Kommentar

Die sieben Todsünden des Staates

Die Schweiz hat ein verlorenes Jahrzehnt hinter sich. Nach einer verkorksten Legislaturperiode gilt es jetzt, nach vorne zu blicken. Das Land muss modernisiert werden. Sieben ketzerische Reformideen gegen den Nanny-Staat.

Michael Schoenenberger
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Illustration: Peter Gut

Illustration: Peter Gut

Fortschritt und Modernisierung kommen in Wellen. Es braucht in der Regel schwierige Jahre, bis etwas passiert. So folgte auf die trägen und wirtschaftlich schwierigen 1990er Jahre ein doch ziemlich reformfreudiges Jahrzehnt. Der Telekomsektor wurde liberalisiert, die Schuldenbremse eingeführt. Die bilateralen Verträge mit der EU setzten Impulse. Die Digitalisierung bot neue Chancen. Die Schweiz begann wieder zu wachsen. Seit der Finanzkrise von 2008 allerdings sind der freie Markt, der Wettbewerb sowie die Offenheit gegenüber Europa und der Welt wieder unter Druck. Regulierung ist en vogue. Das Vertrauen in das freie Spiel der Marktkräfte ist gesunken. Rückenwind haben Antikapitalisten, Globalisierungskritiker, Gegner des freiheitlichen Wirtschaftens und Isolationisten. Politisch führt dies zum Erstarken der Polparteien. Faktisch kann der Wohlstand noch gehalten werden, aber die Aussichten sind wenig rosig. In zu vielen Dossiers geht es nicht vorwärts.

Die Schweiz leidet seit Jahren unter einem niedrigen Produktivitätswachstum. Das reale Bruttoinlandprodukt pro Kopf hat sich stark abgeschwächt, teilweise war es gar rückläufig. Das liegt zum Beispiel an der hohen Zuwanderung oder daran, dass die früheren hochproduktiven Wachstumstreiber, etwa der Finanzsektor und die Hightech-Industrie, an Bedeutung verloren haben. In den 2010er Jahren nahm die Beschäftigung in der Schweiz demgegenüber in weniger produktiven Bereichen zu, so im Gesundheitssektor oder im Sozialwesen. Kurz gesagt: Die Schweiz wächst in parastaatlichen, kaum produktiven, aber für die Allgemeinheit kostenintensiven Bereichen. Wettbewerbsfähig ist vor allem die Exportwirtschaft, aufgrund des gegenseitig guten Marktzugangs in Europa und harter weltweiter Konkurrenz. Der Binnensektor fällt im Vergleich zurück.

Will die Schweiz im Jahr 2035 auf 15 Jahre der Prosperität, des Wohlstandswachstums für alle und des Fortschritts blicken, dann hat der Staat jetzt die Weichen zu stellen. Folgende sieben Reformimpulse könnten dabei helfen.

Finanzen und Steuern:

Ist-Zustand: Seit 1990 haben sich die Ausgaben der öffentlichen Hand ungefähr verdoppelt. Das hat vor allem damit zu tun, dass die Politik dem Staat immer mehr Aufgaben zuschanzt. Das muss finanziert sein. Deshalb ist der Staat gierig geworden. Er nimmt seinen Bürgern im Durchschnitt bald 40 Prozent ihres Einkommens wieder weg. Geht die Entwicklung so weiter, leben wir demnächst in einer Art kapitalistischem Sozialismus.

Denkanstoss: Bund und Kantone haben eine radikale Aufgabenüberprüfung vorzunehmen. Es muss neu definiert werden, wozu der Staat da ist und wozu nicht. Was keine zentrale staatliche Aufgabe ist, ist ersatzlos zu streichen – anderes ist zu privatisieren. Dann braucht es eine grosse Steuerreform. Als Richtschnur sollte gelten, dass die Bürger insgesamt – also Steuern, Gebühren und Abgaben zusammengerechnet – durchschnittlich nicht mehr als 20 Prozent und die Unternehmen nicht mehr als 15 Prozent abgeben müssen. Die Mehrwertsteuer ist zu senken und zu vereinheitlichen. Eine tiefe Einheitssteuer mit individueller Veranlagung ersetzt das heutige intransparente Steuersystem. Im Finanzausgleich zwischen den Kantonen werden jegliche Fehlanreize eliminiert: Es geht nicht an, dass strukturschwache Kantone systemisch bedingt keinen Anreiz haben, ihre Lage zu verbessern.

