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Eberhard Bons Verpflichtet zur Prophetie Eine Interpretation von Amos 3,3–8 1. Einführende Überlegungen: Ein griechischer Terminus für ein Phänomen der Religion Israels Als die unter den beiden Leitbegriffen stehende Tagung „Autorschaft und Prophetie“ kon- zipiert wurde, konnte wahrscheinlich kaum jemand ahnen, wie aktuell das Thema ‚Autor- schaft‘ in den ersten Monaten des Jahres 2011 werden sollte. 1 Ist die Person, die sich als auctor, das heißt als Urheber eines Werkes ausgibt oder gemeinhin als solcher gilt, 2 wirk- lich dessen Verfasserin oder Verfasser? Und wenn sie das Werk tatsächlich verfasst hat, ist sie dann auch die Urheberin und Erfinderin 3 aller Gedanken, die sie nicht als von einer anderen Person stammend gekennzeichnet hat? Wo liegt also die Unterscheidung von Eigenem und Fremdem, von Selbsterdachtem und Übernommenem? Und wo wird ein Copyright beansprucht, wiewohl es anderen zusteht? Vielleicht ist die Unterscheidung zwischen eigenen und fremden Gedanken in den Wis- senschaften wenigstens theoretisch möglich, in der Praxis aber oft problematisch. Noch schwieriger wird die Unterscheidung dann, wenn man mit dem Phänomen der Prophetie zu tun hat, das – so die Arbeitsdefinition im Programm dieser Tagung – als Dichtung eine besondere Nähe zum Göttlichen hat. Propheten beanspruchen einen göttlichen Ursprung der von ihnen verkündeten Botschaft. Was hat man sich aber unter dem Phänomen der Prophetie vorzustellen? Bevor in diesem Artikel das Thema der Beziehung zwischen Pro- 1 Am 1. März 2011 trat der Verteidigungsminister der Bundesrepublik Deutschland, Karl Theodor zu Guttenberg von seinem Amt zurück. Gegen ihn wurde der Vorwurf erhoben, in seiner Doktorarbeit plagiiert zu haben. 2 Zur Definition vgl. Heinrich Lausberg, Handbuch der literarischen Rhetorik. Eine Grundlegung der Literaturwissenschaft, Stuttgart 31990, § 204A. 3 Vgl. zur Wortkombination auctores et inventores Cicero, De oratore, III, 148. 40 Eberhard Bons phet und Gottheit behandelt wird, und zwar am Beispiel eines alttestamentlichen Textes, Amos 3,3–8, sind einige grundsätzliche Bemerkungen zum Begriff der Prophetie notwen- dig. a. Der Prophet als Vermittler eines Orakels Der Begriff ‚Prophet‘ stammt wahrscheinlich aus dem griechischen Orakel. 4 Ein prophḗ- t¯es oder eine – so die feminine Form – prophḗtis, wörtlich ‚Sprecher/Sprecherin für jemanden‘, war eine Person, die zum Personal der antiken Institution ‚Orakel‘ gehörte. Wie der griechische Geschichtsschreiber Herodot im achten Buch seiner Historien berich- tet (VIII, 36–37), besaß das Orakel von Delphi in Griechenland einen solchen Propheten. Der Dramatiker Euripides lässt in seinem Drama Ion (413–415) sogar zwei Kategorien von Propheten auftreten: die einen, die die Fragesteller in Empfang nahmen und ins Ora- kelheiligtum geleiteten, und die anderen, die in der Nähe des berühmten Dreifußes bei der Pythia weilten. Ihre Aufgabe bestand darin, das für Gemeinsterbliche unverständliche Orakel, das die Pythia äußerte, in eine verständliche Botschaft umzuwandeln und sie den Fragestellern zu übermitteln. 5 Der Philosoph Platon beschreibt diesen Prozess in seinem Werk Timaios (72b) noch genauer. Es sei unzutreffend, so argumentiert er, die Propheten als Seher (mánteis) zu bezeichnen. Vielmehr seien die Propheten die Deuter (hypokritaí), die das auf rätselhafte Weise (di’ ainigmṓn) Ausgedrückte und Gesehene in eine gleich- sam kommunzierbare Botschaft übersetzen. Mit anderen Worten: Dem am Orakel tätigen Propheten kommt eine Vermittlerrolle zu: Er vernimmt die göttliche Botschaft, die aber nicht ‚menschengemäß‘ vorgetragen wird, und überträgt sie in eine Sprache, die für Men- schen verständlich ist. Dabei bleibt die Frage offen, wie er dabei vorgeht und welcher ‚hermeneutischen‘ Mittel er sich bedient, um die Äußerungen der Pythia zu verstehen und sprachlich wiederzugeben. Noch schwieriger ist die Frage zu beantworten, wer denn als Autor der prophetischen Botschaft zu gelten habe. Ist die Gottheit ihr Urheber? Dies mag in einem gewissen Sinne zutreffen. Zwar ist nicht zu bestreiten, dass die Gottheit ihren Anteil am Zustandekommen des Orakels hat – aber dennoch bleibt ihre ‚Aussage‘ den Menschen unerreichbar und verborgen, wenn sie nicht von menschlichen Instanzen – Pythia und Prophet – vermittelt wird. Freilich ‚erfinden‘ diese beiden nicht die Botschaft, die sie weitergeben, sondern ihre Aufgabe besteht im Wesentlichen darin, ‚Sprachrohr‘ für die göttliche Botschaft zu sein und diese den Menschen zugänglich zu machen. Wenn Pythia und Prophet auch keine Art ‚Urheberrecht‘ an ihrer Botschaft beanspruchen können, so sind sie für die Menschen die einzigen Instanzen, in denen die göttliche Botschaft Gestalt annimmt. 