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Full text of "Im Dickicht der Sprache"

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A. J. $ T O R F E A 



PASSER VERLAG 




Der erste Teil des Werkes, 
„Von A bis Z“, behandelt Ety¬ 
mologie und Bedeutungsentwick¬ 
lung bemerkenswerter Wörter und 
Redensarten. Anders als gewöhn¬ 
liche Nachschlagewerke beschränkt 
dieses sich nicht auf trockenes 
Aneinanderreihen von Tatsachen 
und Hypothesen, sondern nutzt 
jeden Anlaß zu kulturgeschichtli¬ 
chen oder psychologischen Aus¬ 
blicken. Urgeschichtliches wird 
ebenso berührt, wie Verhältnisse 
der allerjüngsten Gegenwart be¬ 
rücksichtigt werden, und die so 
sich ergebende Lebensnähe macht 
diese Wortkurzgeschichten und 
kleinen Wortromane zu einer 
spannenden Lektüre. „Warum hat 
man uns nicht früher gesagt, daß 
Sprachwissenschaft eine so inter¬ 
essante Sache sein kann?“ schrieb 
eine Zeitung zu Storfers früherem 
Buch. Der Verfasser beschränkt 
sich nicht auf die Schriftsprache, 
weitgehend berücksichtigt er die 
Mundarten, die Studenten-, die 
Soldaten-, die Verbrechersprache, 
das Slang der Großstädte. 

Der zweite Teil, „Kreuz und 
quer“, behandelt eine Reihe inter¬ 
essanter Sonderfragen. Der eine 
Aufsatz beschäftigt sich z. B. mit 
dem Hang der deutschen Sprache 
zur Wortzusammensetzung, mit 
Vorzug und Nachteil dieser Er¬ 
scheinung. Fesselnd und voll von 
humorvollen Beispielen ist der 
Abschnitt über Sprachmengerei. 
Dem Einfluß des Schweizerischen 
auf die neuhochdeutsche Schrift¬ 
sprache spürt eine andere Ab¬ 
handlung nach. Die Ausführung 
über Tiernamen als Krankheits¬ 
namen machen uns mit wenig be¬ 
kannten Gebieten der alten Medi¬ 
zin und der heutigen Volksmedizin 
bekannt. Verblüfft erfährt der 
Laie, welche Fülle von Geheim¬ 
nissen die Sprache birgt, der er 
sich täglich bedient, was alles der 
Wissende aus ihren Erscheinun¬ 
gen herausdeuten kann, und auch 
der Fachmann findet viel Neues, 
Überraschendes. Zudem gewähr¬ 
leistet schon des Verfassers Dar¬ 
stellungskunst richtigen Genuß. 
Seine Fähigkeit, schwierige Dinge 
einfach, gleichsam plaudernd und 
scherzend auseinanderzusetzen, ist 
mit Recht als meisterhaft gerühmt 
worden. 




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INTERNATIONAL 

PSYCHOANALYTIC 

UNIVERSITY 


DIE PSYCHOANALYTISCHE HOCHSCHULE IN BERLIN 




A. J. STORFER 

IM DICKICHT DER SPRACHE 







IM DICKICHT 
DER SPRACHE 


A. J. STORFER 


VERLAG DR. ROLF PASSER 


WIEN — LEIPZIG — PRAG 






Alle Rechte Vorbehalten 

Copyright 1937 by Verlag Dr. Rolf Passer, Wien 


Schutzumschlag: Maenner, Wien 
Druck von Julius Kittls Nachfolger, M.-Ostrau 


INHALTSVERZEICHNIS 


Von A 

Abstecher ......... 9 

Ausmerzen . 

Backfisch. 

Ballast. 

Behelligen . 

Bismarck. 


9 

10 

11 

12 

12 


Cancan.^ 

Dattel, Banane. 17 

Einen Denkzettel bekommen . 19 

Drastisch . .. 2 0 

Elend. 2 1 

Erpressung, chantage, blackmail 25 
Sich ins Fettnäpfchen setzen . 28 

Feurige Kohlen .28 

Aus dem ff, nach Schema F . 31 

Fisimatenten .32 

Flanell .36 

Keltische Wörter im Deutschen 37 

Fratze, Fratz.44 

Gamin .47 

Deutsche Wörter im Pariser 
Argot ..49 

Ins Gras beißen .52 

Umschreibungen des Sterbens . 57 

Halunke. 66 

Hand ins Feuer legen ... 67 
Die Hosen verlieren .... 67 

Pas geht über die Hutschnur . 68 

Isabellenfarbe .69 

Wörter , die an Belagerungen 
erinnern . 

Jause . 


bis Z 

Katzelmacher 
Killen 
Knickebein 
Kur . . 


70 

77 


.79 

.88 

.88 

.89 

Lücken büßen.91 

Mob .92 

Nachahmen.94 

Lehnwörter der W einkultur 
aus dem Lateinischen .... 95 

Nachtigall, rossignol .... 97 

Neun.97 

Nihilismus .102 

Paprika, Pfeffer .104 

Paschen, schmuggeln, schwärzen 113 

Pistole.H4 

Pluzer.H9 

Putsch.123 

Quintessenz.127 

Rabeneltern.127 

Räsonnieren.129 

Renommieren .131 

Schnorren.131 

Pseudojüdische Wörter . . . .135 

Schwindler , . ..138 

Schwul, Schwulität . . . .139 

Spitzel.140 

Steckbrief.145 

Stinken, stänkern.146 

Strohwitwe ....... 148 

Toast .153 

Veronal .154 

Zwilling.155 


5 


















































Kreuz und quer 


Schweizerische Wörter im Hochdeutschen.159 

Aus dem Wortschatz des Wieners.167 

Tiernamen als Krankheitsnamen.181 

Die Namen der fünf Erdteile.199 

Über Sprachmengerei.214 

Verblaßte Verkleinerungsformen .228 

Aristophanische Zusammensetzungen.256 

Von einsilbigen Wörtern und deren Überhandnehmen.280 


Register ..297 


6 


I 














VON ABIS Z 
































• . 




































. 




. 
































' 
















Abstecher 

„Einen Abstecher machen“ (vorzugsweise: einen kleinen Abstecher) 
kommt aus der Seemannssprache. In die See „stechen“ bedeutet ursprüng¬ 
lich : vom Ufer abstoßen, indem man vom Fahrzeug aus eine Stange gegen 
einen festen Halt sticht. Abstecher ist eine kleine Fahrt im Boot, das mit dem 
Bootshaken vom großen Fahrzeug „absticht“. Dann übertragen auf jeden 
einen größeren Weg unterbrechenden Nebenweg. Die Redensart gelangte 
aus niederdeutschen Mundarten (een Afsteker maken) um 1770 herum ins 
Schriftdeutsche. 

In der deutschen Gaunersprache ist „Abstecher“ ein kleines spitziges 
Eisen zum Öffnen eines Vorhängschlosses. (In früheren Zeiten wurde dieses 
Gerät gewöhnlich am Tabaksbeutel befestigt.) 

Ausmerzen 

Nicht weniger als fünf Ableitungen stehen zur Wahl: 

a) Den stärksten Anklang findet die folgende: im Frühling, vornehmlich 
im M ä r z, werden die zur Zucht untauglichen Schafe ausgeschieden. Daher 
wird das auszuscheidende Schaf ein Märzschaf genannt 1 . Diese Ableitung 
führt dazu, daß manche nicht ausmerzen schreiben, sondern ausmärzen. Zur 
Stützung dieser Ableitung wird herangezogen, daß spanisch marzear „die 
Schafe (im März) scheren“ bedeutet. Übrigens ist im Deutschen ausmerzen 
bis ins 18. Jahrhundert nur von Schafen gesagt worden. 

b) Grimms Wörterbuch denkt an lateinisch merx, mercis — Ware und 
schreibt vorsichtig: „man würde sich für merz (lateinisch merx) entschei¬ 
den, wenn es die Kaufleute vom Ausscheiden schlechter Ware gebrauchen“. 

c) Auch gotisch marzjan = einen ärgern ist als Vorläufer von ausmerzen 
in Betracht gezogen worden. 

d) Andere vermuten eine Verwandtschaft mit dem mundartlichen Zeit¬ 
wort murzen = schneiden, tilgen. 

e) Schließlich deuten einzelne Forscher merzen als merksen. Merksen 
wäre ein Iterativum, eine die häufige Wiederholung ausdrückende Ableitung, 
von merken (so wie blitzen = blickezen von blicken, also häufig auf- 
leuchten, oder schmatzen = schmackezen von schmecken, also nachdrücklich, 
mit Wohlbehagen schmecken, schluchzen von schlucken, seufzen von saufen, 
jauchzen und ächzen von juchhe und ach). Die Schafe ausmerzen, hieße 

i) Die Ausmusterung im Spätherbst heißt b r a c k e n, ausbracken (von 
brack = minderwertig, einer Nebenform des niederdeutschen wrack = beschä¬ 
digt, untauglich, auch als Hauptwort, z. B. Schiffswrack). 


9 





demnach, die auszusondernden Tiere mit einer Marke, einem farbigen Strich 
etwa, kennzeichnen. Merzen entspräche also sowohl der Wurzel als der Be¬ 
deutung nach dem Zeitwort markieren. Für die Ableitung von der Wurzel 
merk spricht auch das englische Zeitwort to mark out = ausmerzen. 

Von diesen fünf verschiedenen Ableitungen scheinen die erste und letzte 
am besten begründet zu sein; beide berühren die Schafzucht und es ist 
sprachgeschichtlich nicht ausgeschlossen, daß nicht ein Entweder-oder, son¬ 
dern ein Sowohl-als vorliegt, d. h. daß beide etymologische Quellen 
(sowohl der Monatsname März, als auch die Tätigkeit des Versehens mit 
einer Marke) von Einfluß auf die Entstehung des heutigen Zeitwortes aus¬ 
merzen waren. 

Backfisch 

als Bezeichnung für halbwüchsige Mädchen erklären 

a) die einen mit dem im Deutschen (bis auf einzelne, besonders die 
Schiffahrt betreffende niederdeutsche Ausdrücke) ausgestorbenen, im Eng¬ 
lischen noch erhaltenen germanischen Worte b a c k = Rücken, hinten, zu¬ 
rück, weil man nämlich die jungen Mädchen mit jenen zu jungen unausge¬ 
wachsenen Fischen verglichen habe, die der Fischer ins Wasser zurück 
(back!) wirft, 

b) die andern (z. B. Borchardt-Wustmann) mit backe n, weil die 
zarten jungen Fische, die zum Sieden noch nicht taugen, gebacken werden. 

c) Wieder eine andere Deutung meint, Backfisch sei aus der bequemen 
Aussprache von Bach fisch entstanden, und die halbwüchsigen Mädchen 
habe man mit den in Bächen lebenden Fischen verglichen, weil diese — im 
Gegensatz zu den Fischen der großen Flüsse und des Meeres — zierlich 
und munter seien. 

d) H. Schräder faßt den Backfisch als ein Wesen auf, das aus dem klei¬ 
nen Bach der Pensionssüßwasser oder der Kinderstube in die siebenfach 
gesalzene See der Welt hinausgeworfen wird. 

e) Auch mit Baccalaureus, der früheren Bezeichnung des Doktoratskan¬ 
didaten, bringt man wegen des Anklangs den Backfisch in Verbindung und 
dafür spricht jedenfalls einigermaßen der Umstand, daß der Ausdruck Back¬ 
fisch zuerst in der Mitte des 16, Jahrhunderts als Bezeichnung für junge 
Studenten (also für männliche Wesen) auftaucht. (Kurz nach diesem 
Auftreten des Ausdrucks Backfisch ist auch seine offenbar aus studentischen 
Kreisen ausgehende Anwendung auf junge Mädchen belegt.) 

f) R. Riegler legt Gewicht auf die Feststellung, daß in Studentenkreisen 
früher die jungen Mädchen auch kurz als Fische bezeichnet wurden; 


io 






hierbei habe in wenig schmeichelhafter Weise die Dummheit als ter- 
tium comparationis gegolten; der Metapher liege aber auch die Vorstellung 
des K ö d e r n s zugrunde, indem die Studenten den Mädchen in ähnlicher 
Weise nachstellten, wie die Angler den Fischen; hingegen beziehe sich der 
Ausdruck Back fisch wohl auf das Lockende, A p p e t i 11 i c h e des Aus¬ 
sehens (welche Erwägung dann zur obigen Deutung b zurückführt). 

Holländisch bakvisch und dänisch bakfisk sind dem deutschen Ausdruck 
nachgebildet. 

Ballast 

Levinus Hulsius erklärt 1548: „Pallast, d. i. Sand-Last oder Sand und 
Stein, so alle Schiff unden müssen einladen, daß sie nicht umbfallen.“ 

Das Wort macht zwar gleich den Eindruck eines zusammengesetzten Wor¬ 
tes, dessen zweiter Teil das zur Sippe des Zeitwortes „laden“ gehörige 
Hauptwort „Last“ ist und dieser Eindruck kann wohl auch als richtig gelten, 
aber in Bezug auf die Deutung des ersten Teiles der Zusammensetzung be¬ 
steht Unsicherheit. Es bieten sich nicht weniger als sechs verschiedene Erklä¬ 
rungen für den ersten Teil des Wortes Ballast. 

Nach der einen ist die erste Silbe das holländische b a 1 = schlecht, Ballast 
daher: schlechte Last. 

Nach anderer Auffassung wäre die ursprüngliche Form barm-last, 
wobei im ersten Teil eine Nebenform von nordisch barmr = Rand, angel- 
sächsich bearm = Schoß (des Schiffes) vermutet wird. 

Nach einer dritten Deutung wäre Ballast zusammengezogen aus bare 
Last (nackte Last, bloße Last), wie man den zum Erhalten des Gleichge- 
gewichtes des Schiffes mitgenommenen Sand im Gegensatz zur eigentlichen 
Fracht bezeichnet haben soll. 

Wieder eine andere Vermutung weist auf dänisch bag = hinten hin 
(vgl. dazu englisch und niederdeutsch back, deutsch Backbord). Ballast wäre 
also die hintere, d. h. die unter der gewöhnlichen liegende Last. 

Nach der fünften Hypothese ist Ballast = Bohle- Last, d. h. 
die auf den Bohlen (auf dem Boden des Schiffes) liegende Last. 

Eine sechste, die einfachste, aber am schwächsten gestützte Erklärung 
sieht im Ballast eine alte Form für Bei- Last. 

Im Französischen hat le baliast außer der deutschen, auf die Schiff¬ 
fahrt bezüglichen auch die Bedeutung: Beschüttungsmaterial (im Eisenbahn¬ 
bau). Dazu die Weiterbildungen: ballaster = eine Strecke schottern oder 
zerstoßene Steine befördern, ballastage = „Füttern“ der Schwellen mit Kies. 
Von deutsch „Last" kommt übrigens im Französischen auch la laste = 


11 





Schiffslast (als Gewichtsbezeichnung: 2000 kg) und le lest mit der Bedeu¬ 
tung Ballast (z. B. aller en lest oder sur son lest, nur mit Ballast beladen 
fahren) und der übertragenen Bedeutung Gegengewicht. Im Italieni¬ 
schen: lasto = Schiffslast. 

Im englischen Slang ist bailast auch die Bezeichnung für Geld, ein 
reicher Mann ist daher: well-ballasted. Auch sagt man von jemandem, dem 
die Urteilskraft fehlt oder dem der Eigendünkel zu Kopf gestiegen ist, er 
habe seinen Ballast verloren (lose his bailast). Im Übrigen deckt sich — in 
seiner Beziehung auf das Schiff — das englische Wort bailast mit dem deut¬ 
schen. Nur bei der übertragenen Verwendung des Wortes ergibt sich 
ein bemerkenswerter Unterschied. Im Deutschen bedeutet Ballast im über¬ 
tragenen Sinne: etwas, das eine störende, überflüssige Überladung darstellt 
(z. B. der Ballast von Phrasen in einer Rede). Ganz anders bezeichnet eng¬ 
lisch baliast in übertragenem Sinne das, was Stetigkeit, (sittlichen) Halt usw. 
gibt. Ballast in übertragenem Sinne ist also im Deutschen etwas Überflüssi¬ 
ges, Bedauerliches, im Englischen etwas Erwünschtes, Erstrebenswertes. In 
der englischen Bedeutungsübertragung ist also der Vergleich mit dem 
Schiffe, das auf Ballast ja angewiesen ist, korrekt geblieben. 

Behelligen 

Das mittelhochdeutsche hei, hellec = schwach, matt lebt noch in ver¬ 
schiedenen mundartlichen Wörtern fort, z. B. im hessischen häl = ausge¬ 
trocknet, mager, saft- und kraftlos. Hälgarten ist eine dürre Wiese, Haigans 
eine magere, noch ungemästete Gans, Hälschwein oder Hehlsau ein halb¬ 
wüchsiges oder mageres Schwein. Im Plattdeutschen: ein haler Wind. Im 
Schweizerischen bedeutet heilig: ermattet, leer im Magen, hungrig. Zu die¬ 
ser Wurzel gehört in der neuhochdeutschen Schriftsprache behelligen = be¬ 
lästigen, mit der ursprünglichen Bedeutung: jemand beschwerlich werden, 
ihn durch Verfolgung ermüden. Als seltenere Nebenform von behelligen be¬ 
gegnen wir dem Zeitwort „abheiligen“, z. B. in den landwirtschaftlichen 
Landtagsberichten Steiermarks aus dem Jahre 1540 („ieren abgeheiligten und 
betruebten Landen“). 

Bismarck 

Die verbreitetsten Formen der Wortstutzung sind die Prokope (auch 
Aphairesis genannt), d. h. der Wegfall des Wortanfangs (z. B. Bodega aus 
Apotheke, Bus aus Omnibus, Grete aus Margarete, italienisch storia aus la¬ 
teinisch historia) und die A p o k o p e, d. h. der Wegfall des Wortendes 
(Sarg aus Sakophag, Pneu aus Pneumatik, Zoo — in Basel Zolli — aus 


12 










Zoologischer Garten, Magda aus Magdalene). Weniger häufig ist die dritte 
Form der Wortstutzung, die sogenannte Synkope, bei der der Sparsam¬ 
keitstendenz der Sprache die Mitte eines Wortes zum Opfer fällt, wie z. Q. 
in der amerikanischen Umgangssprache Frisco für (San) Francisco, in der 
Levante Cospoli für Constantinopel, in der österreichischen militärischen 
Sprache Baon für Bataillon. Ein gutes Beispiel der Synkope liefert der Fami¬ 
lienname Bismarck, den die Namensforschung auf Bischofsmark zu¬ 
rückführt; die Besitzungen der Familie Bismarck grenzten nachweislich an 
das Bistum Verden. (Auch das Wort „Bistum“ ist übrigens synkopisch ent¬ 
standen aus althochdeutsch biscoftuom, mittelhochdeutsch bischoftuom)i. 

Der Familienname Bismarck gehört zu jenen Eigennamen, die Grundlage 
zu bestimmten Wortneubildungen lieferten, wenn auch nicht zu dauernden 
Neologismen nach der Art der oft angeführten Beispiele „Guillotine“ nach 
dem Dr. Guillotin, „Sandwich" nach Lord Sandwich usw. Auch ist es nicht 
das deutsche Wörterbuch, das durch Abkömmlinge des Namens Bismarck 
bereichert worden ist, sondern — vorübergehend — das französische. 

Nach dem preußischen Sieg bei Königgrätz (1866), den übrigens die 
Franzosen nach dem Dorf Sadowa bezeichnen, war es in Frankreich üblich, 
eine gewisse rotbraune Farbe als „bismarck“ zu bezeichnen. (Ein 
Beleg aus dem Jahrgang 1867 von La Vie Parisienne: La baronne est en 
bismarck de pied en cap, die Baronin ist vom Scheitel bis zur Sohle in „Bis¬ 
marck".) Bis dahin bezeichnete man diese Farbe nur als „aventurine" nach 
dem Mineral Aventurin (Glimmerstein), einer rötlichbraunen Quarzart. 
Offenbar hat der rotbraune Uniformmantel auf einem zeitgenössischen Bis¬ 
marckbildnis in Frankreich nachhaltigen Eindruck gemacht, denn die neue 
Farbe „bismarck" kam stark in Mode. Car, n’oublions pas, bemerkt 1889 
der Argot-Lexikograph Larchey, M. de Bismarck eut sous l’Empire ses ad- 
mirateurs, vergessen wir nicht, daß Herr von Bismarck im (zweiten) Kaiser¬ 
reich Verehrer hatte. Der Name Bismarck diente der französischen Umgangs¬ 
sprache auch zur Bezeichnung folgender Farbennuancen: bismarck en colere 
(Bismarck in Zorn) = dunkelbraun und bismarck malade (krankes Bis¬ 
marck) = hellbraun. 

Nach 1870 gab es aber in der französischen Umgangssprache bereits ein 
Zeitwort bismarcker oder bismarquer mit der Bedeutung überlisten, 
sich etwas mit allen Mitteln aneignen. Das Zeitwort (es ist 

i) Man kann Bismarck und Bistum aus Bischofsmark und Bischofstum auch 
zu den elliptischen Zusammensetzungen („Klammerformen“) 
nach Art von Pappenstiel statt Pappenblumenstiel, Weißbäcker statt Wei߬ 
brotbäcker, kornblau statt kornblumenblau zählen. Vgl. das Stichwort Pap¬ 
penstiel in „Wörter und ihre Schicksale“.) 


13 









noch 1912 bei Villatte als Parisismus verzeichnet) gelangte mit dieser Bedeu¬ 
tung auch ins Spanische und ins Portugiesische. Villatte gilt als pariserisch 
auch an: bismarck = der Hintere. Aus dem Argot sei noch angeführt: envoyer 
une depeche ä Bismarck (eine Depesche an Bismarck absenden) = auf den 
Abtritt gehen. Vielleicht ist die Entstehung dieser Umschreibung auch durch 
die oben erwähnte französische Farbenbezeichnung bismarck, dann vielleicht 
auch durch das französische Volkswort prussien = Gesäß mitdeterminiert. 
Das Wort bismarck hatte im Argot auch die Bedeutung: Zweimarkstück; 
dies ist ein Wortspiel aus „bis" = zweifach und „Mark". 

Für England verzeichnete das Slangwörterbuch von Farmer und Henley 
ein Zeitwort bismarquer = betrügen, besonders beim Kartenspiel oder 
beim Billard unehrlich sein. Das Wörterbuch erklärt: „nach dem Namen 
des Fürsten Bismarck, über dessen Politik 1865—66 ein großer Teil der 
europäischen Öffentlichkeit sich entrüstete“. Doch konnte sich dieser belei¬ 
digende Wortgebrauch nicht dauernd im englischen Slang halten, die Ausgabe 
1903 des genannten Wörterbuches bezeichnet den Ausdruck bereits als ver¬ 
altet. — In Amerika trägt eine Stadt noch heute den Namen des großen 
deutschen Kanzlers: die 1873 gegründete Hauptstadt von North Dakota 
heißt Bismarck. 

Cancan 

Der Cancan, den man in den letzten Jahren einigemal wieder ans Pvam- 
penlicht großer Varietebühnen gezogen hat und der auch in einigen Filmen 
ein Auferstehen feiert, war eigentlich kein eigener Tanz, sondern eine 
Schlußfigur der Quadrille, noch genauer, eine Stilart sie zu tanzen. Zuerst 
wurde der Cancan in Paris unter Louis Philippe im Jardin de Mabille ge¬ 
tanzt 1 . Auch eine andere Bedeutung hatte das Wort Cancan zur Zeit des 
Bürgerkönigtums. Die cancans ersetzten damals die Satire der Witzblätter. 
1831 ließ Berard eine Reihe von Einzelblättern erscheinen, die „boshafte 

1) 1842 schrieb in der „Augsburger“ Heinrich Heine: „Hier höre ich die 
Frage, was ist der Cancan? Heiliger Himmel, ich soll für die Allgemeine 
Zeitung eine Definition des Cancan geben! Wohlan, der Cancan ist ein Tanz, 
der nie in ordentlicher Gesellschaft getanzt wird, sondern nur auf gemeinen 
Tanzböden, wo derjenige, der ihn tanzt oder diejenige, die ihn tanzt, unver¬ 
züglich von einem Polizeibeamten ergriffen und zur Tür hinausgeschleppt 
wird. Ich weiß nicht, ob die Definition hinlänglich beiehrsam ist, aber es 
ist auch gar nicht nötig, daß man in Deutschland ganz genau erfährt, was der 
französische Cancan ist.“ Später schrieb Alphonse Karr: „Wir haben den gra¬ 
ziösen Cancan, den saint-simonistischen, den Halbcancan, den Anderthalb¬ 
cancan (le cancan et demi) und den Chahut. Nur dieser letztere Tanz ist 
verboten.“ 

*4 









liederartige Verse mit allerlei Formen der Ironie in Prosa mischten" (Karl 
d’Ester) Er gab jeder Nummer einen anderen Titel; es gab Cancans popu¬ 
läres Cancans legitimes, Cancans indomptables usw. 1 Auch als er wegen 
seiner unerschrockenen Angriffe ins Gefängnis kam, verstand es Berard, 
weitere Cancans an die Öffentlichkeit gelangen zu lassen, wo sie nach be¬ 
kannten Melodien gesungen wurden. 

Seine Glanzzeit erlebte der Cancan-Tanz in der Regierungszeit Napo¬ 
leons III. Da gelangte dieser sinnenfroh ausgelassene Tanz, der geradezu als 
Sinnbild der Vergnügungssucht im zweiten Kaiserreich gelten kann, zu sei¬ 
ner großen Verbreitung und Berühmtheit. ^J^ie auch in vielen anderen ähn¬ 
lichen Fällen, war eines Tages die Sache da, ihr Name in aller Mund, aber 
niemand konnte verläßlich Rechenschaft darüber geben, wie es zu diesem 
Namen kam. Allerdings bewegen sich die verschiedenen Deutungen, die 
man dem Worte cancan schließlich gab, auf einem ziemlich engen Gebiete, 
auf einem lautmalerischen, u. zw. innerhalb einer geschlossenen semasiolo- 
gischen Ellipse, deren beide Brennpunkte die Begriffe der Ente und des 
sinnlosen Lärmes sind. Man tut gut, in solchen Fällen die Möglich¬ 
keit der Überdeterminierung nicht unbeachtet zu lassen und zu bedenken, 
daß die eine etymologische Deutung die andere nicht unbedingt ausschließen 
muß. 

Cancan heißt im Französischen, offenbar lautmalerisch, das Geschnatter 
der Ente, und es sei eben, so argumentieren die einfachsten Etymologien, die 
Bezeichnung für den wilden, sinnlosen Lärm, den dieser Vogel verursacht, 
auf den zügellosen und mit geräuschvollen Lustausbrüchen verbundenen 
Tanz übertragen worden. (Man vgl. übrigens auch die Bedeutungsentwick¬ 
lung von „Ente", „canard" zu Aufschneiderei, Lüge, falsche Zeitungsnach¬ 
richten unter dem Stichwort „Ente" in „Wörter und Schicksale".) Andere 
wollen sogar, ungalanter Weise, in dem Schütteln des Leibes beim Cancan 
eine Ähnlichkeit mit dem Watschelgang der Ente erkennen. (Wenn diese 
Deutung zurecht bestünde, so hätte die Benennung des Cancans nach dem 
Gang eines Tieres eine moderne Analogie: die Bezeichnung eines Gesell¬ 
schaftstanzes als „Fuchsschritt", foxtrot.) 

Bereits Menage buchte 1694 das Wort cancan und identifizierte es mit 
lateinisch auamquam. In den französischen Gymnasien mußten 


i) Es gab auch cancans in Zwiegesprächsform. So fragte man z. B. wort¬ 
spielartig (quand = wann); Quand serez-vouz content? Quand j’aurai de 
Fargent. Quand aurez-vous de Fargent? Quand il y aura du commerce. 
Quand il y aura du commerce? Quand il y aura de la confiance. Quand il y 
aura de la confiance? Quand le gouvernement ne fera plus de sottises. 








die Schüler ihre öffentlichen Vorträge mit einer lateinischen Ansprache ein¬ 
leiten. Diese lateinischen Einleitungen begannen meistens, angelehnt an die 
klassischen Vorbilder antiker Beredsamkeit, mit gewissen Entschuldigungen 
betont bescheidener Art. In Anspielung auf eine berühmte Rede Ciceros, die 
mit den Worten „Quamquam mihi semper...“ (Obgleich mir jederzeit...) 
beginnt, nannte man diese Einleitungen, im weiteren Sinne aber auch ge¬ 
schwätzige, überflüssige oder törichte Phrasen überhaupt: quamquams; in 
französische Form gegossen: quanquans oder cancans. Faire un grand 
quanquan de quelque chose bedeutet: viel Lärm um etwas machen, unver¬ 
dienter Maßen großes Aufsehen erregen; und allgemeiner auch: schwatzen, 
tratschen. (Man vgl. die Redensart „ein großes Tamtam machen cc , wo aber 
auch die Vorstellung des Trommelrührens wirksam ist.) 1 

Littre (der 1864 für cancan die Definition gibt: „unschicklicher Tanz auf 
öffentlichen Bällen, mit übertriebenen Sprüngen und schamlosen Gebär¬ 
den") weist auf eine Diskussion hin, die in der zweiten Hälfte des 16. Jahr¬ 
hunderts an der Sorbonne darüber stattgefunden haben soll, ob man den 
Anlaut in den lateinischen Wörtern quamquam, quis usw. wie kv oder wie 
k aussprechen soll. Die Sorbonnisten blieben bei der letzteren, die Anhänger 
des Philosophen und Philologen Pierre Ramus bei der ersterwähnten Aus¬ 
sprache. Als die Diskussion noch immer nicht erlahmen wollte, habe einer 
der Anwesenden ungeduldig gerufen: voilä bien des cancans pour rien. 
Richtig belegt ist diese Anekdote aber nicht. Schon lang vor Ramus findet 


i) Die Silbenwiederholung, die die Lautform cancan zeigt, scheint kein Zu¬ 
fall zu sein, wenn das Wort eigentlich Entengeschnatter, sinnlosen Lärm be¬ 
zeichnen soll. Für den Ausdruck eines solchen Begriffes eignen sich Zwil¬ 
lingswörter — sowohl „reine“ wie cancan, als auch solche mit Wur¬ 
zelvariation — in besonderem Maße. Man beachte die vielen Ausdrücke dieser 
Art, die Lärm, Tumult, sinnloses Geschwätz, Klatsch, Geschnatter, Unsinn be¬ 
deuten: Larifari, Tamtam, Gigasgagas, Tärlimärli; englisch bibble-babble, 
chit-chat, tittle-tattle, skimble-skamble, griffle-graffle, miff-maff, rimble- 
ramble, fiddle-faddle, rip-rap, whim-wham, ran-tan, pow-row, argol-vargol, 
talky-talky, französisch charivari, patati-patata, barrabin-barraban, chichi; 
tschechisch tlachy-machy; japanisch kamgagamba, samoanisch tabataba, 
boiboi auf Neuguiena. Auch der Begriff des Lebhaften, Hastigen, Übereilten, 
der in der Bezeichnung cancan Ausdruck findet, ist ein von Zwillingswörtern 
bevorzugter; vergl. Schurimuri, Hudriwudri, gigete-gagete, holterpolter; eng¬ 
lisch catch-match, hurly-burly, harem-scarem, arsy-varsy. Und schließlich 
gehört auch das Element des wilden Durcheinanders, der Unordnung, des 
Chaos zu jenen, zu deren Ausdruck Zwillingswörter vorzugsweise verwendet 
werden; vgl. Wirrwarr, Kuddelmuddel, Krausemause, Tohuwabohu; englisch 
mingle-mangle, mizmaze, higgledy-piggledy, hubble-bubble, hab-nab, hoitv- 
toity, hurry-scurry; französisch bourri-bourra, pele-mele, aroul-boroul. 


1 6 














man im französischen Schrifttum den Ausdruck caquehan, etwa mit der Be¬ 
deutung Tohuwabohu, insbesondere für einen Tumult, eine lärmende Ver¬ 
sammlung oder einen geräuschvollen Streit. 

Jedenfalls galt die Musik, zu der der Cancan zunächst im Vormärz und 
dann besonders während des zweiten Kaiserreiches getanzt wurde, zu ihrer 
Zeit den ewigen Nörglern als besonders „verrückt" und „ohrenbetäubend", 
wie etwa in unserer Zeit die amerikanische Jazzmusik, und die Ableitung des 
Namens des Tanzes aus mundartlichen lautnachahmenden Bezeichnungen 
des Entengeschnatters im Besonderen oder des gehäuften Lärmes im Allge¬ 
meinen erscheint daher durchaus annehmbar. Die Möglichkeit des begriff¬ 
lichen Zuflusses aus der Sphäre studentischer Beredsamkeit braucht aber 
damit nicht als ausgeschlossen zu gelten. 

