Xinjiang ist das Versuchslabor für den chinesischen Überwachungsstaat

Die Uno zeigt sich schockiert über Berichte, dass in Xinjiang schätzungsweise eine Million Menschen aus politischen Gründen eingesperrt ist. Peking verstärkt die Repression in der muslimischen Region seit Jahren stetig – auch mit moderner Technologie.

Patrick Zoll, Taipeh
Drucken
Zwei Männer installieren in der Altstadt von Kashgar eine Überwachungskamera. (Bild: Thomas Peter / Reuters)

Zwei Männer installieren in der Altstadt von Kashgar eine Überwachungskamera. (Bild: Thomas Peter / Reuters)

In den vergangenen Monaten haben sich Berichte gehäuft, dass die chinesischen Behörden in der autonomen Republik Xinjiang die Überwachung der Bevölkerung massiv verschärft und Zehntausende in Erziehungslager gesteckt habe. Nun nimmt sich das Uno-Komitee, das für die Einhaltung der Antirassendiskriminierungskonvention zuständig ist, der Sache an. Denn betroffen sind vor allem muslimische Minderheiten wie die Uiguren, die Kasachen oder die Hui.

Teilweise jeder fünfte Dorfbewohner im Lager

Die Volksrepublik China ist der Konvention 1981 beigetreten und muss wie alle Unterzeichner regelmässig vor dem Komitee in Genf Rechenschaft ablegen. Am Freitag, als die Anhörung begann, wählte die zuständige Berichterstatterin scharfe Worte: Bis zu einer Million Menschen würde in Erziehungslagern festgehalten, weitere zwei Millionen seien gezwungen, tagsüber oder abends an politischen Erziehungskursen teilzunehmen. China habe Xinjiang «in etwas verwandelt, was einem riesigen Internierungslager gleicht, das geheim gehalten werden soll». Man sei über die glaubhaften Berichte zutiefst beunruhigt.

Die Zahlen beruhen auf Schätzungen der Menschenrechtsorganisation Chinese Human Rights Defenders (CHRD). Die Organisation führte Interviews mit Personen aus Dörfern im südlichen Xinjiang. Während der Norden Xinjiangs mittlerweile grossmehrheitlich von Han-Chinesen bewohnt ist, sind im Süden die Uiguren noch klar in der Mehrheit. Darum sind die Sicherheitsmassnahmen der Regierung dort besonders scharf. Die anonym Befragten berichteten, dass sich in verschiedenen Dörfern 8 bis 20 Prozent der Bevölkerung in den Lagern befänden und dass zwischen 20 und 40 Prozent zur Teilnahme an den Kursen gezwungen sei. Daraus errechneten CHRD die Zahlen für die ganze Region.

Da die Erziehungslager nicht Teil des regulären Strafvollzugssystems sind, veröffentlicht die chinesische Regierung keine Zahlen dazu. Im Gegenteil, bisher haben chinesische Vertreter die Existenz der Lager meist verneint. Doch auch die offiziellen Zahlen über Verhaftungen sprechen eine deutliche Sprache: Zwischen 2016 und 2017 verachtfachte sich die Zahl der in Xinjiang Verhafteten. 21 Prozent aller Verhaftungen in China fanden letztes Jahr in Xinjiang statt, obwohl in der Region nur 1,5 Prozent der Gesamtbevölkerung leben. Zwar gibt die offizielle Statistik keine Aufschlüsselung betreffend die Ethnie der Verhafteten, doch es kann davon ausgegangen werden, dass Uiguren und andere muslimische Minderheiten überproportional betroffen sind.

In Xinjiang sind die Verhaftungen sprunghaft angestiegen

in Tausend
Verhaftungen im restlichen China
Verhaftungen in Xinjiang

Die chinesische Regierung – die am Montag zum Bericht der Uno Stellung nehmen kann – rechtfertigt die scharfen Sicherheitsmassnahmen in Xinjiang mit dem Kampf gegen den islamistischen Extremismus. 2009 war es in Xinjiang zu Unruhen gekommen, die gegen 200 Tote forderten. 2014 kamen bei Anschlägen von Uiguren mehrere Dutzend Personen ums Leben. Doch die massive Verschärfung der Repression scheint auch damit zusammenzuhängen, dass vor zwei Jahren Chen Quanguo zum Parteisekretär der Region ernannt worden ist. Chen ist als Hardliner bekannt und führte zuvor Tibet mit ähnlich harter Hand.

Checkpoints sind in Xinjiang allgegenwärtig: Ein Polizist überprüft die Papiere eines Mannes auf einer Strasse in Kashgar. (Bild: Thomas Peter / Reuters)

Checkpoints sind in Xinjiang allgegenwärtig: Ein Polizist überprüft die Papiere eines Mannes auf einer Strasse in Kashgar. (Bild: Thomas Peter / Reuters)

Westliche Journalisten, die in den letzten Monaten unter scharfer Beobachtung der Behörden Xinjiang bereist haben, berichten von einem absoluten Polizeistaat. Überall gebe es Checkpoints, wo sich die Bewohner ausweisen müssten, bei Behörden, an Bahnhöfen oder auch beim Eingang zu Märkten ständen Metalldetektoren, Überwachungskameras begleiteten einen auf Schritt und Tritt. An jeder grösseren Strassenkreuzung stehe ein Polizeiposten. Die Sicherheitskräfte treten mit Helmen, kugelsicheren Westen und gepanzerten Fahrzeugen so martialisch auf, dass sich manch einer in einem Kriegsgebiet wähnt.

Xinjiang ist auch eine Art Versuchslabor für moderne Überwachungstechnologien. So soll ein neues System, das auf Gesichtserkennung basiert, automatisch die Behörden alarmieren, wenn sich eine überwachte Person zu weit von ihrer Wohnung oder ihrem Arbeitsplatz entfernt. Der Radius, in dem sich die Person bewegen kann, beträgt wenige hundert Meter. Gesichtserkennung kommt auch zum Einsatz an Tankstellen, auf Märkten oder bei wichtigen Transportknotenpunkten wie dem Busbahnhof von Urumqi, der Hauptstadt von Xinjiang. Letztes Jahr berichtete die Zeitung «Global Times», dass in allen Fahrzeugen in Xinjiang ein Navigationssystem installiert werden müsse, das es den Behörden erlaube, das Fahrzeug jederzeit zu orten. Man helfe so den Eigentümern, ihr Auto schnell wiederzufinden, wenn es gestohlen worden sei oder Terroristen sich seiner bemächtigt hätten, zitierte die Zeitung einen zuständigen Beamten. Der wahre Grund ist natürlich, jeden Fahrzeughalter stetig im Auge zu behalten.

NZZ-Asienredaktor Patrick Zoll auf Twitter oder Facebook folgen.