4 Zum Phänomen der Prophetie in der griechischen Kultur vgl. Jan Nicolaas Bremmer, Art. „Prophet“, in Der Neue Pauly, Band X, Stuttgart/Weimar 2001, 421 f. 5 Eine anschauliche Beschreibung der Vorgänge, die mit der Befragung des Orakels verbunden waren, findet sich bei Marion Giebel, Das Orakel von Delphi. Geschichte und Texte. Griechisch/deutsch (RUB 18122), Stuttgart 2001, 15–25. Verpflichtet zur Prophetie 41 b. Der von Gott in die Pflicht genommene Prophet im Alten Testament Wie auch immer man sich die Tätigkeit der Propheten am griechischen Orakel vorzu- stellen hat – die Substantive prophḗt¯es und prophḗtis dienen im Griechischen auch noch dazu, ein ähnliches Phänomen vorderorientalischer Herkunft zu übersetzen. Spätestens ab dem 4. Jahrhundert v. Chr. traten nämlich die Religionen und Kulturen des Vorderen Orients in den Gesichtskreis griechischer Denker, Politiker, Militärs und Kaufleute. Eine besondere Vermittlerrolle spielte dabei die von Alexander dem Großen an der Mündung des Nils gegründete und nach seinem Namen bezeichnete Stadt Alexandria, die bedeu- tende Forschungs- und Bildungseinrichtungen besaß. 6 Die Bevölkerung Alexandrias war gemischt und umfasste neben einer griechischen sowie einer ägyptischen auch eine grö- ßere jüdische Volksgruppe, die sich zunehmend der lingua franca, der hellenistischen griechischen Sprache, bediente. 7 Dies galt nicht nur für die alltägliche Kommunikation. Vielmehr wurden ab dem 3. Jahrhundert v. Chr. in Alexandrien die wichtigsten überlie- ferten Schriften der jüdischen Gemeinschaft nach und nach ins Griechische übersetzt und verbreitet. 8 Diese später als ‚Sepuaginta‘ bezeichnete Sammlung von heiligen Schriften sollte die „Bibel“ der griechischsprachigen Juden sowie später der Christen im östlichen Mittelmeerraum werden. In diesen Schriften dienen nun die Substantive prophḗt¯es und prophḗtis dazu, das Phänomen der ‚Prophetie‘ im alten Israel zu bezeichnen. Mit aller Wahrscheinlichkeit wurde diese Terminologie gewählt, weil man Gemeinsamkeiten zwi- schen beiden Kulturen und eben beiden Arten von ‚Prophetie‘ zu erkennen glaubte. 9 Die Terminologie schien sich wohl am besten dazu zu eignen, das Bekannte im Unbekannten der Institutionen des Alten Israel zum Ausdruck zu bringen. Die wichtigste Gemeinsam- keit bestand sicherlich darin, dass der Prophet im alten Israel offenbar nicht in eigenem Namen auftrat, sondern als Vermittler und Deuter einer göttlichen Botschaft. Allerdings stand er dem griechischen mántis, dem ‚Seher‘, näher als dem griechischen prophḗt¯es. 10 Außerdem kennzeichnete ihn eine besondere Beziehung zu seinem göttlichen Auftrag- geber, die anscheinend der griechischen Prophetie fremd war. Aus verschiedenen Texten geht nämlich hervor, dass der Prophet sich von Gott in die Pflicht genommen sieht. Darum kann er sich keinewegs seiner Aufgabe entziehen, eine Botschaft zu verkünden, die die 6 Vgl. Günther Hölbl, Geschichte des Ptolemäerreiches. Politik, Ideologie und religiöse Kultur von Alexander dem Großen bis zur römischen Eroberung, Darmstadt 1994, 64–66; Heinz-Günther Nes- selrath, „Das Museion von Alexandria“, in Biblische Notizen 147 (2010), 67–82. 7 Genaueres hierzu bei Jürgen K. Zangenberg, „Fragile Vielfalt. Beobachtungen zur Sozialgeschichte Alexandriens in hellenistisch-römischer Zeit“, in Biblische Notizen 147 (2010), 107–126, bes. 114. 8 Grundinformationen hierzu bei Michael Tilly, Einführung in die Septuaginta, Darmstadt 2005, Kap. II. 9 Vgl. Cécile Dogniez/Marguerite Harl, La Bible d’Alexandrie. Le Deutéronome: Traduction du texte grec de la Septante, Introduction et Notes, Paris 1992, 50. 10 Vgl. Folker Siegert, Zwischen Hebräischer Bibel und Altem Testament. Eine Einführung in die Sep- tuaginta, Münster 2001, 234 und 276. 