Dattel, Banane 

Die Frucht der Dattelpalme (Phoenix dactylifera) bezieht ihren deutschen 
Namen über italienisch dattilo 1 vom griechischen daktylos = Finger, da 
ihre Gestalt, zumal in frischem Zustand, an die des menschlichen Fingers 
erinnert. Auch läßt der Wedel der Dattelpalme an eine Hand mit ge¬ 
spreizten Fingern denken. 2 Übrigens werden auch die allgemeinen Begriffe 
„Palme“ und „Hand“ miteinander in Verbindung gebracht: griechisch pa- 
lame, lateinisch, italienisch und rumänisch palma, französisch paume, englisch 
palm 3 bedeuten: Hand, Handfläche. 

Das obengenannte griechische Wort daktylos = Finger ist bekanntlich 
auch der Name eines Versfußes. Der Daktylos 4 besteht aus einer langen 


1) Als dattilo bezeichnet der Italiener nur den Daktylos, den Versfuß, die 
Frucht nennt er dattero. 

2) Abweichend ist die Etymologie Viktor Hehns. Der Name der Dattel¬ 
frucht im klassischen Altertum habe nichts mit dem Finger zu tun. Dakty¬ 
los = Dattel sei semitischen Ursprungs und komme von arabisch diqla = 
Palme. Jedenfalls ist nicht zu bezweifeln, daß die Dattelkultur den Semiten 
zu verdanken ist, und zwar — wie auch die griechische Bezeichnung phoinix 
= Dattelpalme verrät — den Phöniziern. 

3) Palm-oil (wörtlich Palmöl) = Bestechung, Bestechungsgeld in der eng¬ 
lischen Gaunersprache (mit der gleichen Symbolik wie bei deutsch schmie¬ 
ren = bestechen) scheint eigentlich ein Wortwitz zu sein, weil wohl gleich¬ 
zeitig auch an die Bedeutung palm = innere Handfläche (als Empfängerin des 
ßestechungsgeldes) gedacht wird. 

4) Philipp v. Zesen schlug als deutschen Namen dieses Versfußes 1649 er¬ 
folglos Rollender oder Hüpfender vor, sang aber auch selbst ein 
„Morgenlied von lieblichen Dattel reimen“ und meinte damit ebenfalls 
daktylische Verse. 


2 Storfer . Sprache 


17 











und zwei kurzen Silben und heißt so, weil der menschliche Finger aus einem 
langen und zwei kurzen Gliedern besteht. (Wenn man sich davon überzeu¬ 
gen will, schaue man nicht auf die Innenseite des Fingers, der die Gliede¬ 
rung des Knochens nicht deutlich zeigt, sondern betrachte das Größenver¬ 
hältnis der Fingerknöchel, wie sie beim gekrümmten Finger auf der Außen¬ 
seite erkennbar ist.) 

Es gibt außer der Dattel noch eine Südfrucht, die ihren Namen dem Ver¬ 
gleich mit dem menschlichen Finger verdankt: die Banane. Das Wort ba- 
nana wird in der Mitte des 16. Jahrhunderts als eine damals im Kongoge¬ 
biet vorkommende Benennung dieser Frucht in Spanien und Portugal be¬ 
kannt und gelangt von dort in alle europäischen Sprachen. Das westafrikani¬ 
sche banana (auch bananda) wird aber auf arabisch banan = F i n g e r zu¬ 
rückgeführt. 1 Ein verwandtes Gleichnis, nämlich Banane = F u ß liegt wohl 
einem Ausdruck der „feldgrauen Sprache“, der deutschen Soldatensprache 
im Weltkrieg, zu Grunde: „Bananenbezüge" für Strümpfe. 2 Vielleicht hat 
auch der Gedanke an die Art, wie die Schale der Banane abgestreift wird, 
die Entstehung dieses feldgrauen Ausdrucks gefördert. 

Auch eine Bildungsabweichung bei Orangen und Zitronen wird mit den 
Fingern verglichen. Bei kultivierten Citrusarten kommt es vor, daß die 
einzelnen Fruchtblätter unverwachsen bleiben und fingerförmige Einzel¬ 
früchte bilden; sie werden dann Fingerzitronen oder Buddha¬ 
finger genannt. Dem Vergleich mit Menschenfingern verdanken ferner in 
der Pflanzenwelt ihren deutschen Namen: die Moorstaude Sumpffinger^ 
kraut (Comarum palustre), deren Blätter fingerartig anmuten; die in Afrika 
und Asien für die Ernährung überaus wichtige Fingerhirse (Eleusine) mit 
fingerförmig am Halm angeordneten Ähren; die Braunalge Fingertang 
(Laminaria digitata) mit fingerartig geschlitzten Blättern. Mehrere Pflanzen 
mit fünf Blättern auf einem Blattstengel führen den Namen Fünffinger¬ 
kraut. Wir nennen zwei davon: die auch Kohlröschen benannte Orchideen¬ 
art Fünffingerkraut mit fünf handförmig gespreizt abstehenden Blütenhüll¬ 
blättchen (Nigritella nigra oder angustifolia) und die auch Odermennig 
(Agrimonia) genannte, früher zur Bereitung der Volksarznei Kaisertee ver¬ 
wendete Staude Fünffingerkraut, für deren Namen allerdings weniger eine 
Fingerähnlichkeit, als die Fünfzahl, die Zahl ihrer Kelchbecher und ihrer 
Kelchblätter, bestimmend ist. Beim sogenannten Knäuelgras weist bloß der 


1) Das eigentliche Bantu-Wort für diese Frucht ist: bi-tebbi. 

2) Im Argot des französischen Soldaten im Weltkriege war „la banane“ 
der Scherzname einer Kriegsauszeichnung (wegen der gelben und hellgrünen 
Farben ihres Bandes). 


18 
























wissenschaftliche Name, Dactylis glomerata, auf die fingerartige Anord¬ 
nung der Ährchen an der Blütenstaude hin. Hingegen gründet sich der la¬ 
teinische Name der bekannten Heilpflanze Digitalis (zu digitus = Finger) 
nicht auf eine Fingerähnlichkeit, sondern auf eine Finger h u t ähnlichkeit. 

Mit Dattel = fingerförmige Frucht hängt auch der Ausdruck Dachtel 
für Ohrfeige zusammen. Dachtel ist die mittelhochdeutsche Form für Dattel 1 . 
Im Übrigen wird nicht nur die Dattel, sondern auch das Fünffingerkraut zur 
scherzhaften Umschreibung der Ohrfeige herangezogen 2 . Es gibt mehrere 
volkstümliche Redensarten wie: ich will dich mit dem Fünffingerkraut sal¬ 
ben oder dir Fünffingerkraut auf die Hand reiben. Ein Sprichwort lautet: 
Fünffingerkraut speist den Leib (d. h. Schläge sind heilsam). Hierher ge¬ 
hört auch der Wortscherz: 5 in die 10 (Zähne) dividieren. Der Franzose 
„steckt einem eine fünfblättrige Levkoie" (ficher une giroflee ä cinq feuil- 
les). Bei diesen Metaphern wird vielleicht auch an die Spur gedacht, die die 
Ohrfeige auf dem Gesicht hinterläßt. 

Einen Denkzettel bekommen 

Phylakterion, Gebetsriemen mit Gesetzessprüchen, den die Juden (nach 
4 Mos. 15, 38) bei gewissen Gebeten an Haupt und Arm tragen müssen 
(hebräisch Tephillim), übersetzt Luther (Matthias 23, 5) mit „Denkzedel". 
Aber er gebraucht das Wort auch schon zur Bezeichnung einer Liste 
dessen, was man nicht vergessen soll. Diese Bedeutung hatte auch noch das 
frühneuhochdeutsche „Gedenkzettel“. Man gab dem Boten ein „Memoran¬ 
dum“ mit, einen Zettel, auf dem einzelne Schlagwörter ihn an den erhalte¬ 
nen Auftrag erinnerten. Auch hatten früher in manchen Lateinschulen, be¬ 
sonders in denen der Jesuiten, die Schüler, die etwas Tadelnswertes began¬ 
gen, Denkzettel bekommen, auf denen ihre Vergehen angeführt waren; 
diese Zettel mußten sie bei sich tragen, um sich immer daran zu erinnern und 
sich zu bessern. Denn gerade das Unangenehme vergißt man bekanntlich am 
leichtesten. (Es ist Darwin nachgerühmt worden, daß er die weise Gewohn¬ 
heit hatte, jede Beobachtung, die seiner Lehre widersprach oder zu wider- 


1) Daneben gibt es für Dachtel (niederdeutsch dechting) = Ohrfeige auch 
noch drei andere, offenbar falsche Ableitungen: eine von denken (Denk¬ 
zettel!), eine andere von Dach (einem eins aufs Dach geben) und eine dritte 
von mittelhochdeutsch dehsen = schlagen. Mit deutsch Dattel-Dachtel = Ohr¬ 
feige ist zu vergleichen rumänisch palma (vom Pflanzennamen Palme), das 
nicht nur Handfläche bedeutet, sondern auch Ohrfeige. 

2) Eine weitere Metapher für „Ohr feigen“ und „Dachteln“ (Dat¬ 
teln) aus dem Bereiche der Früchte ist: „Kopf n ü s s e“. 


2* 


19 








sprechen schien, sofort aufzuzeichnen und diese „Denkzettel" ständig bei 
der Hand zu haben.) 

Heute wird unter Denkzettel nicht mehr eine schriftliche Aufzeichnung 
verstanden^ der Ausdruck wird nur mehr in übertragenem Sinne gebraucht 
Einen Denkzettel davontragen heißt: eine so eindringliche Lehre, eine sc 
gründliche Abfuhr, eine so starke Rüge, eine so schmerzliche Züchtigung 
empfangen oder sonst eine so schwere Schädigung erleiden, daß man die 
niemals wird vergessen können. Andererseits ist im Worte Denkzettel aucl 
der Begriff einer gewissen Schonung enthalten; wenn wir sagen, wir habei 
jemandem nur einen Denkzettel verabreicht, so drücken wir damit aus, dai 
wir ihm nicht das Schlimmste taten, das uns möglich gewesen wäre, sonden 
nur so weit gingen, daß der Betreffende in dem Vorfall eine Ermahnun 
und Warnung für künftige Fälle sehen muß. 


Drastisch 

ist verwandt mit den Wörtern Drama, dramatisch, Dramatiker, Dramaturg 
Dies alles kommt von griechisch dran = tun, handeln. Das Eigenschaftswoi 
drastikos bedeutet tätig, wirksam und dringt über das Lateinische in die mc 
dernen Sprachen, zunächst hauptsächlich zur Bezeichnung von kräftig wii 
kenden Arzneien. 1 Besonders die Abführmittel nannte man Drastika. Heul 
ist beim Wort drastisch im Deutschen der übertragene Sinn im Vordei 
grund: derb deutlich, grob handgreiflich, rücksichtslos gewaltsam. Im Engl 
sehen hat drastic den ursprünglichen Sinn behalten und wenn man in deul 
sehen Zeitungen mitunter Nachrichten englischer Herkunft über irgendwe] 
che drastischen Maßnahmen liest, sollte man sich stets fragen, ob im engli 
sehen Original nicht erheblich harmloser bloß von drastic measures, also vo 
wirksamen, durchgreifenden Maßnahmen die Rede war, die ja durchaus noc 
nicht drastisch im deutschen Sinne sein müssen. 

Als Merkwürdigkeit sei hier noch festgehalten, daß in Gießen früher de 
keiner Verbindung angehörende Student Drastikum hieß. Das sollte wol 
mit Anspielung auf die medizinische Bedeutung Abführmittel eine heral 
setzende Verspottung sein. 


i) Kotzebue bezeichnet sein Stück ,Hyperboreiseber Esel“ (i799) als „ei 
drastisches Drama und philosophisches Lustspiel für Jünglinge“. A 
die etymologische Beziehung bei „drastisches Drama“ hat Kotzebue wol 
nicht gedacht. Nach Campes Wörterbuch (1801) wollte er damit sein Dran 
als ein solches kennzeichnen, „welches gleich den drastischen oder heroische 
Arzneimitteln auf Leben und Todt geht.“ 


20 































Elend 

Eiend“ kommt von althochdeutsch eli-Ienti wörtlich: anderes 
Land. Im 9. Jahrhundert äußert der Mönch Otfried von Weißenburg sein 
Heimweh mit den Worten: elilenti, thu bist harto vilu swar, fremdes Land, 
du bist gar so schwer. Elend ist also eigentlich ein zusammengesetztes Wort, 
eine sogenannte verdunkelte Zusammensetzung. Der erste Teil der Zusam¬ 
mensetzung ist verwandt mit gotisch aljis und lateinisch alius = anderer. 
Die Wurzel ist auch enthalten im Worte Elsaß: elisazzo ist der Anderswo¬ 
wohnende, d. h. der Bewohner des anderen Rheinufers oder der auf frem¬ 
dem, nämlich römischem Boden Angesiedelte. Aus althochdeutsch elilenti 
wurde mittelhochdeutsch eilende und dies bedeutete zunächst auch nur: an¬ 
deres Land, Ausland, dann weitergehend den Aufenthalt in der Fremde, die 
Landesflucht; es folgte dann die Gleichsetzung des Lebens in der Fremde 
mit den dort erlittenen Entbehrungen und schließlich wurde „Elend“ gleich¬ 
bedeutend mit „Not“, ohne Rücksicht darauf, ob sie durch Aufenthalt in 
der Fremde bedingt ist oder andere Ursachen hat, so daß man heute — unter 
Umkehrung des ursprünglichen Gedankenganges — sogar sagen kann, das 
Elend habe jemanden gezwungen, aus der Heimat in die Fremde auszu¬ 
wandern. 

Für die alte Bedeutung Elend ••= Fremde liegen besonders aus dem ober¬ 
deutschen Gebiet viel Belege vor. Vor allem gilt dies für das B a y r i s c h e. 
In einer alten Münchner Handschrift findet sich der Satz: stark ist der, 
dem alles erdreich ain Vaterland ist, volkomen ist der, dem alle weit ain 
ellent ist. In Ötting bei Ingolstadt werden „drei eilende Hailing“ verehrt, 
d. h. Heilige, die nach der Legende Fremde, aus England Verbannte waren. 
In manchen Gegenden Bayerns heißen die herrenlosen Äcker eilende Acker, 
das Vieh, das sich verlaufen hat, eilendes Vieh. In Augsburg hieß eine 
Gasse „im Elend“. (Auch in Wien gab es anfangs des 19. Jahrhunderts noch 
eine Gasse, die „Elend“ hieß.) In Bayern bezeichnete man die gerichtliche 
Aussage eines Fremden gegen einen Einheimischen als elendes Zeugnis, elen¬ 
den Eid. Aus Schmellers Bayrischem Wörterbuch geht auch der Gebrauch 
von Elend im Sinne von Erbarmen hervor (also eine Übertragung von der 
Ursache auf die Wirkung), z. B.: schlag’s Kind nit so, ich kann’s nit sehen 
vor Eilend. Zu Radetzkys Zeiten wurde notiert, daß ein alter österreichischer 
Bauer, nach der Garnison seines Sohnes befragt, zur Antwort gab: im-Elend, 
— was, wortwitzigartig, zugleich auch heißen sollte: in Mailand. 

Auch im Schweizerischen ist Elend = Ausland reichlich beleg¬ 
bar. In einer alten Zürcher Verordnung heißt es, daß man „eilenden wyn 
verungelten soll“, worunter nicht die Besteuerung des schlechten, sondern 


21 






des eingeführten ausländischen Weines zu verstehen war, der mitunter wob 
weniger elend war als ein mißratener inländischer von der „Schattenseite'* 
Die Kapelle in Dornbach im Solothurnischen zum Andenken an die Schlach 
im Jahre 1499, den Sieg der Eidgenossen über den Schwäbischen Bund 
heißt „zum elenden Bein“, d. h. zum fremden Gebein, und dies bezieht sid 
offenbar auf die Gefallenen des Gegners. Die 1535 aus Solothurn vertriebe 
nen Reformierten datieren ihre Schreiben „acta in unser Acht und Elend* 1 
Einer i’s Elend lüte bedeutet im Schweizerischen: zur Trauung läuten, d. h 
zum Abgang der Braut in die Fremde, in ein fremdes Haus. Aus Appenzel 
bucht das Schweizerische Idiotikon noch eine Sonderbedeutung von Elend 
weiblicher Geschlechtsteil, besonders der Ziege, und das Gesicht eines Bart 
losen wird mit dem „Elend“ der Ziege verglichen. Auch das Grimmsch 
Wörterbuch verzeichnet Elend = vulva, praecipue caprae (als kleines, arm 
seliges „Ding“). 

Im Mittelalter und in der frühen Neuzeit gab es in vielen oberdeutsche) 
Städten EIlenden-Heribergen, die nicht etwa für Kranke, sondern für durch 
reisende Fremde bestimmt waren. In Straßburg z. B. gab es im 14. Jaht 
hundert zwei Eilende Herbergen (duo hospitia exulum et pauperum peregr 
norum). Natürlich waren es nicht vornehme, mit Gefolge reisende, von dei 
Behörden in Ehren empfangene oder bei angesehenen Rittern und Büi 
gern gerne als Gast gesehene Persönlichkeiten, die auf die Fremdenherbei 
gen angewiesen waren, und es ist daher begreiflich, daß sich im Wort 
Elend der Übergang von „fremd“ zu „arm“ vollziehen konnte. Adelig 
Herkunft schützte allerdings niemanden davor, gegebenenfalls als Elende; 
d. h. als vermögensloser Reisender erkannt zu werden; dafür zeugt z. I 
in der Sprach- und Kulturgeschichte eine alte Mehlspeisebezeichnung: „arm 
Ritter in Elendsfett“. (Nicht sehr überzeugend ist die Bemerkung bei Boi 
chardt-Wustmann: „Das war einmal ein doppelter Witz mit dem kümmei 
iichen Leben der im E 1 e n d fahrenden Ritter und dem knochig-dürrei 
Elender, das man früher auch Elend schrieb“.) 1 Im späteren Verlau 


i) Arme Ritter als Name eines süßen Gerichts aus übrig gebliebene 
Semmeln ist übrigens bereits für das 14. Jahrhundert belegt (im „buch vo 
guter spise“ heißt es: snit aht snitten armerittler und backe die in smaltze 
Da nach der Überlieferung zu der Mehlspeise „Arme Ritter“ auch Aprikose 
verwendet wurden, wird im Namen auch eine Verderbung des lateinische 
Namens der Aprikose vermutet. „Armeritter“ käme dann von malum arm« 
niacum (= armenischer Apfel, woher auch das Wort „Marille“). Übriger 
wurde „arme Ritter“ auch allgemein im Sinne von geringer Kost verwende 
— „arme Ritter backen“ für: dürftig leben. — Laut Brockhaus 1933 i 
„Arme Ritter“: Mehlspeise aus Einback- oder Semmelscheiben in Milch g< 


22 




























„, urden _ entsprechend der eingeschränkten Bedeutung Elend = körper¬ 
liche Not Epilepsie — die Elendsherbergen vielfach zu Asylen für Epilep¬ 
tiker In München gab es eine Brüderschaft der Eilenden oder Eilende 
Brüderschaft die sich der Beherbergung kranker Reisender widmete. Als 
Elende beze’ichnete man übrigens auch die Aussätzigen, die abgesondert 
wohnen mußten. 

Auch bei den Klassikern begegnen wir mitunter der Verwendung des 
Wortes Elend im älteren Sinne, im Sinne von Fremde: Streifen nicht herr- 
liehe Männer von hoher Geburt nun im Elend? (Goethe, Hermann und 
Dorothea) — Jedem ist das Elend finster, jedem glänzt sein Vaterland 
(Uhland, Bidassaobrücke). Im Wortspiel der Kapuzinerpredigt in „Wallen¬ 
steins Lager“, „alle die gesegneten deutschen Länder sind verkehrt worden 
in Elender“, bricht der Bestandteil „Land“ der verdunkelten Zusammen¬ 
setzung „Elend“ wieder durch. 

Auch viele Orts- und Flurnamen zeugen für die alte Bedeutung Elend = 
anderes Land. Es gibt u. a. den Ort Elend am Brocken, auch einen bei 
Kastelruth in Südtirol; in Niederösterreich kommen die Ortsnamen Alland 
und Maria Eilend vor. Elen, Ellen, Alilant usw. dürften Bezeichnungen 
von solchen Flurteilen gewesen sein, die an der Markungsgrenze lagen, 
also die bereits den Beginn des „anderen Landes“ anzeigen. 

Ähnliche Bedeutungsverschlechterung wie bei elend von fremd zu arm, 
kläglich liegen vor: 

bei englisch wretch (verwandt mit deutsch Recke) = Wicht, Lump, das 
von angelsächsisch vraeca = Fremdling, landesflüchtiger Held, Verbannter, 
Abenteurer kommt, und 

bei italienisch cattivo, spanisch cativo, französisch chetif = elend, schlecht 
aus lateinisch captivus = Gefangener. 

Dadurch, daß das Wort Elend die anfängliche Bedeutung „Fremde“ zu¬ 
gunsten der Bedeutung „Not“ allmählich ganz aufgegeben hat, ist es in ein 
Gegensatzverhältnis zu den Begriffen Glück und Glanz getreten (man 
denke an die Gegenüberstellung von splendeur und misere in Balzacs Ro¬ 
mantitel „Glanz und Elend der Kurtisanen“) und dieser Begriffsgegensatz 
hat zum widersprüchigen Ausdruck „glänzendes E1 e n d" geführt. 
Er ist dem eigentlichen Sinne nach aus zwei sich auf hebenden Wörtern 
gebildet, stellt also jene Stilfigur dar, die man (wie „beredtes Schweigen“, 
„geschäftiger Müßiggang“) als Oxymoron (wörtlich „spitzige Torheit“) 
bezeichnet. Unter glänzendem Elend verstand man früher oft die von 

quollen und in Butter geröstet, mit Fruchtsaft u. a. als Tunke. Mit Marme¬ 
lade bestrichene arme Ritter werden auch „reiche Ritter“ genannt. 


23 










höherer, etwa religiöser Warte aus verächtliche Nichtigkeit eitler irdischer 
Güter und Erfolge, aber dann meistens die durch äußere Ehren oder prunk¬ 
volle Kleidung verdeckte Armut, also einen bereits in der irdischen Wer¬ 
tung sich auswirkenden Gegensatz. Man spricht z. B. vom glänzenden 
Elend dürftig besoldeter Schauspieler, Artisten, Offiziere. Ein Sprichwort 
der siebenbürger Sachsen reimt: Soldatestand as (ist) e glänzän Elant. 

Ein geflügeltes Wort ist die Wendung „glänzendes Elend“ erst gewor¬ 
den, seitdem Goethe im Jungen Werther (1774) vom glänzenden Elend 
der von hohler, langweiliger Rangsucht und erbärmlichen Leidenschaften er¬ 
füllten Wetzlarer Gesellschaft sprach. Als Goethes Freund Karl Philipp Mo¬ 
ritz 1786 in seinem Roman „Anton Reiser“ den Ausdruck „glänzendes 
Elend“ gebrauchte, war es schon ein geflügeltes Wort. Vier Jahre später 
schreibt Kant in der „Kritik der Urteilskraft", von Kultur und Luxus spre¬ 
chend: „Das glänzende Elend ist doch mit der Entwicklung der Naturanla¬ 
gen in der Menschengattung verbunden.'“ Wenn auch das „glänzende Elend“ 
erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zum geflügelten Worte 
wurde, die zugrundeliegende gegensätzliche Gedankenverbindung war schon 
längst, bereits im Altertum, vorgebildet. Schon Seneca spricht von den 
honestae miseriae und meint damit, daß Macht, Ruhm und äußerliche Ehren 
(des Augustus und anderer Römer) nur scheinbare Glücksgüter seien, da viel 
Kummer mit ihnen verknüpft sei. 1575 schreibt der Dichter Paul Schede 
(Melissus) in einem lateinischen Epigramm, daß an prächtigen Höfen splen- 
dida paupertas herrsche. 1729 ist in einem Gedichte von Gerhard Tersteegen 
davon die Rede, daß „auf dem Staats- und Ehr’n Gerüste man nur glänzend 
Elend find’t“. Es handelt sich in jenem Gedichte um die christliche Verach¬ 
tung des Irdischen und das Gleiche gilt von einem anderen Beleg aus der¬ 
selben Zeit, von einer Stelle im Gesangbuch der Herrenhuter Brüdergemeinde 
vom Grafen Zinzendorf: „ein prächtigs Elend“. Ein Jahrzehnt vor Goethes 
Werther datiert ein englischer Beleg: im Traveller (1764) spricht Goldsmith, 
der Verfasser des Vicar of Wakefield, von those splendours with which 
numbers are wretched, von jenem Glanz, bei dem so viele elend sind. 

H. Lessmann, der in allen Redensarten um jeden Preis mythologischen 
Niederschlag erkennen will, bezieht das „glänzende Elend“ auf das in einem 
mittelhochdeutschen Gedichte des Konrad von Würzburg behandelte Motiv 
vom schönen und vorne herrlich gekleideten Weibe, auf dessen Rücken grä߬ 
liches Ungeziefer wimmelt. Auf Goldsmith, Goethe, Balzac hätte — was das 
Chronologische anbelangt — diese Vorstellung durch mehrere Vermittlungen 
vielleicht wirken können. Aber auf Seneca? 

Schließlich erwähnen wir noch die Redensart vom grauen Elend zur 
































Bezeichnung des „Katzenjammers“. Es hieß auch: besoffenes Elend (in der 
Zimmerischen Chronik, 1 6 . Jahrhundert, auch.: trunkenes Elend). Besonders 
auch für den sogenannten moralischen Kater wird „graues Elend“ gebraucht, 
für jenen sentimentalen Zustand, in dem der Trunkene mit sich selbst Mit¬ 
leid empfindet und, in einer späteren Phase, alles nur grau sieht, statt rosig, 
wie es im beginnenden Rausch zunächst war. Vielleicht hat auch eine lockere 
Gedankenverknüpfung mit der Vorstellung von der Asche als Sinnbild der 
Reue bei der Entstehung der Bezeichnung „graues Elend“ für Katzenjammer 
mitgewirkt. 

Erpressung — chantage — blackmail 

Für den internationalen strafrechtlichen Begriff der Erpressung stehen der 
deutschen, der französischen und der englischen Sprache ganz verschieden¬ 
artige Ausdrücke zur Verfügung. 

Das deutsche erpressen scheint eine Lehnübersetzung von lateinisch 
extorquere = foltern zu sein. Aber Fritz Mauthner weist darauf hin, daß die 
Vorsilbe ex sich hier mehr auf die körperlichen Gliedmaßen des Gefolterten 
(die Glieder aus strecken, aus drehen) bezieht, als auf das, was man ihm 
heraus ziehen will (das Geständnis) und er denkt bei dem strafrechtlichen 
Ausdruck Erpressung lieber an das Bild von der Kelter, in der den Trau¬ 
ben Wein erpreßt wird. 1 

Im französischen Strafrecht heißt die Erpressung chantage. Es liegt 
der merkwürdige Fall vor, daß der Gesetzgeber sich einen Fachausdruck zur 
Bezeichnung eines strafbaren Tatbestandes aus der Sprache der Verbrecher 
holt. Chanter, wörtlich singen, bedeutet im französischen Argot: reden, 
gestehen, anzeigen. Daher faire chanter, jemanden singen lassen = jeman¬ 
den zum Sprechen bringen, etre chante = angezeigt werden. Der Ausdruck 
faire chanter bezog sich wohl zunächst auf Geständnisse auf der 
Folterbank. Es ist einem so lange zugesetzt worden, bis er zu „singen“ 
(gestehen) begonnen hat; ebenso bedeutet spanisch cantar neben singen auch: 
auf der Folter gestehen. Auch Verbrecher selbst sind in die Lage gekommen, 
andere durch Foltern zum Reden zu bringen, z. B. wenn es sich darum ge¬ 
handelt hat, das Versteck eines Geldbetrages herauszubekommen. So bekam 
faire chanter später den allgemeinen Sinn: jemanden durch Einschüchterung 

i) Im übrigen verweise ich darauf, daß wir auch einen Gedanken „aus- 
drücken (exprimere), wobei wohl das Bild vom Gedanken bestimmend sein 
dürfte, den wir in eine Form (Gießform) bringen. (Als oben vom „Ausdruck 
Erpressung“ die Rede war, kam unbeabsichtigt die Begegnung ähnlicher Bilder 
zustande.) 


*5 








zu einer Zahlung zwingen. Josef Brück ist offenbar zu sehr von der journ 
listischen Form der Erpressung beeindruckt, wenn er gegen die Deutui 
faire chanter = jemanden schreien machen einwendet, daß „der, an dem c 
Erpressung verübt wird, im Gegensatz zu dem, an dem ein Raub begang 
wird, gewöhnlich nicht schreit" (weil er nämlich selbst etwas zu verheit 
liehen hat) ; er beachtet sichtlich nicht die Kette der Bedeutungsübertragu 
gen: von jemandem ein Geständnis herausbekommen — von jemande 
etwas herausbekommen — von jemandem Geld herausbekommen. 

In der ersten Hälfte des 19- Jahrhunderts drang der Ausdruck faire cha 
ter in die allgemeine französische Umgangssprache ein. Da das Argot, schri 
Nestor Roqueplan 1841, heute heimisch ist in den Boudoirs, gebrauchen \> 
faire chanter in dem Sinne: Geld bekommen von jemandem, dem man Anj 
eingejagt hat. Polizeipräsident Vidocq, als ehemaliger Galeerensträfling n 
dem Argot wohl vertraut, konnte in seinem Argotglossar „chanteur“ bere 
als einen auf die Journalistensphäre bezüglichen Ausdruck buchen; er spric 
besonders von Journalisten, die sich durch Drohungen ein Schweigegeld < 
pressen, von solchen, die sich für die Veröffentlichung von persönlichen I 
klamnotizen bezahlen lassen, und von solchen, die auf ihr Wohlwol] 
angewiesene Schauspieler und Schauspielerinnen ausbeuten. Auch Bah 
wendet chanteur hauptsächlich auf Journalisten an. Le chantage, schre 
er einmal, c’est la bourse ou Phonneur („die Börse oder die Ehre“, na 
Art von „Geld oder Leben“). Eine witzige französische Bezeichnung c 
Erpressers ist maitre-chanteur (Meistersinger). Faire chanter le perdreau, c 
Rebhühnchen singen lassen, bedeutet im Argot: an einem Homosexuell 
Erpressung verüben; perdreau = Rebhühnchen ist eine wortwitzartige ] 
Setzung von pedero, Argotbezeichnung für Päderast. Die Erpressung an F 
mosexuellen heißt im Argot auch chantage au saute-dessus. 

Im Englischen heißt die Erpressung blackmail, im wörtlichen Sinr 
schwarze Steuer. Zum zweiten Teil dieses Ausdrucks ist zu bemerken, daß 
im Englischen drei gleichlautende — aber der Bedeutung und der Absta 
mung nach verschiedene — Hauptwörter „mail“ gibt: 

1) Mail = Sack, Felleisen, Briefbeutel, Briefpost, Post geht auf fran: 
sisch malle = Bündel, Koffer zurück, das von althochdeutsch malaha 
Tasche kommt (woher auch ungarisch mälha = Gepäck). 

2) Mail = Panzer, Rüstung kommt von französisch maille = Masc 
Schlinge, Panzerring, das selbst auf lateinisch macula = Masche, Fl« 
zurückgeht (woher auch unser „Makel“), 

3) Mail = Abgabe, Steuer, Pacht — ein jetzt nur mehr wenig und hau 
sächlich in Schottland gebrauchtes Wort — geht ebenfalls auf ein fran 


26 






























sisches Wort maille zurück, aber nicht auf das eben genannte, sondern auf 
ein gleichlautendes anderes, auf maille = Name einer ehemaligen kleinen 
Kupfermünze, der über medaille und metal auf griechisch metallon = Berg¬ 
werk zurückweist. (Dieses maille = kleine Kupfermünze ist enthalten in den 
französischen Redensarten: n’avoir ni sou ni maille = nicht einen Groschen 
haben, avoir maille ä partir ensemble = eine kleine Münze miteinander zu 
teilen haben, in dem Sinne: ein Hühnchen miteinander zu rupfen haben.) 

