Anschwellender Klagegesang

Von Ronya Othmann

"Du hast den Literaturpreis doch nur bekommen wegen deinem Migrationshintergrund", tippe ich in das Textfeld auf Twitter und setze den Hashtag #MeTwo dahinter.

Ich bin gerade in einem Aufenthaltsstipendium in Chemnitz, als es losgeht. Der Hashtag #MeTwo, unter dem Menschen von ihren Rassismuserfahrungen berichten. Sie erzählen, was ihnen in der Uni, auf der Arbeit, in der U-Bahn, beim Arzt, im Klassenzimmer widerfahren ist. Ich lese und lese und lese. Und während ich lese, fällt mir ständig eine ähnliche Situation, in der ich war, ein, ein verletzender Kommentar, eine Bemerkung. Vergangenes Jahr hat es eine große Debatte gegeben zum Sexismus im Literaturbetrieb. Es ist nun Zeit für ein #MeTwo im Literaturbetrieb. Auf einer Lesung in einem Literaturhaus werde ich gefragt, ob ich denn jetzt von meiner Fluchtgeschichte erzählen will. Ich bin irritiert, welche Fluchtgeschichte denn? Meine Flucht von Bayern nach Leipzig, oder was? Alle anderen Autor*innen an diesem Abend werden zu ihren Texten gefragt.

Bei einem Workshop für Nachwuchsautor*innen werde ich für mein gutes Deutsch gelobt, meine fehlerfreie Grammatik, Orthografie. Es ist nicht das erste Mal, dass mir das passiert. Die Person, die mich lobt, hat neben meinem Text meinen Lebenslauf liegen: "geboren 1993 in München, Abitur 2012 in Freising, seit 2014 Studium am Deutschen Literaturinstitut Leipzig".

In einem Seminar am Deutschen Literaturinstitut Leipzig gab es eine Leseliste für Hausarbeit und Referat, aus der man ein Thema auswählen konnte. Die Lese- und Filmliste bestand größtenteils aus Männern, und allesamt waren weiß. Weil das auch möglich war, beschloss ich, selbst etwas vorzuschlagen, Bahman Ghobadi und Yaşar Kemal. Der Gastdozent sagte "nein", mit der Begründung, Ghobadi und Kemal wären für unseren Kulturkreis nicht relevant.

Wie oft habe ich Leute sagen gehört: "Ja ich würde ja gerne mehr arabische, kurdische oder türkische Literatur lesen, aber die schreiben immer so blumig."

Was für ein provinzielles, was für ein kolonialistisches Verständnis von Ästhetik, Kunst, Literatur. "Für unseren Kulturkreis nicht relevant", wie der Gastdozent in dem Seminar sagte. Wo doch Bahman Ghobadi und Yaşar Kemal mein eigenes Schreiben so sehr beeinflusst haben. Was wollte dieser Gastdozent damit sagen? Ist dann mein eigenes von Ghobadi und Kemal geprägtes deutschsprachiges Schreiben für diesen "unseren" Kulturkreis genauso wenig relevant? Überflüssig zu sagen, dass mich so eine Kulturkreissache nie interessiert hat, ich habe die Filme von Ghobadi gesehen, die Bücher von Kemal gelesen wie die von Herta Müller, Else Lasker-Schüler, Paul Celan, Sherko Fatah, Hisham Matar und, und, und. Und wo doch Liebe, Schmerz, Leben, Leid globale Themen sind, wie Ghobadi in einem Interview mal sagte. Muss man das wirklich noch sagen? Ist das nicht eigentlich schon selbstverständlich?

Leute geben mir auch gerne gut gemeinte Ratschläge. Lieber sollte ich nicht so viel kurdisch-êzîdisch-deutsche Geschichten schreiben, mich nicht so sehr in die "Migrantenliteraturschublade" stecken lassen. Und was interessiert mich diese Migrantenliteraturschublade? Wie alle anderen will ich meine Stoffe und Themen gerne selbst wählen.