Unternehmen im Staatsbesitz:

Ist-Zustand: Post, Stromunternehmen, Swisscom, SBB und Kantonalbanken, ja auch die SRG profitieren von einer Vorzugsbehandlung durch den Staat. So haben sie Vorteile gegenüber privaten Unternehmen, welche die Aufgaben ebenso gut übernehmen könnten. Zum Teil drängen sie Private aus dem Markt. Im Namen des Service public werden Strukturen erhalten, die im freien Markt kaum überlebensfähig wären. Dafür zahlt die Allgemeinheit, wobei manchenorts kein Nutzen daraus resultiert.

Denkanstoss: Bund und Kantone halten keine Mehrheiten mehr an den genannten Unternehmen. Diese werden privatisiert. Das Erheben von Steuern für ein einzelnes Medienunternehmen wird verboten. Der Staat ist nur noch für die Bereitstellung der Infrastrukturen zuständig. Auf diesen Infrastrukturen spielt der freie Markt. Das Angebot und dessen Vielfalt werden sich verbessern. Die Preise werden sinken.

Agrarpolitik:

Ist-Zustand: Die Schweizer Landwirtschaft zählt zu den am besten geschützten weltweit. Hohe Zölle und eine absurde Subventionswirtschaft haben die Bauern in eine eigentliche Leibeigenschaft geführt. Die Ziele dieser Subventionswirtschaft werden bei weitem nicht erreicht. Ein einst stolzer Berufsstand ist in die totale staatliche Abhängigkeit geraten. Die Konsumenten und Steuerzahler zahlen die Zeche. Das System ist teuer, die Landwirtschaft produziert zu überteuerten Preisen und ist international kaum konkurrenzfähig.

Denkanstoss: Der Markt wird liberalisiert. Die Zölle fallen. Die Bauern werden zu Unternehmern. Nicht mehr die Grossverteiler und Konzerne im Agrarbereich sind die Profiteure staatlichen Handelns. Die Nachfrage bestimmt das Angebot. Die Preise sinken, und die Qualität der Produkte nimmt zu.

Sozialstaat:

Ist-Zustand: Die AHV ist in den roten Zahlen. Die IV ist in den roten Zahlen – und bleibt massiv verschuldet. Und es wird alles noch schlimmer werden. Pensionskassengelder, die staatlich verordnet für den Eigenverbrauch im Alter angespart werden müssen, werden systemwidrig an gegenwärtige Rentner umverteilt. Immer mehr Menschen beziehen Sozialhilfe. Gleichzeitig werden immer neue sozialstaatliche Leistungen verlangt, zum Beispiel ein Vaterschaftsurlaub. Das System ist unfinanzierbar geworden.

Denkanstoss: In der Altersvorsorge ist das Referenzrentenalter geschlechtsneutral auf 67 Jahre anzuheben. Gleichzeitig ist das Rentenalter an die Lebenserwartung zu koppeln. Es braucht massive Anreize für eine längere Erwerbstätigkeit. Für die Sozialversicherungen ist eine Schuldenbremse einzuführen. In der zweiten Säule ist die Festlegung des Mindestumwandlungssatzes zu entpolitisieren. Für Junge ist der Zugang zur IV zu blockieren, wie es auch die OECD vorgeschlagen hat. Der Zugang zur IV wird erschwert, Fehlanreize werden beseitigt. Die Sozialhilfe wird stark nach Bezugsgruppen differenziert entrichtet; Alter und Familiensituation spielen stärker eine Rolle. Sie wird wieder zum letzten Auffangnetz, das Menschen vor Armut bewahrt. Einzuführen ist eine Sozialstaatsbremse: Neue sozialstaatliche Segnungen sind verboten, solange die bestehenden nicht auf gesunden Beinen stehen.