Dieses dritte englisch-schottische mail = Abgabe ist in blackmail = Er¬ 
pressung enthalten. Unter blackmail, „Schwarzsteuer“, verstand man ur¬ 
sprünglich, nach Skeat, die in Naturalien (Vieh) entrichteten Abgaben, zur 
Unterscheidung von der in Barem, d. h. in „weißem“ Silber zu bezahlenden 
Steuer. Mir scheint aber eher wahrscheinlich, daß die Bezeichnung einer Ab¬ 
gabe als einer schwarzen Steuer auf ihre Ungesetzlichkeit hin- 
weisen soll, so wie es bei den deutschen Ausdrücken Schwarzf ahrer, Schwarz¬ 
hörer u. dgl. der Fall ist. To levy blackmail (Schwarzsteuer einheben) wurde 
daher die Bezeichnung jener Zahlungen, die sich mächtige Räuberführer auf 
der Landstraße von vorüberziehenden Reisenden zahlen ließen, wofür sie 
diese, als Gegenleistung, vor anderen, offenbar weniger mächtigen Räuber¬ 
banden schützten 1 . Auf diese Weise stellt sich der Raub von Seite des grö߬ 
ten Räubers nicht offen als Raub, sondern gleichsam als Einhebung einer 
Steuer (mail) dar. Und besteht denn das ganze soziale Leben nicht zum 
größten Teil aus Leistungen des Schwächeren an den Stärkeren, ohne daß 
dieser unmittelbare Gewalt anwenden müßte, d. h. aus Leistungen der Ein¬ 
geschüchterten, die schon im Vorhandensein des Stärkeren eine Drohung 
sehen? Nur nach außen, nicht aber hinsichtlich ihrer inneren seelischen Be¬ 
gründung, unterscheidet sich wesentlich der Raub, diese aufrichtigste Form 
der Erpressung, von der eigentlichen Erpressung und die Erpressung von 
dem, was man soziale Ordnung nennt. 

Nach Bartley und Barrere-Leland ist die englische Bezeichnung blackmail 
für die Einhebung von Schutzgeldern von Seiten der Räuberbanden zuerst 
in den Vereinigten Staaten zur allgemeinen Bedeutung der Erpressung ge¬ 
langt. Heute bezeichnet man damit hauptsächlich die Erpressung von Geld¬ 
beträgen mittels der Drohung, jemanden wegen eines Verbrechens anzu¬ 
zeigen oder ihn bloßzustellen durch Preisgabe eines Geheimnisses an die 
Öffentlichkeit oder an bestimmte Personen. 


i) Gegen das Einheben solcher Schwarzsteuer durch die „moss-troopers“ er¬ 
ließ Königin Elisabeth 1601 eine eigene Verordnung, aber das Entrichten von 
blackmail an jene berittene Räuber hat sich im Norden Englands und in 
Schottland bis Mitte des 18. Jahrhunderts erhalten. 


*7 










Sich ins Fettnäpfchen setzen 

Bei Oswald von Wolkenstein, dem abenteuerreichen Tiroler Lyrik« 
(f 1445) kommt als Schelte für einen Mann, der durch seine Ungeschick 
lichkeit Ärger verursacht, der Spottname Heinzei Tritinprey („Tritt-in-der 
Brei“) vor. Gewiß muß der sich unbeliebt machen, der sich wie „der El< 
fant im Porzellanladen“ benimmt, der blindlings in eine Schüssel voll Bri 
oder Mus hineintappt. Bei der Redensart vom Fettnäpfchen ist aber nicl 
an eine ungenießbar gemachte Speise gedacht worden, sondern an Fett, d< 
anderen Zwecken diente. In früheren Zeiten stand mancherorts (z. B. ii 
Erzgebirge nach Müller-Fraureuths Feststellung) in den Bauernhäusern a 
der Wand zwischen Tür und Ofen ein Fettnäpfchen, aus dem die nasse 
Stiefel, die die Heimkehrer auszogen, gleich geschmiert wurden; der Ui 
willen der Hausfrau traf nun denjenigen, der durch einen täppischen Tri 
das Fettnäpfchen umwarf und so Fettflecken auf dem Bretterboden ve 
ursachte. In Unkenntnis der bestimmten Lage, der sie entnommen wa 
wurde die ursprüngliche Redensart „ins Fettnäpfchen treten“ gelegentlic 
ein wenig variiert und heute heißt es meistens, jemand habe sich ins Fet 
näpfchen gesetzt. Dadurch kommt auch ein neues Moment in die M 
tapher, indem man an den Schaden denkt, den der Betreffende an sein 
Kleidung nimmt. Vielleicht hat es der Gedanke an die Redensart „sich i 
ein Wespennest setzen“ verursacht, daß oft nicht mehr vom Treten ii 
Fettnäpfchen die Rede ist, sondern von einem Sichhineinsetzen. Mundartli« 
ist allerdings das ursprüngliche Bild noch durchaus lebendig; im Sächs 
sehen heißt es z. B.: da hat ’r scheene bei ’r ins Fettnäpfchen getrete; 
's spritzte gleich hüben un drüben raus. 


Feurige Kohlen 

auf jemandes Haupt sammeln heißt soviel; ihn durch Großmut beschäme 
ihm durch Verzicht auf Rache Gewissensbisse verursachen. 

Die Redensart geht auf biblische Stellen zurück. Während in der Ber 
predigt der Ermahnung, dem Feinde Gutes zu tun, dieses Gleichnis nie 
hinzugefügt wird, heißt es sowohl in den Sprüchen des Salomon (24, 21.22 
als bei Paulus (Römer 12, 20) : Wenn Du Deinem hungernden Feinde ; 
essen gibst usw., häufst Du feurige Kohlen auf sein Haupt. Aus der Bit 
hat die Redensart in viele Sprachen Eingang gefunden, z. B. französisd 
amasser des charbons ardents sur la tete de quelqu’un, englisch: to he; 
coals of fire on a person's head. Auffallend ist, daß diese Redensart* 
sich stets peinlich an das biblische Original halten. Da man das Überträge) 


28 































n-H nicht verstand, d. h. einen Zusammenhang mit dem Vorgang der Gro߬ 
mut und Beschämung nicht sah, blieb nichts übrig, als diese stehende Redens- 
. , AIten un d des Neuen Testaments in wörtlicher Übersetzung beizu- 
hrhilten Die Wörterbücher von Grimm, Heyne, Weigand, Sanders führen 
L Redensart ohne irgendwelche Angaben über die Entstehung an. Erst 
in jüngster Zeit haben verschiedene Theologen und Sprachforscher ver¬ 
sucht den Ursprung der biblischen Redensart zu klären. 

Die einen meinen, der bildliche Sinn sei: jemanden e r r ö t e n lassen, 
ihm die Glut der Reue in die Stirne treiben. Haupt sei also in der Redens¬ 
art mit Stirn, noch richtiger mit Gesicht gleichzusetzen und nach der Hei¬ 
ligen Schrift treibe man eben dem hungernden Feinde, indem man ihn gro߬ 
mütig speist, die Schamröte ins Gesicht. 1 Andere Deuter der Redensart brin¬ 
gen sie in Verbindung mit dem Bilde vom Sitzen oder Gehen auf 
Kohlen = in einer peinlichen Lage sein, Ungeduld empfinden. (Luther. 
„Wenn Ihr auch auf feurigen Kohlen ginget, so solls Euch dünken, als 
ginget Ihr auf Rosen".) Das Bild vom Sitzen oder Gehen auf feurigen 
Kohlen aber hängt — wie die Redensarten: die Hand für jemand ins Feuer 
legen, Gift auf etwas nehmen usw. — mit den mittelalterlichen Gottes¬ 
urteilen zusammen. Sehr gekünstelt erscheint der Zusammenhang, der 
z. B. bei Borchardt-Wustmann zwischen den Redensarten von den glühen¬ 
den Kohlen unter den Füßen oder dem Gesäß und den Kohlen auf dem 
Haupt hergestellt wird: während wir das Feuer des Gewissens unter 
die Füße verlegen (ihm brennt der Boden unter den Füßen) oder unter 
das Gesäß (auf heißen Kohlen sitzen), habe es sich das jüdische Altertum 
auf dem Kopfe gedacht, indem es auf Hitzeempfindungen an der Schä¬ 
deldecke des Überreizten anspielte. (Auf dem Ganeff brennt das Hitl, sagt 
das moderne jüdische Sprichwort vom Hut des Diebes.) Nicht weniger 
unbefriedigend ist die Deutung von H. Schräder: So wenig, wie man 
gCL’cn glühende Kohlen auf dem Haupte unempfindlich bleiben kann, so 
wenig wird der Feind, der Guttat für Übeltat empfangen hat, unempfind¬ 
lich bleiben können. 

Es wäre möglich, sagen andere Kommentatoren, daß das Tragen glü¬ 
hender Kohlen einmal eine wirklich ausgeführte symboli¬ 
sche Handlung gewesen sei, um die Empfindungen der Scham und 
Zerknirschung auszudrücken. Wenn man sich also bei seinem früheren 


i) Für diese Deutung scheint mir vor allem der Umstand zu sprechen, 
daß im Hebräischen des Alten Testaments „sich schämen“ durch „brennen“ 
ausgedrückt wird, i Mos. 4, 6 spricht Gott zu Kain: Warum entbrennst du 
und warum senkt sich dein Angesicht? 











Feinde entschuldigen wollte, ging man zu ihm mit einem Becken voll fe 
riger Kohlen. Daß man dieses Becken auf dem Haupte trug, sei nicht au 
fällig, da man doch im Orient überhaupt Lasten mit Vorliebe auf dem Kop 
trägt. Man könnte, sagen wieder andere Kommentatoren, diese sinnbildlicl 
Reueerklärung sich auch so vorstellen, daß der Reumütige mit dem leere 
Becken auf dem Haupte zum edelmütigen Gegner ging und ihn bat, feurig 
Kohlen in das Becken zu legen. Dobschütz und Paul Wüst bringen die R 
densart mit der Erzählung von Setne, Khamuas und Nenefer Kaptah in P 
rallele, die ein Papyrus überliefert. In dieser Erzählung kommt mehrma 
vor, daß jemand zur Buße mit einem Becken voll feuriger Kohlen auf de; 
Kopfe antreten muß. Es scheint, daß das Tragen feuriger Kohlen im alt« 
Orient eine symbolische Strafe war, zurückgehend vielleicht auf wirklicl 
Folterungen mit Hilfe glühender Kohlen. 

Auch Alfons Schulz geht von der Annahme aus, Kohlen auf jeman 
häufen bedeute zunächst, ihm etwas Böses zufügen. In den Psalmen wir 
wiederholt erfleht, Jahve möchte über die Feinde Feuerkohlen herabregn« 
lassen. Im weiteren Sinne bedeute dann die Redensart von den feurig« 
Kohlen: Rache nehmen und in den eingangs angeführten Stellen s 
„Rache nehmen cc gleichsam zwischen Anführungszeichen zu verstehen, etv 
so: gib Deinem Feind, wenn er hungert, zu essen, und das ist dann die ricl 
tige „Rache“ (denn Du zwingst ihn, sich zu schämen). Es fällt einem nid 
leicht, dieser Deutung der Redensart Gefolgschaft zu leisten. 

Bemerkenswert ist der vom rumänischen Sprachforscher Tiktin erfolg 
Hinweis auf eine heute noch bestehende primitive Art des B r o t b a c k e n 
bei armen osteuropäischen Bauern, die keinen Backofen haben. Der Bau« 
macht auf dem Herde oder auf einer Steinplatte ein Feuer an, läßt es he 
unterbrennen, schiebt die glühende Kohle weg, legt auf die heiße Stelle de 
Teig, stülpt eine Schüssel darüber und schiebt nun die Kohlen auf die Schü 
sei. Auf diese Weise backen auch Fellachen in Palästina ihr Brot. Die hie 2 
verwendete Schüssel heißt z. B. lateinisch testa und das bedeutet auch: Hin 
schale (da die Hirnschale vermutlich das Trinkgefäß des urzeitlichen Mei 
sehen, zum mindesten aber das Vorbild der irdenen Schüssel war). In d< 
biblischen Metapher vom Häufen feuriger Kohlen auf das Haupt wäi 
demnach nach Tiktin gar nicht der Kopf, sondern die Schüssel zu verstehe 
und die Redensart soll irgendwie mit der ärmlichen Art der Kohlenbere 
tung Zusammenhängen. Für Wilke ergibt sich aus Tiktins Hinweis ai 
jene Brotbereitungsart, daß „feurige Kohlen auf jemandes Kopf sammeln 
einfach bedeutet, „ihn beim schwierigen Geschäft des Brotbackens untei 
stützen“, also ihm Gutes tun. 


30 




























Ge^en Tiktin wendet Paul Wüst ein, daß die Doppelbedeutung Kopf 

J Schüssel für die Sprachen, die den Urtext der Bibel lieferten, nicht 
“ d k h möchte aber zu bedenken geben, daß die Verknüpfung zwi- 
% n den Vorstellungen „Kopf" und „Gefäß" in so vielen Sprachen vor¬ 
kommt (im Deutschen z. B. sowohl die Verwandtschaft „Schädel“ — 
Schale", als die Wortsippe Kopf, Kübel, Kufe, Kuppe, Kuppel, Giebel), 
diß man die Wirksamkeit dieser vermutlich durch den urzeitlichen Gebrauch 
von Schädeln begründeten Verknüpfung verallgemeinern darf und daß daher 
die Zurückführung einer Redensart auf sie schließlich auch dann als immer¬ 
hin zulässig gelten kann, wenn sie gerade in der betreffenden Sprache durch 
eine entsprechende Wortverwandtschaft nicht vertreten ist. Gegen die Ver¬ 
knüpfung der biblischen Redensart „feurige Kohlen auf ein Haupt sam¬ 
meln“ mit der primitiven Art der Teigerhitzung ist hingegen mit mehr Be¬ 
rechtigung anzuführen, daß der gedankliche Zusammenhang zwischen die¬ 
sem feigerhitzen und der in der Bibel offenbar gemeinten Beschämung und 
Veranlassung zur inneren Einkehr damit noch gar nicht geklärt ist. 

Aus dem ff, nach Schema F 

Etwas aus dem ff erlernen oder können bedeutet: etwas gründlich erler¬ 
nen oder können. Man schreibt gewöhnlich: aus dem ff. Bekanntlich ist ff 
eine vieldeutige Abkürzung: ff ist eine Abkürzung von „folgende“ bei Zitie¬ 
rung von Seitenzahlen, von „fortissimo“ in der Musik, von „feinst“ im 
kaufmännischen Verkehr. Etwas aus dem ff (sprich: effeff) können, hängt 
aber vielleicht weder mit fortissimo noch mit feinst zusammen (wie erklärte 
sich denn sonst das „aus“ ?), sondern mit den sogenannten Pandekten („All¬ 
umfassenden") oder Digesten im Corpus Juris des Justinian. Die Glossatoren 
des Mittelalters bezeichneten Zitate aus den Pandekten mit dem griechischen 
Buchstaben pi, der aus zwei aufrechten Strichen und einem Balken darüber 
besteht; bei schnellem Schreiben gingen die beiden aufrechten Striche über 
den wagrechten Querbalken hinaus und nun sah das Zeichen so aus, als 
wären es zwei lateinische „f“; so sei aus dem Mißverständnis laienhafter 
Leser die Redensart „aus dem ff" entstanden. Die Digesten wurden aber nicht 
nur mit einem griechischen P, sondern auch mit einem großen lateinischen 
„D“ zitiert, wobei es üblich war, dieses D quer zu durchstreichen. Nach 
anderer Deutung sei das so durchstrichene lateinische D irrtümlich für „ff“ 
gelesen worden. Nach beiden Erklärungen würde „aus dem ff“ ursprüng¬ 
lich also bedeutet haben: aus den Pandekten (Digesten) zitiert, belegt, be¬ 
gründet, daher gründlich, verläßlich, gediegen. 

Der Ausdruck „nach Schema F“ scheint als Schlagwort bürokratischer 


3 1 








Schabionisierung seit den Neunziger Jahren üblich geworden zu sein 
dendorf); nach der Mitteilung „eines alten Offiziers“ in der Sprach 
des Allgemeinen Deutschen Sprachvereins soll er gegen 1900 von 
deutschen Militärverwaltung ausgegangen sein. Seit längerer Zeit, minder 
seit 1860, war im preußischen Heere ein Muster für Stärkenachweisur 
(österreichisch: Standesmeldungen) vorgesehen, die den Vorgesetzten 
Besichtigungen überreicht wurden. Diese Nachweisungen hießen F r o 
Rapporte und das Muster dazu wegen des Anfangsbuchstaben kurz „Sch 
F“. Dann wurde der Ausdruck allgemeiner gebraucht für schriftliche r 
tärische Erledigungen, die zwar nichts mit dem sogenannten Frontrap 
zu tun hatten, sich aber wie dieser nach einer vorgeschriebenen oder 
gebürgerten Formel richteten. Aus dem Militärischen ist dann der Ausdi 
„nach Schema F“ in die allgemeine Umgangssprache gedrungen. Man 
gleiche auch zur Entstehung des „Amtsschimmels“ aus „simile“ (Erledig 
nach einem „ähnlichen“ Fall) das Stichwort „Schimmel“ in „Wörter 
ihre Schicksale“. 

Fisimatenten 

machen, schreibt Hermann Kurz 1858, „dies ist zwar keine gotische a 
doch eine ländlich-sittliche Redensart, die man anwendet, wenn jemand 
ziert”. Wenn ein Franzose vom Sachs-Villatteschen Wörterbuch erfah 
will, was das deutsche Wort Fisimatenten bedeutet, bekommt er die / 
kunft: faux-fuyants, d. h. Ausflüchte, Ausreden. Damit ist aber nicht 
ganze Bedeutungsumfang erfaßt. Fisimatenten machen bedeutet außerd< 
Flausen, Faxen, Zeremonien, viel Geschichten machen. Das Grimmj 
Wörterbuch führt das Wort unter F nicht an, gibt es nur nebenbei 
„Kunkelfusen" als Synonym an. In den Mundarten gibt es viele Net 
formen von Fisimatenten; z. B. im Schwäbischen Fisimatenke, Fisimai 
terle, Fislematantes. 1 Glassbrenner schreibt 1836 „mach keene lange ] 
selmatenten". Für Umständemachen sagt man in der Schweiz 2 auch Fis 

1) Hier nenne ich auch das ältere wienerische Fisikapaperln, 
aber auch im Sinne des sogenannten Götzzitates verwendet wurde (Du kar 
mi fisikapaperln). Nach Pötzl (1892) stammt der Ausdruck vom gelehrttu 
den Unsinn der Quacksalber auf den alten Jahrmärkten; paperin wäre da 
eine Umgestaltung von plappern. 

2) Das Schweizerische Idiotikon gibt als Synonyme für „Pflanz“ 
Festitis, Fänzi, Fisimatentes, Faxen, Gravamien, Spargimentes, Stänkereien. 
Zu den deutschen Volkswörtern, die als Synonyme von „Fisimatenten“ an 
sehen werden können, gehört auch: Sperenzchen oder Sperantien (w 
auf mittellateinisch sperantia = Hoffnung zurückgeführt). 

3 * 






























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rement li worin sich das Wort Fisimatenten mit irgend einem anderen 
Worte („Experimente*’ ?) zu kreuzen scheint. Spätmittelhochdeutsche und 
frühneuhochdeutsche Vorläufer von Fisimatenten sind die Ausdrücke Vi- 
sepetenten, Visipatenten, Visipotenten; damals war der Sinn Albernheiten, 
Possen vorherrschend. 

Cher die sprachliche Herkunft von „Fisimatenten** sind verschiedene 
Ansichten geäußert worden, die wir zusammenfassend anführen wollen. 

An die Spitze stellen wir eine der unsinnigsten, eine Ableitung aus dem 

Französischen: 

1) Im Jahre 1870 in Mainz gefangen gehaltene Offiziere, die sich abends 
in der Stadt nur mit Urlaubschein frei bewegen durften, hätten auf die 
Fra^e deutscher Wachposten nach dem Ausweis, gewöhnlich geantwortet, 
je visite ma tan t e, ich besuche meine Tante, daher habe man schlie߬ 
lich faule Ausreden Fisimatenten genannt. Schon der Umstand, daß es sich 
um einen viel älteren Ausdruck handelt, erledigt von vornherein diese 
„Deutung**. 1 

Nicht minder albern ist 

2) der Gedankenblitz von Werthenau: „sollte am Ende Fisimatenten 
eine Zusammensetzung sein aus: mit Füßen und Händen?** 

Daneben gibt es aber auch ernste Versuche, das Wort Fisimatenten aus 
deutschem Wortstoff zu deuten. 

3) O. Weise, der zwar einer andern Erklärung den Vorzug gibt (der 
von uns an 14., letzter Stelle anzuführenden), hält es immerhin für mög¬ 
lich, daß Fisimatenten zusammengezogen ist aus zwei deutschen Synony¬ 
men mit der Bedeutung Narrenpossen. Das erste Wort wäre mittelhoch¬ 
deutsch fisel = Scherz (dazu neuhochdeutsch faseln), das auch enthal¬ 
ten ist in westmitteldeutsch Fisigunkes (Gunkes in Schwaben und Hessen: 
dummer Mensch, der pfiffig sein will) und in elsässisch fisinickern = lü¬ 
gen, aufschneiden. Das zweite Wort wäre mittelhochdeutsch tanten = 
Scherz treiben (althochdeutsch tantaron = geistesverwirrt sein), dazu 
thüringisch Tenten = albernes Zeug (z. B. Narrententen). Zwischen „Fisel** 
und „Tente" enthalte Fisimatenten noch die Silbe ma, ein Streckelement 
wie bei Abrakadabra oder bei mundartlich Alimatenten aus Alimenten. 

Aus dem Rotwelsch, der deutschen Gaunersprache, versucht 1899 
ein Beitrag in der Zeitschrift „Daheim** das Wort Fisimatenten zu deuten: 

4) im Rotwelsch sei F i s e 1 eine Person, mit der der Gauner Durchsteche- 

i) Die lächerliche Ableitung von Fisimatenten aus je visite ma tante taucht 
in etymologischen Plaudereien gewisser Zeitungen immer wieder auf, ebenso 
die nicht minder albernen und hartnäckigen Ableitungen: Schorlemorle 
aus toujours l’amour, mutterseelenallein aus moi-tout-seul. 


3 8torfer • Sprache 


33 










reien treibt; Maten na habe die Bedeutung: Geschenk. Sträflinge sud 
oft die Personen, mit denen sie während der Haft in Berührung komm 
2u kleinen pflichtwidrigen Gefälligkeiten 2u veranlassen. Nun hal 
sie kein Geld, daher machen sie oft leere Versprechungen, mit dem H 
weis auf versteckte Beute usw. (nach O. Weise). 

Es folgen nun Deutungen von Fisimatenten aus dem Griechische 

5) Da im Zeitalter der Scholastik, führt H. Schräder aus, wo die me 
physische Wissenschaft in großem Ansehen stand und die Schriften 
Aristoteles meta ta physika große Verehrung genossen, die Naturwiss 
schäften verachtet und sogar als gefährliche Teufelsdinge angesehen wurd 
konnte die Bezeichnung der letzteren, physika mathemata, eii 
bösen Nebenbegriff erhalten, etwa in dem Sinne: lügenhafte Vorstellung 
Fisimatenten sei die volkstümliche Umgestaltung von physika mathemata. 

6) Wesentlich besser begründet ist eine andere Etymologie von Fisii 
tenten, die eine griechische Wurzel und deren Vermittlung durch das I 
lienische vorsieht. Im Italienischen bedeutet fisima: Laune, Einf 
Seltsamkeit, Schrulle (wohin auch fisicare, grübeln, fisicoso, grübleris 
veraltet fisicaggine, Einbildung gehören). Dieses italienische fisima brac 
Adolf Tobler (1896 in der Berliner Akademie) mit griechisch physema, 
Geblasene, die Blase zusammen. Aus dem Begriff der Blase habe sich 
des Stolzes, des dummen Hochmuts, der „Aufgeblasenheit" entwick 
daher der Name des Frosches im „Froschmäusekrieg" Physigmatos, Back 
bläser; physan tas gnathous, die Backen aufblasen (vor Stolz) kommt 
Demosthenes vor. Das griechische physema = Geblasenes gelangt 
Fremdwort auch ins Lateinische (so findet sich z. B. bei Plinius die Me 
zahlform physemata als Bezeichnung für hohle Perlen), und so sei es 
dem erwähnten italienischen fisima und daraus zum deutschen Fisimaten 
gekommen. Die eigentliche Bedeutung des letzteren sei demnach: et 
Hohles, Aufgeblasenes, hohles und darum zweckloses Gerede oder Gebai 

7) Die Ableitung von deutsch Fisimatenten unmittelbar aus italieni 
fisima erachtet auch Schuchardt als möglich, doch sieht er in italieni 
f isima einen Abkömmling von griechisch s o p h i s m a (Ausgeklügel 
Trugschluß). Auch Kleinpaul denkt an eine Entwicklungsreihe griechi« 
lateinisch sophisma — italienisch sfisma, fisma, fisima — deutsch Fisii 
tenten. 

Gelegentlich sind noch zwei weitere italienische Hypothesen i 
gestellt worden. Sie sind sehr mangelhaft gestützt. 

8) Fisimatenten habe sich aus italienisch vistamente = schnell, I 
tig entwickelt, welchen Ausdruck das deutsche Volk auf Jahrmärkten c 


34 








































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»eschnappt habe, wo er von Gauklern und Taschenspielern bei ihren Vor¬ 
führungen verwendet worden sei. 

9) Fisimatenten habe sich entwickelt aus italienisch visemeattente 
(sieh mich genau an) 'oder avvoisa, ma attento (schau her, aber aufmerk- 
sim) ; auch dies seien Zurufe von Taschenspielern an ihre Helfer. 

Mit dieser letztgenannten Deutung haben die Ableitungen aus dem 
Lateinischen etwas gemeinsam; sie gehen von einem Zeitwort mit der 
Bedeutung „sehen" aus, nämlich von lateinisch videre (mit der Partizipform 

visus, -a, -um). 

10) Auf visum authenticum, amtlich festgestellte Tatsache, grei¬ 
fen Andresen und in seinem Rotwelschbuch Kluge zurück. Solche Berichte 
sollen wegen der Langatmigkeit und Formelhaftigkeit der Gerichtssprache 
als dummes Geschwätz verspottet worden sein. 

11) Visum repertum, Befund einer amtlich vorgenommenen Lei¬ 
chenöffnung oder sonstiger ärztlicher Bericht über eine gerichtlich-medizi¬ 
nische Untersuchung, will Leithäuser in „Fisimatenten" erkennen. 

12) Sandvoß, Blomfield u. a. denken an visae patentes (literae 
oder visa patentia = ordnungsgemäß ausgefertigtes Patent, öffentliche Emp¬ 
fehlungsschreiben der Marktschreier, dann verschlechtert: schwindelhafte 
Empfehlungen ohne Beweiskraft, leere Redensarten). Tatsächlich ist für das 
16. Jahrhundert die Form Visipatentes = Albernheit, Possen mehrfach 
belegt. 

13) Eine andere Deutung von Fisimatenten aus lateinischem Sprachstoff, 
die aber nicht auf den Stamm videre = sehen abzielt, sieht im deutschen 
Worte eine Umgestaltung von „Superintendent"; diese Deutung 
bleibt uns alles schuldig, auch die Andeutung der Bedeutungsentwicklung. 

Als letzte führen wir die heute vorherrschende Meinung über die Her¬ 
kunft des Wortes Fisimatenten an : 

14) Im Mittelhochdeutschen bedeutet visa ment (ebenfalls zu latei¬ 
nisch videre = sehen): Aussehen, Gesicht, Visierung (kunstgerechtes Ein¬ 
teilen und Beschreiben eines Wappens, zu visieren — darstellen). In der 
Wappenkunde bekommt visament noch die besondere Bedeutung: 
geheimnisvoller (d. h. undeutbarer, einer klaren Bedeutung entbehrender) 
Zug, unverständlicher Zierrat („womit man den Leuten auch Sand in die 
Augen streut", R. Hildebrand). Neben visament kommt schon in mittel¬ 
hochdeutscher Zeit auch die Form fisiment vor. Die heutige Form Fisima¬ 
tenten sei eine scherzhaft-spöttische Verdrehung der lateinischen Form, zu¬ 
gleich eine sogenannte Streckform (wie Schlampampe aus Schlampe, volks¬ 
tümlich Alimatenten aus Alimenten, scherzhaft Monument aus Moment). 


3 * 


35 






Übrigens erscheint, wie O. Weise anführt, in einer alten westfälisch* 
Urkunde Fisimatenten einmal synonym mit Visierung verbunden, was jede 
falls die Deutung von Fisimatenten aus visament stützt. 

Wenn auch diese letzte Deutung — Fisimatenten = visamenta — £ 
vertrauenswürdigste ist, ausgeschlossen ist es doch nicht, daß mehret 
Quellen in Frage kommen. So wäre es z. B. durchaus möglich, daß c 
ursprüngliche Form Fisipatenten war (zu visae patentes, 12) und daß <j 
Wandel des p zu m erst zufolge nachträglicher Anlehnung an visamentu 
erfolgt ist. Auch gibt es zweifellos unter den anderen Deutungen no 
die eine oder andere, die nicht als endgültig abgetan gelten darf, z. B. c 
aus griechisch physema = Geblasenes. 

Flanell 

als Bezeichnung eines Wollgewebes ist im Deutschen seit dem 18. Jahrhi 
dert bekannt. Die Schreibweise mit einem n und zwei 1 spricht für unrr 
telbare Entlehnung aus dem Französischen (la flanelle), denn die englisc 
Schreibweise ist: flannel. (Bei Lichtenberg kommt allerdings die letzt« 
Schreibweise vor.) 

Das Pariser Argot bringt das Wort flanelle offenbar mit dem Z( 
wort fläner = bummeln in gedankliche Verbindung, denn es gebraui 
flanelle mit den Bedeutungen: junger, eleganter Mann, verweichlich 
Geck, eleganter Schmarotzer, Gast, der in einem Lokal keine Zeche mac 
Etre flanelle de la tete aux pieds = von Kopf bis Fuß geckenhaft se 
Faire flanelle wird für das Pariser Argot seit 1861 belegt mit der Bed 
tung: Bordelle besuchen, ohne ein Mädchen in Anspruch zu nehmen. Dal 
ist im Dirnenargot „c’est de la flanelle’* ein verächtlicher Ausdruck 
„faule Jungens", d. h. für Besucher, die sich das Treiben in den Bord* 
bloß ansehen. Eine familiäre Pariser Wendung ist: avoir l’estomac dou 
de flanelle, eine gute Suppe gegessen haben. 

Französisch flanelle und englisch flannel lassen keltischen Urspri 
annehmen. Möglicherweise ist flanelle die Verkleinerungsform von altfr 
zösisch flaine = Wollzeug, aber auch dieses Wort soll keltischer Herku 
sein und zu gallisch gwlanen (urverwandt mit deutsch „Wolle*’) gehöi 
Von der gallischen Sprache, deren Geltungsbereich im Altertum von S 
nien bis nach Kleinasien (Galater!) reichte und die im ersten Jahrhunc 
n. Chr. verschwand, ohne wesentliche Sprachdenkmäler zu hinterlass 
leben Spuren nur in einzelnen Wörtern und Eigennamen (besonders 0 
und Flußnamen) anderer Sprachen fort. Manche 


36 






















































keltische Wörter im Deutschen 

, a ii er di-gs erst auf eine Entlehnung keltischer Begriffe und deren Be- 

K-hnungen durch Vermittlung des Englischen in verhältnismäßig jüngerer 
7 't zurück ln Großbritannien sind heute noch einzelne keltische Sprach- 
zwcige lebendig: aus der irischen (auch als gälisch oder goidelisch bezeich¬ 
nen 0 ) Gruppe das eigentliche Irisch in Irland, das eigentliche Gahsch (oder 
Schottisch) im schottischen Hochland und auf den benachbarten Inseln und 
das Minx auf der Insel Man; zum bntamschen Sprachzweig zahlt das in 
Wales gesprochene Kymrisch oder Welsch (Walisisch), ferner auf dem 
Festlande das Bretonische in der Niederbretagne, die Sprache der seit dem 
C 1 anrhundert auf der französischen Halbinsel angesiedelten Briten. Von den 
n •uieltischen Sprachen ist es besonders das Galische oder Schottische, as 
dem englischen und manchmal dadurch auch dem deutschen Wortschatz e- 
eriffiich typische Ausdrücke geliefert hat. Wir nennen die schottische Stam- 
raesoezeichtuing Clan (ursprüngliche Bedeutung: Kinder, Nachkommen, 
schaft), die wir besonders auch mit dem Nebensinn Bande, Clique gebrauchen, 
den Getränkenamen Whisky (aus schottisch uisge-beatha, Zusammensetzung 
aus uisge = Wasser und beatha = Leben, also wörtlich gleichbedeutend mit 
italienisch acquavite, französisch eau-de-vie, Lebenswasser d. h Brannt¬ 
wein) Plaid = Überwurf, Slogan = Schlagwort, Werbespruch im poli¬ 
tischen oder geschäftlichen Leben (ursprünglich schottische Bedeutung: Kriegs¬ 
ruf, eine Verschmelzung von sluag = Feind und gairm = Schrei, letzteres 
enthalten vermutlich auch im Namen der „Germanen“, s. weiter unten). Der 
in Schottland seit Mitte des 15. Jahrhunderts belegte Name des bekannten 
Rasenspiels Golf kommt von schottisch gowf = Schlag und ist von Golt- 
Mecrbuscn (zu griechisch kolpos, Busen) fernzuhalten. T o ry die Bezeich¬ 
nung des Angehörigen der Konservativen Partei, hat im Irischen ursprüng¬ 
lich dh- Bedeutung: Räuber. Aus dem kymrischen (walisischen) llymru — 
sch irfes Gemisch kommt über englisch flummery die norddeutsche Süßspeise- 
bczeichmmg Flammeri (vgl. dieses Stichwort in „Wörter und ihre 
Schicksale“). 

