Der ganze Mensch

Jean-Paul Sartre war in Frankreich nicht nur «in Mode», als der Existenzialismus in Mode war. Im Rampenlicht der Öffentlichkeit bewegte sich der Intellektuelle während knapp vier Jahrzehnten, als Repräsentant einer ganzen Epoche - der Nachkriegszeit.

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Jean-Sol Partre, so heisst ein grosser Philosoph und Schriftsteller in Boris Vians wunderbar poetischem Roman «Die Gischt der Tage» aus dem Jahre 1947. Wo auch immer dieser Jean-Sol Partre in Paris auftritt, kommt es zu wahren Menschenaufläufen, die Damen werden im Gedränge ohnmächtig, die Herren prügeln sich um Sitzplätze und zahlen bei Souvenirjägern und Antiquitätenhändlern horrende Preise für eine Pfeife oder gar eine Hose des Dichters und Denkers. Boris Vian hat sich damals nicht viel Mühe gegeben, als er den realen Sartre in die Romanfigur Partre verwandelte. Und er hat nicht einmal übertrieben, als er die Auswüchse der Sartromanie und Sartrolatrie auf der Pariser «Rive Gauche» in den Jahren unmittelbar nach der Befreiung Frankreichs beschrieb: Noch Tage, Wochen und Monate nach dem 29. Oktober 1945, dem Tag, da Sartre abends in einem Saal unweit von Saint- Germain-des-Prés für den Club «Maintenant» seinen Vortrag «Der Existenzialismus ist ein Humanismus» gehalten hatte, wussten die Zeitungen von einem zum Bersten vollen Saal zu berichten, von zerdeppertem Mobiliar, von Anfällen wahrer Hysterie.

SITUATIONEN

Mit Sartre hatten die wie Pilze aus dem Boden spriessenden Journale ihren ersten intellektuellen Medienstar und mit dem «Existenzialismus» - Sartre hatte zwei Monate zuvor, auf einer Konferenz in Brüssel, noch gesagt: «Meine Philosophie ist eine Philosophie der Existenz. Existenzialismus? Ich weiss nicht, was das ist» - einen vom Meister abgesegneten Begriff, mit dem sich eine ganze Epoche neu erfand, im vestimentären Code (das obligate Schwarz einer Juliette Gréco), in der Musik (dem Jazz, dem Be-Bop), in der Haartracht, in der Literatur, nicht zuletzt in der Philosophie. Hatten wirklich alle, die ihm im Café Flore beim Schreiben zusahen, Sartres noch unter deutscher Besetzung erschienenes Hauptwerk «Das Sein und das Nichts» (1943) gelesen? Gleichviel: Sätze, die besagten, dass die Existenz der Essenz vorausgehe, dass der Mensch zur Freiheit verurteilt sei, dass er sein Menschsein täglich neu erfinden müsse, wirkten wie Faustschläge auf den Tisch. Sie markierten einen Neuanfang und resümierten gleichzeitig die geschichtliche Erfahrung einer ganzen Generation.

Einen kurzen, heute zuweilen missverstandenen Artikel für die «Lettres françaises» vom 9. September 1944 («Die Republik des Schweigens») hatte Sartre mit dem provozierenden Satz eröffnet: «Niemals waren wir freier als unter der deutschen Besatzung.» Frei, weil in dieser extremen Situation der Überwachung, der Bedrohung, der Angst (vor Folter, vor Deportation), in dieser Situation, da alle tradierten Ordnungen und Orientierungsmuster ausser Kraft gesetzt waren, jeder Mensch, auf sich selbst zurückgeworfen, vor eine Wahl gestellt war, weil, so Sartre, angesichts des Todes ein so allgemeiner Satz wie «Alle Menschen sind sterblich» plötzlich eine konkret individuelle und existenzielle Bedeutung angenommen habe. Sartre hatte selbst, wie er später mehrfach berichtete, die Kriegsjahre als radikalen Bruch in seiner intellektuellen Biografie erlebt. Ablesbar ist dies unter anderem an den postum erschienenen Aufzeichnungen «Carnets de la drôle de guerre», aber auch an der ab 1945 erscheinenden Romantrilogie «Les chemins de la liberté». Und in seinen Theaterstücken konstruierte er immer wieder solche Situationen, in denen der Mensch seiner condition humaine sich bewusst wird, in denen er seine Freiheit im Augenblick der Wahl erkennt und annimmt.