42 Eberhard Bons Adressaten nicht unbedingt beruhigt, sondern provoziert, ja schockiert, und er muss mit seiner Person für diese Botschaft einstehen. Die im christlichen Kontext als ‚Altes Testament‘ bezeichnete Sammlung der heili- gen Schriften Israels kennt eine Vielzahl von Personen, die mit prophetischer Autorität auftreten. Die ihnen zugeschriebenen Texte sind jedoch nicht ausschließlich als die ver- schrifteten Formen der einzelnen göttlichen Botschaften zu verstehen. Das Alte Testament überliefert auch einige prophetische Texte, die Auskunft über das Selbstverständnis der Propheten geben. Diese Aussagen bieten also einen gewissen Einblick in die Vorstellung, die einzelne Propheten von ihrer Rolle und ihrer Sendung hatten. Bekannt sind etwa die sogenannten Konfessionen des Propheten Jeremia, in denen dieser mit seiner Propheten- rolle hadert und beklagt, dass seine Botschaft ihm nur Ablehnung und Spott einbringt (vgl. Jeremia 20,7–18). Gewiss sind derartige Informationen bruchstückhaft; denn wir wissen kaum etwas über die biographischen Hintergründe und manchmal noch weniger über die Zeitumstände. Dazu kommt, dass manche Aussagen offenbar mit keinem Wort Bezug auf ihr soziokulturelles Umfeld nehmen, ja erstaunlich kontextlos sind. Das musste ihrer Wirkung über die Jahrhunderte hinweg aber keinen Abbruch tun. Im Rahmen dieses Artikels soll ein prophetischer Text vorgestellt werden, Amos 3,3–8, der genau die angesprochene Thematik behandelt: die Pflicht des Propheten, die empfan- gene göttliche Botschaft zu verkünden. Der Text Amos 3,3–8 wird dem ältesten Prophe- ten zugeschrieben, nach dem im Alten Testament ein prophetisches Buch benannt ist, und zwar dem Propheten Amos. Das Amosbuch findet sich in den meisten Bibelausgaben an dritter Stelle in der Sammlung der sogenannten Zwölf kleinen Propheten. Sofern die Aussagen des Buches Amos zeitgeschichtlich interpretiert werden, ordnet man sie – so lange Zeit die opinio communis – ins 8. Jahrhundert v. Chr. ein, und zwar ins sogenannte Nordreich Israel oder Samaria. 11 Damit wird der nördliche der beiden Teilstaaten bezeich- net, in die das davidische Königreich nach dem Tode von Davids Sohn und Nachfolger Salomo zerfallen war. Das Amosbuch umfasst insgesamt neun Kapitel, die sich im Wesentlichen in vier Abschnitte aufteilen: Unheilsworte gegen die Nachbarvölker sowie gegen Israel und Juda (Amos 1,2–2,16), Unheilsworte gegen das Nordreich Israel (Amos 3,1–6,14), Visionen- zyklus (Amos 7,1–9,6), Heilsworte (Amos 9,7–15). Der Text Amos 3,3–8 steht gleichsam als Introduktion am Anfang des zweiten Buchteils. 12 Im Folgenden soll der Abschnitt zuerst unabhängig vom Kontext des Amosbuches interpretiert werden. In einem zwei- ten Interpretationsschritt werden andere Aussagen des Buches herangezogen, mit denen Amos 3,3–8 in Beziehung steht. Zuletzt gilt es, aus all diesen Texten einige Schlussfol- gerungen für das Prophetenbild des Amosbuches zu ziehen. 11 Vgl. etwa Shalom M. Paul, Amos. A Commentary on the Book of Amos, Minneapolis 1991, 6. 12 Vgl. zur Funktion von Amos 3,3–8 im Aufbau des Amosbuches Georg Steins, Gericht und Vergebung. Re-Visionen zum Amosbuch, Stuttgart 2010, 91. Verpflichtet zur Prophetie 43 2. Eine Lektüre von Amos 3,3–8 Die folgende Arbeitsübersetzung versucht möglichst viele sprachliche Elemente des he- bräischen Ausgangstextes im Deutschen nachzubilden. Dabei wird versucht, gleichartige hebräische Wörter konkordant wiederzugeben, jedoch um den Preis eines eleganten deut- schen Sprachstils. 3 ‚Gehen etwa zwei [Menschen] miteinander, ohne dass sie sich abgesprochen haben? 4a Brüllt etwa ein Löwe im Walde, wenn für ihn keine Beute da ist? 4b Schreit etwa ein junger Löwe aus seiner Höhle, ohne dass er etwas gefangen hat? 5a Stürzt etwa ein Vogel in die Klappfalle auf der Erde, wenn für ihn kein Köder da ist? 5b Springt etwa eine Falle vom Erdboden auf, gefangen hat sie aber nichts? 6a Ob man wohl die Posaune in einer Stadt bläst, aber das Volk wird nicht aufschre- cken? 6b Ob wohl ein Unglück in der Stadt geschieht, aber der Herr hat es nicht getan ? 7 Denn Gott der Herr wird nichts tun , außer er hat (schon zuvor) seine Entschei- dung seinen Dienern, den Propheten, geoffenbart. 8a Der Löwe hat gebrüllt – wer sollte sich nicht fürchten? 8b Gott der Herr hat gesprochen – wer sollte nicht prophetisch reden?‘ Der Text ist in hebräischer Sprache ohne besondere Textvarianten überliefert und weist kaum elementare Verständnisprobleme auf. Lediglich Vers 5 bedarf einer Erklärung. Was die dort angesprochenen Sachverhalte angeht, ist wohl folgender Vorgang gemeint: Der Vogel stürzt sich auf einen Köder, der Teil einer flach auf der Erde angebrachten Klapp- falle ist. Sobald er den Köder berührt, springen die beiden Hälften der Falle auf und schließen den Vogel ein, der nun wehrlos seinem Jäger ausgeliefert ist. 13 Nun aber zur eigentlichen Auslegung des Textes: Zunächst ist festzustellen, dass der Abschnitt eine große stilistische Gestaltungskraft erkennen lässt. Lange Zeit wurde ange- nommen, dass der Text in der heute überlieferten Form vom Propheten mündlich vor- getragen worden war. 14 Denkbar ist aber auch, dass der Text zwar auf mündliche Ver- kündigung zurückgeht, seine heutige Gestalt aber erst das Ergebnis eines Redaktions- prozesses darstellt. 