Budget, durch den altbewährten englischen Parlamentarismus zur all¬ 
gemeinen Verbreitung gebracht ist erst nachträglich zur Bedeutung Staats¬ 
haushalt gelangt. Die ursprüngliche Bedeutung von englisch budget ist 
Lederbeutel, Ranzen, Tasche. (Ein ähnlicher Vorgang von Bedeutungsüber¬ 
tragung im Sinnbezirk des Politischen: Portefeuille = Brieftasche = Amts¬ 
zweig eines Ministers) Englisch budget = Ledertasche geht auf französisch 
bougette zurück, auf die Verkleinerungsform von bouge = Lederbeutel, Reise¬ 
sack, und diesem französischen Worte liegt ein lateinisches zugrunde, bulga = 
Lederbeutel, das nach Festus aus Gallien ins Lateinische kam; belegt ist alt¬ 
irisch bolg == Beutel, Tasche. P i £ c e = Stück (im Deutschen als Fremd- 
peva) geht ebenso wie spätlateinisch petium auf eine gallische Wurzel petti 
wort, z. B. eine Musikpi&ce, italienisch pezza, spanisch pieza, portugiesisch 

37 











zurück, die aus walisisch peth und bretonisch pezz = Stück erschlossen wir< 
Keltischen Ursprungs ist vielleicht auch Bijou = Schmuck, Kleinod, Juwe 
Man vermutet Verwandtschaft mit bretonisch bizou, kornwallisch bisou 5 
Ring mit Edelstein, in welchen Wörtern wohl bretonisch biz, walisisc 
bys = Finger enthalten ist. Auch der Vogelname Pinguin ist höchs 
wahrscheinlich keltischer Herkunft. Man deutet ihn als walisisch pe 
gwyn = weißer Kopf (gwyn = weiß, pen = Kopf). Zu bemerken ist alle: 
dings, daß jene drolligen Tiere der südlichen Polargegend nicht weiße, soi 
dern schwarzbefiederte Köpfe haben. Dennoch ist die Etymologie Pinguin : 
Weißkopf nicht unhaltbar. Walisische Seefahrer dürften zuerst den über no 
dische Meere verbreiteten Riesenalk (Plautus impennis Linn.), den kenne 
zu lernen sie in Island und Südgrönland Gelegenheit hatten, als Pingui: 
d. h. als Weißkopf benannt haben. Tatsächlich kennzeichnet diesen Vog 
ein länglich runder weißer Fleck vor und über dem Auge. Mit den in d 
Familie der Flossentaucher eingeordneten Pinguinen sind die Alken, die zi 
Familie der Flügeltaucher in der Ordnung der Regenpfeifervögel gehöre 
gar nicht verwandt, da aber auf den ersten Anblick eine große äußere Ähi 
lichkeit zwischen Pinguinen und Alken, besonders in der Körperhaltung, h 
merkbar ist, ist nicht zu verwundern, daß der keltische Name der aus de 
nördlichen Meeren bekannten Alken später auf die ähnlichen Vögel übe 
tragen wurde, denen man nach der Entdeckung Amerikas in den antarktische 
Polargegenden begegnete. Daß man die neuentdeckten Vögel als Pinguin 
wörtlich Weißköpfe, bezeichnete, obschon sie schwarze Köpfe haben, m u 
nicht verwundern, selbst wenn man annimmt, daß die Übertragung d 
Namens von den Alken auf die neuen Vögel durch solche Seeleute erfol; 
ist, denen der wörtliche keltische Sinn des Namens noch bewußt war, den 
schließlich bezeichnen auch wir als Plombe (plumbum, Blei) etwas, das o 
aus Gold ist, als Gulden etwas, das meistens silbern und nicht gülden ist u. dg 
Übrigens hat man die Alken und Pinguine anfangs auch für nahverwam 
gehalten und sie irrtümlich in eine Ordnung (Impennes) zusammengefaii 
lm Französischen dient dementsprechend das Wort pingouin heute noch s< 
wohl zur Bezeichnung der Pinguine als der Alken. Unbestritten ist die Al 
leitung des Vogelnamens Pinguin (englisch penguin, daneben aber auch di 
Pflanzenname pinguin = Bromelia Pinguin, Pinguinananas aus den genam 
ten keltischen Wörtern aber nicht: manche versuchen, das Wort in romaniscl 
Zusammenhänge zu bringen, dem lateinischen Worte pinguis — fett zuzi 
ordnen. 

Zu den international bekannten keltischen Wörtern gehörte vor noch nicl 
langem, d. h. bevor der Name des Ballspiels Lawn-Tennis sich nicht 2 
Tennis vereinfachte, auch Lawn = Rasen. Das Wort geht wohl auf al 
keltisch landa zurück, das aus bretonisch lann, irisch lann, walisisch llan = 
umhegtes Gebiet erschlossen wird. Unser „Land“ ist mit all diesen Wörter 
anscheinend urverwandt. Internationaler Bekanntschaft erfreut sich ferner se 


38 













































• • Zeit das amerikanische Wort racket = Gaunerbande, Gangster- 
rm 'f D - scs Wo rt, das in England ursprünglich die Bedeutung Lärm, Tumult, 
‘-T; !ihertragen dann lärmende Gesellschaft, Schelmenstreich hatte, ist 
, rl ‘T'!- keltischer, u. zw. gälischer (schottischer) Herkunft. (Mit dem gleich- 
cbcn V englischen Wort, das den Tennisschläger bezeichnet, hat es nichts 
laU, sdJffen, denn dieses Homonym kommt über französisch raquette von 
arabisch rahat = Handfläche.) 

Kulturhistorisch bemerkenswerter als die verhältnismäßig spaten deutschen 
, l hnU ngen keltischen Sprachstoffes aus dem Englischen oder Französischen 

J -ne deutschen Wörter keltischer Herkunft, die auf die Zeit verweisen, 
S ' n keltische Völker, besonders gallische Stämme, nicht nur große Teile des 
L uti en Frankreichs und Italiens, sondern auch der heute deutschen, schwei- 
■risdien und österreichischen Gebiete besiedelten. Die Kelten hatten - be¬ 
sonders in ihrer Eigenschaft als Träger der Eisenkultur - nicht nur in kul¬ 
tureller Hinsicht einen erheblichen Vorsprung vor den Germanen, 
d-ren Vorgänger sie auf einem großen Teil des heute deutschen Bodens waren, 
sondern waren den Germanen eine Zeitlang auch an rechtlicher Organisation 
und kriegerischen Tugenden überlegen; fuit antea tempus, schreibt Julius 
Caesar in seinem berühmten Werke über den gallischen Krieg, cum Ger- 
rranos Galli virtute superarent. Entsprechend der allgemeinen sprach- 
gcschichtlichen Erscheinung, daß das schwächere Volk die Neigung hat, die 
Eigennamen des herrschenden Volkes zu übernehmen (H. Hirt), werden 
Spuren der keltischen Glanzzeit hauptsächlich durch Eigen namen in der 
deutschen Sprache bewahrt. Wir erwähnen z. B. die deutschen Eigennamen 
Dagmar, Hadumar, Sigmar aus keltisch Dagomaros, Catumaros, Segomaros 
(letzteres zu keltisch seg = Kraft), die Gebirgsnamen Alpen, Sudeten, Taunus, 
die Flußnamen Rhein, Ruhr, Reuß, Sieg, Main, Weser. Unter den Völker¬ 
namen ist nicht nur der der H e 1 v e t i e r keltischer Herkunft, sondern wahr¬ 
scheinlich sogar der der Germanen, gedeutet als „Tosende, Brüllende, 
Rufer im Streit“, wozu aus den heutigen keltischen Sprachen die Haupt¬ 
wörter irisch gairm und kymrisch garm = Schrei gestellt werden. (Vgl. auch 
oben die Etymologie von „Slogan“.) Groß ist die Zahl der deutschen Orts¬ 
namen, bei denen keltischer Ursprung sichergestellt oder wahrscheinlich 
gemacht wurde, besonders auf west- und süddeutschem und auf schweizeri¬ 
schem Boden. In einzelnen deutschen Ortsnamen sind keltische Personen¬ 
namen enthalten, z. B. Gallus, Sigmar in St. Gallen, Sigmaringen. Der in 
der Welt verbreitetste Vorname keltischer Herkunft ist wohl Arthur 
(nach dem sagenhaften Britenkönig Artus). 


Wenn wir nun nach den Eigennamen die deutschen Gattungs namen 
keltischer Herkunft ins Auge fassen, fällt uns auf, daß diese hauptsächlich 
in bestimmten Bedeutungsbezirken vorzufinden sind, die bestimmten kul¬ 
turellen Einflüssen der Kelten auf die Germanen entsprechen. Wie schon er¬ 
wähnt, waren die Kelten vor den Germanen die Träger der E i s e n kultur 


39 






und dem entspricht die keltische Herkunft der deutschen Wörter Eisen, B 
Lot, Mine, Mineral, Ger, Gabel, Harnisch, Degen, Glocke. 

Die keltische Wurzel, die zu E i s e n (althochdeutsch isarnon) vorausgese 
wird, dürfte isarnon gelautet haben. Andere Deutungen fassen allerdings e 
Abhängigkeit von lateinisch aes, aeris = Erz oder von einer illyrischen Wui 
ins Auge. Blei (das übrigens andererseits vielleicht auch mit „blau“ \ 
wandt ist) wird zu altirisch bla = gelb gehalten. Lot = Meßblei, mit 
ursprünglichen Bedeutung „leicht schmelzbares Metall“, gehört anschein« 
zu altirisch luaide = fließen, schmelzen. Mine geht auf mittellateini 
mina = Erzgrube zurück, auf dessen keltischen Ursprung altirisch mein 
Metall, Erzader und kymrisch mwyn = Roherz schließen lassen. Demn; 
sind auch die Fremdwörter minieren, konterminieren, Miner 
Mineralogie in der Hauptsache keltischen Ursprungs. 

Auch den mit einer Eisenspitze versehenen Pfeil dürften die Germai 
von den Kelten übernommen haben, und das Wort Ger — die „alte geri 
nische Waffe“, deren Name im letzten Jahrzehnt durch die Kreuzworträ 
„Volksgut“ geworden ist — wird zu einer keltischen Wurzel gaisa gehall 
Auch in den Personennamen Gerhart, Gertrud usw. ist die keltis 
Wurzel enthalten. Von gallisch gabala = gegabelter eiserner Wurfsp 
(altirisch gabul, kymrisch gafl, bretonisch gavl = gegabelter Ast, Gabeli 
der Schenkel) kommt unser Gabel. 

Harnisch (mittelhochdeutsch harnasch) hängt vermutlich mit haiarn 
zusammen, das im Kymrischen, in der keltischen Sprache von Wales, die 
deutung Eisengerät hat. Die Waffenbezeichnung Degen taucht erst 
15. Jahrhundert in Deutschland auf. Dieses Wort ist nicht zu verwechj 
mit dem von Lessing und anderen Klassikern neubelebten und daher poeti 
wirkenden Worte Degen = Held, Kriegsmann, dem das althochdeuts 
thegan = Mann vorangeht und das zur indogermanischen Wurzel t< 
tok- = erzeugen gehört, woher auch griechisch teknon = Kind. Die da 
fernzuhaltende Waffenbezeichnung Degen ist hingegen keltischer Herku 
sie geht über französisch dague = langer Dolch und schottisch-mittellateini 
dagua auf gälisch dag = Dolch zurück, woher auch englisch dagger, däni 
daggert = kurzes Schwert. (Eine andere Deutung sieht allerdings in De 
einen Abkömmling von lateinisch daca = dakisch, nämlich: dakisches Mess 
Glocke ist irischen Ursprungs. Irische Missionäre brachten das Wort c 
zu den Deutschen, bei denen es im 8. Jahrhundert (althochdeutsch gloc 
auftaucht. Auch das gleichbedeutende vulgärlateinische clocca (woraus fl 
zösisch cloche und englisch clock = Uhr) ist des gleichen keltischen Urspru 

Aus der „staatsrechtlichen Überlegenheit, die die Kelten einst über 
Germanen bewährt haben“ (Kluge-Götze) erklärt sich die keltische Herki 
der deutschen Wörter Reich (sowohl des Hauptwortes als des Eigenscha 
Wortes), Amt, Eid, Held, Geisel, Vasall, Erbe. 

Reich (mittelhochdeutsch riche, althochdeutsch rihhi, gotisch reiki, 


40 















































. ^ r ^j) ___ Herrschaft, Obrigkeit und die sonstigen Angehörigen dieser 
n0f i sc hen Wortsippe gehen auf frühzeitige Entlehnung aus dem Keltischen 
german ^ keltische rig = König ist übrigens urverwandt mit lateinisch 
1 ^ | s a i t i n disch rajan (neuindisch Radscha, dazu Maharadscha, wört- 

rC *^ Q ro ß r adscha) und auch mit der deutschen Wortsippe Recht, rechts, 
^'chten Richtung, Richter, Bericht usw. Auch das deutsche Eigenschafts- 
* : r u __ vermögend geht — ebenso wie gleichbedeutend italienisch 
französisch riche usw. — auf die genannte keltische Wurzel zurück. 
Uie ursprüngliche Bedeutung von reich ist auch nicht vermögend, sondern: 
königlich, mächtig. Die keltische Wurzel ist auch enthalten im Namen 
Richard und in der Endsilbe der Namen Verdngetorix, Theodorich, 
Alberich, Alarich, Ulrich, Dietrich, Helferich, Heinrich, Friedrich usw. 


Amt hat zum Vorgänger das althochdeutsche Wort ambahts = Dienst, 
Amt Beruf, Gottesdienst (gleichbedeutend ist das gotische ambahti). Dazu 
gehört auch althochdeutsch ambakt (gotisch andbahts) = Diener. Die Er¬ 
kenntnis, daß dieses germanische Wort keltischer Herkunft ist, verdanken 
wir Cäsar, dessen Schritt über den gallischen Krieg uns das gallische Wort 
ambactus = Dienstmann übermittelt. Es enthält allem Anschein nach die 
keltische Vorsilbe amb = um. Aus derselben keltischen Wurzel leitet sich 
übrigens auch das mittellateinische ambactia = Dienstauftrag ab, das u. a. 
zu den aus dem internationalen diplomatischen Verkehr allgemein bekannten 
französischen Wörtern ambassade, ambassadeur (Gesandtschaft, Ge¬ 
sandter) führt. Auch im holländischen ambacht = Amt, Handwerk ist viel 
von der alten keltischen Lautfolge erhalten geblieben. 


E i d (gotisch aiths) wird mit dem gleichbedeutenden altirischen oeth in 
Verbindung gebracht. Es scheint, daß die Germanen die Einrichtung der be¬ 
dingten Selbstverfluchung von ihren keltischen Nachbarn übernommen haben. 

Held (mittelhochdeutsch heit) ist im Althochdeutschen nicht vertreten. 
Das Wort wird mit altsächsisch haeleth und altnordisch halr = Mann in 
Verbindung gebracht und für die ganze Sippe wird keltischer Ursprung an¬ 
genommen, wofür das irische Wort calath und das bretonische calet = hart 
zu sprechen scheinen. 

Geisel (althochdeutsch gisal) = Kriegsgefangener, Leibbürge wird mit 
altirisch giall, kymrisch gwystl in Verbindung gebracht, wozu eine keltische 
Wurzel geslo vorausgesetzt wird. Demzufolge wären auch die deutschen Per¬ 
sonennamen Geiseiher, Giselher, Gisela, Gilbert, Geliert, Giesebrecht mittelbar 
keltischer Herkunft (vielleicht auch Gessler, wenn nicht zu „Gasse“ gehörig). 


Vasall geht ebenso wie vulgärlateinisch vasallus, mittellateinisch vassus 
auf eine keltische Wurzel zurück, und zwar wird aus altbretonisch uuas, alt¬ 
irisch foss, bretonisch gwaz, walisisch gwas — alle mit der Bedeutung: Jüng¬ 
ling, Diener — auf ein frühkeltisches Wort wassos == Diener geschlossen. 
Zu dieser keltischen Sippe gehört auch französisch valet = Diener (auch: 


41 







Bube im Kartenspiel); die altfranzösische Form des Wortes — va< 
(vasalet) — läßt leicht erkennen, daß es sich um eine Verkleinerungsfo 
von „vasal“ handelt. 

Erbe (gotisch arbi) wird zu altirisch orbi = der Erbe gehalten. E 
Urverwandtschaft mit griechisch orphanos, lateinisch orbus = beraubt, v 
waist wird vermutet. 

Weitere deutsche Wörter, die von unmittelbarem oder durch romanis< 
Vermittlung erfolgtem kulturellem Einfluß der Kelten auf die Germai 
zeugen, sind: 

Zaun (althochdeutsch zun, altnordisch tun) geht, ebenso wie engli 
town = Stadt, d. i. umzäunte Stätte, auf die in vielen Ortsnamen erhal 
gebliebene keltische Wurzel dunos = Burg, befestigte Stadt zurück. 

Tonne ist ein Wort gallischen Ursprungs, das im Irischen (tunna) n< 
belegbar ist. Aus altirisch tonn = Fell, Lederbeutel, in übertragenem Sh 
Weinschlauch, Weinbehälter, entstand mittellateinisch tunna = Faß, wor 
französisch tonne, tonneau und andere romanische, sowie auch die germanisc] 
Abkömmlinge zu erklären sind. Das französische tonne führt zur Verklei 
rungsform tonnelle = Gewölbe, das im 18. Jahrhundert nach England entle. 
(tunnel) die Bedeutung unterirdischer Durchgang bekommt, von dort spä 
nach Deutschland gelangt, so daß auch unser Tunnel zu den deutsc] 
Wörtern keltischen Ursprungs zu zählen ist. 

Mergel (althochdeutsch mergil) geht über mittellateinisch margila ; 
lateinisch marga zurück, das nach Plinius gallischer Herkunft ist. 

Mantel (altdeutsch mantal, mandal) kommt — ebenso wie italieni 
mantello, französisch manteau — von lateinisch mantum, bezw. dessen sei 
bei Plautus belegter Verkleinerung mantellum. Das lateinische mantum ist a 
offenbar keltischen Ursprungs; die Römer dürften das Wort in Hispanien e 
lehnt haben. 

K a i = gemauerter Uferdamm geht, ebenso wie niederländisch kaai, e 
lisch quay, dänisch kai, schwedisch kaj auf französisch quai zurück, für 
keltischer Ursprung angenommen wird; altirisch cai = Straße, Weg. 
dieser Wortsippe gehört möglicherweise auch der Name der Chauken (Ia 
nisch Chauci oder Cajici), der Bewohner des friesischen Inselgürtels, s 
gleichsam eines Dammes, eines Kais längs der Nordsee. 

Der Fischnamen Salm (althochdeutsch salmo) geht zunächst auf lateini 
salmo zurück (wozu auch englisch salmon, französisch saumon), das lateinis 
Wort dürfte aber keltischen Ursprungs sein, entsprechend dem Umstande, < 
die Römer diesem Fisch zuerst in dem keltischen Rheingebiet begegneten. 

Gaul dürfte ebenso wie vulgärlateinisch caballus = Pferd (woher fr 
zösisch cheval und die anderen romanischen Namen des Pferdes und fer 
unsere Fremdwörter Kavallerie, chevaleresk usw.) auf eine ga 
sehe Wurzel zurückgehen. Keltischen Ursprungs ist wohl auch eine and 


4* 









































n 

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n 

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h 

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i- 


i- 

:e 


eichnung des Pferdes, das in Marschall (eigentlich „Mährenschalk“) 
enthaltene Wort 

Mähre (althochdeutsch marah), das ursprünglich keine herabsetzende 
tung gehabt hat. Das gallische Wort marka wird von Pausanias über- 
(belegt ist ferner altirisch marc, kymrisch march = Pferd). 


pferd kommt zunächst von paraveredus = Postbeipferd, in welchem 
•.•-^lateinischen Worte para die griechische Präposition, veredus aber keltisch 
keltischen Worte veredos = Pferd ist die Vorsilbe ve = unten, am zu 
^kennen die wörtliche Bedeutung von veredos ist: das zum Wagen gehörende, 
mTwagen gehende (altgallisch reda = Reisewagen). Zeugnis dafür, daß die 
Germanen den Gebrauch des Fahrzeugs auf Rädern von den Kelten lernten, 
scheint auch das Wort 

Karren (althochdeutsch karro oder karra) abzulegen. Das germanische 
Wort taucht zu Beginn der christlichen Zeitrechnung im Raum von Köln und 
Trier auf, also in Gebieten, die an damals keltische grenzten. Auch im Latei¬ 
nischen ist carrus = vierrädriger Wagen eine Bereicherung aus Gallien. Aus 
äer vorauszusetzenden keltischen Wurzel karr sind nicht nur die weiteren Fahr¬ 
zeugbezeichnungen Karrete, Karosse abzuleiten (s. das Stichwort 
Kutsche“ in „Wörter und ihre Schicksale“), sondern noch eine Reihe anderer 
Fremdwörter. Auf der keltischen Wurzel karr fußt nämlich auch das spät¬ 
lateinische Zeitwort carricare = laden, beladen, belasten, woraus nicht nur 
Karikatur kommt (italienisch caricatura, eigentlich das Überladene, Über¬ 
belastete, d. h. Übertriebene), sondern auch die Zeitwörter französisch charger, 
englisch charge, woraus unser Fremdwort Charge, mit seinen vielen Bedeu¬ 
tungen, Weiterbildungen und Zusammensetzungen (Chargenbezeichnung, Char¬ 
gendarsteller usw.) entsteht. Zu dieser Sippe gehört auch spanisch Cargo = 
Fracht, besonders bekannt durch ein internationales Fachwort der Schiffahrt: 
Superkargo = Aufseher über die Ladung. 


Der Name der Walh (Volcae), eines großen keltischen Volksstammes lebt 
nicht nur in Landesnamen wie Wales und Cornwall fort, sondern auch im 
deutschen Eigenschaftswort welsch (althochdeutsch walhisc), dessen Bedeu¬ 
tung zuerst auf alle keltischen Völker ausgedehnt wurde, um dann auf die 
romanischen Völker übertragen zu werden und auch den Nebensinn „unver¬ 
ständlich Sprechende“ zu bekommen (daher die Zusammensetzungen Kau¬ 
derwelsch, Rotwelsch). Zu „welsch“, bezw. zum Namen der kelti¬ 
schen Volcae gehört auch Walnuß .(spätlateinisch nux gallica, da sie 
ursprünglich besonders in Gallien gepflanzt wurde). Mit dem keltischen 
Völkernamen Walh hängt wahrscheinlich auch die altslawische Wurzel 
vlach zusammen, das zu dem bekannten Völkernamen W a 1 a c h e n führt. 
^ a 1 1 a c h hat im Deutschen auch die Bedeutung verschnittenes Pferd, weil 
verschnittene Hengste nach Mitteleuropa aus Rumänien kamen (oder aus Un¬ 
garn, daher französisch hongre = verschnittener Hengst). Der Name der Wel- 


43 







sehen steckt auch in Galopp, wenn die Deutung dieses Wortes als w 
hlaup — welscher Lauf richtig ist. 

Von den — unmittelbaren oder mittelbaren — Entlehnungen aus dem 
tischen sind wohl zu unterscheiden die germanisch-keltiscl 
Gleichungen, d. h. die Fälle, wo — ohne daß eine Entlehnung in 
einen oder der anderen Richtung vorläge — einfach auf Grund der indc 
manischen Urverwandtschaft die gleiche Wurzel sowohl in einer oder me 
ren germanischen, als auch in einer oder mehreren keltischen Sprachen 
treten ist, nicht aber auch in einer Sprache, die irgend einer anderen Gri 
der indogermanischen Sprachfamilie (z. B. der indoiranischen, der grit 
sehen, der slawischen, der italo-romanischen usw.) angehört. So entsp; 
dem deutschen Apfel im Irischen aball oder uball, dem deutschen Beut< 
Irischen buaid — Sieg, dem deutschen Latte im Irischen slat = Rute, 
deutschen Wert im Kymrischen gwerth = Preis, dem deutschen Dorf l 
risch tref = Stadt, altbretonisch treb = Wohnung (enthalten u. a. in 
Ortsnamen Arras und Artois, daher auch in „artesischer Brunnen“), dem c 
sehen Streifen das gleichbedeutende irische sriab. Es gibt nahezu hundert 
eher germanisch-keltischer Gleichungen. Da das Keltische innerhalb der i 
germanischen Sprachfamilie dem Italischen am nächsten steht, ist die An 
der romanisch-keltischen Gleichungen größer. 


Fratze, Fratz 

Die häufigste Verwendung für Fratze ist heute: verzerrtes Gesicht, t 
lieh aus Mißmut, Ekel, Entsetzen oder einer beabsichtigten komischen 1 
kung zuliebe verzerrtes Gesicht. Du sollst keine Fratzen schneiden, erm 
die Mutter das Kind. Man gebraucht aber Fratze auch in dem Sinne: h 
ches (d. h. nicht vorübergehend, sondern ständig häßliches) Gesicht. D 
„Fratze“ wird somit ein Synonym der verächtlichen Bezeichnung F 
(österreichisch Gfriß, schweizerisch Gfräß), an das es auch äußerlich 
klingt, — höchstwahrscheinlich ohne etymologisch verwandt zu sein, < 
„Fresse“ kommt von fressen = ver-essen, d. h. essend aufzehren 
bedeutet zunächst Maul und wird erst in übertragenem, erweitertem S 
verächtlich für das ganze Gesicht gebraucht. 

In übertragenem Sinne ist eine Fratze auch eine abgeschmackte Gebi 
eine tolle Handlung, ein närrisches Verhalten usw. „Bis zur Fratze g( 
gertes Verhalten“, heißt es bei Schiller. Noch mehr ins Geistige, Absti 
übertragen, gebraucht Kant das Wort Fratze: „Der Verstand ist grüble 
und gerät auf Fratzen“ — „Unnatürliche Dinge, insofern das Erha 
drinnen gemeint ist, ob es gleich wenig oder gar nicht angetroffen ^ 
sind Fratzen.“ 


44 















































—— ■ 1 ■ 











Vom Zerrgesicht kann die Bezeichnung Fratze auch auf seinen Träger, 
?en ganzen Menschen übertra g en werden. 

w p ür ^jgse letztere Bedeutung hat sich aber in stärkerem Maße die Form 
Jrf p ra tz" eingebürgert und ein eigenes Wortdasein erlangt, was auch zu 
^ nef Abwandlung und Abschwächung der Bedeutung geführt hat. Neben 
Jem Scheltwortcharakter „der Fratz“ = Geck, Narr, Laffe (auch bedauernd: 
armer Fratz) herrscht jetzt die Bedeutung „unartiges (oder besonders kin¬ 
disches) Kind“ vor und auch diese milde Schelte neigt dazu ins Zärtliche 
umzuschlagen; den „süßen Fratz“ reimt z. B. die leichte Muse gerne auf 
„Schatz“. 

Aus Fratze und Fratz ergeben sich mehrere Ableitungen, wie fratzig, 
fratzenhaft und Zusammensetzungen, wie Fratzenbild, Fratzenstück, Fratzen¬ 
wesen usw. E. Boucke, R. M. Meyer und P. Fischer, die sich mit dem Wort¬ 
schatz G o e t h e s beschäftigen, heben des Dichters Vorliebe für das Wort 
Fratze und seine Abkömmlinge hervor und auch das Grimmsche Wörter¬ 
buch belegt diese Erscheinung. Fratze ist bei Goethe ein gefühlsbetontes 
Wort mit negativem Vorzeichen. Boucke spricht von der Abneigung Goethes 
£>egen alles Parodierende und Karikierende, weil er nichts „Förderndes“, 
sondern nur etwas „Verneinendes“ darin sah. Wegwerfend spricht Goethe 
vom Fratzenhaften der Menge, von der Gabe, alles zu verfratzen, den 
Mönch Savonarola nennt er ein fratzenhaftes, phantastisches Ungeheuer 
und an Schiller schreibt er: „daß doch einem sonst so vorzüglichen Men¬ 
schen immer etwas Fratzenhaftes ankleben muß.“ In dieser letzten Stelle, 
die sich übrigens auf Fichte bezieht, bedeutet „Fratzenhaftes“ wohl: Unwah¬ 
res, Verlogenes, Affektiertes. In Goethes Satze „wir sehen hier einen klei¬ 
nen deutschen Hof gerade nicht fratzenhaft, doch von einer unerfreulichen 
Seite geschildert“ entspricht „fratzenhaft“ dem Fremdworte „karikiert“. 
Ebenso gebraucht Goethe, wie übrigens auch Jean Paul, Fratzenbild für Ka¬ 
rikatur: „Alle solche Fratzenbilder drücken sich unauslöschlich ein." 
Fratzensprung gebraucht Goethe im Sinne von Kapriole: „Wohl so ein fran¬ 
zösischer Fratzensprung, vor dem sich diese lebhafte Nation in den ernste¬ 
sten Geschäften nicht immer hüten kann.“ Possen des modernen Theaters 
als Gegensatz zu „den heiteren Stücken der Alten“ bezeichnet Goethe als 
Fratzenstücke. Für „fratzenhaft“ bei Goethe noch drei Beispiele: „Es gibt 
nichts Gemeines, was fratzenhaft ausgedrückt, nicht humoristisch aussähe“ 
— „Jede fratzenhafte Verzerrung, wodurch sich dünkelhafte Menschen mit 
eigener Sinnesweise an dem Gegenstand versündigen“ — „Hier soll meist 
das Fratzenhafte, das ein düst’rer Wahnsinn schaffte, für das Allerhöchste 
gelten.“ Für Goethes heidnisch-hellenisches Fühlen und Denken war 



45 







„Fratzenwesen“ vielfach gleichbedeutend mit dem Mittelalterlich-Chri 
chen, mit der Gotik; er schreibt einmal von dem „unversöhnlichen ] 
gegen das Pf aff tum, entsprungen aus der Betrachtung des rohen, 
schmacklosen, geistverderblichen Fratzenwesens, welches die Mönche 
Deutschland an manchen Orten zu treiben pflegten“. 

Die Gedankenverbindung Gotik-Fratzenwesen leitet uns zu einer der 
mologien des Wortes Fratze hinüber. Einzelne Sprachforscher nehmen 
die ursprüngliche Bedeutung von Fratze liege auf dem Gebiete der 1 
kunst. Der Ausdruck steht nach Lee M. Holländer und K. Bergmann 
der Holzschnitzerei in Verbindung, die besonders beim Hausbau 
übt wurde und eine Lieblingskunst der Germanen war. Die Fratzen s 
ursprünglich Verzierungen gewesen, die in das Holz geschnitzt wurden, 
solche Verzierungen waren besonders Grimassen schneidende Gesichter 
phantastischen oder komischen menschlichen oder tierischen Zügen bei 
so daß dann das Wort zur heutigen Bedeutung gelangen konnte. (D; 
Gesichter, Grimassen, Fratzen „schneiden“?) Bergmann vermutet, 
Fratze zu altsächsisch fratah und angelsächsisch fretan = fressen geh 
es läge also eine Anspielung auf die mit einem „fressenden, nagenden, 
ßenden“ Werkzeug herausgeschnittenen Figuren vor und demnach besti: 
doch eine etymologische Beziehung zwischen der Fratze und der Fresse. 

Wesentlich verläßlicher erscheint aber die von Kluge-Götze vertretene 
Ieitung. Vom lateinischen Zeitwort virere = grünen kommt (über ein 
mutetes spätlateinisches virasca = grünender Zweig), italienisch und 
nisch frasca = Laubast, im Italienischen besonders auch jener grüne Zv 
der als Schankzeichen für Wirtshäuser verwendet wird. 
Mehrzahl frasche gelangt zur Bedeutung: ausgelassenes Wirtshaustreil 
Schabernack, Possen. Daß unser deutsches Wort im Alt- und Mittelh( 
deutschen fehlt, spricht für seine Entlehnung aus dem Italienischen. Lut 
der das Wort frasche wohl in Italien kennen lernte, gebraucht seit 1 
Fratzen im Sinne von Possen, albernes Gerede. Daraus entsteht in der er 
Hälfte des 18. Jahrhunderts „Fratzengesicht", und das Wort Fratze in 
neueren Bedeutung „verzerrtes Gesicht“ ist gleichsam nur eine Kurzf 
für Fratzengesicht. Auf das italienische frasca gründet sich übrigens verr 
lieh auch französisch frasque; es bedeutet sowohl Schabernack, als — 
es scheint, mit einer weiteren Übertragung und auch unter Quereinfluß 
frater — auch Laienbruder. 

