der Staat ihnen jetzt auch noch eine Maximalgeschwindigkeit auf der Autobahn aufbürden sollte. Wilken G. schreibt: "Allerdings fragen sich immer mehr Bürger in meinem Umfeld, was noch alles reguliert, vorgeschrieben oder verboten werden soll … Vielleicht ist das ja mal eine Überlegung, die letzten paar freien Kilometer dem gesunden Menschenverstand zu überlassen."

Die anderen argumentieren genau anders herum - sie empfinden Schnellfahrer als Einschränkung ihrer Freiheit. Alexander K. schreibt: "Der Elefant im Raum ist: Rasen, Drängeln, Lärmen ist Gewalt gegen Schwächere. Diese Gewalt war in den heroischen Zeiten des Automobils so akzeptiert, dass die Zahl der Toten in kriegsähnliche Größenordnungen ging. Jetzt ist die Akzeptanz von Verkehrsgewalt vorbei." Joop K. aus der Schweiz, einem strikten Tempo-120-Land mit sehr, sehr vielen Radarfallen, hält das "Bleifußfahren in Deutschland" schlicht für eine "Gehirnstörung" und bemerkt: "Deutsche Geschwindigkeiten sind ein Horror für die Ausländer." 

Der Ton und die Vehemenz der Debatte erinnern mich an die ebenfalls heftige Diskussion um das Rauchverbot in der Gastronomie. Im Juni 2006 hatte ich die Forderung nach einem solchen Rauchverbot als SPIEGEL-Titelgeschichte ("Rauchen: Das Ende der Toleranz")  veröffentlicht. Ich bekam rund 800 Zuschriften von Leserinnen und Lesern, die Hälfte unterstützte mich, die andere ganz und gar nicht. Wenige Monate später untersagte die Bahn das Rauchen im Bordbistro, 2007 führten die ersten Bundesländer Rauchverbote ein. 

Mittlerweile wird das Rauchverbot fast durchgängig und auch von den meisten Rauchern akzeptiert oder gar als segensreich geschätzt. Weshalb? Weil sich der gesellschaftliche Konsens in dieser Frage verschoben hat. Öffentliche, informierte Debatten verändern das Meinungsbild und manchmal eben auch die Gesetzeslage, wenn der Rückhalt einer früheren Minderheitenposition in der Bevölkerung nur groß genug wird. Könnte ein solcher gesellschaftlicher Umschwung beim Thema Tempolimit ebenfalls bevorstehen? "Jeder Verkehrstote ist einer zu viel", schreibt Urs B. aus Bayern. "Ich hoffe sehr, dass es auch in Deutschland ein generelles Tempolimit geben wird". 

Ewald E. ist da zurückhaltend. "Der deutsche Verkehrsminister", schreibt er, "hält sich für den Automobilminister." Und dieser sei nichts als "der vom Staat bezahlte Marketingdirektor der rasenden Rennmaschinen auf Deutschlands Straßen". Ins gleiche Horn stößt Wilfried S: "Solange unreife und spielverliebte Jungs an den Hebeln der Macht sitzen, wird sich Vernunft nicht durchsetzen." 

Heinz S. gemahnt zur Selbstkritik. "Aber wir sollten uns nicht einen schlanken Fuß machen und alles auf DIE Politiker schieben. Einmal haben wir die politisch Verantwortlichen, die wir gewählt haben, und zum anderen besteht eine geringe Bereitschaft, SICH an die Nase zu packen und sich selbst zu verändern, hier den Fetisch Auto als Selbstoptimiergerät zu verlassen und es lediglich als Mobilitätsvehikel, und nur das, zu sehen.

Oliver B. macht sich keine großen Hoffnungen auf eine Wende. "Die deutsche Verkehrspolitik hat absolut versagt. Der Verkehrsminister pfeift auf Umweltschutz und Menschenleben, wie die jüngste Vergangenheit zeigt." Spätestens jetzt "sollte es jedem Bürger klar sein, dass wir in einer Lobbykratie leben".

Ingo A., kein Freund meines Beitrags, ist der Meinung, dass Geschwindigkeitsbeschränkungen allein ohnehin nicht weit führen werden. Echte Veränderung brauche ein ganzheitliches Konzept. "Lassen wir doch einfach mal Dashcams zu und schauen dann zu, wie reihenweise Führerscheine und Fahrzeuge eingezogen werden, weil es nicht mehr Aussage gegen Aussage heißt, sondern belegbare Beweise gibt, bei Nötigung/Dränglern, nicht Einhalten des Rechtsfahrgebots, Rechtsüberholen, Fahren ohne Sicherheitsabstand, Ausscheren ohne Rücksicht auf den Verkehr, Ausscheren in Lücken, die gar keine sind, und und und." 

Eckhard B. kritisiert meinen Artikel so: "Als Jurist weiß ich, dass die Nichteinhaltung von Normen, deren Sinnhaftigkeit kaum jemand einsieht, drakonisch bestraft werden müssen, um deren Einhaltung sicherzustellen. Das schlagen Sie ja auch vor. Auf drakonische Strafen darf der Rechtsstaat aber nicht setzen, denn er setzt verhältnismäßige Normen. Und zu der Beurteilung der Verhältnismäßigkeit gehört auch die Frage, ob die überwältigende Mehrheit eine Norm als gerechtfertigt ansieht. Im Falle von Geschwindigkeitsbeschränkungen auf Autobahnen ist das - ausweislich aktueller Befragungen - nicht der Fall.