15 Amos oder seine Schüler hätten auf diese Weise den Text einem Publikum zugänglich gemacht, das die Aussagen des Propheten las und studierte. Aus welchen Kreisen sich diese Leserschaft zusammengesetzt hat, ist uns heute mangels lite- rarischer Quellen unbekannt. Wenn im folgenden von ‚Adressaten‘ die Rede ist, sind 13 Vgl. hierzu Eberhard Bons, „Seltene Wörter in der Septuaginta des Amosbuches: ixeutḗs, scházomai, therinós, perípteros“, in Wolfgang Kraus/Martin Karrer (Hgg.), Die Septuaginta – Texte, Theologien, Einflüsse (Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament 252), Tübingen 2010, 404–415, hier 406. 14 So etwa Hans Walther Wolff, Dodekapropheton 2: Joel und Amos, Neukirchen-Vluyn 31985, 222. 15 Für diese Hypothese plädiert zum Beispiel Jörg Jeremias, Der Prophet Amos, Göttingen 1995, 34. 44 Eberhard Bons darum – mit heutiger Terminologie – die vom Propheten oder seinen Schülern intendier- ten Leser gemeint. Beginnen wir mit einer Reihe von elementaren Beobachtungen, die sich allmählich zu einem größeren Ganzen zusammenfügen: 1. Der Text setzt mit einer Serie von Fragen ein, insgesamt sieben, wovon die ersten fünf mit einer typischen hebräischen Fragepartikel eingeleitet sind, die mit dem französischen „est-ce que“ vergleichbar ist. Die beiden folgenden Fragen in V. 6 sind mit einer anderen hebräischen Fragepartikel eingeleitet, womit eine gewisse Zäsur markiert ist. 2. Die vier Fragesätze der Verse 4–5 weisen große inhaltliche und (im Deutschen nicht immer nachvollziehbare) formale Ähnlichkeiten auf. 16 Formal ist auffällig, dass die Fra- gen durch ein gleichartiges Vokabular sowie durch gleichartige syntaktische Konstruktio- nen miteinander eng verknüpft sind, die in der deutschen Übersetzung des Textes (s.o.) graphisch gekennzeichnet sind. Auf inhaltlicher Ebene haben die beiden Verse mitein- ander gemeinsam, dass sie von einem Vorgang aus dem Bereich der Tierwelt bezie- hungsweise der Jagd handeln: Löwe beziehungsweise Junglöwe brüllen, wenn sie eine Beute gefangen haben (Vers 4). Und in Vers 5 wird ein Vogel, der sich auf einen Köder stürzt, von der bereitliegenden Klappfalle eingeschlossen. Sie springt nur dann auf, wenn sie etwas gefangen hat. Diese Sachverhalte sind alle so selbstverständlich und alltäglich – zumindest für die zeitgenössischen Adressaten des Textes –, dass sie nicht in Frage gestellt werden können. Die Antwort dieser rhetorischen Fragen kann also nur ‚nein‘ lau- ten. Bemerkt sei noch, dass Vers 4 keine Beteiligung des Menschen impliziert. Vers 5 dagegen setzt voraus, dass es Menschen sind, die Köder und Fallen anbringen. Damit lei- ten die Fragen von Vers 5 über zu Vers 6a, der ebenfalls die Handlungen und Gefühle von Menschen zum Thema hat. 3. Kommen wir zu den Fragen und Aussagen der Verse 6 und 8. Dort finden sich eben- falls vier Sätze, die wiederum auffällig parallel konstruiert sind: Dem Erschrecken in Vers 6a entspricht das Sich-Fürchten in Vers 8a. In Vers 6b ist vom Handeln Gottes die Rede, in Vers 8b von seinem Reden. Dennoch unterscheidet sich Vers 8 in auffälliger Weise von den vorhergehenden Fragen: Wie in Vers 6a tritt die Folge des Geschehens an das Ende der Frage. In den Versen 4–5 dagegen stand diese am Anfang der Frage, während der mit einer Negativpartikel formulierte zweite Teil jeweils von der Ursache sprach. 17 Außerdem verlangen die beiden Fragen von Vers 8 nicht die Antwort ‚nein‘, sondern ‚niemand‘, und das neu eingeführte Fragepronomen (‚wer?‘) findet sich jeweils erst in der zweiten Satzhälfte. 4. Was den Inhalt angeht, findet Vers 8a in gewisser Weise wieder zum Anfang zurück, besonders zu Vers 4, insofern als er das Motiv vom brüllenden Löwen aufgreift. Wie vor- 16 Vgl. auch Siegfried Mittmann, „Gestalt und Gehalt einer prophetischen Selbstrechtfertigung (Am 3,3–8)“, in Theologische Quartalschrift 151 (1971), 134–145, hier 139. 17 Vgl. hierzu auch Hans Walther Wolff, Dodekapropheton 2, 221. Verpflichtet zur Prophetie 45 hin konnten die implizierten (oder auch die wirklichen) Adressaten des Textes vermuten, der Prophet wünsche eine zustimmende Antwort auf eine belanglose, die Angesproche- nen zu nichts verpflichtende Frage: Der Löwe brüllt – hat er wieder Beute gefangen? Mit dem Wort ‚fürchten‘ weist der Text aber in eine andere Richtung. Vers 8b bestätigt dies: Man kann sich geradezu ausrechnen, dass die Parallelisierung von brüllendem Löwen und Gott keine Belanglosigkeit bedeutet. Auch wenn Gott nur ‚spricht‘, also nicht ‚brüllt‘ (vgl. aber Amos 1,2), ist dies offenbar keine harmlose Aussage oder ein die Adressa- ten in