Das Grimmsche Wörterbuch bemerkt zu Fratze, man könnte an fat 
Fatzbube, Fatzmann mit eingeschobenem r denken, doch ist diese Verl 


4 6 
























































1 

a 

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i 


t 




i 

i 


!D 

n 


1 n * die auf eine Verwandtschaft zwischen Fratze einerseits und Fatzke, 
fixen andererseits hinausläuft, kaum zu stützen. 

\Venig spricht auch für die Ansicht des bekannten Orientalisten Enno 
Littmann, das Wort stamme am ehesten aus dem jüdisch-aramäischen Worte 
ftef das als Schimpfwort für ein häßliches Gesicht gebraucht wird; 
^Itzef aramäisch parsof dürfte übrigens selbst indogermanischer Herkunft 
r .; n nämlich von griechisch prosopon = Person, Maske, Rollenfach für 

Schauspieler herkommen. 


Gamin 

Das französische Wort gamin = Straßenjunge (im weiteren Sinne dann 
Bursche, z. B. Hilfsarbeiter der Maurer, auch mit der Bedeutung Schelm, 
Wildfang, daher auch für Mädchen gebräuchlich) ist auch im Deutschen 
als Fremdwort bekannt, wenngleich sein Gebrauch in der Nachkriegszeit 
stark abgenommen hat; früher sprach man auch im Deutschen häufig von 
einem gaminhaften Wesen, vom Gamintyp einer Operettenschauspielerin, 
u. s. w. 

Im Französischen selbst ist das Wort gamin noch keine zwei Jahrhunderte 
alt. Allgemeiner wurde es in der Mitte des 19. Jahrhunderts, als die gro¬ 
ßen französischen Erzähler den niederen Bevölkerungsschichten von Paris 
erhöhte Aufmerksamkeit zuzuwenden begannen 1 . Eine klassische Verkörpe¬ 
rung des Gamintyps stellt der Straßenjunge Gavroche in Victor Hugos 
„Elenden“ (1862) dar. Hugo — von dem auch der Ausspruch stammt: 
la gaminerie est une nuance de I’esprit gaulois — gibt in diesem Roman 
auch eine allgemeine Charakterisierung des Pariser Gamins: „Er hat kein 
Hemd auf dem Leibe, keine Schuhe an den Füßen, sein Haupt hat keine 
Bedeckung, er gleicht den Fliegen in der Luft, die auch nichts von all dem 
haben. Er ist sieben bis dreizehn Jahre alt, tritt das Pflaster, treibt sich in 
Schwärmen herum, nächtigt unter freiem Himmel, .. . steckt sich eine Pfeife 
an, flucht wie ein Verdammter, taucht in Schenken auf; er kennt die Diebe, 
duzt die Mädchen der Straße, spricht Argot, singt zotige Lieder und hat 
nichts Böses im Herzen.“ Und Alfred Delvau (dem übrigens auch ein 
Wörterbuch des Argots, der „grünen Sprache“, zu verdanken ist) schreibt 
in „Journee d’un gamin“: „Das ist der Gamin von Paris, ein Kind der 


i) Im Juni des Revolutionsjahres 1848 erschien in Paris, herausgegeben 
von Fouyon, eine in urwüchsiger Volkssprache geschriebene Zeitung, die sich 
„Gamin de Paris“ nannte. Sie lebte nur drei Wochen, aber noch im gleichen 
Jahre wurde eine zweite revolutionäre Zeitung dieses Namens gegründet. 


47 






Öffentlichkeit, ein Produkt aus Dreck und Granit; ein Mistbeet, aus dess 
Dünger Heroismus sprießt, ein wandelndes Krankenhaus aller sittlichen G 
bresten der Menschheit. Er ist häßlich wie Quasimodo, grausam wie D 
mitian, geistreich wie Voltaire, zynisch wie Diogenes, tapfer wie Jean-Ba 
atheistisch wie Lalande, — ein Ungeheuer.“ 

Der Etymologie ist das Wort gamin eine harte Nuß. Es stehen verschi 
dene Hypothesen zur Wahl. 

a) Gegen einen Zusammenhang von gamin mit gambe, jambe = Bei 
Unterschenkel (zu lateinisch gamba) — der allerdings nicht belegbar ist - 
wäre in rein bedeutungswissenschaftlicher Hinsicht nichts einzuwenden; <j 
ursprüngliche Bedeutung von gamin wäre demnach: einer, der immer a 
den Beinen ist, auf den Straßen herumläuft. (In ähnlicher Weise hat m 
ja auch versucht, „gigolo“ auf gigue = Schenkel zurückzuführen.) 

b) Scheler deutet die Möglichkeit einer Verwandtschaft mit englis 
game = Spiel, Scherz, Belustigung an oder 

c) die einer Verwandtschaft mit pikardisch galmin, in welchem Woi 
man das germanische gal = gellen, singen (enthalten in „Nachtigall“) ; 
erkennen glaubt; zu dieser Deutung vergl. man das deutsche „Gassenhauer 
das ursprünglich einen Gassentreter, einen Pflastertreter (also gleichsa 
einen „gamin“) und dann erst dessen Tänze und Lieder bezeichnete (verj 
das Stichwort „Straße“ in „Wörter und ihre Schicksale“). 

d) Timmermans sieht in gamin die französische Entsprechung von sf 
nisch gamonito = kleiner BaumsprÖßling (Verkleinerung von gamo). 

e) Den stärksten Anklang findet heute die (u. a. von Littre und Mey( 
Lübke vertretene) Auffassung, das französische gamin komme vom deutsch! 
„Gemeine r“. Die deutsche Bezeichnung für den Soldaten ohne Charge 
grad soll während der Kriege des 18. Jahrhunderts, besonders während d 
Siebenjährigen, in das französische Volk gedrungen sein. Ein Beleg aus de 
18. Jahrhundert spricht tatsächlich von un caporal et quatre g 
m i n s, wobei jener Korporal gewiß nicht vier Straßenjungen befehli 
hat. In diesem Zusammenhang sei auch daran erinnert, daß französiJ 
gamin auch die Bedeutung hat: Hilfsbursche eines Maurers (also gleichst 
der „Gemeine" des Maurerstandes). Sainean meint, der Ableitung v| 
gamin aus dem deutschen Gemeiner widerspreche alles: die Form, die E 
deutung, die Geographie. Er vertritt 

f) die Auffassung, daß es sich um einen rein französischen, munda 
liehen Ausdruck handle: in der Landschaft Berry sei gamin ein alter Voll 
ausdruck mit der Bedeutung Knabe, Bursche und er hänge zusammen n 


48 















































dem dortigen Zeitwort gamer = mausen, stibitzen (il a game des fruits, il 
m »a game vingt sous). 

Wenn es richtig ist, daß „gamin“ von „Gemeiner" kommt, und das meiste 
spricht jedenfalls für diese Deutung, so liegt der sonderbare Fall vor, daß 
ein typisches Pariser Wort für eine typische Pariser Erscheinung deutschen 
Ursprungs ist. Das wäre aber keine vereinzelte Erscheinung, 

deutsche Wörter im Pariser Argot 

s i n d keine Seltenheiten. Gemeint sind natürlich hier nicht Wörter des all¬ 
gemeinen französischen Wortschatzes, die deutschen Ursprungs sind, 
z B. die Entlehnungen aus dem Altdeutschen im bis io. Jahrhundert, in 
der Franken-, Merowinger- und Karolingerzeit, wie email zu smelzi, Schmelz, 
m ar£chal zu marahscalk, Mähren-Schalk, d. h. Pferdeaufseher usw., oder die 
späteren allgemeinen Entlehnungen wie trinquer = beim Trinken anstoßen, 
bransqueter = brandschatzen, maquereau (= Zuhälter) aus deutsch »Makler«, 
le vasistas = Guckfenster (aus dem man prüfend hinauslugen kann: »was 
ist das?«, in übertragenem Sinne auch für Monokel und für Afteröffnung 
gebräuchlich), noch die in der Sprache der gebildeten Franzosen üblichen Be¬ 
zeichnungen für deutsche Begriffe (wie Ie kaiser, le krach, Persatz, le fuhrer), 
sondern auf deutsche Wörter zurückgehende Sonderausdrücke der niederen 
Pariser Umgangssprache. 

Vache (meistens in der Mehrzahl gebraucht: les vaches) ist in Paris bei 
Apachen und Dieben, Dirnen und Zuhältern die verbreitetste Schelte für 
Polizisten und Gefängnisaufseher. »Mort aux Vaches!« (Tod den Vaches!) 
ist gleichsam der Wappenspruch der Pariser Unterwelt- hat auch eine fest¬ 
stehende Abkürzung: M. A. V., welche drei Buchstaben die Gefängnisver¬ 
waltungen immer wieder von den Wänden der Zellen wegwaschen und weg¬ 
kratzen lassen müssen. Hue, les vaches! beginnen die Sträflinge im Chor 
zu schreien, wenn die Wut auf die Wächter sie übermannt, und in der Frei¬ 
heit lautet so der Alarmruf, wenn eine Polizeistreife im Anzug ist. Auch die 
französische Hochsprache hat ein Wort vache (von lateinisch vacca) und 
bezeichnet damit die Kuh. Daß Zuhälter die Mädchen als ihre Kühe oder 
noch deutlicher als ihre Milchkühe (vaches ä lait) bezeichnen, kann man ver¬ 
stehen, überhaupt den Gebrauch von vache als Schelte für weibliche 
Wesen. Aber wie kommen Polizisten und Gefängnisaufseher dazu, als »Kühe« 
beschimpft zu werden? Die Erklärung ist, daß dieses Argotwort vache mit 
dem allgemeinen französischen vache = Kuh nur die heutige Lautform ge¬ 
meinsam hat, nicht aber die etymologische Herkunft. Vache = Polizist, Ge¬ 
fängniswächter kommt von deutsch Wache. Die Vermittlung ins Franzö¬ 
sische kann besorgt worden sein: durch die Gaunerwelt- die stets reichlich 
über die Grenzen gehende Beziehungen hatte, oder durch die Bevölkerung 
' 0n ^ sa ß und Lothringen, die wiederholt die Reichszugehörigkeit gewech- 


4 Storfer . Sprache 


49 





seit hatte, oder durch die vielen Kriege, die wiederholt französische Trupp 
auf deutsches Gebiet und deutsche Truppen auf französisches Gebiet führte 
Entsprechend der Bedeutung von deutsch »Wache« bezog sich auch das P 
riser Schimpfwort zunächst nur auf die Gefängniswächter, dann erst auf c 
Polizisten. 

Von deutsch »Wache« kommt noch ein anderer Ausdruck des Pari? 
Argots, einer, der besonders der Gaunersprache angehört. Faire le gaf 
für »Schmiere stehen« kommt schon 1827, in den Aufzeichnungen des P 
lizeichefs Vidocq, dieses argotkundigen ehemaligen Galeerensträflings, v< 
Gafe, gafeur, gafre ist nicht nur die Wache für fremdes Eigentum, sonde 
auch der Schmiere stehende Helfer der Einbrecher. In mittelfranzösisch 
Mundarten kommt gaffe im Sinne von Gerichtsvollzieher vor. Die Ui 
Wandlung des deutschen Wortes Wache zu gaffe (germanisches »w« wird 
Französischen »g«, wie in den Fällen Warte-garde, Wirre-guerre usw.) schei 
sich zuerst in der französischen Soldatensprache vollzogen zu haben, 1 
prendre le gaffe eine stehende Redensart ist mit der Bedeutung: auf Wac 
ziehen. 

Schloffer oder aller au schloff gebraucht das Pariser Argot fi 
schlafen gehen. Bei Zola kommt vor: je suis alle schloffer un brin, ich gi 
ein »Stückchen« schlafen. Auch in der Pikardie heißt es: aller k chelofe. ij 
schwer ist in diesen Ausdrücken das deutsche schlafen zu erkenn; 
Sainean meint, die Deutschen hätten das Wort 1815 anläßlich der Niedi 
werfung Napoleons nach Frankreich eingeschleppt; nach Chautard ist diei 
Argotausdruck jüngerer Herkunft, Flüchtlinge aus Elsaß und Lothringen hi 
ten ihn nach dem Kriege von 1870-71 in den Pariser Stadtteil La Ville 
eingeführt. 

Etre chtourbe bedeutet im Pariser Argot: keinen Sou haben, chtoi 
bard ist ein Pechvogel. In der Mundart der burgundischen Landschaft 1 
das Morvan-Gebirge kommt chtourber = sterben vor und man darf vern 
ten, daß auch das pariserische chtourbe von deutsch sterben, von des! 
Partizip »gestorben« kommt. (Allerdings wird von anderer Seite auch 
Ableitung von altfranzösisch destourber = stören oder von provenzalil 
estourbir = totschlagen vertreten. Hier fällt mir übrigens eine gewisse ! 
deutungsgeschichtliche Parallele auf: wienerisch stier = geldlos von al 
stieren, aufstöbern, aufstochern einerseits, s. S. 179, und andererseits pa 
serisch chtourbe = geldlos, eventuell von destourber = stören.) 

Q u e n 6 p e oder quenofe = Pfeife kommt wohl von »K n o p f« o| 
»Knau f« (welche deutsche Wörter selbst untereinander auch verwandt sij 
und gelangt entweder durch holländisch-flämische oder durch westschwei 
rische Vermittlung ins Pariser Argot. Es liegt dabei Bedeutungsübertragt 
vom Teil aufs Ganze vor: vom Pfeifenkopf (den übrigens früher manchij 
einen Kopf darstellende Schnitzereien zierten) auf die ganze Pfeife. Möj 


50 





















































rhcrweise geht sogar das Pariser Argotwort nicht von »Knopf« oder »Knauf«, 
ändern von »Kopf« (Pfeifenkopf) aus. Gaston Esnault ließ sich auch be« 
richten, daß in französischen Radfahrerkreisen zu Beginn unseres Jahrhun- 
j^rts eine in der Schweiz aus Wurzelholz hergestellte Pfeife beliebt war, 
V die Fabriksmarke »Knopp« trug. 

Faire chibis = desertieren, aus dem Gefängnis entweichen, ausknei¬ 
fen. sich von einer Arbeit, einem Dienst drücken, hängt anscheinend mit den 
deutschen Wörtern schieben, Schiebung, Schieber zusammen; vermittelt 
haben anscheinend die holländischen Ausdrücke schiebus gaan, schepes gaan = 
,: c h davonmachen. 

Ohne nähere Angaben führt Chautards Argotbuch faire les s c h 1 a d r o s 
als seit 1882 belegt an. »Schladros machen« hat die Bedeutung, einen nächtli¬ 
chen Überfall machen und soll aus deutsch Schlagdrauf verderbt sein. 

Vom deutschen Worte Schnauze kommt der Argotausdruck s c h n e s s e 
Gesicht und vielleicht auch schnoutse = Betrunkener, faire les 
schnoutses = Betrunkene bestehlen. Für den Diebstahl an Betrunkenen hat 
das Argot auch die Fachausdrücke: faire les kneip es (Aristide Bruant 
schrieb: faire au knep), aller chercher kneipe, faire la chasse aux kneipes. 
Daß dieses kneipe = Betrunkener von deutsch Kneipe kommt, ist ziem¬ 
lich einleuchtend. Von deutsch Schoppen kommen vermutlich die fami¬ 
liären Pariser Ausdrücke c h o p i n e = Wein, chopiner = Wein trinken. 
Daß in romanischen Sprachen verhältnismäßig viele Volksausdrücke, die sich 
auf Trinken, Fluchen, Plündern beziehen, deutscher Herkunft 
sind, hängt hauptsächlich mit den einstigen söldnerisch rauhen Sitten der in 
Frankreich und Italien dienenden deutschen und schweizerischen Lands¬ 
knechte zusammen. 

Von deutsch stinken kommen wahrscheinlich die gleichbedeutenden 
Argotzeitwörter chelinguer, schlinguer, schlingoter, cingler. In den Wör¬ 
tern chouflick = Stümperarbeit, choufliqueur = Stümper, choufliquer 
= schlecht arbeiten ist das deutsche Schuhflicker zu erkennen. 

Erwähnt sei hier auch aus der französischen Soldatensprache f r i c h t i = 
reichhaltige Mahlzeit, gutes Gericht (mit vielen mundartlichen Nebenformen, 
wie fricheti, fristi, fristille, frichequi, frichetouille) aus dem deutschen Früh¬ 
stück. Das Wort muß, nach Ansicht Wartburgs, schon kurz nach Mitte des 
19. Jahrhunderts aufgenommen worden sein; Vermittler waren wohl die El¬ 
sässer, die als Soldaten und Unteroffiziere im französischen Heere dienten. 
Aus dem Argot der polytechnischen Kriegsschule erwähnen wir das von 
\illatte 1912 belegte schicksaler = auslosen, dessen deutsche Herkunft 
klar ist. 

Weniger durchsichtig ist der deutsche Ursprung des familiären franzö¬ 
sischen Ausdrucks asticoter = necken, beschimpfen, quälen. Zu Grunde 
iegen ihm wohl die deutschen Wörter »Daß dich Gott...«, mit denen 

51 


4* 






verschiedene deutsche Fluchformeln beginnen, die die Franzosen von d$ 
Landsknechten gehört haben mochten. (Bei Rabelais kommt z. B. vor: da 
dich gots matr sehend.) Daraus wurde dasticoter = deutsch spreche: 
eine unverständliche Sprache sprechen, sinnlos schwätzen und dann mit Al 
fall des Anlautes das genannte asticoter, dem der Anklang an asticot = Mad 
£jyj Argot eine gewisse Farbigkeit und damit auch Beliebtheit sichert. (Üb( 
die tatsächliche oder angebliche Verwendung von Flüchen und Fluchteile 
zum Aufbau anderer Wörter siehe das Stichwort »Janhagel« in »Wörti 
und ihre Schicksale«.) 

Die angeführten Beispiele dürfen natürlich nicht zu dem Irrtum verführe) 
alles was im Pariser Argot an irgend ein deutsches Wort anklingt, sei deut 
sehen Ursprungs. Man gelangt da leicht zu komischen Fehlschlüssen. Auf ei 
solches wunderliches Mißverständnis wies ich z. B. in meinem Buche »Wort 
und ihre Schicksale« bei der Behandlung der volkstümlichen Bezeichnung] 
für die Syphilis hin. Ein Pariser Argotausdruck für diese Krankheit i 
lazziloff. Prof. Dietrich Behrens deutet ihn kühn aus deutsch »laß s 
laufen«. In Wirklichkeit ist dieses Argotwort eine Scherzbildung aus de 
Namen der Krankenanstalt Saint-Lazare. 

Ins Gras beißen 

Sagten wir von jemandem, der in der Sandwüste umgekommen ist od 
im ewigen Schnee oder bei einem Dachfeuer in einem VWolkenkratzer, 
habe ins Gras beißen müssen, so würde sich das Sprachgefühl gegen d 
unziemende Bild auflehnen. Aber wo eine so krasse Unverträglichkeit nie 
vorliegt, wird uns das Bild des Wortlautes kaum bewußt 1 und ins G 
beißen bedeutet einfach: sterben. Man versteht eben unter diesem Ausdn» 
nicht etwa ein Sterben unter bestimmten Umständen und er unterscheid 
sich von anderen Bezeichnungen des Sterbens nur durch die gefühlsmäl 
gen Nebentöne. In diesem Punkte sind überhaupt die meisten Unter 
zwischen den unzähligen Synonymen für das Sterben zu suchen. Ni 



i) H. Schräder kann sogar berichten, daß ihm einmal mit besonderen rt 
torischen Mitteln gelungen ist, die Redensart „ins Grab beißen“ in eigentli 
ganz unpassendem Zusammenhang anzuwenden. „Ich habe in größerem L 
sammenhange erzählt, wie in der Nähe von Stralsund bei Sturm ein Sc i 
nicht fern vom Lande zerschellte, wie nur Vieren gelang, ein kleines Boot 
gewinnnen. Der Sturm treibt sie dem Ufer zu, noch wenige Klafter und 
sind gerettet Da erfaßt die Brandung das kleine Fahrzeug, zerschmettert, 
und alle Vier müssen doch noch ins Gras bei ßen. Es lag vielleicht i 
an dem bewegten Ton, mit dem gesprochen wurde, daß kein Hörer über ( 
Widersinn die Miere verzog.“ Bei solchen Todesarten sollte man sagen kt 
nen: ins Seegras beißen. 


52 

























































ers taunt, in einer Todesanzeige oder in einem Nachruf zu lesen, Herr 
Soundso sei verblichen (und mag er auch an Rotlauf oder Halsbräune, an 
gelbem Fieber oder der Schwarzen Pest gestorben sein), aber man kann 
nicht gut sagen, im Nachbarhause sei heute jemand verblichen. Sehr viele 
Ausdrücke, die das Sterben bezeichnen, können überhaupt nur in der Ver- 
cangenheitsform verwendet werden und es müßte schon ein Stück von 
Njestroy sein, in dem man eine erschrockene Magd schreien hört: Hilfe, 
Hilfe, der gnädige Herr segnet das Zeitliche. 

Der Redensart „ins Gras beißen" liegt gleichsam ein sportlicher Gefühls¬ 
ton zugrunde. Der Abenteurer, dem man von einem gefährlichen Unter¬ 
fangen abrät, zuckt die Achseln: Ach was, ob man früher oder später ins 
Gras beißt, ist doch einerlei. Wer ins Gras beißt, statt „auf dem Stroh" zu 
sterben, hat dem feindlichen Geschick ins Angesicht geschaut, sich ihm 
gestellt und seinen Platz im Leben nicht kampflos geräumt. Besonders 
eignet sich diese bagatellisierende Art vom Sterben zu reden, wenn es sich 
um eine gleichsam von sich abgeschobene Todesvorstellung handelt (z. B.: 
ich gedenke noch lange nicht ins Gras zu beißen). 

Nicht weniger als sechs Deutungen hat die Redensartforschung bisher 
zum Ausdruck ins Gras beißen beigebracht. Ich möchte — der einfachen 
Unterscheidung halber — diese Deutungen als die rechtssymbolische, die 
religiöse, die gastrische, die kavalleristische, die totengräberische und die 
medizinische bezeichnen. 

1) Auf rechtssymbolische Erscheinungen gründet sich die Deu¬ 
tung, die Pischel (in einer Sitzung der Preußischen Akademie) der Redens¬ 
art zu geben versucht hat. Es habe einen bei Indern, Italern, Germanen und 
Slawen verbreiteten, also indogermanischen Brauch gegeben, in bestimmten 
Fällen Gras in den Mund oder in die Hand zu nehmen. Belege aus der 
indischen Literatur ließen dieses Tun als symbolische Bekundung der Unter¬ 
würfigkeit erscheinen. Fürsten hätten ihren Untertanen die Pflicht auferlegt, 
als äußeres Zeichen vollständiger Unterwerfung buchstäblich ins Gras Zu 
beißen. Daß Besiegte dem Sieger ein Büschel Gras entgegenstreckten (Plinius 
bezeugt diesen Brauch 1 und seine Fortdauer bestätigt noch um die Wende 
des 10. und 11. Jahrhunderts die Chronik des Dietmar von Merseburg 2 ), 


1) Apud antiquos signum victoriae erat herbam porigere victos, hoc est, 
terra et altrice ipsa humo cedere, quem morem nunc durare apud Germanos 
scio. 

2) Es heißt dort, daß die von den Deutschen besiegten Lausitzer „pacem . .. 
cum gramine datisque affirmant dextris“ (den Frieden durch eine Erdscholle 
und das Reichen der rechten Hand bekräftigen). R. Lasch hat in seiner Mono- 


53 










könnte eine symbolische Fortsetzung der ursprünglichen Sitte, ins Gras * 
beißen sein. Aus dem wörtlichen Sinne: ich beiße ins Gras, d. h. ich unter 
werfe mich, was dem Gegner gegenüber im Kampfe bedeutete: ich ergebe 
mich, da ich am Ende meiner Kräfte bin, habe sich die heutige Bedeutun 
entwickelt: unterliegen, fallen, sterben. 

2) Vieles weiß die religiöse Deutung für sich anzuführen. Es wa 
ein mittelalterlicher Rest des Heidentums, wenn Menschen, denen durch 
Mord oder im Kampfe ein rascher Tod drohte, in Ermangelung einer prie 
sterlichen Hostie, Erdbrocken ergriffen und als letzte Wegzehrung zu siel) 
nahmen (Richter-Weise). Im „Meier Helmbrecht", der satirischen Dichtun 
von Wernher dem Gartenaere, wird erzählt, daß die Bauern dem Räuber 
den sie an den Baum hängten, einen „brosemen von der erden" gaben, „zq. 
ner stiuwer für daz hellefiuwer" (Steuer für das Höllenfeuer). Im gleichen 
Jahrhundert, dem 13., erzählt der steiermärkische Ritter Ulrich von Lichten 
stein am Schlüsse seines Versromanes „Frauendienst , daß er, als er im 
Gefängnis seinen Tod nahe glaubte, nach einem Brotkrümchen suchte, 
Ein altfranzösisches Gedicht auf die Schlacht von Roncesvalles berichte 
vom Helden Olivier, daß er zu Tode verwundet liegend drei Grashalm« 
genommen habe, um das heilige Abendmahl zu feiern. Es wird aus dem 
Mittelalter erzählt, daß mitleidige Zeugen einem zufolge Kampfes oder 
mörderischen Anschlags unerwarteterweise und ohne priesterlichen Beistand 
Sterbenden Erde zu essen gaben, denn die Erde sei als Leib des göttlichen 
Urwesens angesehen worden und ihr Genuß im Angesicht des Todes als 
heilsam für das zukünftige Leben. Wenn tatsächlich dieser Brauch und 
dieser Gedankengang der Redensart „ins Gras beißen" zugrunde liegt, so 
ist jedenfalls vom ursprünglichen erhabenen Pathos im heutigen, gradezu 
übermütigen und derben Gebrauch nichts mehr verblieben. 

3) Als k a v a 11 e r i s t i s c h e Deutung möchte ich jene bezeichnen, die 
den Ausdruck „ins Gras beißen" aus einem Vorgang im Leben des Reiters 


graphie über den E i d in der Völkerpsychologie auf eine altertümliche Form 
des Erdeides, das Essen von Erde an Eidesstatt hingewiesen. Dieser Brauch 
ist vor allem in Indonesien weit verbreitet. Es kommt daher auch vor, dal 
bei Grundstreitigkeiten beide Parteien Erde vom strittigen Grund in den Mund 
nehmen. Auch im europäischen Mittelalter gab es Rase neide; ein alt 
schlesischer Eid mit der Erdscholle auf dem Haupte wird noch in einer Ur 
künde aus dem Jahre 1590 erwähnt. Dieser Eidform verwandt ist der söge 
nannte „R a s e n g a n g“, der Schwur unter dem Rasenstreifen, wobei eil 
solcher vom Boden abgelöst, emporgehoben und gestützt wurde. Unter diesen 
Erdbande knieten (z. B. in Skandinavien beim Abschluß von Blutsbrüder 
schaft) die Schwörenden nieder und legten den Eid ab. 


54 






















































erstehen will. Weigand weist darauf hin, daß in der mittelhochdeutschen 
Literatur öfters erzählt wird, daß ein Ritter an (in) das gras erbeizt, d. h. 

Pferde absteigt; eigentlich war erbeizen soviel wie bizen machen, näm¬ 
lich dem Pferd zum Beißen Gelegenheit geben. Ins Gras beißen — wie 
^n man nur darum vom Pferde heruntergeraten wäre, um es futtern zu 
lassen — sei nun mit einer gewissen grimmigen Ironie vom Verwundeten 
azt worden, z. B. da erbeizte manic man von den rossen nider in daz 
n az So sei aus „in daz gras beizen" = absteigen müssen „in das Gras 
beißen" = vom Pferde fallen, sterben geworden. Das Beißen beziehe sich 
also nach dieser Deutung gar nicht auf den sterbenden Kämpen, sondern 
auf sein rastendes Roß. Unmöglich ist so etwas bedeutungsgeschichtlich 
nicht, besonders wenn man bedenkt, wie sehr sich Denken und Fühlen des 
Reiters von der Beobachtung des Verhaltens des Pferdes lenken läßt. (Vgl. 
Wörter und ihre Schicksale" unter dem Stichwort „ins Gebet nehmen" 


m 


die vielen der Sphäre des Reiters entnommenen Redensarten). 


4) Als gastrisch sei jene Deutung bezeichnet, die glaubt, das Ster¬ 
ben mit wirklichem Gras-essen in Verbindung bringen zu müssen. Aus 
Zeiten großer Hungersnot wird berichtet, daß Hungernde durch Essen von 
Gras ihre Qualen zu stillen versuchen. Da auch solch verzweifeltes Tun vor 
dem Hungertod nicht bewahren konnte und das Gras also bereits den 
Anfang vom Ende anzeigte, habe der Ausdruck „ins Gras beißen" die 
Bedeutung des Todeskampfes bekommen. Den gleichen Anspruch, das 
Sterben zu bezeichnen, hätte dann auch etwa das Schuhsohlenkauen. 


5) Gleichsam vom Standpunkt des Totengräbers gesehen ist es, 
wenn man „ins Gras beißen" als eine Sterbensart auffaßt, die mit dem Zu¬ 
grabegehen bereits wörtlich beginnt. Der nicht im Bett Verstorbene oder 
aus dem tödlichen Kampfe nicht in Ehren Fortgetragene und Aufgebahrte, 
also der sterbend auf dem Felde Verbleibende tritt mit dem kühlen Erd¬ 
reich bereits in Berührung, ehe noch die Schaufel des Totengräbers zu amten 
beginnen könnte. Bei Borchardt-Wustmann wird die Frage aufgeworfen, 
ob nicht „das Begräbnis unter dem Rasen", das ja auch sprichwörtlich 
geworden ist, zur Erklärung der Redensart „ins Gras beißen" ausreiche. 
Auch die Redensart „über etwas Gras wachsen lassen" könnte bedeutungs¬ 
geschichtlich herangezogen werden: das Verbrechen oder sonst zu Ver¬ 
gessende wird einem verscharrten Ding verglichen, dessen Spuren erst 
ausgetilgt sind, wenn sich eine Grasnarbe darüber gebildet hat. Für die 
Neigung der redensartbildenden Phantasie zur Verknüpfung der Vorstellung 
vom Sterbenden mit jener von Erde und Gras scheinen übrigens auch fran¬ 
zösische Redensarten zu sprechen, die die Bedeutung „begraben sein" haben: 


55 






1 


manger la salade, Salat essen, manger l’herbe (oder des pissenlits 1 ) par l a 
racine, das Gras (den Löwenzahn) von der Wurzel aus essen. Man ver- 
gleiche damit den ungarischen Soldatenausdruck aus dem Weltkrieg: alulröl 
szagolni az ibolyät (am Veilchen von unten riechen) = gefallen sein. 2 U 
beachten ist auch aus dem englischen Ringkämpferslang: to go to grass = 
zu Gras gehen, d. h. glatt zu Boden fallen, welcher Ausdruck im allgemeinen 
Slang zur Bedeutung von „Sterben" gelangt. 

6) Als medizinische Deutung bezeichne ich schließlich jene, die 
von gelegentlichen Begleiterscheinungen des Todeskampfes ausgeht. Das 
krampfhafte Öffnen und Schließen des Mundes macht den Eindruck, als 
schnappte der Sterbende nach etwas, und es ist auch beobachtet worden, daß 
tödlich Verwundete, die sich im Schmerz auf der Erde winden, Sand, Erd¬ 
schollen oder Gräser mit dem Mund erfassen, um die heftigen Schmerzen 
zu „verbeißen". Die sprachliche Erfassung des Vorganges wird in der klassi- 
sehen Literatur des Altertums durch mehrere Stellen belegt. In der Ilias 
(2, 416—18) ruft Agamemnon den Zeus an, er möchte die Sonne nicht 
sinken lassen, „eh’ ich vor Hektors Brust ringsher zerrissen den Panzer mit 
eindringendem Erz, und viel um ihn die Genossen, vorwärtsliegend inj 
Staube, geknirscht mit den Zähnen das Erdreich" (odax lazoiato gaian). 
Und später (ll,747f) spricht Hektor: „Und zween Kriegsmänner um 
jeden (Wagen) knirschten den Staub mit den Zähnen (dyo... photes odax 
helon oudas) von meiner Lanze gebändigt." Ähnliches bieten andere Stel¬ 
len der Ilias (19, 61; 22, 17; 24, 738) 2 . Auch bei den römischen Dich¬ 
tern Virgil und Ovid beißen Sterbende in die Erde (Aeneis 10, 589: ter- 
ram hostilem moriens petit ore cruente; 11, 118: procubuit moriens et hu¬ 
mum semel momordit; Metamorphosen 9, 60: tum denique tellus pressa 
genu nostro est, et arenas ore momordi). Die deutsche Redensart „ins Gras 
beißen" wäre demnach ein Abkömmling antiker Ausdrücke oder eine Neu¬ 
schöpfung auf Grundlage der gleichen Beobachtung des Todeskampfes 
Diese „medizinische" Deutung wird von H. Schräder, Richter-Weise unc 
Friedrich Seiler vertreten. 