Gleichzeitig werde ich manchmal für meinen "Hintergrund" beneidet. Das ist doch jetzt gut für dich, sagt eine Kollegin, dass Syrien, die Jesiden und die Kurden in den Tagesthemen sind, dann kannst du deine Texte sicher gut verkaufen. Ich sage nichts dazu und denke mir, wie toll, wenn deine êzîdisch-kurdische Familie im Irak und in Syrien vor einem Genozid, dem IS und dem Bürgerkrieg fliehen muss, wenn sich jetzt Verlage für meinen Roman interessieren.

Überflüssig zu sagen, dass ich lieber darauf verzichten würde. Und schon wieder scheint es nur um meinen "Hintergrund" zu gehen, nicht um meine Arbeit. Dabei beschäftige ich mich wie alle anderen Autor*innen auch mit ästhetischen Fragestellungen, arbeite mit Sprache, Rhythmus, Dramaturgie.

Überflüssig auch zu sagen, dass es mich verletzt, mich, als junge Autorin, manchmal auch verunsichert, an meinen eigenen Fähigkeiten zweifeln lässt, wenn mir gesagt wird, ich hätte den Literaturpreis nur bekommen wegen meinem Migrationshintergrund, die literarische Reportage für eine Tageszeitung nur schreiben dürfen, wegen meinem "Migrantenbonus", und meine Texte, in denen ich beispielsweise über den Genozid an den Êzîden schreibe, würden nur gut ankommen, weil das so "Betroffenheitsgeschichten" sind. Und wenn der Filmemacher Bahman Ghobadi, dessen Filme oft in Kurdistan spielen, als für "unseren Kulturkreis nicht relevant" abgewertet wird. Irgendwann habe ich beschlossen, meinen Namen so auszusprechen, wie er auf kurdisch ausgesprochen wird, nämlich nicht wie Ronja Räubertochter, sondern – es ist ein kurdischer Name – R-o-n-y-a, mit gerolltem R, langem O. Ich mache das nur manchmal, weil ich oft zu schüchtern bin dafür, mich schäme, dass ich so viel Trubel und Komplikationen, erneutes Nachfragen auslöse. Ich habe mich aber dann doch auf einer Literaturveranstaltung so vorgestellt, und durfte mich bei der Lesung selbst ankündigen, weil der Name so schwer auszusprechen sei.

Ich könnte die Liste weiter fortsetzen, den Hashtag anfügen #bachmannpreissowhite; man sehe sich mal die Zusammensetzung der Jurys an, der Literaturkritiker*innen in den Feuilletons, die Literaturveranstalter*innen. 2014 schrieb Florian Kessler in der ZEIT in seinem Kommentar Lassen Sie mich durch, ich bin Arztsohn! darüber, wie homogen das Milieu ist, aus dem die meisten Absolvent*innen von Schreibschulen kommen. Letztes Jahr gab es, angestoßen durch ein Dossier im Merkur, eine Debatte zu Sexismus im Literaturbetrieb. Es wurde gezählt, wie viele Männer und Frauen auf der Liste des Deutschen Buchpreises stehen, wie das Geschlechterverhältnis in Jurys ist. Nun könnte man auch mal darüber reden, wie weiß der Literaturbetrieb eigentlich ist. Und wie rassistisch.

Ich sitze immer mit meinem Smartphone in der Hand in meinem Chemnitzer Kleingarten, wo ich eigentlich über Pflanzen schreiben will, und lese, bis mein Datenvolumen aufgebraucht, dann mein Akku leer ist. Da findet sich eine Sprache. #MeTwo, #MeTwo wie ein anschwellender Klagegesang, wütend, trotzig, traurig. Es fängt nicht beim Literaturbetrieb an, es hört nicht beim Literaturbetrieb auf.

Literatur kann eine Rache sein

Einige Anmerkungen zur Adjektivliteratur

Von Max Czollek

Das hier ist nicht die erste Debatte, die wir zu Diskriminierung im Literaturbetrieb führen, und sicher nicht die letzte. Dafür höre ich einfach von zu vielen Vorfällen: ein Autor, dessen Texte dem Kritiker zu schwul sind. Eine Autorin, deren Texte von einer Jury für erstaunlich männlich erklärt werden. Ein Text, dem wegen seines Bezugs auf antirassistische Diskurse die literarische Qualität abgesprochen wird. Ein Literaturprofessor, der fragt, ob er meinen Text überhaupt kritisieren dürfe, der sei ja von einem Juden geschrieben. Bei aller Besonderheit, durch die sich die Diskriminierungsformen voneinander unterscheiden, möchte ich behaupten, dass diese Vorfälle eine Dynamik verbindet: die Zuweisung von Adjektiven.