Sicherheit wiegender Zuspruch. Die Parallelisierung von ‚brüllen‘ und ‚sprechen‘ legt vielmehr nahe, dass das Sprechen nichts anderes bedeutet als die Ankündigung des Unheils. Das prophetische Reden als Folge von Gottes Reden kann darum ebensowenig Heilsansage sein, sondern ist Unheilsansage. Wie etwa das Hinabstürzen des Vogels ein Phänomen ist, das die Adressaten leicht auf das Aufstellen einer Klappfalle zurückführen können, so sollen sie jetzt folgern, daß der Prophet Sprachrohr des wie ein Löwe brül- lenden, unheilbringenden Gottes ist. 18 So wie sie aus den vorhin zitierten Sachverhalten der zuschlagenden Falle und des beutemachenden Löwen schließen können, dass sie ein Unglück bedeuten, so sollen sie das Phänomen des prophetischen Redens als Unglücks- ansage deuten. 19 5. Welche rhetorische Funktion haben also die Fragen, die der Schlussfrage voraus- gehen? Wenn es dem Propheten nicht auf das Anzweifeln der skizzierten Sachverhalte ankommt, muss er mit diesen offenbar rhetorischen Fragen eine andere Absicht verfol- gen. Wiewohl die Fragen für die Adressaten zunächst harmlos und unverbindlich klingen, scheinen sie, rückblickend betrachtet, jene mit Hilfe bestimmter anscheinend bewusst gewählter Stichworte und Motive auf das Unglücksthema vorzubereiten, das in den Ver- sen 6b und 8 durchscheint. Nach Vers 4 gehören das Brüllen des Löwen und seine erfolg- reiche Jagd zusammen. Steht nun Gott für den Löwen, bedeutet das, dass der Fang erfolgt, auf der Sachebene also das Unheil schon eingetreten ist oder wenigstens nahe bevor- steht. Trifft diese Interpretation zu, dann enthält Vers 5 mehr als eine Binsenweisheit: Die Unerbittlichkeit, mit der der Vogel von der zuspringenden Klappfalle eingeschlossen wird, wird zur Metapher für das unerbittlich einsetzende Unheil. Vers 6 bietet gleich zwei Stufen der Steigerung: Nachdem bisher von der Jagd des Löwen beziehungsweise des Menschen die Rede war, ist das Thema von Vers 6a die Warnung, die die Menschen in Schrecken versetzt: Bläst jemand die Posaune zum Alarm, ohne dass sich jemand fürch- tet? Der Text wechselt also das Thema, ohne seinen Adressaten einen Hinweis zu geben, wie sie diesen Übergang begreifen sollen, verunsichert sie also bezüglich seiner Argu- mentationsziele. Aber auch der Inhalt der Warnung bleibt offen. Spielt der textinterne 18 Vgl. zu diesem Gedankengang Bernard Renaud, „Genèse et Théologie d’Amos 3,3–8“, in Mélan- ges bibliques et orientaux en l’honneur de M. Henri Cazelles, Kevelaer/Neukirchen-Vluyn 1981, 353–372, hier 367. 19 Vgl. Adrian Schenker, „Steht der Prophet unter dem Zwang zu weissagen, oder steht Israel vor der Evidenz der Weisung Gottes in der Weissagung des Propheten? Zur Interpretation von Amos 3,3–8“, in Biblische Zeitschrift 30 (1986), 250–256, hier 255f. 46 Eberhard Bons Autor vielleicht auf die Rolle des Propheten an, die darin besteht, vor dem Unheil zu warnen? Will er seine Adressaten auffordern, seine Botschaft mit derselben Selbstver- ständlichkeit ernstzunehmen, wie sie den vorhergehenden Fragen zustimmen können? 20 Zu Vers 6a wird keine Parallele mehr geliefert, vielmehr drängt der Text zum vorläufigen Höhepunkt in Vers 6b: Das Unglück, das in der Stadt geschieht, so wird den Adressaten suggeriert, hat letztlich Gott zum Urheber. Ohne sie explizit anzureden und ihren Glau- ben zu thematisieren, bringt der Text unvermittelt den Gedanken des von Gott bewirkten Unheils ins Spiel. Dass dies für seine Adressaten eine ganz andere Bedeutung hat als irgendeine alltägliche Erfahrungstatsache, liegt auf der Hand. Auf welches Unglück der Text sich aber bezieht, sagt er nicht. Doch liegt der Gedanke nahe, dass es bevorsteht, da ein Vergangenes genauer bezeichnet werden könnte. Gleichzeitig wird den Adressaten vermittelt, dass das Unglück von Gott bewirkt wird. Insofern beantwortet sich für letztere die Frage nach dem Sinn der scheinbar harmlosen Vorfragen: Genauso sicher, wie man in den vorher erwähnten Sachverhalten von der Wirkung auf die Ursache schließen kann, so ist das noch eintretende Unglück von Gott veranlasst. 