Zweifellos spricht das Meiste für diese letzte Deutung unserer Redensart 


1) Pissenlit = Löwenzahn ist zu verstehen als der erstarrte Imperativ 
piss-en-lit (Piß-ins-Bett) = Bettnässer; die aufgekochten Blätter des Taraxa- 
cum officinale gelten als harntreibend. 

2) Man beachte auch folgende Ilias-Stellen; 13, 508 ho d’en koniesi pesoi 
hele gaian agosto (mit den Armen die Erde erfassen); 3, 55 hot* en konies 
migeies (sich im Staube mischen); 13, 618 idnothe de peson (sich im Staubt 
krümmen). 


56 


























































pp 


.. Deutung aus dem krampfhaften Verhalten des Schwerverwundeten, 
j Jas sich wohl auch die Stellen bei Homer, Virgil und Ovid gründen. 

it erklären sich zugleich auch die französischen und englischen Redens- 
Jcn mor dre la poussiere (oder le poudre) und to bite the dust, Staub bei- 
die ebenfalls das Sterben umschreiben. Übrigens gilt das auch für die 
-iJeren angeführten Deutungen, daß sie, wenn sie überhaupt richtig sind, 
gleichzeitig auc ^ ^ ür P ara ^ e ^ e französische und englische Redensart zu- 

f^| en> _mit Ausnahme jener Erklärung, ins Gras beißen sei soviel wie: 

vom Pferde steigen, um es „beißen" zu lassen, die für die Etymologie der 
französischen und der englischen Redensart höchstens dann zum entfernten 
•\usgang genommen werden könnte, wenn man etwa nachwiese, mordre la 
poussiere und to bite the dust seien einfach Übersetzungen des deutschen 
Ausdrucks „ins Gras beißen", und zwar aus einer Zeit, in der diese Wen¬ 
dung bereits zur Bedeutung des Sterbens gelangt war. Übrigens kann ganz 
gut angenommen werden, daß das aus der Anschauung des krampfhaften 
Todeskampfes gewonnene Bild auch durch den Gedanken an die kurzerhand 
erfolgende Begegnung des Gefallenen mit dem Grabesrasen eine Verstär¬ 
kung erfahren hat, daß also die beiden Deutungen, die wir als die medizini¬ 
sche und als die totengräberische bezeichneten, einander nicht ausschließen 


müssen. 


ßedeutungsgeschichtlich viel weniger umstritten sind andere 


Umschreibungen des Sterbens 

in der deutschen Sprache. So gibt es z. B. eine große Gruppe solcher Euphe¬ 
mismen, die zweifellos aus der kirchlich-theologischen Anschauungsweise her¬ 
vorgehen. F. Wilhelm hat hervorgehoben, daß man da unterscheiden muß 
einerseits zwischen der philosophisch-theologischen Bibel- und Welterklärung, 
die bestrebt ist, die Richtigkeit der bestehenden Dogmen zu erweisen, und 
ihren Höhenpunkt in der katholischen Scholastik erreichte, und andererseits 
zwischen der durch die protestantische Kirche vertretenen philologischen Bibel¬ 
auslegung, die dazu führte, daß biblische Wendungen über den Tod sich 
unmittelbar in die deutsche Sprache Bahn gebrochen haben. Nach der Auf¬ 
fassung der Scholastik ist der Tod eine Trennung der geistigen Substanz, der 
Seele, von der körperlichen (lip und sele scheident sich, heißt es mittelhoch¬ 
deutsch). Wir sprechen daher von verscheiden, hinscheiden, man 
fällt plötzlich entseelt zusammen, der Selbstmörder entleibt sich. Das 
Verlassen des Körpers durch die Seele wird ganz konkret vorgestellt. Geh 
Hin un pfludere (flattere, fliege fort), sagt man in Württemberg zum 
Toten. Die Seelen der Toten verursachen geradezu Wind, wenn sie sich aus 
dem Körper entfernen. Besonders stark ist dieser Wind beim Selbstmörder. (Es 
muß sich einer im Wald erhängt haben, sagt man bei plötzlichem Winde.) 


57 






Zu den Euphemismen, die auf biblischen Stellen fußen, gehört vor allem 
z u S t a u b oder zu Erde werden (i Mos 3) 17—21). Nach 1 Mos 25, 

und 49, 29 heißt es:zuseimemVolkeversammeltwerden. Dara 3 

klingt auch an: in das Reich seiner Väter oder zu seinen Vä 
tern versammelt werden (Richter 2, 10: omnisque illa generati 
congregata est ad patres suos). Nach 1 Könige 2, 2: den Weg all e 
Fleisches gehen. Nach Hiob 1 6, 22: den Weg gehen, den mai 
nicht wiederkommt. Nach Jeremias 51, 34: den ewigen Schl a 
schlafen. Nach Matthäus 2 6, 18 heißt es sprichwörtlich vom Sterbend^ 
seineStundeseinahe, nach demselben Evangelium vom eben Verstor 
benen: er sei eingegangen zu seines Herren Freude. Zu de 
Wendungen, die zufolge der Vervolkstümlichung der Bibel durch Luther u n 
die Reformation in die deutsche Sprache gelangten, gehören auch jene, die di 
Sterben als ein Eingehen in den Himmel, als ein Eingehen i 
ein anderes Leben oder in ein besseres Dasein oder in di 
Ewigkeit darstellen. 

Im Zusammenhang mit den letzten Ausdrücken sind auch jene zu erwähnen 
die das Sterben als eine Heimkehr darstellen, als ein Zurück in die wahr 
Heimat, indes das irdische Leben nur als ein vorübergehender Aufenthalt i 
der Fremde gelte. (Gustav Landauer sprach einmal von den Lebenden a| 
den „Beurlaubten des Todes 44 ). Bemerkenswerte Belege für diese Auffassuq 
des Todes als Heimkehr führt K. Bergmann aus den deutschen Mundarten an 
Im Schweizerischen wird verhuse (eigentlich: seine Behausung verändert 
und h e i m g a (heimgehen) für sterben verwendet. In Dresden bezeichnet sic 
manche Leichenfrau an ihrem Wohnungsschild als „Heimbürgin , d. h. ein 
Frau, die heimbürgt, nämlich den Menschen in seine Heimat, d. h. ihn fi 
das Grab bereitmacht. Aus dem Obersächsischen: ’r werd h e i’r ah am 
g i i e h (er wird dieses Jahr heimgehen). In einer Predigt des Bruders Ber 
hold von Regensburg heißt es: Wir sin gar eilende (= fremd) hier, unde d 
solten wir wol smaehen diz leben unde solten heim gen lande ziehen, da w 
iemer mer mit fremde waren. 

Zu den von religiösen Anschauungen ausgehenden Umschreibungen des Ste 
bens gehören auch jene, die den Tod als Erlösung vom irdischen Dase 
und seinen Bürden und Sorgen darstellen. Der Tote hat seine Erden 
Wanderung vollendet, Gott hat ihn aus diesem Elend ab 
berufen (wobei zu beachten ist, daß im Worte Elend offenbar auch noi 
die alte Bedeutung „Fremde“ mitenthalten ist, vgl. das Stichwort „Elend“ 
Das Sterben ist ein Feierabend (eine schweizerische Umschreibung fi 
sterben: Firabend mache), ein g u t e r a b e n d (i ha g’gloibt, es si guete Abei 
mit-em; schweizerisch). Dem is e guete Tag g’s G h ä n, heißt es vc 
eben Verstorbenen im Elsässischen, hei is an de Warheit, im W< 
deckischen. 

Neben der Bibel und der frühen theologischen Literatur gehört auch £ 


58 
















































t i k c zu ^ en w ^ c ^ t *8 stcn B e ^ ruc ktern unserer Bilder-Sprache» So hat z. B. 
j ° antike Vorstellung des Todes als eines Genius, der die Fackel des Lebens 
^loscht (von Lessing in seiner Abhandlung „Wie die Alten den Tod gebildet“ 
Gehend erörtert), Niederschlag in der deutschen Sprache gefunden: sein 
Lebenslicht erlischt, sein Lebenslicht ausblasen. Ebenso 
eiklären sich aus der Beschäftigung mit Überlieferungen der Antike: von 
^en Pfeilen des Todes erreicht werden, ins Reich der 

Schatten abgehen. 

Zahlreich sind die Synonyme für sterben, die den Vorgang als Aufhören 
ier körperlichen Tätigkeit kennzeichnen, wie z. B.: er hat die Augen ge¬ 
schlossen, er ist entschlafen, er ist verblichen. Das Nichtmehr¬ 
atmen kommt in vielen Euphemismen vor; der Tote hat ausgehaucht 
(exspiravit animam), er schnauft nimmer (elsässisch: er het usge- 
schnuft, er het’s Schnufe vergässe, ufgän). Immer wieder kehrt in volkstüm¬ 
lichen Wendungen der Gedanke wieder, daß der Tote nicht mehr nötig hat 
tu essen. Da hat scho wider aens d’ Leffel weggeworffe, sagt man 
in München, wenn man die Sterbeglocke läuten hört. Elsässisch: er ißt ke 
Sester Salz mehr und schweizerisch: er ißt kei Pfund Melw 
mehr bedeuten: der hat nicht mehr lang zu leben. In vielen Variationen 
kommt vor: er ißt kein Brot mehr oder er bedarf hinfort 
keines Brotes. (Man vgl. italienisch: finire di mangiare pane. Bezeich¬ 
nend ist, daß im Chinesischen — entsprechend dem Umstande, daß Reis in 
Ost- und Südasien die Hauptnahrung ist — „keinen Reis mehr haben“ der 
bildliche Ausdruck für „dem Tode nahe sein“ ist.) 

Die Redensart in den letzten Zügen liegen bezieht sich ur¬ 
sprünglich nicht auf die letzten Atemzüge, wie man anzunehmen geneigt ist. 
Das Wort „letzt“ ist hier überhaupt nach Richter-Weise ein Zusatz, der erst 
in neuerer Zeit in die Redensart aufgenommen worden ist; in älteren Quellen 
hat schon „ziehen“ allein die Bedeutung: im Sterben liegen. In Vorarlberg 
bedeutet „der Kranke zieht noch heute“: er ist im Sterben begriffen; man 
läutet das Ziehglöckle, damit man für den Sterbenden bete. In Wien heißt es 
Ziegenglöckl, und wer in diesem Worte nicht erkennt, daß für einen „Ziehen¬ 
den“ geläutet wird, mag sich wundern, was das brave Horntier — das übri¬ 
gens in Wien keine Ziege, sondern eine Gas (Geiß) ist — mit der Glocke zu 
tun hat. Das Ziehen (woraus es zu den „letzten Zügen“ kam) bedeutet eigent¬ 
lich „Hinziehen“ und hangt zusammen mit der Vorstellung, daß der Tod 
eine Reise, eine Heimreise sei. (Bergmann weist darauf hin, daß man in man¬ 
chen Gegenden dem Sterbenden noch heute alle diejenigen Dinge mit ins Grab 
gibt, die er zu einer langen Reise braucht, dazu vor allem Schuhe, die „To¬ 
tenschuhe“; man vgl. weiter unten französisch graissir ses bottes, wörtlich 
seine Stiefel schmieren = dem Tode nahe sein.) 

Für „todkrank sein, bald sterben müssen“ hat K. Bergmann im Martin- 
üenhartschen Wörterbuch u. a. folgende elsässische Ausdrücke festgestellt: 


59 





er get ge Pflüeg hiiete (weil in der Nähe des Friedhofes die Bauern 
oft über Mittag oder über Nacht ihre Pflüge hinstellen), der rißt schujj 
Fäde us dr Dekked (offenbar Anspielung auf den Todeskampf, vg| 
oben die Deutung 6 der Redensart „ins Gras beißen“), er wür boj 
d Bein (oder: d Nos) in d Höche strecke, no Tannehol* 
rieche, schmecke (vgl. weiter unten französisch: sentir le sapin), d { 
Songallemer Marsch blosen (Anspielung auf den St. Gallu s , 
Friedhof bei Straßburg, wo im 17. Jahrhundert die Leichensezierungen vorg e , 
nommen wurden). 

Angesichts der ungeheuren Fülle an deutschen Synonymen für das Sterbe^ 
kann nicht daran gedacht sein, hier alle anzuführen. Wir wollen nur noch 
einige aus der großen Zahl der noch nicht erwähnten herausgreifen: 

Zur großen Armee abgehen dürfte aus irgend einer literari- 
sehen Quelle herstammen, die aber bisher nicht sichergestellt werden konnte; 
in Dantes Inferno gibt es eine Stelle, wo hinter der Fahne des Todes gewal- 
tige Menschenzüge einherlaufen, die eine große Armee bilden; auf einen 
Spruch in einem „Totentanz“ aus dem Jahre 1450 in der Lübecker Marien- 
kirche macht Zoozmann aufmerksam: „Herr Wucherer... legt ab den Knap- 
sack von eurer Seiten, jetzt heißts im alten Heer mitschreiten“; 

er ist in die besseren Jagdgründe h i n ü b e r g e w e c Il¬ 
se lt (vielleicht in Anlehnung an angelesene Indianerromantik: ewige Jagd¬ 
gründe); 

er ißt mit Kulman (mecklenburgisch), d. h. er ist in der kühlen 
Erde, in Gesellschaft des kalten Todes; 

er hört den Kuckuck nimme brüele (u. a. bei Jeremias Gott¬ 
helf); 

er hat einen hölzernen Rock angezogen oder ein grünes 
Kleid (daher der derbe Spruch, die beste Schwiegermutter sei, die ein grü¬ 
nes Kleid anhabe); 

mit seinem Leben bezahlen beruht wohl auf mittelalterlichen 
Rechtsvorstellungen; 

um die Ecke gehen und abkratzen sind eigentlich bloß Um¬ 
schreibungen für: sich entfernen, verschwinden; 

in das Geschlecht der Mutter fallen ist von Uhland als eine 
sprachliche Widerspiegelung von Vorstellungen der nordischen Mythologie 
aufgefaßt worden; 

in die Nüsse gehen (fränkisch-hennebergisch) hat die Bedeutung: 
entzweigehen, wie eine Nußschale (man vgl. damit Österreichisch: „ich tauge 
zu nichts mehr, ich gehöre schon in die Würst“); 

erkommt auf des Mesmers Garten ist als schwäbisch, a u 
des Mesmers Alm als oberbayrisch gebucht worden; 

60 


» 


















































ppp - 


m uß in die Pappelalle c, sagt man im Sächsischen von einem 
^kranken, und Müller-Fraureuth vermutet, daß dabei an eine mit Pappeln 

bepflanzte pHedhofstraße gedacht wird; 

der Sand ist verronnen entspricht der Auffassung der Sanduhr 
eines Attributes des Todes, der pünktlich seine Termine einhält; es wird 
juch vom Sterbenden gesagt, seine Uhr (oder: seine Zeit) sei abge- 

1 a u f ® ti» 

per Reichtum der deutschen Sprache an Synonymen für das Sterben hat 
. ^holt Witzbolde dazu verlockt, die verschiedenen sprachlichen Todes¬ 
arten bestimmten Berufen zuzuordnen. Es heißt dann etwa, daß dem Nacht- 
3 achter die letzte Stunde geschlagen hat, daß der Fleischer den Weg alles 
Fleisches geht; der Fußballspieler beißt ins Gras, die Prostituierte geht um 
ciie Ecke, der Maurer kratzt ab, der Lokomotivführer liegt in den letzten 
Zügen, der Gelehrte gibt den Geist auf, der Priester segnet das Zeitliche, der 
Atheist muß daran glauben usw. 

Auch die klassischen Sprachen des Altertums sind überaus reich an Aus¬ 
drücken für das Sterben. Was das Griechische anbelangt, beschränken 
wir uns darauf, auf die bei Homer vorkommenden Euphemismen hinzuwei¬ 
sen (Zakelj hat sie 1884 in einer Laibacher Programmschrift behandelt). Viele 
dieser Umschreibungen drücken das Erlöschen des Augenlichts aus, z. B.: die 
Erfüllung des Todes umhüllte ihm Augen und Nasenlöcher (Ilias 16, 502 f), 
über die Augen ergoß sich Nebel (16, 344), Dunkel umhüllt seine Augen 
(4, 461), finstere Nacht umhüllte ihm ganz die Augen (13, 580), ent¬ 

setzliches Dunkel umfaßte ihn (5, 47), dunkles Gewölk umhüllt ihn (20, 417), 
er verläßt das Sonnenlicht (18, 9). Der Auffassung von Thanatos und Hypnos 
als Zwillingsbrüder (II. 16, 682) entspricht der Euphemismus: zum ehernen 
Schlaf einschlafen (11, 241). Der Tod ist eine Reise in die Unterwelt, in den 
Hades, dabei heißt das Sterben: zum Hades gehen (Od. n, 425), zum Hades 
kommen (II. 21, 48), in das Haus des Hades hineingelangen (20,336), in das 
Haus des Hades hineinschreiten (24, 246). Es heißt vom Sterbenden auch, er 
gehe in die Erde ein (11 6, 411), er gehe unter die Erde (18, 333), er gelangt 
unter die schreckliche Erde (Od. 20, 81). Den Sterbenden verläßt die Lebens¬ 
kraft (Od. 12, 414), er haucht sein Herz aus (ij, 252), die Seele hat ihn ver¬ 
lassen (14, 134), die Seele überschreitet den Zaun der Zähne (II. 9. 409). Der 
Tote reist irgendwohin, woher er nicht zurückkann, daher ist sterben: die 
Rückkehr verlieren (Od. 23, 67). Besonders sinnfällig sind die Umschreibun¬ 
gen für das Sterben im Kampfe. Der in der Schlacht tödlich Getroffene er¬ 
faßt mit den Armen die Erde (II. 13, 508), er krümmt sich im Staub (13. 618), 
er mischt sich mit dem Staube (3, 55) Auf die homerischen Ausdrücke, die 
den Sterbenden die Erde mit den Zähnen beißen lassen (II. 2, 418; 11, 749; 
19 61; 22 17; 24 738) haben wir bereits oben bei der Behandlung der deut¬ 
schen Redensart „ins Gras beißen“ hingewiesen. 

Anschließend an die griechischen Euphemismen sei ein kurzer Ausflug ins 


6 1 






20. Jahrhundert gestattet. Während der Sowjetherrschaft in Ungarn (1919) 
war folgende Umschreibung für „töten“ in Umlauf: gajdeszbe küldeni (j n 
G a i d e s schicken). Uber die Etymologie dieser Redensart ist nach Zusam. 
menbruch der roten Herrschaft viel geschrieben und herumgeraten worden 
Man versuchte besonders, in die Redensart eine jüdische (hebräische) Wurzel 
hineinzudeuten. Es ist anzunehmen, daß die Verbreitung der Redensart durch 
ungarische Soldaten erfolgt ist, die aus russischer Kriegsgefangenschaft heim, 
gekehrt waren, woher sie ja auch kommunistische Ideen mitbrachten. Man 
darf daher annehmen, daß Gaides oder Gades nichts anderes sei, als die ru$. 
sische Aussprache von griechisch Hades, Unterwelt. (Da das Russische kein 
„h“ hat, ersetzt es in Fremdwörtern diesen Laut durch ein „g“, daher gaubiza 
geraldik, garemj, gauptwachta usw. und selbst Eigennamen wie Gamlet* 
Geinrich Geine.) So hat also die griechische Mythologie sich noch nach 
Jahrtausenden als redensartschöpferisch erwiesen. 

Mit den lateinischen Wörtern und Redensarten, die das Sterben be¬ 
zeichnen, beschäftigt sich eine Marburger Dissertation (1909) von Barthel 
Winand: Vocum Latinarum, quae ad mortem spectant, historia. Viele von 
ihnen stellen den Tod als einen Abgang dar. Dieser Art sind z. B.; 
migrare ex vita, abire e vita. Exire ad libertatem (zur Freiheit abgehen) wird 
im Sinne der stoischen Philosophie vornehmlich auf den Freitod angewendet 
Wiederholt wird übrigens von den römischen Philosophen der Tod mit dem 
Abgang des Schauspielers verglichen. Es heißt auch: an den gemeinsamen 
Ort abgehen (abire in communem locum), zu den Mehreren (abire ad plures 
bei Petronius, penetrare ad plures bei Plautus; vgl. dann weiter unten eng¬ 
lisch to go over to the majority). Der Sinn des Ausdrucks antecedere ist: sei¬ 
nen Mitmenschen vorangehen in den auch für sie unvermeidlichen Tod. Viele 
Wendungen beziehen sich auf das Aushauchen der Seele, z. B. wird 
animam verknüpft mit den Zeitwörtern efflare, omittere, emittere, relin- 
quere, exhalare, ponere, deponere. Hierher gehört auch exspirare, spiritum 
reddere, emittere, deponere und viele ähnliche Synonyma. Naturae concederc 
oder reddere oder satisfacere erinnert an das deutsche Bild: der Natur seinen 
Tribut entrichten. Ausdrücke für den Zeitpunkt des Todes sind 
z. B.: atra dies, miserabilis hora, fatalis hora. 

Nun wollen wir uns zwei lebenden Sprachen zuwenden, dem Französi¬ 
schen und Englischen, da aber die üblichen Sterbenssynonymen der allgemei¬ 
nen Sprache zum größten Teil Wiederholungen solcher Vorstellungen zeigen 
würden, denen wir bei der Behandlung der Euphemismen im Deutschen und 
in den beiden klassischen Sprachen schon begegnet sind, wollen wir uns im 
Französischen und im Englischen in der Hauptsache auf die „farbigen Wör¬ 
ter“ der Volkssprache, besonders auf Argot und Slang, beschränken. 

Die Bedeutung sterben haben im Französischen u. a. folgende Wör¬ 
ter und Redensarten: claquer, wörtlich klatschen, knallen (auch: se laisser 
claquer), deteindre, wörtlich verbleichen, sich entfärben, se vider, sich ent- 


62 






























W— 


en (übrigens auch eine Bezeichnung für den Geschlechtsverkehr im Pari- 
^Argot), se l a ^ sser g^ sser » abrutschen, faire sa crevaison, zerplatzen, tourner 
sef tortiller de l’oeil, die Augen verdrehen, fermer son vasistas, sein Guck- 
® C schließen, souffler sa veilleuse, seine Nachtlampe ausblasen (bedeutet 
; fc f ran zösischen Volkssprache sinniger Weise auch: die Stimme des Ge- 
1D issens ersticken), laisser ses bottes quelque part, seine Stiefel irgendwo 
i ssen cracher son äme, seine Seele ausspucken, cracher ses embouchures, 
jas Mundstück (seines Blasinstruments) ausspucken, cracher oder eternuer 
le son, in die Kleie spucken oder niesen (besonders für guillotiniert 
erden, vgl. das Stichwort „Guillotine“ in „Wörter und ihre Schicksale“), 
’avoir plus mal aux dents, keine Zahnschmerzen mehr haben, eteindre son gaz, 
sein Gas erlöschen lassen, laisser fuir son tonneau, sein Faß ausrinnen las¬ 
sen deboulonner sa colonne, seine Säule Umstürzen, lächer la perche, la rampe, 
die Stange, das Geländer loslassen, perdre son bäton, seinen Spazierstock 
verlieren, £pointer son foret, die Spitze seines Bohrers abbrechen. 


£s heißt vom Sterbenden, er verschlucke seine Zunge (avaler sa langue, 
im Argot auch: sa gaffe, sa chiffe) oder seine Gabel, seinen Löffel (sa four- 
chette, son cuiller). Auf das Nichtessen weisen auch hin die Redens¬ 
arten: perdre le goüt au pain, den Geschmack am Brot verlieren, remercier 
son boulanger, seinen Bäcker verabschieden, feler son saladier, seine Salat¬ 
schüssel zerbrechen. Hier ist auch anzuführen: poser sa chique, sein Priem- 
chen (Kautabak) weglegen. (Farmer und Henley verwechseln chique = 
priemchen mit chic und erklären daher die Redensart poser sa chique in 
ihrem großen Slang-Wörterbuch fälschlicherweise: „seine Erziehung, seine 
Eleganz, seine Schneid, seinen Geist, also kurz all das, was für einen Men¬ 
schen bezeichnend ist, ablegen.“) 


Andere Redensarten über das Sterben spielen, wie die schon erwähnten 
vom Löffelverschlucken usw. auf das Uberflüssigwerden gewis¬ 
ser Gegenstände an: fermer son parapluie, den Regenschirm zumachen, 
casser son crachoir, son fouet, sa pipe, sa canne, seinen Spucknapf, seine 
Peitsche, seine Pfeife, seinen Spazierstock zerschlagen, remiser son fiacre, 
seinen Wagen in den Schuppen stellen, demonter son choubersky, seinen 
„Choubersky“ abtragen (so hieß ein beweglicher Stubenofen nach seinem 
Erfinder). 

Viele Ausdrücke für den Tod stellen ihn als einen Abgang, als eine 
Abreise dar. Wir erwähnen: s’evanouir, durchgehen, durchbrennen, deme- 
nager, übersiedeln, passer au bleu, ins Blaue gehen, sortir les pieds devant, 
mit den Füßen nach vorne die Stube verlassen, s’en aller dans le pays des 
marmottes, in das Land der Murmeltiere abgehen, partir pour le royaume 
des taupes, abreisen in das Königreich der Maulwürfe. Wie diese letzte Redens¬ 
art spielen auf das Grab auch an: rendre le cimettere bossu, dem Friedhof 
einen Buckel (nämlich: einen neuen Grabeshügel) machen und das schon 
früher (bei der Behandlung von „ins Gras beißen“) erwähnte aller manger 


*3 







les pissenlits par la racine, sich anschicken, den Löwenzahn von der W 
zu essen. 


ür* t 


An den personifizierten Tod wird gedacht, wenn für sterben gesagt , 
epouser ] e camard, den Stumpfnasigen heiraten. Bei der Redensart dich' 
son faux-col, seinen Kragen aufreißen = sterben erinnert man sich an 
Sterbeszenen aus der Frühzeit des stummen Films, als er noch darauf a '' 
wiesen war, das Geschehen durch übertriebene Gebärden zu verdeutlich 85 
der Sterbende riß, wenn er angekleidet war, seinen Hemdkragen auf ^6^ 
wie die Umstehenden den eingetretenen Tod dem Zuschauer durch Abnah^ 
der Hüte erkenntlich machten). Ins Moralische zielen die Metaphern: rendre ** 
comptes, Rechnung ablegen, devider ä Pestorgue, seine Falschheit abhasp e ^ 

Dem Tode nahe sein, im Sterben liegen ist der Sinn folgender * 
densarten: chasser les mouches, die Fliegen jagen, n’avoir plus d’huile da', 
la lampe, kein öl mehr in der Lampe haben, avoir son pain cuit, ses caroti!! 
cuites, sein Brot bereits gebacken, seine Mohrrüben bereits gekocht half 
graissir ses bottes, seine Stiefel schmieren (nämlich für die bevorstehend! 
Reise), faire sa malle, ses petits paquets, sein Gepäck fertigmachen, sentir l 
sapin, das Tannenholz riechen (nämlich den Sarg, daher s’habiller de sapin 
sich in Tannenholz kleiden = sterben), mettre la table pour les asticots, Tisch 
decken für die Würmer, etre en pegrenne (p£grenne ist ein Wort der V er 
brechersprache mit der Bedeutung: Hunger, Not, Elend — ob nicht zu jüdisch 
und rotwelsch peigern = krepieren, sterben?). 

Einige dem militärischen Leben entnommene und daher'hauptsäch¬ 
lich von Soldaten verwendete Metaphern für das Sterben: passer Farme i 
gauche, die Waffen strecken, passer au dixi&me r^giment, zum io. Regiment 
abgehen, rendre sa canne au ministre, seinen Stock dem Minister zurückgeben 
avaler sa cartouche, ses baguettes, sa canne, seine Patronentasche, seine Trom- 
melschlägel, seinen Tambourstock verschlucken, d£crocher ses cymbales, seine 
Schell becken abhängen, recevoir sa dScompte, den rückständigen Sold (die 
„Endabfertigung“) bekommen (decompte bedeutet in der Soldatensprache 
aber auch: tödliche Verwundung), descendre la garde, von der Wache abzie- 
hen, defiler la parade, seine Parade abmarschieren. Im Argot der Seeleute 
ist für Sterben gebräuchlich: peter son lof, Luv-Seite furzen; in dem der 
Fischer: avaler son goujon, seinen Gründling verschlucken (aber faire 
avaler le goujon a quelqu’un, jemanden einen Gründling schlucken lassen 
bedeutet: jemandem etwas aufbinden). Im Argot der Ärzte ist für Sterben 
gebräuchlich: rentrer ses pouces, seine Daumen einziehen; in dem der Kauf- 
leute: ingurgiter son bilan, seine Bilanz verschlingen; in dem der Juri¬ 
sten: deposer son mandat, sein Mandat niederlegen, decrocher ses panon- 
ceaux, sein Schild abhängen (panonceau ist besonders das Schild der Notare); 
im Argot der Schauspieler: saluer le public, das Publikum begrüßen, 
an den Schauspieler denkend, der, bevor er nach Schluß des Stückes endgültig 
abtritt, noch eine letzte Verbeugung macht. 


64 






























Auch dem englischen Slang stehen zahlreiche Ausdrücke zur Bezeich¬ 
nung des Sterbens zur Verfügung. Die Umschreibung t o go a 1 o f t, abgehen 
kom mt auch bei Shakespeare und Dickens vor. (Aus einem Sea-Song aus dem 
i.ihre 179° auf den Tod eines Matrosen: His form was of the manliest 
beauty, his heart was kind and soft; faithful below, Tom did his duty, 
an d now he’s gone aloft). Weitere Slangausdrücke für Sterben sind: to hop 
off, weghüpfen, to hop the twig, über den Zweig hüpfen (bedeutet auch: 
Jurchbrennen, „abhauen“), to mizzle, durchbrennen, to cut one’s stick, sich 
einen Stecken schneiden (nämlich: um einen Weg anzutreten). To go under 
'untergehen) oder to go up (aufsteigen) sind amerikanische Ausdrücke für 
das Sterben. To go over to (oder join) the (great) majority oder kurz join 
the majority, zur großen Mehrheit abgehen, geht auf Ausdrücke des klassischen 
Altertums zurück, auf griechisch es pleonon hikesthai (Krinagoras) und auf 
lateinisch penetrare ad plures (Plautus), bezw. auf die in römischen militäri¬ 
schen Redensarten häufige Wendung abit ad multos; zu Grunde liegt jeden¬ 
falls die Vorstellung, daß die Zahl der jeweiligen Lebenden viel geringer ist, 
als die der seit vielen Generationen Verstorbenen. 

Im Weltkrieg ist ein älterer englischer Slangausdruck für sterben, in der 
Schlacht fallen neu belebt worden: going west, westwärts gehen. (Bei 
H. G. Wells, Joan and Peter, 1917, ist zu lesen: Dear old boy! he went west 
last May. „Went west“ was the common phrase. They never said „killed“) 
Über diesen Ausdruck ist während des Krieges in englischen Zeitungen viel 
geschrieben worden. J. R. Harding behauptete, der Ausdruck sei bei irischen 
Regimentern aufgekommen. Manche denken an den Untergang der Sonne im 
Westen. Aus dem Slang von Heer und Flotte ist noch zu verzeichnen: to 
lose the number of one’s mess, seine Messenummer verlieren. Aus dem See¬ 
mannsslang: to slipe one’s cable, sein Tau entschlüpfen lassen, to cut the 
painter, die Fangleine durchschneiden (hat auch die Bedeutung: sich davon¬ 
machen, Fersengeld geben), to go to Davy Jones’ locker, in Davy Jones’ 
Truhe gehen (besonders für den Tod durch Ertrinken, da Davy Jones’ Truhe 
= die See). 

Da der Tote nicht mehr essen muß, ist to Iay down one’s knife and fork, 
Messer und Gabel niederlegen oder to stick one’s spoon in the wall, seinen 
Löffel an die Wand hängen == sterben. Auf den S a r g spielen an die Redens¬ 
arten: to put on a wooden surtout, einen hölzernen Uberrock anlegen und to 
peg out, mit Nägeln abstecken. Auf das Grab: to take an earth bath, ein 
Lrdbad nehmen, to have a ground-sweat, Grundschweiß haben, to be put to 
bed with a (pickaxe and) shovel, mit (Krampen und) Schaufel ins Bett 
celegt werden. (Im Slang der englischen Collegeschüler kommt der Aus¬ 
druck bedtime, Bettzeit für Todesstunde vor). 