Die Zuweisung von Adjektiven erzeugt einen bestimmten Interpretationsrahmen, der das Lesen und Verstehen von Texten wesentlich vorstrukturiert. Man kann das beispielsweise an der Beschränkung "jüdischer" Kunst auf die Themen Antisemitismus, Schoah und Israel sehen. Oder bei "weiblicher" Literatur auf Beziehung, Vergewaltigung und Emanzipation. Oder beim "migrantischen" Roman, der um die Themen Landwechsel und Spracherwerb, Integration und Identität kreist. Darum möchte ich von Adjektivliteratur sprechen.

Diese Zuschreibungsdynamik ist nicht auf den Literaturbetrieb beschränkt. Sie hat auch zur Folge, dass eine in ihrer Vielfältigkeit kaum zu überblickende Kunstform wie die des Hip-Hops mit Vulgarität und Gewalt gleichgesetzt wird, was nicht zufällig einem gesellschaftlich etablierten Bild von einer migrantisch geprägten Unterschicht entspricht. Das hat die letzte Debatte um antisemitische Rapper beim Echo neuerlich gezeigt. Dagegen zeichnet die Kunstform Hip-Hop auf literarischer Ebene in vielen Fällen eine Spracharbeit und ein uneigentliches Sprechen aus, was einen intensiven, bisher kaum ausgeloteten Einfluss auf Dichter*innen meiner Generation gehabt hat.

Adjektivliteratur verstellt aber auch die Wahrnehmung vorhandener künstlerischer Strategien der Selbstermächtigung und Kritik. Denn natürlich gibt es sie – die Gegenerzählungen. Man muss sich nur auf die Suche begeben, dann tauchen sie an allen möglichen, manchmal unerwarteten Orten auf: Modianos La Place de l'Étoile, Braschs Drei Wünsche, sagte der Golem, in den Stücken Jelineks und Kanes, Billers Kurzgeschichten oder SpongeBOZZ‘s Yellow Bar Mitzvah. Gangster-Rap ist auch die Gegeninszenierung zur gesellschaftlichen Fantasie vom anderen. Literatur kann eine Form feministischer, antirassistischer oder jüdischer Rache sein.

Politische Literatur wird heutzutage mit Adjektivliteratur identifiziert. Für Lyrik stellt sich dieses Problem in besonderer Weise, da ihr besonders schnell vorgeworfen wird, unpolitisch zu sein. Der Vorwurf wird für gewöhnlich als Lamento vorgetragen, wobei die Klage über die Entpolitisierung der Lyrik zugleich das klassische Bild der ehernen, über den Alltag erhabenen Dichtkunst aufruft – und damit, so ist zu vermuten, auch die impliziten Erwartungen des Kritikers/der Kritikerin. Denn selbstverständlich entsteht gegenwärtig eine Menge Lyrik mit Gesellschaftsbezug, sie ist aber weit über die Agitprop früherer Jahrzehnte hinaus.

Ob Frauenliteratur oder Migrantenroman, Straßenrap oder Judenlyrik – das alles sind Labels, unter denen potenzielle Leser*innen eine Kunst erwarten, die als authentisch apostrophiert wird. Bei diesem Karneval der Kulturen spielen wir Künstler*innen häufig die Rolle, die man uns vorgibt. Die Gründe für diese Kompliz*innenschaft sind offensichtlich und vertraut: Für die Selbstinszenierung als andere erhalten wir soziale und materielle Ressourcen. Unsere Andersheit ist das kulturelle Kapital, das uns einen Einstieg in den Literaturbetrieb ermöglicht. Und ihn zugleich beschränkt.