Situationen - der Begriff ist nicht zufällig gewählt, Sartre überschreibt damit seine seit 1947 in loser Folge erscheinenden, bis 1976 auf zehn Bände anschwellenden Essaysammlungen mit meistenteils gewichtigen Einlassungen zu Literatur, Politik, Philosophie. Der Mensch ist situiert, in eine konkrete Geschichte, in ein konkretes Milieu, in ein konkretes Problemfeld. Er ist aber nicht ein für alle Male situiert (sieht man einmal ab von dem grundlegenden, kontingenten Faktum, irgendwann geboren worden zu sein), er ist es, im Prozess der Geschichte, stets aufs Neue. Sartre ist der Mann der Situation, Situation im pluralen Sinne verstanden. Das hat ihn, für die Dauer seines Lebens, zum Zeitgenossen «par excellence» gemacht, zum contemporain capital. Nicht nur in der unmittelbaren Nachkriegszeit ist er der Mann des Augenblicks. Vom Existenzialismus bis zum Maoismus, vom «Kalten Krieg» über den Zusammenbruch des französischen Kolonialreichs in Indochina und Algerien bis zum Nahost-Konflikt, vom ungarischen Volksaufstand 1956 über die Studentenrevolte von 1968 bis zu den «boat-people» Ende der siebziger Jahre - Sartre ist omnipräsent, spielt die Rolle des klassischen, von Victor Hugo und Emile Zola vorgeprägten Intellektuellen, der, wie Sartre mit Sinn für Selbstironie konstatierte, sich in Dinge einmischt, die ihn eigentlich nichts angehen.

FREIHEIT, GLEICHHEIT . . .

Aber situiert zu sein, heisst eben auch, engagiert zu sein, in des Wortes aktivischer wie passivischer Bedeutung. «Vous êtes embarqués», Sie sitzen bereits im Boot - mit diesem nautischen Bild hatte Pascal im 17. Jahrhundert die Bedingung alles Menschlichen umschrieben. Nun geht es darum, dieses Boot auch zu steuern, ihm eine Richtung zu geben. Genau darum ging es Sartre in seinem zweiten grossen philosophischen Entwurf, der «Kritik der dialektischen Vernunft», die 1960 erschien. Zwar ist der Marxismus laut Sartre - der den stalinistischen französischen Parteikommunisten, die ihn nie mochten, seit 1956 endgültig die Weggenossenschaft aufgekündigt hatte - der nicht mehr hintergehbare, der unüberschreitbare Horizont allen Denkens (er wäre das gemeinsame Boot, in dem wir sitzen, das Boot, das zu neuen, besseren Ufern unterwegs ist), aber es muss den Individuen, es muss einer Freiheit, die mehr ist als nur Einsicht in deterministische, überindividuelle Notwendigkeit, ein Platz auf der Ruderbank eingeräumt werden.

Ein schwieriges Unternehmen. Sartre versucht auf seine Art, in den verschiedenen Epochen seines Lebens, und man ist mit Michel Rybalka geneigt zu sagen: nacheinander, die Revolutionsparole von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit in die Wirklichkeit zu entlassen. Er agitiert, er militiert, er provoziert, in Hörsälen, auf der Strasse, vor Fabriktoren. Und gleichzeitig schreibt er, füllt er über Jahrzehnte in sauberster Schülerschrift Tausende und Abertausende Bögen von Papier, Rechenkästchen oder Rauten. Längst nicht alles gelangt zur Publikation. Aber die Menge und Qualität des Veröffentlichten ist erdrückend, bleibt überwältigend. Romane, Theaterstücke, Kritiken, Essays, Filmszenarien, Schriften zur Kunst (Calder, Wols, Tintoretto, Picasso . . .), politische Analysen, Philosophie, die Leitung der Zeitschrift «Les Temps modernes» und nicht zuletzt Schriftstellermonografien - sein eigenes Leben betreffend: «Les mots» (1964, im Jahr des abgelehnten Nobelpreises für Literatur erschienen), vor allem aber die Studien über Baudelaire, Genet, Mallarmé und, insbesondere ab 1971, Flaubert. Drei Bände, über dreitausend Seiten, an deren Ende das - nicht eingelöste - Versprechen steht, demnächst über «Madame Bovary» zu sprechen, Flauberts ersten Roman . . . Aber was für ein Wurf!