21 6. Blicken wir auf die diskutierten Fragen zurück, dann lässt sich zusammenfassend feststellen, dass der Text sich hier einer Metaphorik bedient, die das drohende Unheil verklausuliert, und zwar zunächst in scheinbar harmlosen rhetorischen Fragen. Er stimmt die Zuhörer damit ein auf das, was er in V. 8 andeutet: Das vernichtende Handeln Gottes, dessen Künder der Prophet ist und das die Hörer buchstäblich erschaudern lässt. Die Fragen in den Versen 4–5 erhalten aus dieser Perspektive die Bedeutung, dass Israel es ist, für das die Klappfalle zuschlägt. Wir sehen also, dass der Text sich erst dann einigermaßen erschließt, wenn er nicht nur vorwärts, sondern auch rückwärts gelesen wird. 7. Wie ist das Verhältnis des Propheten zu Gott zu beschreiben und woher hat dieser sein Wissen? Hierauf sucht V. 7 eine Antwort: Nichts tut Gott, ohne zuvor seinen Knechten, den Propheten, seine Entscheidungen anzuvertrauen. Der Vers hebt sich von seiner Umge- bung nicht nur durch seine ausdrückliche Behandlung der im Kontext offengebliebenen Fragen ab, sondern auch durch seine prosaartige Formulierung, die wie ein Fremdkörper innerhalb der durch ihre formale Gestaltung als zusammengehörig (s.o.) gekennzeichne- ten Sätze wirkt. Mit Vers 7 wird ferner kein anderer Satz parallelisiert, und von einem Zusammentreffen von zwei Phänomenen im Sinne von Ursache und Wirkung wie in den Versen 4–6 und 8 ist hier auch nichts erkennbar. Man hat vermutet, dass die Gottesvor- stellung von Vers 7 von der in Vers 8 verschieden ist: Während dort der Prophet gleichsam wehrlos unter dem Anspruch Gottes steht, wird er nach Vers 7 in dessen Planen einbe- zogen. Möglicherweise spielt auch Vers 3, der bisher noch nicht behandelt wurde, auf 20 Vgl. zu dieser Argumentation Walther Eichrodt, „Die Vollmacht des Amos. Zu einer schwierigen Stelle im Amosbuch“, in Herbert Donner [u.a.] (Hgg.), Beiträge zur alttestamentlichen Theologie. Festschrift für Walther Zimmerli zum 70. Geburtstag, Göttingen 1977, 124–131, hier 128f. 21 So Yehoschua Gitay, „A Study of Amos’s Art of Speech: A Rhetorical Analysis of Amos 3:1–15“, in Catholic Biblical Quarterly 42 (1980), 293–309, hier 298. Verpflichtet zur Prophetie 47 die Rolle des Propheten an. In diesem Falle würde dieser an den Anfang des Abschnitts gestellte Satz auf die ‚Absprache‘ zwischen Gott und den Propheten hinweisen. 22 Die Frage ist aber, welches Gewicht man diesen angeblichen inhaltlichen Unterschieden bei- misst. Vielleicht wird ja die Rolle des Propheten in dem Sinne verstanden, dass der Pro- phet der letzte Warner und Mahner ist, der beim Volk gleichsam die Alarmglocken schril- len lassen soll. Als solcher ist er in die Entscheidungen Gottes eingeweiht. Dies geht aus einem in Vers 7 gebrauchten mehrdeutigen hebräischen Substantiv hervor, sôd, das man mit ‚Entscheidung‘, aber auch mit ‚Rat‘ übersetzen kann. Möglicherweise ist hier eine Anspielung auf die Idee des himmlischen Thronrats (vgl. Jeremia 23,18–22) zu erken- nen, an dem der Prophet gleichsam persönlich teilnimmt. Und aus diesem Grund weiß er von den Entscheidungen zu berichten, die Gott ihm enthüllt. 23 Insgesamt überlagern sich also in Amos 3,3–8 im Wesentlichen zwei verschiedene Sinnebenen: das Motiv des durch Gott gewirkten Unheils (Vers 6) und das der Beziehung zwischen Gott und dem Propheten (Verse 7–8). 3. Amos 3,3–8 im Kontext des Amosbuches Die Interpretation von Amos 3,3–8 gewinnt noch eine größere Tiefenschärfe, wenn man wenigstens vier weitere über das ganze Buch verteilte kurze Texte heranzieht, die alle vier auf ihre spezifische Weise auf die Rolle des Propheten eingehen. Im Rahmen dieses kurzen Artikels sollen nur die wichtigsten inhaltlichen Aspekte der betreffenden Passagen zur Sprache kommen. a. Amos 2,4: Die Rivalität zwischen wahren und falschen Propheten Amos 2,4 formuliert wie folgt: ‚[. . .] weil sie das Gesetz des HERRN verworfen und seine Ordnungen nicht gehalten haben, und ihre Lügen sie verführten, denen ihre Väter nachgelaufen sind.‘ Die Angesprochenen sind die Einwohner Judas. Ihnen gegenüber bringt der Prophet zum Ausdruck, dass sie das Gesetz Gottes und seine Ordnungen emp- fangen haben. Aber sie haben sich von ‚Lügen‘ verführen lassen, ja schon ihre Väter (= ihre Vorfahren) waren ihnen hierin ein Vorbild. Das Wort ‚Lüge‘ ist im Hebräischen mehrfach eine Metonymie für falsche Propheten, also für solche Personen, die sich als 22 Vgl. Siegfried Mittmann, „Gestalt und Gehalt“, 136; Bernard Renaud, „Genèse et théologie“, 354 f., 357f. Auch die neuesten wissenschaftlichen Kommentare des Amosbuches suchen noch die Hypo- these zu begründen, dass wenigstens Vers 7 ein späterer erklärender Einschub sei, so Horacio Simian- Yofre, Amos. Nuova versione, introduzione e commento, Milano 2002, 68. 23 Zu dieser Auslegung vgl. Heinz-Dieter Neef, Gottes himmlischer Thronrat. Hintergrund und Bedeu- tung von sôd JHWH im Alten Testament, Stuttgart 1994, 43. 