Meine Kritik am literarischen Karneval hat eine weitere reflexive Wendung. Die Adjektivliteratur wiederholt gerade jene Ausschlüsse, gegen die sich eine feministische, jüdische, migrantische, postmigrantische oder afrodeutsche Kritik ursprünglich zur Wehr setzte, als sie die Besonderheit und Nichtidentität der eigenen Perspektive betonte, um einer befürchteten "kulturellen Aneignung" zuvorzukommen. Wenn wir mit diesem Bezug auf Identitäts- und Authentizitätsdiskurse nicht das Loch gegraben haben, in das wir mit der Adjektivliteratur fallen, dann haben wir zumindest einige Schaufeln besorgt. Die biografische Beichte ist das Kapital der Minderheiten. Es ist der Treibstoff "migrantischer", "jüdischer", "queerer" oder "feministischer" Literatur, deren Inhalte von einer gierigen Öffentlichkeit erst angezapft, dann raffiniert und schließlich konsumiert werden. Das ist ein Problem, denn es legt die Literatur vonseiten der Interpretation und der Produktion fest. Um dieser Dynamik etwas entgegenzusetzen, braucht es genau zwei Dinge: die selbstkritische Befragung, an welchen Stellen wir die Erwartungen an unsere Literatur aus welchen Gründen erfüllen. Und das Bewusstsein für die gesellschaftliche Funktionalisierung künstlerischer Arbeiten.

Wir sind keine Ölfelder. Wir stehen für Repräsentationsfracking nicht zur Verfügung.

(In den Text sind Passagen des unsachlichen Sachbuchs "Desintegriert euch!" eingearbeitet, welches im August 2018 im Hanser Verlag erscheinen wird.)

Immer gefangen im Drehkreuz, immer in diesen Zwischenräumen

Scheinschwuler Kommunistenaraber geht hochschwanger in ein Solarium, bestellt sich heiße Rote Bete und Kardamomtee. Eine autobiografische Tatsachenübertreibung

Von Mehdi Moradpour

Bei einem Publikumsgespräch wird er gefragt, ob seine Texte autobiografisch sind, autobiografisch … hm, ja, das ist so eine Sache, gute Frage, sagt er, und ja, ähm, sicher spielen Erfahrungen und Einflüsse aus eigenem Leben eine Rolle, also eine wichtige Rolle beim Schreiben, und da ruft ihm jemand plötzlich zu, "das heißt, dass sie eigentlich grundsätzlich hauptsächlich nur das eigene Leben in poetischer, dramatischer und prosaischer Form zu beschreiben versuchen?", da lächelt er lässig, er hat gelernt, dass diese Frage in literarischen hochoffiziellen Anlässen eine der hochbeliebtesten Fragen ist, "und Sie sind ja auch nicht von hier, wie ist es so … ?", dass ist auch gut gemeint, das hat er gelernt, er hat ein Interesse, alle haben ein Interesse, sagt er sich, wir haben eine Aufmerksamkeit.

Also redet er, von literarischen Traditionen, seinen Jobs und Nüssen als Inspirationsquellen; von erzählerischen Masken und Zusammenhängen zwischen einer realen und einer fiktionalen Kakifrucht zum Beispiel; und gerade da, in dem Moment, als das Wort "fiktion-al" in den Raum hineingesprochen wird, meldet sich jemand, jemand vom Theater, das weiß er, und sagt: "Immer gefangen im Drehkreuz, immer in den Zwischenräumen, diese Zweideutigkeiten, diese Begriffe, diese Konjunktur, diese Identifikationsproblematik, diese Katharsis … Ich wünsche mir, dass Sie doch einfach klar und deutlich sagen: Inwieweit haben ihre Texte mit Ihnen als Person und Ihrer Heimat und den Erlebnissen, die Sie dort und überall erlebt haben, zu tun?"