Sartre ist Mitte sechzig, er ist physisch gezeichnet, seine Erblindung schreitet voran - wahrscheinlich eine Folge seines Tablettenkonsums in den fünfziger Jahren, Corydrane vor allem. Ein grosses Buch, so Sartre auf Vorhaltungen von Simone de Beauvoir, sei wichtiger als das eigene Wohlbefinden. Doch bleibt sein Pensum gewaltig. Er verteilt die - verbotene - «Cause du Peuple» auf den Pariser Boulevards, steht für alle möglichen Podien zur Verfügung, gründet die Tageszeitung «Libération», und zu Hause, am Schreibtisch, folgt dann die hochkonzentrierte Arbeit am «Flaubert». Sartre kennt ganze Passagen aus Flauberts Briefen und Jugendschriften auswendig (wie übrigens auch, bis in ihre Niederungen hinein, die französische Lyrik des 19. Jahrhunderts), die er, oft nur mit geringen Ungenauigkeiten, zitiert. Möglicherweise wird noch einige Zeit vergehen, bis dieses letzte grosse Unternehmen Sartres, der «Idiot der Familie», in seiner ganzen Dimension durchmessen ist; ein Unternehmen, das mit einer ebenso schlichten wie fundamentalen Frage anhebt: «Was können wir heute von einem Menschen wissen?», heisst es gleich zu Beginn. Auch hier geht es Sartre um den ganzen Menschen. Das Schreiben lässt sich in seinen Augen nicht vom Leben trennen, ein Schriftsteller verschreibt sich mit Leib und Seele, er «totalisiert» in seiner Singularität eine ganze Epoche, und die Epoche totalisiert sich in ihm und in jeder einzelnen seiner Zeilen. Das gilt es zu zeigen, mit Hilfe einer existenziellen Psychoanalyse, einer historisch-kritischen Soziologie und jenes enormen Fundus an literarischem Wissen, der Sartre zur Verfügung stand . . .

SELBSTVERSUCH

Der ganze Mensch - für Sartre, der sein Leben als permanenten Selbstversuch sah, blieb der ganze Mensch das wirkliche Projekt. Die Trennung von Privatem und Öffentlichem konnte er nicht akzeptieren. Seine Liebe zu Simone de Beauvoir, der «Pakt» mit seinem «Castor», gehörte genauso zum Projekt «Leben», wie seine diversen politischen Engagements dazugehörten. Es war dieselbe Baustelle, fast jedermann zur Besichtigung freigegeben. Vielleicht liegt hierin, bei allem Hass, der Sartre begegnen konnte, auch der Grund für seine ungeheure Faszinationskraft: Sartre mag sich oft geirrt haben, aber er tat es gleichsam stellvertretend für eine Epoche, die in den ersten Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg noch an die Möglichkeit einer radikalen Neuerfindung, Neuordnung des Lebens glauben mochte und wollte, ganz gleich, ob in amourösen oder politischen Dingen. Sartres Engagement war total, er spielte immer mit ganzem Einsatz, ohne intellektuelle Hintertür, ohne doppelten Boden. Er war der Mensch in der Revolte oder, anders gesagt: ein Moralist, der sich nicht mit dem Zustand dieser Welt abfinden mochte.

Als Jean-Paul Sartre am 19. April 1980 zu Grabe getragen wurde, folgten Zehntausende seinem Sarg auf dem Weg zum Friedhof von Montparnasse. Ein Schauspiel, wie man es zuvor nur bei den Beerdigungen von Victor Hugo oder Emile Zola erlebt hatte. Es war nicht nur der Abschied von einem Mann, der in seiner Jugend «Spinoza und Stendhal» hatte werden wollen und Sartre geworden war, es war auch der Abschied von einer Epoche, von der Nachkriegszeit. In Wahrheit waren schon andere Zeiten angebrochen, hatte der historische Wind, dem Sartre sich so gerne aussetzte, längst gedreht. Daran änderte auch, ein Jahr nach Sartres Tod, der erste Wahlsieg eines sozialistischen Bewerbers um das Präsidentenamt in der Fünften Republik, François Mitterrand, nichts. Nunmehr hatte man, in Umkehrung des trotzig-frechen Diktums, dass es besser sei, sich mit Sartre zu irren als mit Raymond Aron Recht zu haben, doch lieber mit Aron Recht - mit Sartres engem Freund aus Studienzeiten an der Ecole Normale Supérieure und entschieden liberal-demokratischem, prowestlichem Widersacher. Gründe hierfür waren die seit Mitte der siebziger Jahre - reichlich verspätet - einsetzende Totalitarismuskritik im Lande und das zunehmend wackelnde und schliesslich mitsamt der kommunistischen Utopie zusammenbrechende Gefüge der Ostblockstaaten.

