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Wie ich für drei Stunden zur Rassistin wurde

In Social-Justice-Seminaren sollen Menschen lernen, mit Alltagsrassismus umzugehen. Die Methoden für diesen Lernprozess sind mehr als fragwürdig.
Judith Basad
Auf die Hautfarbe sollte es nicht ankommen. Oder doch? (Bild: Getty)

Auf die Hautfarbe sollte es nicht ankommen. Oder doch? (Bild: Getty)

«Ich als schwarze Frau werde immer diskriminiert sein, und weisse Menschen werden immer Privilegien haben.» Mit diesem Satz leitet Jovita einen Workshop über Rassismus im Helmhaus Zürich ein. Unter der Überschrift «Rassismuskritisch handeln» will sie mit ihrer Kollegin Rahel den Teilnehmern beibringen, wie man mit Diskriminierung umgeht.

Wenn es um Rassismus gehe, erklärt Jovita weiter, handle es sich immer um eine unbewusste Struktur, die fest in unserer Psyche verankert sei. Selbst wenn eine weisse Person keine rassistische Intention habe, könne sie sich trotzdem rassistisch verhalten. Dagegen gebe es aber Remedur: Indem wir unsere Scham, Reue und Schuld zulassen würden, könnten wir unseren eigenen, unbewussten Rassismus erkennen – und uns bessern.

Ich sitze unter etwa 25 Teilnehmern und bin leicht irritiert. Denn wenn stimmt, was die beiden Frauen sagen, kann ich ja offensichtlich selbst nicht wissen, wann ich mich rassistisch verhalte. Aber wer kann es dann? Die Workshop-Leiterinnen?

Paternalismus und Autorität

Dass Menschen sich das Wissen über das anmassen, was wahlweise unbewusste Struktur, kollektives Unbewusstes oder archetypisches Unterbewusstsein genannt wird, ist ein alter Hut. So argumentierten die Philosophen der Frankfurter Schule mit dem «Verblendungszusammenhang», der die Menschen daran hindere, die Verhältnisse, also die kapitalistische Ausbeutung, zu erkennen. Das ist eine Anmassung von Macht: Denn wer kann schon für sich behaupten, das wahre Wesen der Gesellschaft erkannt zu haben? Dass man sich nicht nur ein Sonderwissen anmasst und es anderen aufzwingt, sondern seine Mitmenschen auch noch dazu verführt, dem eigenen Verstand grundsätzlich zu misstrauen, ist vor allem eines: paternalistisch und autoritär.

Die Coachs schlagen uns jetzt vor, Gruppen zu bilden, nach einem einfachen Auswahlkriterium: schwarz und weiss. Wir weissen Personen mit unserem unbewussten Rassismus sollen keine schwarzen Personen verletzen können. Die Aktion zeigt Wirkung: Ich fühle mich wie ein Verbrecher, obwohl ich gar nichts verbrochen habe. Meine eigene Vernunft, mein Gewissen und meine Argumente zählen in diesem Raum für mich selbst nicht mehr. Hier bin ich nur eines: weiss und deswegen verdächtig, sprich: eine potenzielle Rassistin.

«Dann seid ihr rassistisch!»

Als Nächstes führen wir ein Planspiel durch: In einem Krankenhaus will sich ein weisser Patient nicht von einer schwarzen Pflegerin das Blut abnehmen lassen und beschimpft sie als «Neger». Eine weisse Person liegt als Patient daneben und beobachtet die Situation: Was würde diese Person tun?

Eine Frau in meiner weissen Gruppe ist skeptisch. Sie sagt, dass sie doch selbst krank sei und keine Lust habe, sich mit einem Rassisten anzulegen. «Ich muss ja danach noch mit ihm in einem Zimmer liegen», sagt sie nüchtern. Eine zwar schwierige, aber pragmatische Haltung, denke ich und schreibe «Nicht reagieren» auf den Flipchart.

Das sieht Rahel nicht gerne. «Wenn ihr das macht, dann seid ihr rassistisch!», empört sie sich. «Jedes Mal, wenn so etwas passiert, werde ich verwundet. Jeder, der nichts sagt, unterstützt das rassistische System.» Die skeptische Frau zumindest ergriff nach dieser Zurechtweisung die Flucht und verliess das Seminar.

In diesem Raum ist Rassismus keine objektive Tatsache, sondern von Rahels Schmerz abhängig. Ihre Gefühle wiegen mehr als jede Vernunft. Je nach Sensibilität kann also alles Mögliche rassistisch sein. Sie allein hat die Definitionsmacht über diesen Begriff, weil sie als Schwarze zu den strukturell Unterdrückten zählt.

Die Situation verschärft sich weiter. Plötzlich werde ich von den älteren Frauen in meiner Gruppe in die Mangel genommen. «Wie würdest du dich denn verhalten?», fragen sie. Ich antworte, dass ich der schwarzen Frau ein paar aufmunternde Worte zuwerfen würde, wie: «Mach dir nichts draus, das ist ein Idiot.» «Damit würdest du den Vorfall doch beschwichtigen», entgegnen sie. «Würdest du das tatsächlich so sagen? Ist das nicht ein bisschen . . .?»

