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Jetzt steht der deutsche Kohleausstieg auf der Kippe

| Lesedauer: 5 Minuten
Wirtschaftsredakteur
Tagebau Jänschwalde muss Braunkohleförderung vorerst einstellen

Bis 2038 ist in Deutschland der Ausstieg aus der Kohleverstromung geplant: Mitten in diesem Strukturwandel muss in der Lausitz nun ein Tagebau per Gerichtsbeschluss seine Kohleförderung vorerst einstellen.

Quelle: WELT

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Wirtschaftsverbände und Gewerkschaften werfen der Bundesregierung vor, Absprachen zum Kohleausstieg eklatant zu missachten. Was wird etwa aus dem versprochenen Strompreis-Ausgleich? Das Handwerk befürchtet das Schlimmste.

Sieben Monate lang hatte die von der Bundesregierung eingesetzte Kohlekommission um eine Einigung gerungen. Im Januar dieses Jahres stand fest: Die Kohleverstromung soll in Deutschland spätestens im Jahr 2038 enden. Die 28 Kommissionsmitglieder aus allen politischen Lagern und Interessengruppen hatten nach eigenem Verständnis einen „gesamtgesellschaftlichen Kompromiss“ zur drängendsten energie- und klimapolitischen Frage ihrer Zeit gefunden.

Dieser Kompromiss droht jetzt zu platzen. Denn bei der Formulierung ihrer 275 Seiten starken Politikempfehlung stand für die Kommissionsmitglieder auch ein ehernes Prinzip fest: Es ist nichts beschlossen, solange nicht alles beschlossen ist. Dieses Grundprinzip jeder Kompromissfindung wird von der Bundesregierung derzeit allerdings offenbar eklatant missachtet.

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Das jedenfalls kritisieren die führenden Wirtschaftsverbände BDI, BDA und DIHK und der Deutsche Gewerkschaftsbund DGB in einem gemeinsamen Brandbrief an Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU). Darin heißt es: „Die bisherigen Vorstellungen Ihres Hauses für die Stilllegung von Steinkohlekraftwerken erfüllen uns mit Sorge.“

Das Schreiben, das in Kopie an Bundesfinanzminister Olaf Scholz, Bundesumweltministerin Svenja Schulze (beide SPD) und den Chef des Bundeskanzleramtes, Helge Braun, ging, liegt WELT vor. Die Verbände werfen der Bundesregierung darin vor, den von der Regierungskommission Wachstum, Strukturwandel, Beschäftigung (WSB) gefundenen Kompromiss zu zerpflücken und wichtige Abmachungen im geplanten Kohleausstiegsgesetz unter den Tisch fallen zu lassen.

„Es widerspricht der Zusage, die Empfehlungen der WSB-Kommission als Gesamtpaket umzusetzen, wenn sich das Bundeswirtschaftsministerium auf die Gesetzgebung zum Kohleausstieg fokussiert und sich beim Thema Strompreis-Entlastung für unzuständig erklärt“, heißt es in dem Schreiben.

Unterzeichnet wurde der Brief von Dieter Kempf, Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI), Steffen Kampeter, Hauptgeschäftsführer der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA), Eric Schweitzer, Präsident des Deutschen Industrie- und Handelskammertages (DIHK), sowie Stefan Körzell vom Bundesvorstand des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB).

Tatsächlich hatte sich die WSB-Kommission nur unter bestimmten Bedingungen auf den Kohleausstieg geeinigt. So sollte die Stilllegung weiterer Kraftwerke von einer Überprüfung („Monitoring“) der Versorgungslage in den Jahren 2023, 2026 und 2029 abhängig gemacht werden. Zum anderen wurde Unternehmen und Verbrauchern eine Entlastung von den zu erwartenden Strompreiserhöhungen zugesagt. „Beides ist derzeit nur teilweise oder gar nicht im Steinkohlekonzept enthalten“, kritisieren die Wirtschaftsvertreter und Gewerkschafter nun.

Quelle: Infografik WELT

Die Bundesregierung hatte die Verabschiedung eines „Kohleausstiegsgesetzes“, das die Empfehlungen der WSB-Kommission umsetzt, bis Jahresende angekündigt. Doch nach bisherigen Stand soll es in dem Gesetz nur um die Stilllegung von Steinkohle-Kraftwerken und die Ausgleichszahlungen an die Betreiber gehen.

Dabei sollen offenbar sogar Stilllegungen bis 2030 einbezogen werden, ohne die Ergebnisse des Monitorings abzuwarten. Ein Unding, finden die Wirtschaftsverbände: „Aus unserer Sicht sollte der Ausstieg der Kohleverstromung so ausgestaltet sein, dass die im Monitoring-Kapitel genannten Kriterien zu den geplanten Überprüfungszeitpunkten 2023, 2026 und 2029 tatsächlich erfüllt sein müssen, bevor die Abschaltung weiterer Kohlekraftwerke angeordnet werden kann.“

Die Kritik der Briefautoren wird von Vertretern der energieintensiven und vielfach mittelständisch geprägten Branchen aufgegriffen und sogar noch verstärkt.