48 Eberhard Bons wahre Propheten ausgeben, es aber nicht sind. 24 Damit wird schon zu Anfang des Buches ein Konflikt angesprochen, der mit der Prophetie unlöslich verbunden ist: Ein Prophet besitzt letztlich kein Beweismittel, wodurch er seine göttliche Sendung legitimiert. Und umgekehrt hat sein Publikum nie eine letzte Sicherheit darüber, ob die Botschaft eines Propheten zuverlässig ist oder ob er sich eine Rolle anmaßt. b. Amos 2,11–12: Der mangelnde Gehorsam gegenüber den Propheten In diesem Abschnitt lässt der Prophet Gott selbst zu Wort kommen. Dieser zählt die Taten und Leistungen auf, mit denen er Israel in der Vergangenheit begleitet hat. Dort findet sich folgendes Zitat: ‚Und ich habe von euren Söhnen einige als Propheten auftreten lassen und einige von euren jungen Männern als Nasiräer. Ja, war es nicht so, ihr Söhne Israel? spricht der Herr. Aber ihr habt den Nasiräern Wein zu trinken gegeben, und den Propheten habt ihr befohlen: Ihr sollt nicht prophetisch reden!‘ Mit den Nasiräern sind Personen gemeint, die sich zum Alkoholverzicht (Numeri 6,3f) verpflichtet hatten (vgl. Richter 13,5.7; 16,17). Der Prophet lässt die Frage mit einer Auf- forderung zur Zustimmung enden: ‚Ist es nicht so, ihr Söhne Israels?‘ Die Zustimmung verlangt aber sogleich auch ein Eingeständnis: Die Nasiräer wurden zum Weingenuß überredet oder verführt und die Propheten zum Schweigen gebracht. „Satte Zeiten ver- mochten jene lebendigen Zeugen nicht zu ertragen, die durch ihr Verhalten an das beschei- dene Leben in der Wüste erinnerten und zur völligen Hingabe an Jahwe gemahnten.“ 25 Und wie erging es den Propheten als Vermittler göttlicher Botschaften? Sie wurden offen- bar mundtot gemacht. Anders als in Amos 2,4, wo den Einwohnern Judas vorgeworfen wird, sie hätten sich durch falsche Propheten beeinflussen lassen, ist in Amos 2,11–12 von den wahren Propheten die Rede. Ihre Mission scheitert aber, da ihnen kein Gehör geschenkt wird. c. Amos 7,10–17: Der Konflikt mit dem Priester Amasja Dies ist einer der bekanntesten Texte des Buches Amos. 26 Er berichtet von einem Kon- flikt, der sich wohl im Bereich des Tempels zugetragen hat. Dabei muss man betonen, dass Tempel im Altertum in der Regel von Königen, Städten und dergleichen getragen 24 Diese Hypothese habe ich in einem früheren Artikel zu begründen versucht: Eberhard Bons, „Das Denotat von kzbyhm ‚ihre Lügen‘ im Judaspruch Am 2,4–5“, in Zeitschrift für die alttestamentliche Wissenschaft 108 (1996), 201–213. 25 Hans Walter Wolff, Dodekapropheton 2, 207. 26 Der Text wirft vielfältige biographische und (literar)historische Fragen auf, die hier nicht behandelt werden können. Zur allgemeinen Orientierung vgl. Jörg Jeremias, Der Prophet Amos, 106–108. Nach Ludwig Schmidt, „Die Amazja-Erzählung (Am 7,10–17) und der historische Amos“, in Zeitschrift für die alttestamentliche Wissenschaft 119 (2007), 221–235, ist der Text „eine wichtige indirekte Quelle für den historischen Amos“ (234). Verpflichtet zur Prophetie 49 wurden. Der Kult, der dort stattfand, war gewissermaßen Staatskult, das heißt vom Staat gefördert, und zwar mit dem Zweck, dass die Gottheit dem Staatsgebilde und dem Volk ihre Gunst erweisen sollte. Wegen seiner Botschaft erlebt Amos hier einen buchstäblichen ‚Platzverweis‘. Der Priester Amasja fordert ihn auf, das Land zu verlassen und in sein Heimatland zurückzukehren, möglicherweise ins Südreich Juda. Die Antwort des Amos ist bemerkenswert (Amos 7,14–15): ‚Da antwortete Amos und sagte zu Amasja: Ich bin kein Prophet und bin kein Prophetensohn, sondern ein Viehhirte und ein Maulbeerfeigen- züchter. Aber der Herr holte mich hinter dem Kleinvieh weg, und der Herr sprach zu mir: Geh, weissage meinem Volk Israel!‘ Amos weist also den Titel ‚Prophet‘ von sich, ebenso will er nichts mit einer Prophetenschule oder Prophetenvereinigung zu tun haben, mög- licherweise also einer Art Prophetenzunft, die in staatlichen Diensten stand. Stattdessen hebt er hervor, dass er sein Auskommen aus seiner landwirtschaftlichen Tätigkeit beziehe und dass Gott ihn hinter seinem Vieh hervorgeholt habe, damit er prophetisch wirken solle. Somit unterstreicht Amos einerseits das Element der persönlichen Berufung, die unvermittelt in die eigene Existenz eingreift; andererseits betont er die dringende Not- wendigkeit des prophetischen Wortes, das einmal mehr vom Verbot bedroht ist. „In der rückblickenden Perspektive des Textes heißt das: Das Gottesvolk wäre schon lange unter- gegangen, wenn es keine Propheten gehabt hätte.