Michael M. gibt zu bedenken, dass hohes Tempo sogar vor Unfällen schützen könne: "Sie müssten mal gegenrechnen, welche Unfälle nicht passiert sind, weil man mit 180 viel konzentrierter und aufmerksamer fahren muss, als wenn man gezwungen ist, auch bei freier Autobahn mit 130 dahinzuzuckeln, abgelenkt ist und unkonzentriert wird." 

Ulrich G. hingegen weist auf einen physikalischen Effekt der Geschwindigkeit hin, der schon bei geringen Tempounterschieden tödlich wirken kann. Viele führen 65 km/h, wo nur 50 km/h erlaubt seien, und hielten diese Überschreitung für ok. "Die Überschreitung von nur 30 Prozent bedeutet im Falle eines Aufpralls, dass die wirkende kinetische Energie um 69 Prozent (!) erhöht ist." Das könne sehr wohl den Unterschied zwischen Leben und Tod für einen Fußgänger ausmachen. 

Dem pflichte ich bei - und möchte den Kritikern, die nicht glauben mögen, dass von hohen Geschwindigkeiten ein besonderes Risiko ausgeht, folgendes in Erinnerung rufen: Je höher die Geschwindigkeit, desto kürzer die möglichen Reaktionszeiten, desto länger die Bremswege, desto höher die Verformungsenergie beim Aufprall. Die Sicherheitsmarge im Verkehr kann nur steigen, wenn die kinetische Energie der teilnehmenden Fahrzeuge sinkt.  Macht mich diese Überzeugung, wie ein Leser schreibt, gleich zu einem "Gutmenschen"? 

Hans H. lebt in Stockholm - und er sagt, ich würde mich über die vermeintlich höhere Sicherheit auf schwedischen Autobahnen täuschen. "Vor 20 oder 30 Jahren wurden mobile Geschwindigkeitskontrollen durchgeführt, oft auch vom Hubschrauber aus. Damals haben sich alle an die damals noch geringeren Geschwindigkeitsbegrenzungen gehalten, weil keiner wusste, wo die nächste Kontrolle ist, und saftige Strafen drohten." Jetzt aber lasse die Polizei die Zügel schleifen und man müsse heute damit rechnen, "mit 160 km/h überholt zu werden". 

Mehrere Leser monierten, dass, wie in meinem Beitrag geschehen, man nicht einfach Verkehrssysteme in zwei Ländern vergleichen könne mit der Kennzahl "Verkehrstote pro 100.000 Einwohner". Dies ist aber eine gebräuchliche Größe in der Sicherheitsforschung. Sie beantwortet sicher nicht alle Fragen und wirkt bisweilen wie der Vergleich von Äpfeln und Birnen; natürlich müssen auch Umstände wie die Größe eines Landes, die Verkehrsdichte, Straßenbeschaffenheit oder die Kompetenz der Fahrer berücksichtigt werden. 

Aber diese Zahl gibt doch einen Eindruck von der Qualität eines Mobilitätssystems. In Thailand starben 2013 pro 100.000 Einwohnern 36,2 Menschen auf den Straßen, in Spanien nur etwa ein Zehntel davon, 3,7, wie aus Zahlen der Weltgesundheitsorganisation WHO hervorgeht. Apropos WHO: Es gehört hier nicht wirklich hin, aber diese Zahl ist doch zu schockierend, als dass man sie weglassen könnte. Nach Schätzung der WHO  werden in diesem Jahr weltweit rund 1.350.000 Menschen im Straßenverkehr sterben, vor allem junge männliche Fußgänger, Fahrrad- und Mopedfahrer in armen Ländern. Bis zu 50 Millionen Menschen werden verletzt. 

Eine mehrfach geäußerte Kritik an meinem Beitrag auf SPIEGEL+  lautet in etwa so: "Bravo. So ist es. Umso mehr wundert mich, dass Sie immer noch Artikel veröffentlichen, in denen Rasen mit ,sportlich‘ und Lärm mit ,kernigem Sound‘ assoziiert wird", wie Alexander K. schreibt. Und Oliver B. fragt: "Warum werden immer wieder Berichte über die neuesten Dreckschleudern veröffentlicht, obwohl jeder weiß, dass deren Zeit abläuft?

Wie Sie sehen, lieber Herr B., ist das Thema Autoliebe und Autohass nicht nur außerhalb der Redaktion ein sehr kontroverses. Alles deutet darauf hin, dass dies auch noch lange so bleibt. Bei allem Streit um die Höchstgeschwindigkeit auf Autobahnen schlägt Freimut G. einen Kompromiss vor, der Deutschlands herausragende Position als Schnellfahrland Nr. 1 zumindest kaum gefährden würde: "Im Übrigen bin ich der Meinung", schreibt er, "dass ein Tempolimit von 160 km/h eine vernünftige Lösung wäre."