Umerziehung durch Scham

Spätestens jetzt stelle ich mich komplett selbst infrage: Habe ich schwarze Menschen zu lange angeguckt? War ich unbewusst zu harsch zu einer schwarzen Person? Ich merke, wie ich anfange, schwarzen Menschen aus dem Weg zu gehen. Es ist absurd: Ich bin auf einem Anti-Diskriminierungs-Seminar und mache plötzlich etwas, was mir im Alltag nie in den Sinn gekommen wäre: schwarze Menschen anders behandeln.

Ich komme mir vor wie Winston Smith aus der Dystopie «1984»: Dadurch, dass die unbewusste Struktur mehr zählt als mein eigener Verstand, dass also Menschen aufgrund ihres Sonderwissens durch Hautfarbe und ihrer Befindlichkeit behaupten, besser über meine Psyche Bescheid zu wissen als ich selbst, fühle ich mich bis auf die Knochen blossgestellt. Ich komme mir sozusagen selbst abhanden, löse mich in der Masse der Weissen auf.

Jetzt müssen wir unsere Handlungsvorschläge vor allen Teilnehmern vorspielen. Die zwei Coachs sitzen daneben und richten über uns. Ich habe selten so viel Scham, Angst und Unterwürfigkeit gesehen wie in diesen 20 Minuten. Eine weisse Frau spielt die schwarze Pflegerin und führt pantomimisch vor, wie sie dem rassistischen Patienten brutal eine Spritze in die Vene rammt. Ein weisser, älterer Mann ahmt mit Schamesröte im Gesicht die schwarze Pflegerin nach und wird danach von den Coachs erneut blossgestellt: «Wie hast du dich denn dabei gefühlt? Du hast ja gar nichts gesagt! Naaa?»

Weisse Menschen sollen hier durch Scham umerzogen werden. Sie sollen sich für etwas schlecht fühlen, für das sie nichts können: ihre Hautfarbe.

Der «Privilege Walk»

Das, was Rahel und Jovita hier veranstalten, ist schon längst zu einer eigenen Disziplin geworden. Universitäten und andere Bildungseinrichtungen verbuchen das gerne unter «Anti-Bias»- oder «Social Justice»-Seminaren: Menschen sollen für Rassismus «sensibilisiert» werden, indem ihnen die unterbewussten Strukturen «bewusstgemacht» werden. Wenn nötig auch mit Schmerz, Tränen und Scham.

Der «Independent» postete jüngst auf Facebook ein Video von einer solchen Massnahme, dem «Privilege Walk». Alle Teilnehmer sollen sich dort in einer Reihe aufstellen, während der Coach kurze Statements in die Runde wirft. Immer, wenn die Aussagen zutreffen, sollen die Teilnehmer zwei Schritte nach vorne gehen. Wenn sie nicht zutreffen, sollen sie stehen bleiben. So heisst es etwa: «Geht zwei Schritte nach vorne, wenn ihr eine Privatschule besucht habt, wenn ihr zu Hause keine Geldprobleme hattet, wenn ihr immer wusstet, wo ihr eure nächste Mahlzeit her bekommt.»

Währenddessen werden schwarze Jugendliche gezeigt, die zurückgeblieben sind: Sie runzeln die Stirn, verziehen das Gesicht oder bedecken es – aus Scham. Am Ende sollen sich alle weissen Teilnehmer zu den schwarzen umdrehen und sich ihrer «Privilegien» bewusst werden. Sich also dem kollektiven Leiden anschliessen.

Was ist mit dem Individuum?

Vielleicht haben die schwarzen Jungs in dem Video sich nie als Opfer der Gesellschaft gesehen. Vielleicht waren sie erfolgreich und glücklich in ihrem Leben. Vielleicht hat ein weisser Mann ohne Geldprobleme einen Alkoholiker-Vater, der ihn missbraucht hat. Vielleicht sind ein paar weisse Menschen einfach faul und haben keine Lust auf Karriere. Vielleicht ist der eine ein Sturkopf mit einem starken Willen und der andere ein Feigling, der gerne mitläuft. Das alles ist den Social-Justice-Warriors egal, für sie zählt nur eines: «die Struktur». Also Opfer und Täter, schwarz und weiss, gut und schlecht.

Das Seminar ist jetzt vorbei, und wir sollen auf ein Blatt schreiben, was wir gelernt haben. Ich schreibe: «Ich habe gelernt, dass Nichtstun Rassismus ist», und möchte es einem der beiden Coachs geben. Ich schaffe es aber nicht, meine Abneigung ist zu gross. Bin ich jetzt eine Rassistin? Oder hat mich bloss das Seminar für ein paar Stunden dazu gemacht?

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