Die Bedeutung sterben haben ferner die Redensarten: to go (oder drop) 
to croak, krächzen, to kick the bücket, dem Balken einen Fußtritt 
off the hooks, aus den Angeln geraten, to bithe the dust, den Staub beißen, 


5 8torfer. Sprache 


65 











geben. Als bücket (wahrscheinlich von buck = Bock) bezeichnet man i n 
einzelnen Gegenden (z. B. in Norfolk) besonders den Balken, auf den 
geschlachtete Schweine an den Hinterbeinen aufgehängt werden. Man nimmt 
daher an, daß die Sterbensmetapher to kick the bücket an die Todes¬ 
zuckungen des Schlachtviehs denkt. Nach anderer Deutung bezieht sich die 
Redensart auf einen Balken, auf dem ein Selbstmordkandidat steht und den 
er, nachdem er sich die Schlinge um den Hals gelegt, mit dem Fuß weg. 
stößt. Die englische Redensart kick the bücket ist übrigens auch in die 
Sprache der westindischen Neger gelangt und zu kickeraboo geworden* 
als Eigenschaftswort bedeutet kickeraboo: tot, als Zeitwort: sterben. 

Zum Abschluß wollen wir an einem Beispiel, an der Sprache der Einge¬ 
borenen von Samoa zeigen, daß auch primitive Völker die Neigung 
haben, den Vorgang des Sterbens durch Umschreibungen auszudrücken. Aus 
den Aufzeichnungen, die Pastor Heider auf Samoa gemacht hat, als diese Süd¬ 
seeinsel noch im deutschen Besitz war, führen wir einige Beispiele an: malin, 
wörtlich: er ist gegangen, to le manava, die Seele aushauchen, vala anina, 
abberufen sein, si itia, emporgehoben und weggenommen sein. In der Klasse 
der „Sprecher“, d. h. der Ratgeber des Häuptlings jedes Dorfes, heißt es: 
gangan le to oto-o, der Stab ist zerbrochen, usu fono, er ist in die Ratsver¬ 
sammlung gegangen (nämlich: ins Totenreich), fai i lagi folanga, nach oben 
fahren. Entsprechend den besonderen Tabus, mit denen die Person des Häupt¬ 
lings umgeben ist, gibt es eigene Ausdrücke für das Sterben des Häuptlings, 
z. B. tuunmali, die Herrschaft aufgeben, ua tafea le moli, die Orange ist fort¬ 
geschwommen (die Orange ist wertvoller Besitz zur Haarpflege beim Baden 
im Meere, mit ihrem Verlust durch Fortschwimmen wird der Verlust des 
wertvollsten Besitzes eines Dorfes, des Häuptlings verglichen), ua tafea le 
tanofe, die Angelrute ist fortgeschwommen, faasolo motu, die Halskette des 
Häuptlings ist zerrissen, gangan auta, die Trommelschlägel sind zerschlagen 
(man vgl. die oben erwähnte französische Wendung vom Verschlucken der 
Trommelschlägel), na motu le son, die Verbindung mit den Gefährten ist 
abgerissen. 

Halunke 

taucht im Deutschen in verschiedenen Formen im 16. Jahrhundert auf. Im 
Verlorenen Sohn von Waldis, 1527 in Riga erschienen, bedeutet Hollunck 
einen Nichtswürdigen. Gleichbedeutend erscheint Hollunck 1541 in einer 
Prager Flugschrift. In der polnischen Chronik des Lorenz Kyndlerm aus dem 
Jahre 1562: „die koch und die kochenknechte und andere holuncken rei¬ 
nigten die kaldunen" (Kaldaunen = Eingeweide). Hier sind wohl niedere 
Bedienstete gemeint. Auch sonst bedeuten in verschiedenen, besonders schle¬ 
sischen Quellen des 16. Jahrhunderts helunke, holunke, holanke: niedere 
Schloßbedienstete, Heideläufer, laufende Boten, Wächter. Noch Lessing und 


66 

































Schiller schreiben Holunke, daneben erscheinen aber schon seit dem 16. 
Jahrhundert die Varianten mit a: Halluck, Hallunck, Halunke. Man hat 
versucht, das Wort in Verbindung zu bringen mit herumlungern (lungern 
ursprünglich: gierig aufpassen, von mittelhochdeutsch lunger = rasch, dazu 
englisch lounger = Faulenzer), mit isländisch halloka, Knecht, mit franzö¬ 
sisch haillon, Lumpen, mit spanisch alacco, Tölpel. Das Wort ist aber 
tschechischen Ursprungs, es kommt von holomek = nackter Bettler, 
Taugenichts (zu tschechisch holy, nackt). 

Hand ins Feuer legen 

für jemanden (d. h. gutstehen für ihn) geht auf den mittelalterlichen Brauch 
der Gottesurteile (Ordalien) zurück. Feuerproben kannten schon die 
Griechen. In der Antigone des Sophokles sagt der Wächter: „Wir waren 
bereit, glühendes Eisen mit den Händen aufzuheben, durch Feuer zu lau¬ 
fen und bei den Göttern zu schwören, daß wir weder die Tat verübt, noch 
den Urheber und Rädelsführer kennen.“ Auf Gottesurteile beziehen sich 
auch die Redensarten: die Feuerprobe bestehen (was allerdings ähnlich wie 
die „Feuertaufe “ 1 jetzt hauptsächlich in Bezug auf den Krieg gebraucht 
wird), für jemand durchs Feuer gehen, auf glühenden Kohlen sitzen, Gift 
auf etwas nehmen, das Abendmahl auf etwas nehmen. (Dem Verdächtigen 
wurde eine Schnitte Brot oder Käse in den Mund gesteckt, hatte er Schwie¬ 
rigkeiten es hinunterzuschlucken, galt er als schuldig.) Es ist die Vorstellung, 
dem unschuldig Verdächtigten müsse wunderhafter Weise göttliche Hilfe 
zu teil werden zum Schutze vor dem Feuer, dem Wasser, dem Gifte usw., 
die all diesen Ordalien zugrunde liegt. Das mittellateinische Wort ordalia 
(Gottesurteile) ist übrigens nichts anderes als unser „Urteil“, althochdeutsch 
urteili, angelsächsisch ordal = das Erteilte, die erteilte Entscheidung 2 . 

Die Hosen verlieren 

In derber Weise sagt man von jemandem, der bei einem Geschäfte 
oder im Glücksspiel alles verloren hat, er habe seine Hosen verloren. Da 
man auch sagt, jemand sei bis aufs Hemd geplündert worden oder er habe 
sich auch seines letzten Hemdes entäußern müssen, scheint das Bild vom 


i) Matth. 3, n sagt Johannes der Täufer: Ich taufe Euch mit Wasser zur 
Buße; der aber nach mir kommt, der wird Euch mit dem heiligen Geist und 
mit Feuer taufen. 

. 2 ) -^ e< ^ ensart jjfeurige Kohlen auf jemandes Haupt sammeln 46 (s. dieses 
Stichwort) hängt nicht mit den Gottesurteilen zusammen. 


5 * 


$7 









Verlieren der Hosen zunächst ohne Weiteres verständlich. Es hat aber da. 
mit vielleicht noch eine besondere Bewandtnis, denn die Redensart scheint 
eine Erinnerung zu sein an einen alten rechtssymbolischen Vorgang, an 
eine mittelalterliche Form dessen, was wir jetzt Offenbarungseid 
nennen. Jungbauer erinnert im Handwörterbuch des deutschen Aberglau, 
bens an die im Mittelalter in Italien, in Frankreich und den Niederlanden 
verbreitete Sitte des Hosenherablassens, die darin bestand, daß der 
zahlungsunfähige Schuldner auf offenem Markte oder auf einer dazu er* 
richteten Säule durch Herablassen der Flose und Zeigen des nackten Kör. 
pers erklärte, daß er nichts besitze und daß man sich an seinem unbeweg¬ 
ten Körper schadlos halten möge. In der Redensart „seine Hosen verlieren" 
die die allerletzte Stufe der Verarmung charakterisieren soll, mag nun die 
Erinnerung an jenen rechtssymbolischen Akt enthalten sein. 

Aus den beiden Redensarten „seine Hosen verlieren“ und „kein Geld 
auf Brot haben“ hat sich auf dem Wege der Verquatschung, der Redens* 
artenkreuzung die häufig vernehmbare Scherzredensart „kein Brot auf 
Hosen haben“ ergeben. 


Das geht über die Hutschnur 

hat die Bedeutung: das ist zu arg. Aus Thüringen ist auch die Fassung be¬ 
legt: bis über die Hutschnur in Schulden stecken. Sie erinnert an die gleich¬ 
bedeutende Redensart: bis über die Ohren in Schulden stecken und man 
kann daraus folgern, daß auch der Redensart „das geht über die Hutschnur“ 
ursprünglich das Bild vom Ertrinken, vom Versinken im Sumpf vorge¬ 
schwebt hat. Dementsprechend wird auch bei Borchardt-Wustmann „über 
die Hutschnur“ als eine Steigerung von „es (nämlich das Wasser) geht an 
den Hals“ auf gef aßt. Gemeint sei dabei aber nicht etwa die um den Hut 
laufende Schnur (wie sie in vielen Volkstrachten noch heute statt eines Hut¬ 
bandes üblich ist), sondern die unter dem Kinn herumlaufende, den 
Hut am Kopfe festhaltende Schnur. 

Eine überraschend neue Deutung der Redensart „über die Hutschnur“ 
hat Käthe Gleißner 1934 versucht. Ihre Deutung gründet sich auf eine im 
Staatsarchiv zu Eger aufbewahrte Urkunde vom 30. April 1356. In dieser 
einigen sich die Kreuzbrüder mit dem Stern und die Deutschherren zu Eger 
über die Nutzung einer Wasserleitung, die durch mehrere Grundstücke 
geht. Die ersten Anlieger sollen nicht mehr Wasser nehmen, als sie zum 
Trinken und Kochen nötig haben „vnd des selben wazzers schol in niht 
mer noch dicker auz den Roeren gen, danne als ein hutsnur“. Die Stärke 

68 
























einer Hutschnur ist also ein Maß für fließendes Wasser, 
für einen Wasserstrahl, und wenn es „über die Hutschnur geht“, 
so handelt der Nutznießer gegen die Vereinbarung, also unrecht. (Man 
vergleiche damit die Redensart „über den Span“, z. B. über den Span for¬ 
dern == übermäßige Bezahlung fordern, gegen eine rechtmäßig geltende 
Abmachung verstoßen, Unrecht tun überhaupt; unter „Span“ ist hier zu 
verstehen das Kerbholz der Kaufleute und Gastwirte, auf dem sie durch 
Einritzen die Schulden ihrer Kunden vermerkten.) 

Der Deutung der Redensart „über die Hutschnur" auf Grundlage jener 
Urkunde aus dem' Jahre 1356 und der darin erscheinenden Art des Wasser¬ 
strahlmessens ist immerhin der auffällige Umstand entgegenzuhalten, daß 
die Belege für diese Redensart nicht über den Anfang des 18. Jahrhunderts 

zurückreichen. 

„Das geht über die Hutschnur“ hat nichts zu schaffen mit der Redensart 
„über die Schnur hauen“, die aus dem Leben des Zimmermanns bezogen 
ist der über den Balken, um ihn gradlinig zu behauen, eine Schnur zieht 
und dann darauf achtet, nicht über diese „Richtschnur“ zu hauen. 

Isabellenfarbe 

Infantin Isabella, die Tochter Philipps II., Regentin der Niederlande, 
soll, als ihr Gemahl Erzherzog Albrecht von Österreich Ostende belagerte, 
gelobt haben, ihr Hemd nicht zu wechseln, ehe die Stadt erobert sei. Da 
die Belagerung von Juli 1601 bis September 1604 dauerte, habe das Hemd 
der Infantin die seither so genannte Isabellenfarbe angenommen. Eine 
andere Überlieferung heftet ein solches Gelübde an das Andenken der 
spanischen Königin Isabella „der Katholischen", der Gönnerin des Kolum¬ 
bus, bei der es sich um die Belagerung von Granada handelte, mit dessen 
Einnahme im Jahre der Entdeckung Amerikas der letzte Krieg gegen die 
Mauren seinen Abschluß fand. Diese Anekdote über die Herkunft der 
Isabellenfarbe und ihres Namens ist allgemein bekannt, und Schopenhauer 
führt in „Welt als Wille und Vorstellung" das Gelübde der Isabella als 
das Beispiel einer „unverständigen, aber dennoch vernünftigen Handlung" 
an. Die Idee eines solchen trotzigen Gelübdes gehört übrigens zum alten 
Bestand immer wiederkehrender geschichtlicher Anekdoten. Schon Histiaios 
von Milet schwur nach Herodot, sein Gewand nicht auszuziehen, ehe er 
Sardinien dem Könige Darius tributpflichtig gemacht habe. 

Isabell als Farbenbezeichnung taucht um 1640 bei Oudin auf als Bezeich¬ 
nung für die Farbe des Falben, des hellgelben Pferdes, und wenn wir 
Sainean, dem erfolgreichen Zerstörer vieler anekdotisierenden Etymologien 


*9 










auch hier folgen dürften, hatte diese Farbenbezeichnung mit dem Vornamen 
Isabella (der übrigens nichts anderes ist als eine Abwandlung von Isabeau 
der französischen Form des hebräischen Elisabeth) nichts zu schaffen- 
isabell als Bezeichnung der Pferdeart und der Farbe soll eine Verschmel. 
zung der französischen Wörter i s a r d und m i r a b e 11 e sein. Jedenfalls 
stimmt es, daß beide — die Gemse wie die Mirabellenfrucht — von gelb, 
licher Farbe sind. An der Verknüpfung der Isabellenfarbe mit dem weib. 
liehen Vornamen im heutigen Sprachbewußtsein kann jedoch diese Etymo- 
logie, sollte sie auch richtig sein, nichts mehr ändern. 

Daß sich der „Treppenwitz der Weltgeschichte" der Farbenbezeichnung 
„isabellen" bemächtigt und sie mit einer Belagerung in Beziehung gesetzt 
hat, ist ein bezeichnender Umstand. Belagerungen machen auf die Zeit- 
genossen meistens einen nachhaltigen Eindruck. Je länger sie sich hinziehen, 
umso größer die Spannung und man könnte, ohne als zynisch zu gelten, 
fast sagen, die sensationslüsterne Menschheit habe sich, als es noch keine 
internationalen Sportkämpfe gab, zeitweilen an den Nachrichten über den 
Verlauf von Belagerungen schadlos gehalten. Kein Wunder, daß von dieser 
seelischen Anteilnahme an auffälligen Phasen der Kriege manche Spur 
auch im Wortschatz hartnäckig erhalten bleibt, sodaß man von einer ganzen 
Kategorie von 

Wörtern, die an Belagerungen erinnern, 

sprechen kann. Ich meine damit sowohl solche Wörter, die tatsächlich im 
Zusammenhang mit einer Belagerung oder einer bestimmten Schlacht entstan¬ 
den sind, als auch jene, die allgemeiner Glaube oder etymologische Bemühung 
Einzelner fälschlicherweise mit solchen Kriegshandlungen in Verbindung ge¬ 
bracht hat. Zum letzteren Typus gehören z. B. die Anekdoten über Spiele, 
die die Besatzungen belagerter Orte zur Vertreibung der Langweile erfinden 
und die dann nach dem Namen des betreffenden Ortes benannt werden. 
Für das Wort Hasard, das zuerst nur „Würfelspiel“ bedeutete, flatterte 
so eine Erklärung schon im 13. Jahrhundert auf. Als sich die Belagerung der 
Feste Hasard (El Azar) durch die Kreuzritter in die Länge zog, soll die 
arabische Besatzung zum Zeitvertreib das Würfelspiel erfunden haben. Aus 
dem Heiligen Land habe sich das Spiel unter dem Namen jenes Ortes in die 
Länder der Christenheit verpflanzt. Zweifellos ist das Wort arabischen 
Ursprungs, aber er ist viel älter. Im klassischen Arabisch bedeutet jasara 
würfeln, jasar die würfelnde Gesellschaft. Zur Zeit der Maurenherrschaft in 
Spanien drang das Wort in die Sprachen des Abendlandes und vom Wür¬ 
felspiel verallgemeinerte sich schließlich die Bedeutung zu: Zufall, Wagnis. 

Glaubhafter ist die Überlieferung, daß der Name des Kartenspiels Boston 
mit der Belagerung der englischen Besatzung dieser amerikanischen Stadt 




70 


































durch die Truppen Washingtons (1775/76) Zusammenhänge. Wenn es auch 
nicht nachgewiesen ist, daß Bostons Besatzung es war, die dieses dem Whist 
ähnliche Kartenspiel erfunden hat, so steht jedenfalls fest, daß es in den 
Jahren des amerikanischen Befreiungskrieges aufkam und daß es nach der 
Stadt Boston benannt ist. 

Fälschlicherweise bringt man mit der Belagerung von Stralsund (1628) 
das Wort Kommißbrot in Verbindung. Wallenstein habe in den umlie¬ 
genden Ortschaften durch besondere Kommissionen Mehl aufbringen und Brot 
backen lassen. Dieses Brot sollen dann die Soldaten zunächst Kommissions¬ 
brot getauft haben. Aber schon viel früher, im Jahre 1552, ist in einem 
Straßburger Dokument die Rede von 12.000 Kommißbroten, die dem König 
von Frankreich geliefert wurden, und in der „Reuterbestallung“ Karls V. 
kommt „Kommiß“ im Sinne von Heeresvorrat wiederholt vor (z. B. „alles 
dasjenige ehrbarlich zu bezahlen, was aus der Kommiß gegeben wird“). Das 
Wort kommt von lateinisch commissum = anvertrautes Gut. (Von der 
Bezeichnung Kommißbrot aus entwickelt sich in Österreich-Ungarn „Kom¬ 
miß“ als Beibezeichnung von Gegenständen, Einrichtungen und Personen des 
Heeres. So nannte man die „ärarische Montur 44 Kommißuniform im Gegen¬ 
satz zur „Extrauniform“, die sich nicht jeder leisten konnte. Man raunzte 
über die Kommißkost, schimpfte den Vorgesetzten einen Kommißknopf usw. 
Im Ungarischen ist „komisz 44 aus der militärischen Sphäre hinausgewachsen 
und ein allgemeines Eigenschaftswort geworden mit der Bedeutung: schlecht, 
minderwertig, grob, gemein, bösartig). 

Von der Bezeichnung Landauer für eine bestimmte Wagenform heißt 
es gewöhnlich, sie sei darum entstanden, weil Kaiser Joseph I. zum ersten 
Male so eine große offene Kutsche gebrauchte, als er 1702 zur Belagerung 
von Landau fuhr. (Ausführlicheres darüber und über die vorzuziehende Ab¬ 
leitung des Wortes Landauer aus altindisch hindola oder andola über arabisch 
al ondal = Sänfte s. unter dem Stichwort Kutsche in „Wörter und ihre 
Schicksale 44 ). Glaubwürdiger ist ein anderer Beitrag der Belagerung von 
Landau an das Wörterbuch. Es handelt sich um das Wort Zickzack, das 
zunächst ein Wort der Belagerungskunst war, die Bezeichnung für eine gewisse 
Linienführung der Annäherungsgraben zur Verminderung der Sichtgefahr und 
der feindlichen Feuerwirkung. Nehring bucht 1720: „sicsac, ein neu Wort, 
so erst bey der Belagerung Landaus (seit 1703) bekannt gemacht worden.“ 

Im Jahre 1747 belagerten die Franzosen die niederländische Stadt Bergen- 
op-zoom und setzten sich in ihren Besitz. Daher bekam im Französischen eine 
Seidenspitzenart, die eine Zeitlang in Mode war, den Namen bergop- 
zoom. Ein Sieg, den die Franzosen neun Jahre später errangen, hat nicht 
allein das französische Wörterbuch bereichert. Der 1756 erfolgten Belagerung 
und Eroberung der Festung Mahon auf der Baleareninsel Menorca verdankt 
nämlich seine Entstehung das internationale Wort Mayonnaise, ursprüng¬ 
lich Mahonnaise. So wurde nach dem eroberten Mahon die Tunke benannt, 


71 





die ein Pariser Koch anläßlich eines Festmahles für die Sieger erfunden 
hatte. (Ausführlicher darüber unter dem Stichwort Mayonnaise in „Wörter 
und ihre Schicksale“.) 

Ein anderes Speisekartenwort erinnert an einen napoleonischen Sieg. Wäh¬ 
rend der Schlacht bei Marengo (14. Juni 1800) soll Napoleons Koch i Q 
Ermangelung von Butter Hühnchen mit Pilzen und Trüffeln in öl gebraten 
haben. Seither heißt diese Zubereitung & la Marengo. Übrigens gibt es 
als Andenken an jene Schlacht auch eine französische Farbenbezeichnung; 
auch in Deutschland war früher für ein von der Damenmode eine Zeitlang 
bevorzugtes Stoffmuster, dunkelbraun mit weißen Tupfen, die Bezeichnung 
marengofarben gebräuchlich. Ferner ist Marengo ein Fachausdruck 
des Textilgewerbes für ein bestimmtes Gewebe, für ein meliertes Strickgarn¬ 
gewebe, dessen schwarze Grundfarbe durch beigemengte weiße Fasern belebt 
wird. (Da weniger staubempfindlich als rein schwarzes Tuch, wird Marengo 
für Cutaways bevorzugt.) Die Bezeichnung Marengo führten (nach Brock¬ 
haus) auch schwarz gefärbte Kammgarnstoffe mit Beimischung von 3—j% 
weißer Wolle oder Seide. 

Seit der Schlacht von Waterloo (1815) hat Waterloo im Französischen 
die Bedeutung: Niederlage (z. B. der Ausruf quel waterloo! = welche 
Schlappe!). Im englischen Armeeslang ist Waterloo-day eine Be¬ 
zeichnung für den Tag des Soldempfangs (Anspielung darauf, daß der 18. 
Juni 1815 der Tag war, an dem dem großen Korsen endgültig alles heim¬ 
gezahlt wurde.) An den Oberbefehlshaber der Verbündeten bei Waterloo 
erinnert uns das (in einer Teighülle) gebratene Filet ä la Wellington. 
Durch die Beliebtheit, der sich seit dem entscheidenden Anteil der Truppen 
Blüchers an dem Sieg bei Waterloo Preußen eine Zeitlang in England 
erfreute, erklärt sich die Verwendung des Eigenschaftswortes Prussian gleich¬ 
sam als eines Kosewortes. So bedeutete im Slang my Prooshan blue 
(— my Prussian blue, mein Preußisch-Blau) etwa: mein Liebling. Der Aus¬ 
druck ist u. a. bei Dickens (Pickwickier) belegt. (Als Gegenstück erwähnen 
wir aus der französischen Umgangssprache: prussien = Gesäß.) An Blücher 
selbst erinnert im englischen Wortschatz des 19. Jahrhunderts der Ausdruck 
the bluchers = feine Halbstiefel. 

In vielen europäischen und außereuropäischen Städten gibt es Vergnü¬ 
gungslokale, die Trocadero heißen. In den Jahren vor dem Weltkrieg 
nannten sich in Deutschland vorzugsweise solche Lokale so, in denen die 
Tanzvorführungen nicht auf einer Bühne, sondern auf dem Parkett, mitten 
im Publikum stattfanden. Trocadero ist der Name eines Fischerdorfes und 
Forts gegenüber von Cadiz. Nach hartnäckiger Belagerung eroberten die 
Franzosen, die damals im Aufträge der reaktionären Heiligen Allianz die 
liberale spanische Regierung bekämpften, am 31. August 1823 das Fort Tro- 
cad£ro. Zu Ehren dieses Sieges wurde ein großer Platz in Paris nach dem 
Fort Trocadero benannt. Dort wurde dann für die Weltausstellung 1878 das 


7 * 























palais du Trocadero erbaut. Mit Anspielung auf die viel besuchten Vergnü- 
gungs- und Tanzstätten der Pariser Ausstellung legten sich dann allerlei 
Lokale in Großstädten auch den Namen Trocadero bei. (Eine Music-hall in 
London, die sich Trocadero nannte, wurde dann kürzer Troc genannt.) 

Nach der mehrere Wochen dauernden heldenhaften Verteidigung einer 
befestigten Station bei Mazagran in Algerien durch wenige Franzosen gegen 
eine große Übermacht von Arabern im Jahre 1840 heißt gewässerter schwar- 
zer Kaffee (weil die tapfere Besatzung gegen Ende der Belagerung fast gar 
keine andere Nahrung mehr hatte) seither Mazagran (ausführlicher unter 
diesem Stichwort in „Wörter und ihre Schicksale“). 

In die Jahre 1857 und 1858 fällt der sogenannte Sepoy-Krieg in Indien, 
der Kampf der Engländer gegen meuternde Eingeborenentruppen. In ein¬ 
zelnen Städten verteidigten sich englandtreue Garnisonen gegen die belagern¬ 
den Sepoys, andere von den Meuterern gehaltene Orte wurden von den Eng¬ 
ländern belagert. Einer der englischen Generäle, deren Kriegsruhm die eng¬ 
lische Öffentlichkeit beeindruckte, hieß Havelock und ein Bild von ihm, das 
durch die Zeitungen ging, hatte zur Folge, daß der Typus des Mantels, in 
dem ihn jene Zeichnung zeigte und der bis dahin eines besonderen Namens 
anscheinend entbehrte, fortan Havelock hieß. Man bezeichnete damals als 
Havelock einen der ganzen Länge nach zugeknöpften Mantel, der ärmellos 
war, aber mit einem langen herabfallenden, die Arme ganz bedeckenden 
Schulterkragen versehen war. Seither hat sich die Bedeutung dieser Man¬ 
telbezeichnung wiederholt modifiziert. Im Englischen hat übrigens havelock 
auch die Bedeutung: Kopf- und Nackenschleier für die Tropen. 

Der Sieg der von Mac Mahon befehligten französisch-piemontischen Armee 
über die Österreicher am 4. Juni 1859 hat den Namen des norditalienischen 
Ortes Magenta, wo diese wichtige Schlacht stattfand, in aller Welt Mund 
gebracht. Da man für einen Teerfarbstoff, dessen industrielle Herstellung 
damals grade in eine neue Phase trat, einen einprägsamen Namen suchte, 
nannte man ihn in Frankreich magenta. Auch deutsche Wörterbücher führen 
die Farbenbezeichnung Magentarot, doch werden in der deutschen Far¬ 
benindustrie jetzt die Bezeichnungen Fuchsin und Anilinrot bevorzugt. Bei 
Magenta erwarb sich neben Mac Mahon (der Duc de Magenta wurde) auch 
Adolphe Niel Ruhm und Marschallstab; nach ihm wurde die einige Zeit 
darauf in Frankreich erzüchtete Teerose mit gelben, duftreichen, halt¬ 
baren Blüten Markhai Niel getauft. Auch in Deutschland wurde die 
Marschall-Niel-Rose unter diesem Namen bekannt. 

Zwanzig Tage nach Magenta errang die französisch-piemontische Armee 
einen neuerlichen Sieg über Österreich. Nach dem Schlachtort Solferino wurde 
eine Zeitlang ein bestimmtes Rot Solferinorot genannt. (Es ist mir nicht 
gelungen, festzustellen, durch welche Schattierung sich das nach dem 24. 
Juni benannte Rot von dem nach dem 4. Juni benannten unterschied.) Hier 
sei erwähnt, daß man nach den Rothemden Garibaldis auch von einem G a r i- 


73 




b a 1 d i r o t sprach und jahrelang, in manchen Gegenden sogar noch J a h r . 
zehntelang eine rote Bluse als Garibaldibluse oder einfach als G a r i b a 1 d j 
(so z. B. in der Schweiz) bezeichnete. In Frankreich bezeichnete man auch 
trockenen Zwieback mit eingebackenen Korinthen als garibaldi (noch so i n 
Klöppers Reallexikon 1900). 

Als 1871 die kommunistisch verwaltete französische Hauptstadt von de n 
Truppen der Versailler Regierung belagert wurde, verbreiteten sich überall 
Gerüchte von Brandstiftungen Pariser Revolutionäre; so entstanden die Aus. 
drücke petroleur und petroleuse, Schimpfwörter für die Komitm- 
narden, später allgemein auf die Anhänger des Sozialismus übertragen. 

Mit Spannung verfolgte im Burenkrieg die europäische Öffentlichkeit die 
Belagerung der vom englischen Obersten Baden-Powell (dem heutigen obersten 
Führer aller Pfadfinder) verteidigten Stadt Mafeking. Als englische E nt . 
satztruppen im Mai 1900 Mafeking nach mehr als siebenmonatiger Belage- 
rung durch die Buren befreiten, fanden in allen Städten Englands große 
Siegesfeiern statt. Seither ist der englische Wortschatz um ein neues Zeit- 
wort bereichert: to maffick = begeisterte patriotische Kundgebungen 
veranstalten. (Der Ortsnamen Mafeking wurde gleichsam so behandelt, wie 
wenn seine Endung -ing die englische Partizipialendung wäre und es wurde 
ein Zeitwort daraus rückgebildet; sogenannte back-formation.) 

Keine Belagerung hat so viel Spuren in den Wörterbüchern hinterlassen, 
wie die von Sebastopol (vom Oktober 1854 bis September 1855) i m 
Krimkrieg. So wie sich bei der Belagerung von Cadiz (1823) vor allem 
der Name des Forts Trocadero der Öffentlichkeit einprägte, so konzentrierte 
sich auch bei der Belagerung der russischen Festung am Schwarzen Meere 
durch die den Türken verbündeten Franzosen und Engländer die Aufmerk¬ 
samkeit auf ein bestimmtes Fort, den Malakoff-Turm. Nicht zu Unrecht, denn 
der Befestigungsplan des russischen Befehlshabers, des Generals Todleben, hatte 
tatsächlich dem Malakoff die wichtigste Rolle in der Verteidigung Sebasto- 
pols zugewiesen. Am 18. Juni 1855 versuchten die Franzosen vergeblich das 
Fort Malakoff zu stürmen, aber als es am 8. September den Zuaven der Bri¬ 
gade Mac Mahon gelang, in den Malakoff einzudringen, war auch das Schick¬ 
sal Sebastopols besiegelt und der ganze Krimkrieg entschieden. Nach dem 
Turm Malakoff, der sich als die Schlüsselstellung erwiesen hatte, bekam 
Pelissier, der französische Oberbefehlshaber den Titel eines Duc de Malakoff 
(indes der unter ihm an der Eroberung des Malakoff beteiligte Mac Mahon 
später Duc de Magenta wurde). Während der Belagerung von Sebastopol 
entstand im Süden von Paris, unmittelbar an dem Stadtwall, eine neue Sied¬ 
lung. Das Holzgerüst für eine dieser Neubauten überragte die anderen und 
konnte, bei einiger Phantasie, die Vorstellung eines Turmes erwecken. Ein 
geschäftstüchtiger Pariser, der gerade neben diesem „Turm“ ein Gast- und 
Tanzhaus errichtete, nannte es, an das damals jeden bewegende Interesse 
appellierend, „zum Tour Malakoff“. Dieser Name ging auf die ganze Sied- 


74 

















lung über, die, abgetrennt von der Gemeinde Vauves, eine selbständige Ge¬ 
meinde wurde und seither — Malakoff-la-Tour heißt; sie ist jetzt 
ganz mit Paris verwachsen. Übrigens hat die Belagerung von Sebastopol 
nicht nur der Landkarte Frankreichs einen russischen Ortsnamen beschert; 
au f britischem Gebiet, in Wales, wurde ein kleiner Ort damals Sebastopol 
getauft. Bemerkenswert ist, daß die Bevölkerung von Frankfurt a. M» die 
von Burnitz zur Zeit der Belagerung von Sebastopol erbauten Häuser der 
Liebfrauenstraße noch ein halbes Jahrhundert später (Askenazy, 1904) „Ma- 
lakoff“ nannte. Auch im Jenaer Forst gibt es, wie Prof. Franz Blume mir mit¬ 
teilt, einen Malakoffweg. 

So wie mancher andere französische Sieg (Mahon-Mayonnaise, ä la Maren- 
g 0 , Mazagran), hinterläßt auch die Erstürmung des Malakoff seine Spur auf 
der Speisekarte. Malakofftorte ist auch heute noch eine internationale 
Bezeichnung. Weniger bekannt ist, daß in Frankreich eine feine Traubenart 
lange den Namen Malakoff trug. 