Endlich, endlich will er gestehen, sagt er sich, und er tut das, er gesteht, also steht er auf, macht Dehnübungen, setzt sich wieder hin und gibt zu, dass sich hinter all den Darstellungen in seinen Texten etwas anderes verbirgt, nämlich seine und nur seine eigene und wirklich wahre Lebensgeschichte und sie geht so: In Wahrheit ist er eine frustrierte Kommunistin mit poetischem Anspruch, ein Schleuser aus schlechtem Gewissen und eine Tierpräparatorin mit möchtegern-messerscharfem Verstand – aber am Ende nur mit einem nutzlosen Skalpell in der Hand, wie in seinen Texten, als er eines Tages im hochschwangeren Stadium auf der Straße heiße Rote Bete verkauft, erfährt er durch einen Anruf, dass sein Vater ins Koma gefallen, seine Mutter verhaftet worden und sein Bruder mit seiner Freundin durchgebrannt ist, alles am selben Tag, deshalb besorgt er sich Ritalin und fliegt nach Havanna, eigentlich wollte er aber nach Israel, weil es dort so aussieht wie bei ihm zu Hause und das wäre sicher wichtig gewesen, weil es ja zu Hause so schön ist, aber er fliegt nach Havanna, in die Hauptstadt von Indien, in der Hoffnung, dass dort auch alles so aussieht wie bei ihm zu Hause.

Während einige im Publikum mit weit gespannten Augen – und Ohren – zuhören und andere vor lauter Begeisterung ihre Daumen lutschen, sagt er, dass er ja auch ein bisschen autistisch ist, und außerdem lesbisch, also SM und so auch, aber auch schwul, wie in seinen Texten, sagt er, also scheinschwul, eigentlich bi und hoffentlich nicht wirklich kastriert, es gibt Gerüchte über ihn, sagt er, dass er wie in seinen Texten politischen Gefangenen Kardamomtee serviert hat; dass er sie danach mit kaltem Wasser übergossen, wegen Ice Bucket Challenge und so, und ihnen später aus schlechtem Gewissen zur Flucht aus dieser Region da unten verholfen hat; und dass er deswegen selbst mit kaltem Wasser übergossen worden ist und fliehen musste, jedenfalls wird er irgendwann freigelassen und denkt sich, "was kann ich jetzt als eine schwangere Frau in so einem Land voller lauter Moscheen, Transgender und Atombomben machen?", und, na bumm, hat er eine Idee, er bekommt sein Kind, besticht die Behörden seines Landes mit Pistazien, gründet eine Ölfirma namens Octopus Petroleum Company und fliegt nach Mallorca, um Deutsch zu lernen.

In Deutschland lernt er dann Spanisch und behauptet anfangs ununterbrochen, er wäre nie in einer Opiumhöhle gewesen, hätte nie ein Kamel gesehen, außer im Zoo, jaja, nie Couscous gegessen, außer erst in Europa usw., und später dann, dass er aus einer Großstadt komme, aus einem Welthafen mit schiffumfahrenen Klippen, und könne nicht lesen, was dort drüben auf dieser Wand zum Beispiel geschrieben steht in dieser nichteuropäischen Schrift, er erzählt, wie er einmal beim Ausdrucken exotischer Texte, eben wie diese Schrift da drüben auf der Wand, aber von einer anderen Sprache, von seinem Lehrer erwischt und ganz ganz höflich gefragt wird, ob er irgendwelche religiösen Inhalte verbreitet, jedenfalls lächelt er zuerst, macht einige Dehnübungen vor den Augen des verwirrten Lehrers und hält dann einen mindestens 30-minütigen Vortrag über die Geschichten, Geografien, Kulturen und Sprachen in seinem Land, das er gleichzeitig nicht als sein Land bezeichnet, weil, er habe ja keine Heimat oder so als Kommunistin und Mutter, danach hält er ihm noch eine kurze Rede über die Ideengeschichte des Anarchosyndikalismus in der Sächsischen Schweiz und schreit ihm am Ende ins Gesicht: "Ich bin eine voluntaristische Zwischenruferin und Widerstandskämpferin mit einer Affinität für die sofortige Durchführung von utopischen Weltverbesserungsmaßnahmen und liebe die Löchrigkeit vom Schweizer Käse und trinke gerne Rum."