SÜNDENFALL, TROTTEL?

Sartre, das war jetzt ein Fallbeispiel für den politischen «Sündenfall des Intellektuellen». Hatte er nicht, in völliger Verblendung, am 4. Dezember 1974 dem deutschen Terroristen Andreas Baader einen Besuch in dessen Stammheimer Zelle abgestattet (mit Daniel Cohn-Bendit als Dolmetscher und Hans-Joachim Klein als Fahrer)? Ja, er hatte, auch wenn er, allerdings nicht endgültig verifizierbar, Baader im Anschluss an das Gespräch als «gros con» qualifiziert haben soll. Damit war Sartre politisch erledigt. Aber auch auf seinem ureigenen Terrain, der Philosophie, galt er schon bald nichts mehr. Der französische Poststrukturalismus war endlich seines ärgsten Widersachers entledigt. Jacques Derrida fragte sich im September 1983 in der französischen Wochenschrift «Le Nouvel Observateur», was das wohl für schlimme Zeiten gewesen sein müssen, die einem Mann zu Füssen lagen, der buchstäblich von nichts eine Ahnung hatte, von der modernen Literatur nicht und auch nicht von Husserl und Heidegger (die er doch 1933/34 in Berlin studiert hatte - natürlich ohne etwas von den Nazis zu sehen).

Sartre diente jetzt auch als Fallbeispiel für den humanistischen Trottel, der allen Ernstes noch in Kategorien wie «Subjekt», «Freiheit» oder gar «Mensch» gedacht hatte. Dass wir gesprochen werden, dass wir von Diskursen formatiert sind, von alldem hatte der Autor des «Idiot de la famille» und vor allem von «Les mots», diesem bisher nicht eingeholten Beispiel einer Dekonstruktion des Mythos vom Künstler, vom Schriftsteller, vorgeführt an der eigenen Person, angeblich keine Ahnung. Dass Sartre sich mit modernen amerikanischen und anderen angelsächsischen Autoren wie Joyce, Virginia Woolf, Dos Passos, Faulkner schon Ende der dreissiger Jahre produktiv auseinander gesetzt hatte, dass er ihre neuen narrativen Techniken beim Schreiben von «Les chemins de la liberté» ins Französische zu übertragen versucht hatte, war vergessen. Politisch, philosophisch, literarisch galt Sartre schnell als erledigter Fall.

Aber es kam noch schlimmer: Auch mit seiner persönlichen, moralischen Integrität, einer Integrität, mit der man seine grössten Irrtümer und Aussetzer noch aufwiegen konnte (seinen Bruch mit Freunden wie Camus oder Merleau-Ponty, Sätze wie - 1952 - «Alle Antikommunisten sind Schweine»), mit dieser Integrität war es bald, spätestens Ende der neunziger Jahre, vorbei. Zu dieser Zeit nahmen sich endlich auch amerikanische Dekonstruktivisten seiner an. Und sie fanden, wie Susan Rubin Suleiman, heraus, dass etwa Sartres kapitale Schrift aus dem Jahre 1946, dass die «Réflexions sur la question juive» (Betrachtungen zur Judenfrage) ein antisemitisches Werk seien. Genau dieser Aspekt, so ist man geneigt zu sagen, fehlte noch in dem hübschen Tableau, das die Ahnungslosen unter seinen Verächtern heutigentags präsentieren.