Gesundheitspolitik:

Ist-Zustand: Die Kosten im Gesundheitswesen laufen aus dem Ruder. Steuer- und Prämienzahler kommen an ihre Grenzen. Der Staat muss vielen Menschen die Prämien verbilligen, obwohl doch gerade die Prämien – systemisch gedacht – der Beitrag des «Konsumenten» an das System sein sollten. Alle Akteure profitieren von einem Gesundheitswesen, das letztlich nicht allein auf medizinischen Diagnosen fusst, sondern auf Mengenausweitung ausgelegt ist. Geht es so weiter, wird das Gesundheitswesen unfinanzierbar, vor allem auch wegen der Macht des Faktischen, wegen des medizinischen Fortschritts.

Denkanstoss: Der Markt spielt im Gesundheitswesen nur bedingt. Kranke Menschen sind keine normalen Konsumenten. Und das System wird von allen Akteuren schamlos ausgenützt. Bund und Kantone müssen deshalb das Angebot steuern. Es braucht eine überkantonale Spitalplanung. Der Leistungskatalog ist einzuschränken. Der Kontrahierungszwang zwischen Krankenkassen und Ärzten muss fallen. Und vonnöten sind kluge Konzepte davon, welche medizinischen Leistungen den Menschen in ihrem letzten Lebensjahr zukommen sollen.

Bürokratie:

Ist-Zustand: Die Gesetzessammlungen wachsen und wachsen. Der Staat greift immer direkter und offensiver ein, vor allem in das Wirtschaftsleben. Die wirtschaftlichen Kosten für Unternehmen sind enorm. Diese Mittel fehlen den Unternehmen für Investitionen, für Lohnerhöhungen – oder zum Beispiel für eine hausinterne Kinderkrippe oder einen vom Unternehmen finanzierten Vaterschaftsurlaub.

Denkanstoss: Die Gesetzessammlungen sind konsequent auf unnötige Paragrafen zu durchforsten. Diese gehören abgeschafft. Investitionshemmende Gesetze und solche, welche die Unternehmen unnötig bürokratisch belasten, gehören eliminiert. Einzuführen ist eine Regulierungsbremse. Der Gesetzgeber darf nur noch neue Gesetze erlassen, wenn er gleichzeitig zwei alte abschafft.

Nanny-Staat:

Ist-Zustand: Die Menschen haben sich an einen Staat gewöhnt, der sie umsorgt. Inzwischen handelt der Staat wie eine gute Mutter, die ihre Kinder erzieht und vor Unheil beschützen möchte. Das ist aber keine staatliche Aufgabe. Weder hat der Staat uns zu sagen, wie viel Fleisch wir zu essen haben, noch soll er uns vorschreiben, wie viel Sport wir treiben müssen. Freie Menschen entscheiden frei. Nur der aufdringliche oder diktatorische Staat unterhält Verwaltungseinheiten, die dazu da sind, seine Bürger zum «richtigen Leben» anzuhalten.

Denkanstoss: Dem Staat wird verboten, seine Bürger zu erziehen. Die Lebensgestaltung jedes Einzelnen und die Lebensformen, die gewählt werden, sind grundsätzlich privater Natur. Verwaltungseinheiten und sogenannte Fachstellen, die direkt mit Tipps und Verhaltensanweisungen in die Privatsphäre einzugreifen versuchen, sind zu schliessen.

Es gibt jene, die sagen, der Staat, das seien wir alle. Aber das greift zu kurz. Gälte das auch in China, das sich anschickt, seine eigenen Bürger rigoros zu lenken? Oder galt das auch für die DDR? Natürlich ist der Staat nur das, was die Politik als Staat definiert. Und selbstverständlich ist die Schweiz eine Demokratie. Aber der Staat ist ein Handelnder. Er ist zum Leviathan geworden.

In Anlehnung an die sieben Todsünden liesse sich sagen, dass es auch sieben staatliche Todsünden gibt. Es sind dies: Gier (Steuern, Abgaben, Gebühren), Absolutheitsanspruch (Service public), Dirigismus (Landwirtschaft), Enteignung (Sozialstaat), Selbstüberschätzung (Gesundheitswesen), Allmacht (Bürokratie) und Paternalismus (Umerziehung). – Beichten hilft hier allerdings nicht.

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