Während er noch darstellt, dass der Lehrer ihn wegen seiner Kenntnisse über den Schweizer Käse als Rednerin auf das Treffen junger Waldhuhnpräparatorinnen eingeladen und ein Universitätsgremium ihn als Kandidatin für den kultigen Europapreis für schlechten Kunstgeschmack vorgeschlagen hat, steht der Theatermensch, der vorhin seinen Wunsch geäußert hatte, auf und ruft voller Mitgefühl: "Immer gefangen im Drehkreuz, immer in diesen Zwischenräumen … es tut mir Leid, Jesus nimm hinweg die Schuld unserer Welt, und aber gleichzeitig, ich bewundere ihren Mut, cool, Chapeau, Bravo, alles Gute und Tschüssss!"

Die Sätze sind holprig für deine Ohren

ich pflücke mir

Von Özlem Özgül Dündar

ich kaue und kaue die worte zusammen. ich zermalme sie und verdrehe und mahle sie. zwischen meinen zähnen löse ich die worte auf. zerlege sie in ihre bestandteile. löse sie auf. und löse sie. und sie sind ganz losgelöst von ihren zusammenhängen und ihre zusammenhänge und bedeutungen verlöschen in meinem gedächtnis. die worte verlöschen und die sprachen verlöschen und mit ihnen ihre sätze und ihre regeln. und ihre grenzen verlöschen in gänze.

und die worte meiner sprachen liegen aufgelöst in mir. und ihre teile schwimmen in meinem kopf. und ich pflücke mir aus ihren teilen, was ich brauche, für das, was ich sagen will. ich pflücke wild und frei. und ich pflücke und mache alles mit den teilen der sprachen, die regellos und grenzenlos in mir aufgelöst liegen.

um den raum der fiktion zu betreten, zermahle ich die sprachen in mir. und pflücke heraus, was ich für die fiktion brauche, was zu ihr am besten passt. und ich erfinde wild und frei. und ich lege zusammen, wie es für die fiktion im text am besten passt. und ich forme kugeln aus den teilen wie sie am besten klingen. und ihre grammatiken und ihre strukturen sind verloschen in mir. ich nehme mir, was ich brauche aus dieser fein gemahlenen masse. schreibe in neuen worten und sätzen. schreibe in worten und sätzen, wie ich sie brauche in der fiktion, um die literatur zu schreiben, die in meinem kopf schwirrt, die mir vorschwirrt.

und die sätze sind holprig für deine ohren. und die worte sind unbekannt für deine ohren. und du hörst worte, die dich an etwas erinnern, das du kennst. an worte und sätze die kommen dir bekannt vor und sind es doch nicht, denn ich habe die worte, die du kennst, und alle worte aus allen sprachen, die ich kenne, zusammengelegt und gekaut und gekaut und zermalmt und zerlegt, bis sie in ihren zusammenhängen und bedeutungen, die dir bekannt sind, verlöscht waren und dann begann die sprache der fiktion, dieser einen, die ich schreiben will.

und die sprache entsteht immer wieder. und sie verwirrt dich immer wieder in ihrer neuen form. und jede fiktion hat ihre eigene sprache, kann ihre eigene sprache haben, aus allen sprachen, die es gibt, vermischt zu etwas neuem werden. und dann vermischen sich die sprachen, rutschen ineinander und zerlegen sich gegenseitig. und ihre teile verlaufen ineinander und verändern sich gegenseitig, mit meinem mund gesprochen, mit deinem gelesen und immer wiederholt.

die fiktion ist der raum, ohne regeln von außen. die regeln, die ich kenne und die du kennst, lösen sich auf in diesem raum, und es gibt neue sprachen und neue wesen, die aus der fantasie entspringen und meins werden und deins werden, und jede fiktion hat ihre eigene sprache und sie verwirren uns und vermischen unsere regeln und unsere gedanken und formen immer wieder neues. 

Wir tauschten vielsagende Blicke

Kann Sprache alles?

Von Sandra Gugić

Artists are warriors who conquer new territorries and overcome their weaknesses. (Marina Abramović)

Vor meiner Wohnungstür liegt eine Fußmatte mit dem Schriftzug Heimat, ich weiß nicht mehr, woher oder wie lange ich sie schon habe. Das Wort Heimat drehe ich immer Richtung Wohnungstür, also Richtung zu Hause. Der Mensch von der Reinigungsfirma, den ich noch nie zu Gesicht bekommen habe, hat es sich zur Angewohnheit gemacht, meine Fußmatte nach jeder Reinigung des Flurs wieder umzudrehen, sodass die Heimat nach außen zeigt, Richtung Welt vor meiner Tür. So drehen und wenden wir die Bedeutung dieses Begriffs zwischen zwei Möglichkeiten, die Heimat, die den privaten Rückzugsraum bezeichnet, und dem Begriff Heimat, der Anspruch auf Allgemeinheit erheben und für alle gelten will.