“ 27 d. Am 8,11–12: Das Ausbleiben der Gottesworte Im Zusammenhang einer Vision, die das Ende Israels ankündigt, finden sich folgende Aussagen: Siehe, Tage werden kommen, spricht Gott der Herr, da sende ich Hunger ins Land, nicht einen Hunger nach Brot und nicht einen Durst nach Wasser, sondern danach, die Worte des Herrn zu hören. Und sie werden wanken von Meer zu Meer und vom Norden bis zum Osten. Sie werden umherschweifen, um das Wort des Herrn zu suchen, aber werden es nicht finden. Dieser Text bedarf keiner eingehenden Interpretation: In einer Vision kündigt der Prophet das Ausbleiben der Gottesworte an. Der Kreis schließt sich hier. Da die Propheten in der Vergangenheit nicht gehört worden sind, wie aus den vorhin zitierten Stellen hervorging, versagt Gott seinem Volk Israel jetzt jegliche weitere prophetische Offenbarung. e. Amos 3,3–8 im Kontext des Amosbuches Die verschiedenen Aussagen des Amosbuches zur Rolle des Propheten sind keineswegs homogen – genausowenig wie das Buch selbst. Liest man sie aber im Zusammenhang, so hebt es sich einerseits von Vergangenheitsaussagen ab, andererseits von Zukunftsaussa- gen: In der Vergangenheit wurde das prophetische Wort nicht gehört, wodurch Israel sich 27 So Jörg Jeremias, Der Prophet Amos, 111. 50 Eberhard Bons von Gott entfernt hat. In der Gegenwart, wie das Amosbuch sie konzipiert, ist es für Israel geradezu lebensnotwendig, das prophetische Wort zu hören und ihm Folge zu leisten. Da das prophetische Wort jedoch nach wie vor auf Unverständnis und Ablehnung stößt, wird Israel eines Tages ohne die prophetische Botschaft auskommen müssen – und gleichsam orientierungslos sein. Dass die Texte Amos 3,3–8 und 7,14–15 einander erhellen, liegt auf der Hand: Der Prophet wird von Gott in die Pflicht genommen, eine Botschaft zu verkünden. Was in Amos 3,3–8 in allgemeinen Worten ausgesagt wird, bezieht der Prophet in Amos 7,14–15 auf sich selbst. So wie der Prophet in Amos 3,8 dem göttlichen Wort nicht ausweichen kann und prophetisch reden muss, so geht der Prophet Amos in Amos 7,10–15 nicht dem Skandal aus dem Weg, dem Priester den Untergang und dem Volk das Exil vorauszusagen. Das Amosbuch enthält keine Nachricht darüber, wie der Konflikt mit dem Priester Amasja ausging. 28 Ob der Prophet für seine Treue zum Gotteswort Nachteile erleiden musste, wird nicht berichtet. Das Amosbuch selbst ist anscheinend zu wenig an den bio- graphischen und historischen Fakten interessiert. Vielmehr scheint der Prophet selbst hin- ter der Botschaft des Buches zurückzutreten. Erst spätere legendarische Quellen wissen davon zu berichten, dass Amos für sein offenes Wort mit dem Leben bezahlen musste und vom Sohn Amasjas erschlagen wurde. 29 Und dennoch tritt im Amosbuch, das uns in die Zeit vor der Zerstörung Samarias (722v. Chr.) führt, ein Grundkonflikt zutage, der in anderen politischen Konstellationen mehrfach wieder aufbricht: Der Prophet ist Erfüller eines Auftrages, dem er sich nicht entziehen kann, und Verkünder eines Wortes, dessen Glaubwürdigkeit und Authentizität er letztlich nicht beweisen kann. 4. Schlussbemerkungen: Der Prophet als Autor In welchem Maße die Propheten selbst zur schriftlichen Fixierung ihrer Botschaften bei- getragen haben und auf welche Weise aus mündlichen Prophetenworten schriftlich über- lieferte Prophetenbücher entstanden sind, entzieht sich unserer Kenntnis. Diese Prozesse sind nur um den Preis vieler Hypothesen zu rekonstruieren, wiewohl sicher ist, dass auch im alten Israel schon sehr früh Texte, die eine größere Öffentlichkeit betrafen, schrift- lich fixiert und überliefert wurden. 30 Diese komplexe Frage kann hier aber nicht vertieft werden. Wichtiger scheint an dieser Stelle eine andere Überlegung zu sein, die an den Anfang dieses Artikels zurückführt: Wenn der Prophet auctor seiner Botschaft sein soll, dann besitzt er eine geliehene auctoritas, denn er versteht sich als Beauftragter Gottes, der 28 Dies betont auch Jörg Jeremias, Das Buch Amos, 106. 29 Prophetarum vitae fabulosae 7,1; vgl. James Hamilton Charlesworth (Hg.), The Old Testament Pseudepigrapha, Vol. 2, New York 1985, 391. 30 Vgl. u.a. Ina Willi-Plein, „Gesprochenes und geschriebenes Wort“, in Zeitschrift des Deutschen Palästina-Vereins 117 (2001), 64–75, hier 67. Verpflichtet zur Prophetie 51 ihn buchstäblich in Beschlag nimmt. Sofern er nicht ‚in eigener Sache‘ Stellung nimmt und seine Rolle legitimiert oder reflektiert, ist er Sachwalter eines fremden Wortes. Im Unterschied zum Plagiator unterwirft er dieses fremde Wort nicht sich selbst, sondern er unterwirft sich ihm mit seiner ganzen Person. Dass ein Autor eigene oder fremde Positio- nen wiedergeben und sie als solche kennzeichen kann, bedarf keiner Frage. Der Konflikt bricht aber dann auf, wenn der Prophet selbst als inventor, ‚Erfinder‘, der von ihm ver- kündeten Botschaft angesehen wird und wenn er vergeblich auf ihren göttlichen Ursprung verweist.