Die «Réflexions», 1944 begonnen, zwei Jahre später als Buch veröffentlicht, waren, wie Sartre späterhin mehrmals betonte, eine Gelegenheitsschrift, eine, wie so oft bei ihm, situationsbedingte Schrift. Er reagierte mit ihr auf die Rückkehr der - wenigen - Juden, die die Lager überlebt hatten, nach Frankreich. Und er versuchte, ihnen ein Leben wieder möglich zu machen. Er reagierte also nicht auf die Realität in den Lagern selbst, und es ging ihm auch nicht um die Darstellung und Verteidigung einer spezifisch jüdischen Identität oder Kultur. Im Gegenteil: Sein historischer Kontext war, das ist nun nicht überraschend, der Antisemitismus der Vorkriegsjahre, der in die Katastrophe geführt hatte. Der Jude, so in Paraphrase Sartres berühmter Satz, wird zum Juden erst im Blick des Antisemiten, des Anderen. Wie befreiend dieser Satz auf junge jüdische Intellektuelle nach dem Krieg gewirkt hat, das bezeugen noch heute ein Claude Lanzmann, ein Pierre Vidal-Naquet oder auch ein Robert Misrahi. Der Satz machte und befreite sie zu Menschen, die sich nicht mehr gezwungen sehen mussten, nach einer ihnen vorgegebenen Identität zu fragen. Die Alliance israélite kaufte das Buch gleich in Hunderten von Exemplaren, auf dass es gelesen werde in den jüdischen Schulen des Landes.

FEIGER PROFITEUR?

Aber das ist nur Geschichte, und damit völlig uninteressant für jene Leser, die bei ihren dekonstruierenden Lektüren vergessen, sich selbst einmal zu dekonstruieren. Sartre, so lesen und hören wir, habe mit seinem Satz die Juden ihrer Identität beraubt. Und ausserdem, so die Feinsinnigen, habe er die Anführungszeichen bei «question juive» vergessen. Denn genau dieses Wort tauche im administrativen Vokabular des antisemitischen Vichy-Regimes auf, das ein Kommissariat für «Judenfragen» unterhielt . . . Und damit nicht - immer noch nicht - genug: Jetzt brachte man die Archive zum Sprechen. Sartre, 1941 aus deutscher Kriegsgefangenschaft im Stalag XII D bei Trier entlassen, trat alsbald eine Lehrerstelle am Pariser Lycée Pasteur an, dann am prestigeträchtigen Lycée Condorcet. Genau diese Stelle hatte zuvor ein jüdischer Philosophielehrer innegehabt, der aufgrund der rassistischen Gesetze des Vichy- Régimes seines Amtes enthoben worden war.

Und damit haben wir ihn: Sartre, der es in der Résistance zu keiner heroischen Waffentat gebracht hat, stattdessen «Das Sein und das Nichts» schrieb oder Theaterstücke wie «Die Fliegen», Sartre, der einfach Sartre war und Résistant auf seine Art, Sartre war ein feiger Profiteur antisemitischer Gesetze. - Wie auch immer man jedoch den administrativen Vorgang seiner Ernennung interpretiert (inzwischen haben ganze Kolloquien zu dieser Frage stattgefunden): Sartre war nicht der direkte Nachfolger des amtsenthobenen jüdischen Lehrers Henri Dreyfus-le Foyer. Zuvor hatte Fernand Alquié, dannzumal bekannt als Spezialist für den französischen Surrealismus, diese Stelle für ein Jahr vertreten. Es ist erstaunlich, wie wenig in diesem Zusammenhang heute darauf hingewiesen wird, dass Sartre immer einer der wenigen linken Intellektuellen (und einer der wenigen überhaupt) war, die keinen Fuss, keinen Zoll der politischen und geographischen Existenz des Staates Israel preisgegeben haben.

Sartres Bilanz kann, auch mitten im Fegefeuer, nur positiv sein (wenn man sich denn auf das Spiel der Bilanzierer einlassen will). 25 Minuten in Stammheim, aber dafür «L'être et le néant» und «La critique de la raison dialectique». Eine politische Idiotie, aber dafür «L'Idiot de la famille» und «Les mots». Und wir werfen den gigantischen Rest gar nicht erst in die Waagschale. - Die ungebrochene Vehemenz der Anti- Sartrianer zeugt von der nicht weniger ungebrochenen Virulenz und Aktualität Sartres heute.