Meine Heimat ist die deutsche Sprache, das habe ich in meinem allerersten Interview gesagt. Das Erlernen und Beherrschen der Sprache war für mich als Gastarbeiterkind, als Ausländerkind der Schlüssel zur Welt. Auch zur Welt der Literatur. Die Grenzen einer Sprache bedeuteten die Grenzen meiner Welt. Diese mir zugeschriebenen Grenzen habe ich erweitert, und sie sind mir aufs Neue zugeschrieben worden. Der Literaturbetrieb hat mein Schreiben in die Migrantenliteraturschublade gesteckt. Und ja, Identität ist eines der Themen, die mich beschäftigen, an dem ich mich abarbeite. Aber nicht das einzige Thema.

Dass wir, die ausgezeichneten Autorinnen, ein wunderbares Beispiel für gelungene Integration seien, sagte die damalige Bildungsministerin Claudia Schmied in ihrer Rede zum Hohenemser Literaturpreis, der für Autor*innen mit Migrationshintergrund ausgeschrieben wird. Wir Autor*innen tauschten vielsagende Blicke. Auch die Juror*innen waren von dieser Aussage wenig begeistert und Doron Rabinovici steuerte in seiner Laudatio gegen, sprach über die Texte, über Spracharbeit und die Möglichkeiten von Literatur. Kann es also auch einen Literaturbetrieb geben, in dem es vor allem um die Texte geht?

Aber die Sprache könne doch alles, sagte ein Mann aus dem Publikum nach einer Lesung, vor ein paar Tagen erst, die Sprache sei ein von der Identität des schreibenden Individuums unabhängiges Instrument. Die Sprache mag alles können, aber die Zuschreibungen der Gesellschaft und des Literaturbetriebs geben beispielsweise mir die Marker: weiblich/cisgender, Migrationshintergrund, et cetera, et cetera. Marker meiner Identität, Geschichte und Sozialisierung, die ich von mir wegschreiben kann, die mein Schreiben, meinen Erfahrungshorizont und Blick auf die Welt aber ebenso beeinflussen und prägen. Diese Marker werden mir bei jedem Publikumsgespräch, mit jeder Rezension, in jedem Interview auch wieder von Neuem angeheftet. Und gefärbt von diesen Markern werden meine Texte gelesen und rezensiert.

Kann Sprache also alles? Unsere Gesellschaft ist im Wandel begriffen, für den der positive und kreative Umgang mit Vielfalt und damit, das Gemeinsame und Verbindende in dieser Vielfalt zu finden, essenziell sein wird. Die Sprache sollte alles können, alles dürfen. Der Literaturbetrieb könnte abrücken vom allgegenwärtigen Personenkult und von Vermarktungsstrategien, die sich über diesen generieren, über die auferlegte oder gewählte Identität der jeweiligen Autor*in. Die Entscheidungen liegen ebenso beim Selbstverständnis und den Strategien des Literaturbetriebs wie auch bei der Selbstbestimmung der Autor*innen. Wir können uns von den Zuschreibungen lösen. Es kann vor allem um die Texte gehen, um Sprache.

"Jede Identität steht heute neben anderen Identitäten. Jede Religion steht neben anderen Religionen […]. Die entscheidende Frage lautet nicht: Wer bist du? Die entscheidende Frage lautet vielmehr: Wie stehst du zu dem, was du bist? Wie stehst du dazu Österreicher, Türke oder Tschetschene zu sein? Wie lebst du dein Christentum, dein Judentum, wie lebst du deinen Islam oder deinen Atheismus? Das ist die Frage der pluralisierten Gesellschaft. Das ist die Kernfrage unserer Zeit." (Isolde Charim, Ich und die Anderen)