„Es braucht ein Kohleausstiegsgesetz“

Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier hat sich zu dem neuen Strukturstärkungsgesetz geäußert. Darin sind Hilfen in Höhe bis zu 40 Milliarden Euro vorgesehen. Die Grünen fordern ein Kohleausstiegsgesetz um Planungssicherheit zu bekommen.

Quelle: WELT

Die Bundesregierung picke sich aus dem umfangreichen Maßnahmenpaket zum Kohleausstieg nur die ihr genehmen Aspekte heraus, kritisiert etwa Franziska Erdle, Hauptgeschäftsführerin der Wirtschaftsvereinigung Metalle: „Das kommt einer Aufkündigung des Kohlekompromisses gleich.“ Die WSB-Kommission habe schließlich „dem Konsens zugestimmt und nicht nur Teilen des Konsenses“.

Die Wirtschaftsvereinigung, die für mehr als 650 meist mittelständische Unternehmen der Nichteisen-Metallindustrie spricht, fordert deshalb, dass die Bundesregierung auch die Kostenentlastung ins Kohleausstiegsgesetz schreibt. Sei dies nicht möglich, müsse parallel zum Gesetz eine eigene Sonderregelung verabschiedet werden, fordert Verbandschefin Erdle: „Die Regeln zur Kostenentlastung der Unternehmen müssen dieselbe Gesetzesqualität haben wie der Kohleausstieg.“

Dass der Kohleausstieg nur bei gleichzeitigem Schutz vor Strompreiserhöhungen akzeptabel ist, hatten die Wirtschaftsverbände schon früh deutlich gemacht. Nach einer Studie des Analysehauses Aurora Energy Research im Auftrag von BDI und DIHK führen die geplanten Kraftwerksstilllegungen bis 2030 zu einem Strompreisanstieg zwischen vier und 14 Euro je Megawattstunde.

Das entspricht einer Bandbreite zwischen knapp zehn bis 34 Prozent der aktuellen Spotmarktpreise im Stromgroßhandel. Bei energieintensiven Unternehmen, die auch am Emissionshandel teilnehmen müssen, könnte die Belastung sogar auf 19 Euro je Megawattstunde steigen. Ein beträchtlicher Teil der Bruttowertschöpfung etwa einer Aluminiumschmelze, so rechnet die Wirtschaftsvereinigung Metalle vor, würde dadurch aufgezehrt.

Die Kohle- oder WSB-Kommission hatte drei Maßnahmen zur Begrenzung der Kostenbelastung im Zuge des Kohleausstiegs vorgeschlagen. So sollten ab 2023 private und gewerbliche Stromverbraucher einen Zuschuss auf die Übertragungsnetzentgelte erhalten. „Aus heutiger Sicht ist zum Ausgleich dieses Anstiegs ein Zuschuss in Höhe von mindestens zwei Milliarden Euro pro Jahr erforderlich“, heißt es im Abschlussbericht der Kohlekommission. „Die Maßnahme ist im Bundeshaushalt zu verankern und beihilferechtlich abzusichern.“

Quelle: Infografik WELT

Zusätzlich sollten energieintensive Unternehmen, die Strom aus dem Netz beziehen, aber nicht von einer Senkung der Netznutzungsentgelte profitieren, „von Preissteigerungen entlastet werden, die durch die politisch beschleunigte Reduzierung und Beendigung der Kohleverstromung entstehen“.

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Schließlich müsse die bereits bestehende Kompensationsregelung für die Kosten des Emissionshandels für energieintensive Betriebe „verstetigt und fortentwickelt werden“, forderte die Kohlekommission: „Die Bundesregierung soll bei der EU-Kommission dafür eintreten, dass diese die Strompreiskompensation bis 2030 verlängert, die Beihilfeintensität stabilisiert und dauerhaft absichert.“

Die Angst gerade der mittelständischen Wirtschaft vor einer unkontrollierten Kostenentwicklung im Zuge des Kohleausstiegs addiert sich zu den Unsicherheiten bezüglich der weiteren klimapolitischen Maßnahmen. Denn am 20. September will das so genannte Klimakabinett der Bundesregierung weitreichende Pläne zur Energiewende-Finanzierung präsentieren.

Das Handwerk etwa befürchtet das Schlimmste: „Unsere große Sorge im Handwerk ist, dass die schon bisher kaum noch steuerbare Komplexität der Energiewende- und Klimapolitik durch zusätzliche Regulierungen und weiteren Instrumenten-Aktionismus noch größer, damit noch störanfälliger und teurer wird“, sagt Hans Peter Wollseifer, Präsident des Zentralverbands des Deutschen Handwerks (ZDH): „Das dann noch mit einer CO2-Steuer anzureichern, würde mehr schaden denn nützen!“ Die Betriebe erwarteten „zu Recht eine Entlastung bei den Energiekosten“.

Wie soll der Kohleausstieg in der Lausitz realisiert werden?

Kurz vor der Landtagswahl in Brandenburg haben sich die Spitzenkandidaten in der rbb-„Wahlarena“ getroffen. Ein Ende des Braunkohleabbaus befürworteten alle Politiker – AfD-Spitzenkandidat Andreas Kalbitz warb für einen Ausstieg „mit Augenmaß“.

Quelle: WELT/Kevin Knauer

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