Neben der Speisekarte ist auch das Vokabular des Bekleidungswesens durch 
die Eigennamen, die die Kriegs- und Belagerungsberichte in aller Leute Mund 
bringen, leicht beeindruckbar. Den Havelock haben wir bereits erwähnt. Der 
Krimkrieg und die Belagerung von Sebastopol liefern dem Lexikon gleich 
drei neue Bezeichnungen für Kleidungsstücke. Englisch nightingale be¬ 
deutet Flanellhemd für Kranke, nach Miß Florence Nightingale, die durch 
ihre Verdienste um die Krankenpflege im Krimkrieg berühmt wurde. Sowohl 
der Name des englischen Befehlshabers im Krimkrieg, als der des russischen 
überlebte seinen Träger als eine Bezeichnung für eine Mantelart. Nach dem 
einarmigen englischen Feldmarschall Lord Raglan, der während der Belage¬ 
rung Sebastopols an der Cholera starb, heißt seither der Mantel, bei dem 
der Ärmel nicht an der Achsel eingesetzt, sondern bis zum Kragen durchge¬ 
führt ist: Raglan. Die Bezeichnung Menschikoff für einen leichten 
Überzieher war in den Jahren vor dem Weltkrieg noch gebräuchlich. Fürst 
Menschikoff, eine Zeitlang der Oberbefehlshaber der russischen Land- und 
Seemacht im Krimkrieg, hat nicht wie sein Gegner Lord Raglan durch die 
äußere Form seines Mantels die terminologische Phantasie des Schneidergewer¬ 
bes befruchtet, sondern durch einen bestimmten Vorfall, in dem sein Über¬ 
zieher eine Rolle spielte. Knapp vor Ausbruch des Krimkrieges kam Men¬ 
schikoff als außerordentlicher Gesandter Rußlands nach Konstantinopel. Es 
hieß damals allgemein, sein den kriegerischen Intentionen Rußlands gemäß 
schroffes Auftreten bei der Hohen Pforte habe den Krieg verursacht oder 
doch seinen Ausbruch beschleunigt. Durch ganz Europa ging bei Kriegsbeginn 
die Anekdote, der Gesandte Menschikoff habe den Großwesir, der übrigens 
des Sultans Schwager war, im Überzieher besucht, um ihn zu beleidigen. 
Diese nette Legende hat die objektive Geschichtsforschung seither zerstört. 
Gleich nach der Ankunft in Konstantinopel ließ Menschikoff den Großwesir 
bitten, ihn zunächst privat besuchen zu dürfen. Vermutlich aus einem 





1 

Mißverständnis empfing jedoch Mehemed Ali Pascha den Fürsten, der nicht 
in der Diplomatengala, sondern im Frack und Uberzieher zur Zusammenkunft 
ging, dennoch offiziell. Menschikoff wartete zunächst (wie bei Hertslet- 
Helmolt erzählt wird) in einem langen ungeheizten Korridor, aus dem er 
dann noch in ein Vorzimmer zu kommen gedachte, wo er den Überzieher 
hätte ablegen können. Plötzlich öffnete sich aber am Ende des Korridors ein 
schwarzer Vorhang und der Großwesir stand im Salonanzug vor Menschi¬ 
koff. Es blieb dem Russen nichts übrig, als den Uberzieher rasch abzu¬ 
nehmen, ihn über den linken Arm zu legen und den Pascha zu begrüßen. 

Als die beiden Staatsmänner dann auf einem Sofa Platz nahmen, legte Menschi¬ 
koff den Uberzieher neben sich hin. Den Krimkrieg wird dieses harmlose 
Kleidungsstück wohl doch nicht entfesselt haben, aber als die Spannung, mit 
der die europäische Öffentlichkeit den einige Monate später beginnenden 
Krimkrieg verfolgte, auch seiner Vorgeschichte Interesse zukommen ließ, 
wurde jener Vorfall mit Menschikoffs Uberzieher so sprachgeläufig, daß 
wieder einmal ein Eigenname seinen Einzug ins Wörterbuch als Sach- 
name feiern konnte, indem das Wort Menschikoff die Bedeutung Über¬ 
zieher bekam. Man kann also sagen, im Kampfe um Sebastopol stand der 
Wettermantel des englischen Marschalls Raglan dem Uberzieher des russi¬ 
schen Oberbefehlshabers Menschikoff gegenüber. Auf die Frage, welche 
Art von Uberzieher als Menschikoff bezeichnet worden ist, möchte ich mich 
nicht einlassen, denn bei solchen Modebezeichnungen ist die Bedeutung ge¬ 
wöhnlich schwankend und einem raschen Wechsel unterworfen. (Ich erwähne 
bloß einen Beleg aus dem Jahre 1876 aus dem Pariser Figaro, der die Mantel¬ 
typen Menschikoff und Ulster gleichstellt.) Die Mantelbezeichnung Menschi¬ 
koff hat im Londoner Slang noch eine weitere gezeugt. Farmer-Henleys Slang¬ 
wörterbuch verzeichnet: the immensikoff = mit Pelz schwer gefütterter 
Mantel. Offenbar ist hier, mit Hilfe eines Wortwitzes (immens = ungeheuer 
groß, maßlos), eine „Steigerung' 4 von Menschikoff vorgenommen worden. 

Das Slangwort immensikoff gelangte zur Verbreitung durch den Kehrreim 
eines Couplets das Arthur Lloyd in den Sechziger Jahren sang und das The 
Skoreditch Toff hieß („Der Stutzer von Skoreditch", Sk. ist ein Londoner 
Stadtteil). Zur Entstehung des Ausdrucks immensikoff ist noch zu bemerken, 
daß „immense" lange ein Modewort war in London und in Paris, etwa wie 
im Vorkriegsdeutschland „kolossal 4 *. (Den Ausruf c’est immense hat in Frank¬ 
reich besonders die Offenbachoperette La Jolie Parfumeuse, 1873, volkstüm¬ 
lich gemacht.) 

Neben den aus Personennamen des Krimkrieges abgeleiteten Kleidungsbe¬ 
zeichnungen nightingale. Raglan, Menschikoff sei auch eine genannt, die auf 
einem geographischen Eigennamen beruht, auf dem Namen der Halbinsel Krim 
selbst. Das Hauptwort crimeenne erklärt der Larousse: langer und weiter 
Militärmantel mit Kapuze und Pelerine, nicht vorschriftsmäßig, aber von 
den Offizieren im Krieg häufig getragen. Sachs-Villatte gibt französisch 


A 


\ 


7 6 









crim&nne durch deutsch Havelock wieder. So mischt sich im Vokabular 
jer Mantelmoden der Krimkrieg mit dem fast gleichzeitigen Sepoykrieg. 

Ein eigener Sieg, den die Engländer im Krimkrieg errungen haben, führt 
zur Bereicherung des englischen Armeeslangs. Nach Balaklava, der Hafen¬ 
stadt in der Krim, wo die Engländer am io. Oktober 1854 einen großen 
russischen Angriff erfolgreich abwehrten, hat Balacla va-day im Armee¬ 
slang die Bedeutung: Zahltag. Mir scheint dieser Ausdruck aus der Tatsache 
des Sieges („Heimzahlung”) erklärt werden zu müssen (wie oben S. 72 Water- 
loo-day =• Zahltag). Ein englisches Slangwörterbuch erklärt jedoch: „Bala- 
clava war die große Ergänzungsbasis für die englischen Truppen, bei den 
dortigen Marketendcreien konnte man am besten den am Zahltag bekomme¬ 
nen Sold los werden.“ 

Mit der Belagerung von Sebastopol hängt auch eng der Ausdruck 
Tatarennachricht = falsche oder stark übertreibende alarmierende 
Nachricht zusammen. Der Ausdruck geht auf ein am 2. Oktober 1854 in 
Wien aufgegebenes Telegramm zurück, das fälschlicherweise den Fall Seba- 
stopols meldete (der aber erst elf Monate später, am 8. September 1855 
erfolgte). Die Nachricht, hieß es in jenem Telegramm, habe ein „Tatar“ 
(Meldereiter) nach Bukarest gebracht. (Ausführlicheres darüber unter dem 
Stichwort „Ente“ in „Wörter und ihre Schicksale“). 

Wie es bei den Siegen von Marengo und Magenta der Fall war, hat die 
französische Sprache auch im Krimkrieg Gelegenheit gefunden, die Listen 
ihrer Farbenbezeichnungen zu vergrößern. Seit der Besetzung von Adria- 
nopel durch die Franzosen (1854) gibt es ein rouge andrinople. 
Übrigens wurde andrinople auch die Bezeichnung für einen billigen 
Baumwollstoff. 

An den Krimkrieg erinnert auch die Bezeichnung Krimstecher für 
das Doppelfernrohr. Sie ist allerdings in neueren Wörterbüchern schon durch 
das Wort Feldstecher „ausgestochen“ worden. 

Jause 

nennt man nicht nur im heutigen Österreich, sondern fast überall bei den 
Deutschen auf dem Gebiete der ehemaligen Donaumonarchie die kleine 
Zwischenmahlzeit, u. zw. wenn nicht ausdrücklich anders bezeichnet, jene 
zwischen Mittagessen und Abendbrot. Die Zwischenmahlzeit am Vormittag 
bezeichnet man genauer als „Zehnerjause“, ohne Rücksicht darauf, ob sie 
um 10 Uhr oder früher oder später eingenommen wird. Muß ja auch in 
der Schweiz das Z’nüni nicht gerade um 9 Uhr, das Z’vieri nicht gerade 
um 4 Uhr eingenommen werden 1 . In Kärnten unterscheidet man Vor jausen 


1) Im Südosten der Schweiz, in Graubünden, gibt es statt Z’nüni und 
Z’vieri das Hauptwort Märend und das Zeitwort märenden. (Händ er 


77 






(am Vormittag) und Nachjausen 1 . Das Nachmittagsschläfchen nannte der 
Wiener in früheren Zeiten Jausenschlaferl. 

Fälschlicherweise hat man das Wort Jause etymologisch zu jener indo¬ 
germanischen Wortsippe in Beziehung gesetzt, der auch das deutsche Wort 
Jauche angehört 2 . Zu dieser Sippe gehört lateinisch jus = Brühe, fran¬ 
zösisch jus, englisch juice = Saft, altpreußisch und polnisch jucha = Brühe 
woher dann unmittelbar das deutsche Jauche entlehnt ist. Aber Jause ist 
ganz anderer Herkunft. Das slowenische Wort j u z i n a bedeutet 
Mittagessen, juzinati = zu Mittag essen. Die darin enthaltene slawische 
Wortwurzel j u g 3 mit der Doppelbedeutung „Süden" und „Mittag" (wie 
französisch midi, ungarisch del 4 ) ist heute durch den Namen Jugoslawien 
(,,Südslawien cc ) allgemein bekannt. Die Entlehnung des slowenischen Wor¬ 
tes durch die österreichische Volkssprache erfolgte schon im 15. Jahrhun¬ 
dert 5 . (Im Ungarischen wurde aus dem slawischen jusina das Wort 
uzsonna, mit der gleichen Bedeutung wie das österreichische Jause.) 


g’marendet?) Das Wort geht auf rätoromanisch marenda (italienisch merenda) 
= Mittagsbrot zurück. 

1) In Steiermark heißt übrigens die Nachmittagsjause auch Halber- 
abendmahl; den Halberabend halten = die Nachmittagsjause einnehmen. 
Aus dem älteren Steirischen sei noch der Ausdruck „Jausenzeitbau“ erwähnt 
= Ackerfläche, deren Bestellung eine Arbeitsdauer von einer Jause zur an¬ 
dern, d. h. von der vormittägigen bis zur nachmittägigen, erfordert. — In 
Tirol sind neben Jaus’n auch die Synonyme Märend, Vormeß, Neuner (neu¬ 
nem, neunerlen) üblich. Im Unterinntal heißt die Vormittagsjause auch 
„Umal“ (man hat versucht diesen Ausdruck als „Unmahl“ zu deuten, nach 
Art wie Unsache = geringe Sache). 

2) Aus dem Bestreben, „Jause“ mit „Jauche“ zu verbinden, gelangt Stucke 
zur gekünstelten Folgerung, „Jause“ habe zunächst wohl eine Zwischenmahl¬ 
zeit von vorwiegend flüssigen Speisen bezeichnet. Dem ist entgegen¬ 
zuhalten, daß die Zwischenmahlzeit, die der Bauer oft auf dem Felde ein¬ 
nimmt, meistens nicht flüssig ist; man beachte auch, daß man von einem 
Gabel frühstück spricht, nicht etwa von einem Löffelfrühstück. 

3) Zur slawischen Sippe jug gehören u. a. die Wörter: kleinrussisch juh = 
Süden, Südwind, juha = warmer Wind, juhovyj = südlich brennen; serbo¬ 
kroatisch und slowenisch jugovina = Tauwetter; bulgarisch uzin = Vesper¬ 
brot. Die Etymologie der slawischen Wurzel jug selbst ist unsicher. Sie gehört 
nach Berneker vielleicht zur Sippe von altindisch vjas = Macht, lateinisch 
augere = wachsen lassen (enthalten in augustus = hoch, erhaben und in un¬ 
seren Fremdwörtern Autor, Autorität, Auktion, Auxiliär-). Die ursprüngliche 
Bedeutung von slawisch jug (Süden) wäre demnach Höhe, d. h. Hochstand 
der Sonne. 

4) Man vgl. auch litauisch petus, das sowohl Süden als Mittagsmahlzeit 

bedeutet. . , 1 , ■ i ; jj, , ; 1 ; t -M 



78 




Katzelmacher 

Indignatio facit versum. Entrüstung über den Feind drängt zum Reime, 
wofür schon Abraham a Santa Clara ein Beispiel liefert, der sich im 17. 
Jahrhundert ereiferte: „den Feind schlagen, die Türken jagen, die Moham¬ 
medaner zwagen, 1 die Muselmanen plagen“. Bei Beginn des Weltkrieges 
konnte man auf vielen Eisenbahnwagen, die Truppen beförderten, die Auf¬ 
schrift lesen: „Jeder Schuß ein Ruß, jeder Tritt ein Brit, jeder Stoß ein Fran¬ 
zos!** Als im Frühjahr 1915 auch Italien dem Habsburgerreich den Krieg 
erklärte, bekam jene Aufschrift eine Fortsetzung: „Jeder Kracher ein Katzel¬ 
macher!“ Wer in der vielzüngigen Donaumonarchie es bis dahin noch nicht 
wußte, erfuhr es jetzt, daß „Katzelmacher** ein altes und verbreitetes deutsch¬ 
österreichisches Schimpfwort für Italiener ist. Man gebrauchte es hauptsäch¬ 
lich für herumziehende italienische Taglöhner, Musikanten, Hausierer. Ver¬ 
einzelt ist diese Schelte, besonders für frühere Zeiten, auch außerhalb Öster¬ 
reichs im oberdeutschen Sprachgebiet bezeugt; z. B. in der Schweiz in der 
Form Chätzlimacher. Es kommt auch bereits bei Hans Sachs vor. 

Katzelmacher, wellischer Katzelmacher hatte übrigens in Österreich nicht 
nur die Bedeutung Italiener, sondern wurde auch als verächtliche Bezeich¬ 
nung für andere romanische Völker verwendet. Am 13. März 1741, als die 
Kaiserin Maria Theresia ihren ersten Sohn bekam, den späteren Kaiser 
Josef II., war an einem Hause „am Hof“ ein Transparent angebracht* dessen 
gereimte Inschrift mit den Worten begann: „Du Katzelmacher, pack dich 
fort...'* Es war eine Anspielung darauf, daß die Geburt eines männlichen 
Erben Österreich vor der Gefahr bewahren werde, es könnte eine fremde 
(romanische) Dynastie Anspruch auf den Thron erheben. Jedenfalls spricht 
der Wortlaut jenes Transparents dafür, daß die Bezeichnung „Katzelmacher“ 
für die „Welschen“ um die Mitte des 18. Jahrhunderts in Wien allgemein 
bekannt war. Etwa fünf Generationen später, 1873, bezeichnet Hügels Wör¬ 
terbuch der Wiener Volkssprache den Ausdruck Katzelmacher als: veraltet, 


5) Von südslawisch iug = Süden, Mittag leitet sich außer Jause auch noch 
ein anderes Wort der österreichischen Volkssprache ab. Der Süd- oder Süd¬ 
westwind heißt in Kärnten und Steiermark der J a u k, im Salzburgischen 
Jauchwind (fälschlich auch als Jochwind gedeutet). Das Tauwetter heißt 
in Kärnten Jaugwetter oder J u s c h j e. Auch das tirolische jauschen 
= im Sonnenschein dünn regnen hängt vielleicht mit slowenisch juzi se = es 
taut (nämlich unter dem Einfluß des warmen Südwindes) zusammen, wenn 
es nicht vielleicht doch wie schweizerisch Gejänk, Jänkele == rascher Wit¬ 
terungswechsel zu schweizerisch jänkken, jänggen = jagen zu halten ist. 
i) Zwagen = die Wäsche mit einem flachen Holze schlagen. 


79 









nur in der Umgebung noch gebräuchlich. 1898 verzeichnet H. Schukowits 
im „Urquell" Katzelmacher besonders als Bezeichnung für die italienischen 
Taglöhner der k. k. Nordbahn. 

Katzelmacher war und ist tatsächlich eine verächtliche Bezeichnung, <j a . 
rüber kann kein Zweifel bestehen („man versteht die aufwallende Empö. 
rung der Romulusenkel über diesen wenig schmeichelhaften Ehrentitel" 
schrieb Prof. Knielly in der Grazer „Tagespost"), aber worin eigentlich der 
Schimpf besteht, darüber waren sich all diejenigen nicht sehr klar, die in 
den affektgeheizten Kriegstagen dieses Scheltwort im alltäglichen Gebrauch 
hatten. Gewöhnlich verknüpfte man damit mehr oder minder deutlich irgend 
welche Vorstellungen in Bezug auf die Katze: die Italiener seien Katzen¬ 
diebe, sie seien Liebhaber von Katzenbraten, sie benützten zu ihren Pelzen 
Katzenfelle, sie mißbrauchten Katzen geschlechtlich usw. Daß der Inhalt des 
Schimpfwortes vom Wortlaut beeinflußt wird, ist nicht zu vermeiden, der 
Wortforscher kann sich aber mit der Feststellung der oft spät hinzugekom¬ 
menen Bedeutungsnuancen nicht begnügen, er muß versuchen, die wirkliche 
sprachliche Herkunft des Ausdrucks aufzudecken. Es liegen mehrere Etymo¬ 
logien für das Wort Katzelmacher vor, genauer gesprochen für den ersten 
Bestandteil dieser Zusammensetzung. 

1) Vor allem erwähnen wir diejenigen, die glauben, dem sprachlichen 
Augenschein trauen zu dürfen und im ersten Teil des Ausdrucks wirklich 
die „K a t z e" sehen. Es wird eben der in das Schimpfwort offenbar nach¬ 
träglich hineingelegte Sinn, der die Italiener des Katzenessens 1 beschuldigt, 
gleichzeitig auch als das entscheidende etymologische Moment ausgegeben. 
Andere schaffen derart eine Verbindung zwischen dem Begriff des Italie¬ 
ners und dem der Katze, daß sie auf die italienischen Händler von Ton- und 
Gipsfiguren (figurini) hinweisen, die vor dem Weltkriege in deutschen 
Ländern herumzogen. Diese hätten auch kleine Katzenstatuen verkauft. Aber 
doch bei weitem nicht so viel Katzen, als Dantes, Napoleons, Goethes. 
Warum sollten dann diese Gipsfigurenhändler und alle ihre Landsleute nach 
den Katzen benannt worden sein? (Da gibt es schon viel mehr Katzen unter 
den kleinen Kunstwerken der Kopenhagener Porzellanmanufaktur, ohne daß 


i) Der Vorwurf des Katzenessens ist volkskundlich auch sonst belegt und 
diese Schelte hat sogar einen Beitrag zur Familiennamenbildung geliefert. In 
der ungarischen Hauptstadt lebt seit vielen Generationen eine aus Graubünden 
oder dem Tessin eingewanderte Familie, in der das Kaminfegergewerbe erblich 
ist. Ihr Familienname war früher Menegatta (Mangiagatta = friß* die Katz!) 
und ist mittlerweile zu „K a t z e n b e i ß e r“ verdeutscht worden. Im Wiener 
Adreßbuch 1937 finde ich den Namen Katzenbeißer 26mal vertreten. 


80 






man die Dänen jemals als Katzelmacher bezeichnet hätte.) Auf die Deutung, 
die Italiener seien Katzelmacher, weil sie es „mit Katzen machten“, d. h. 
Sodomiten seien, wollen wir weiter unten zurückkommen, wo wir die Ablei¬ 
tung von „Katzelmacher“ aus „Ketzer“ erörtern werden. 

2) Die Polenta, der beliebte Maisbrei der Italiener, wird im Italieni¬ 
schen auch cascia genannt; auch mit diesem letzteren Worte wollte man 
Katzelmacher in Verbindung bringen. (Allenfalls ist richtig, daß Spottwör¬ 
ter und Schimpfnamen, die von wirklichen oder angeblichen Lieblingsspeisen 
gewisser Völker hergenommen sind, verschiedentlich verkommen; so wer¬ 
den im französischen Argot Engländer als „biftecks“ bezeichnet und wird 
in deutschen Liedern der jüngsten Zeit von den Juden als dem „Volk der 
Knoblauchfresser“ gesungen.) 

3) Für die im Wiener „Fremdenblatt“ 1913 ausgesprochene Meinung von 
Prof. Hammer, Katzel- sei eine Verballhornung von cacio = Käse, 
spricht einzig der Umstand ein wenig, daß man die Italiener an manchen 
Orten auch „Käsestecher" nennt. (Den damals von F. Pollak erhobenen 
Einwand, in Österreich hausierende Italiener* hätten zwar mit Käse gehandelt, 
ihn aber nicht selbst „gemacht“, kann man jedenfalls nicht gelten lassen; 
volkswirtschaftliche Genauigkeit muß man von einem volkstümlichen Schelt¬ 
wort nicht verlangen.) 

4) Die Deutung von Katzelmacher aus „Kotzen macher“ (Kotze = 
zottiges Tuch, grober Teppich) ist bloß ein Einfall und durch nichts zu 
stützen. 

5) Etwas mehr hat für sich die Deutung, Katzelmacher sei eine Verder- 
bung von Kessel macher. Neben den wenigen seßhaften Kesslern, die zu 
den zünftigen und ehrbaren Handwerkern gehörten, gab es in nicht geringer 
Zahl herumziehende Kessler, wohl hauptsächlich nur Kesselflicker und Ver¬ 
käufer von anderwärts verfertigten Waren, die außerhalb der Gewerbeord¬ 
nung standen und eigene Verfassung hatten. Sie bildeten, wie das Schweize¬ 
rische Idiotikon vermerkt, ein „Königreich“ (wie etwa die fahrenden Musi¬ 
kanten, die „Pfeifer“) und hatten in der Schweiz einen Chessler-Chünig. 
Die Kessler hatten angesichts ihrer unsteten Lebensweise natürlich einen 
zweifelhaften Ruf und das Wort Kessler nahm einen entsprechenden Neben¬ 
begriff an, so daß es fast gleichbedeutend wurde mit Landstreicher, Vaga¬ 
bund. 1531 nennt Heinrich Bullinger die „widertäufferisch Rott“ eine 
Kesslergesellschaft, in der Berner Bettlerordnung 1727 werden angeführt; 
„alles frömbde Bettel- und Strolchen-Gesind, ausländische Korbmacher, 
Kessler und Spengler“. Man sprach auch von Kesslerpack, Kesslerware. 
Jeremias Gotthelf gebraucht Kesslerwesen im Sinne von: unstetes Wesen. 

8i 

6 Storfer • Sprache 









Chessler hat in der Schweiz auch die Bedeutung: Schmeichler, charakterloser 
Kerl, ferner einer, der Stimmen zur Erlangung eines Amtes erkauft, daher 
Chessleri für Wahlumtriebe. Für den verächtlichen Gebrauch von Kessler, 
Kesselflicker, Kesselmacher dürfte auch maßgebend gewesen sein, daß dieses 
Gewerbe auch von herumziehenden Zigeunern ausgeübt wurde. Auch die 
slowakischen „Rastelbinder", die vor dem Krieg in Österreich herumzogen, 
erfreuten sich keines großen Ansehens. Wenn nun Kessler, Kesselmacher 
eine allgemeine verächtliche Bezeichnung für herumziehende fremdsprachige 
Händler und Arbeiter überhaupt war, so mag dies zu gewissen Zeiten und 
an gewissen Orten auch für italienische Arbeiter und Hausierer gegolten ha¬ 
ben und es wäre grundsätzlich immerhin möglich, daß der Ausdruck „Kessel¬ 
macher" die Vorstufe von „Katzelmacher" war. 

6) Das Wort Kessel (althochdeutsch kezzil) kommt von lateinisch catinus 1 
= Napf, Schüssel, Wasserkessel der Handfeuerspritze. Dieses lateinische 
Wort hat außer „Kessel" noch einen zweiten Abkömmling, der für die Deu¬ 
tung von „Katzelmacher" herangezogen worden ist. Von lateinisch catinus 
stammt nämlich auch italienisch c a z z a (oder gazza, grödnerisch tgiazza) = 
Rührlöffel. Auch das Schweizerische und das Bayrisch-Österreichische 
weisen zur selben Wurzel gehörige Löffelbezeichnungen auf und es muß 
dahingestellt bleiben, ob sie Entlehnungen aus dem Italienischen sind oder 
zu den frühen und unmittelbaren Nachkömmlingen des Vulgärlateins in den 
alpenländischen Mundarten gehören. Der Gatzen und das Gätzi waren 
schweizerische und südösterreichische Bezeichnungen für metallene oder höl¬ 
zerne Schöpfkellen. Vom frühen Vorkommen in Österreich zeugt „Katzen" 
in einem Inventar von 1482 (O. v. Greyerz). Tirolische, kärntnerische und 
steirische Wörterbücher buchen den Ausdruck „die Gatz" oder „der Gatzen", 
Unger-Khull verzeichnet für Steiermark auch die Verkleinerung Gatzel, 
Gatzerl. In Tirol nennt man die Seihkelle zum Seihen von Flüssigkeiten, 
z. B. der Milch, Seichgatzl. Nun haben die italienischen Hausierer, die in 
Österreich, vor allem natürlich im benachbarten Tirol, mit allerlei billigen 
Waren herumzogen, unter anderem auch Schöpfkellen und hölzerne Löffel 
verkauft, und man mag von ihnen angenommen haben, daß sie solche primi¬ 
tive Küchengeräte, „Gatzen", selbst anfertigten. Die Bezeichnung Katzel¬ 
macher sei also zunächst gar kein Schimpfwort gewesen, sondern eine sach¬ 
liche Feststellung des Gewerbes der italienischen Holzlöffelmacher und -Ver¬ 
käufer, das Wort habe nur einen verächtlichen Charakter bekommen, weil 

i) Die Umwandlung von n zu 1 zeigen nach der Zusammenstellung von 
Kluge-Goetze außer catinus-Kessel auch: Esel aus lateinisch asinus, Igel zu 
griechisch echinos, Himmel zu gotisch himins, Kümmel aus semitisch kammun. 

W 

82 





eben die herumziehenden Löffelverfertiger, die „Löffler", als ebenso ver¬ 
ächtlich galten, wie die unzünftigen Kessler, Spengler und alles fahrende 
Volk. Der stärkste Einwand gegen die Deutung von Katzelmacher als Gatzl- 
(cazza-, Löffel-) macher ist, daß der Ausdruck Katzelmacher bereits zu 
Jnc-r Zeit bestand, als noch keine italienischen Hausierer und Handwerker 
durch die deutschen Lande zogen. 

7 ) £j ner weiteren Etymologie von Katzelmacher liegt eine Vokabel des 
italienischen erotischen Wortschatzes zugrunde: cazzo = männliches 
Glied. Aus dem Worte cazzo ist bereits vor vier Jahrhunderten ein deut- 
v-her Ausdruck gebildet worden und zwar einer, der — nach dem Grund¬ 
sätze pars pro toto — zur Bezeichnung eines Menschentypus diente. Der 
Leipziger Michael Lindener hat 1558 eine derbe, besonders auch in eroticis 
sich wenig Zurückhaltung auferlegende Schwanksammlung unter dem Titel 
„Katzipori" veröffentlicht („darinn newe Mugken, seltsame Grillen, uner¬ 
hörte Tauben, visirliche Zotten verfaßt und begriffen sind"). Der öfters vor¬ 
kommende Ausdruck Katzipori — Lindener gebraucht diese Form sowohl 
als Einzahl als auch als Mehrzahl — kommt anscheinend von italienisch 
cazzo == penis und bedeutet nach E. Trauschke dort etwa: geiler, auf derbe 
Liebesabenteuer erpichter Geselle, vielleicht auch schlechthin „Kinder- 
macher". 

Zu „Katzelmacher" soll das italienische Wort cazzo auf dem Wege seiner 
Rolle als Fluch wort führen. Daß der Italiener den Ausruf cazzo für 
jjde Gelegenheit bereit halte, ohne sich um den obszönen Wortsinn zu küm¬ 
mern, wußte man auch außerhalb Italiens. In Blumauers Äneis-Travestie 
(1788) lautet eine Stelle: „Er sperrte Maul und Augen auf und rief zu 
allem: cazzo." Unter anderem soll auch Benedikt XIV., der um die Mitte 
des 18. Jahrhunderts auf St. Petri Stuhl thronte, den Ausruf cazzo ständig 
ini Munde geführt haben. Als ein Höfling ihn an die Schmutzigkeit des 
Wortes zu erinnern wagte, soll er erwidert haben: „Cazzo, cazzo! Ich werde 
cs so oft sagen, bis es nicht mehr schmutzig ist, cazzo!" Mirabeau erzählt 
die Anekdote von den Studenten in Padua, die einmal mitten in der Nacht 
einen Professor weckten und in den Vorlesungssaal holten, damit er über die 
richtige Schreibweise eines Wortes entscheide, das zu den allerhäufig- 
s t e n im italienischen Sprachgebrauch gehöre. Als sich nun der Gelehrte im 
vollen Ornat die Streitfrage vorlegen ließ, stellte sich heraus: es war die 
Frage, ob man cazzo mit einem oder mit zwei z zu schreiben habe. 

Der Ausruf cazzo hat nicht nur den Charakter eines Fluches, sondern ist 
aiiLh der Ausdruck der Überraschung, der Ungeduld, der Ablehnung, paßt 
sich überhaupt der Gesprächslage in ebenso schmiegsamer Weise an, wie 




83 








etwa im Bayrisch-Österreichischen das Götz-Zitat. Der Ausruf cazzo wird 
auch häufig als Schmähruf verwendet, z. B. gegen einen Dummkopf. Beson¬ 
ders ist auch in jenen italienischen Gebieten, die mit dem Deutschtum nach¬ 
barlich in Berührung kommen, der Gebrauch von cazzo gang und gäbe. So 
ist im teilweise gemischtsprachigen Friaul cazz! ein verbreiteter Ausruf im 
Sinne etwa von „Potztausend“ 1 . 

Daß Katzelmacher vom italienischen Sexualwort cazzo, bezw. von dessen 
fluchartiger Verwendung kommt, wird von Schmeller, Lexer und Unger- 
Khull vertreten. Mit dem Ausdruck Katzelmacher habe man die Angehörigen 
des italienischen Volkes bezeichnet, weil man sie an dem häufigen und typi¬ 
schen. Ausruf cazzo erkannte 2 . Der Ausdruck Katzelmacher gehört also nach 
dieser Deutung zu jenen Spitznamen für einzelne Menschen, Menschentypen 
oder ganze Völker, die nach einem Lieblingsausdruck oder einem Lieblings¬ 
fluch gebildet sind, wie z. B. französisch le goddam für Engländer, spanisch 
didones (von dis-donc) für Franzosen usw. (Vgl. die diese sprachliche 
Erscheinung betreffenden Ausführungen unter dem Stichwort „Janhagel in 
„Wörter und ihre Schicksale".) 

8) Als letzte behandeln wir jene Deutung von Katzelmacher, die das 
Wort von K e t z e r (Abtrünniger des richtigen Kirchenglaubens) ableitet. 
Diese Deutung hängt mit einer Epoche der Religionsgeschichte zusammen. 
Seit Ende des 10. Jahrhunderts kommen von der Balkanhalbinsel verschie¬ 
dene ketzerische Richtungen herüber, die besonders in Norditalien, in der 
Schweiz und in Südfrankreich Boden fassen und deren Anhänger unter ver¬ 
schiedenen Namen — Katharer, Gazari, Manichäer, Albigenser usw. 


1) Der italienische Ausruf cazzo hat auch im e n g 1 i s c h e n Slang Eingang 
gefunden; z. B. heißt es einmal bei Dickens (im Oliver Twist, 1838): „Gadso! 
said the undertaker“. Der Ausruf erscheint im Englischen auch zu gadzooks 
verderbt. Farmer-Henleys großes Slangwörterbuch (1893) spricht von einem 
Überbleibsel des Phallizimus in gewissen volkstümlichen Flüchen und Aus¬ 
rufen, besonders bei den romanischen Völkern und verweist auf spanisch carajo 
(eigentlich: penis) und cojones (eigentlich: Hoden) und auf italienisch cazzo. 

2) österreichische Teilnehmer am italienischen Feldzug 1859 erzählten, es 
sei unter den Soldaten der Glaube verbreitet, die Italiener pflegten ihre Gefan¬ 
genen zu kastrieren und ihnen das abgeschnittene Glied in den Mund zu 
stecken; die Italiener nannten dieses Verfahren fare il cazzo, den Cazzo 
machen und daher rühre das Schimpfwort Katzelmacher. Daß unter den öster¬ 
reichischen Soldaten Gerüchte von solchen Grausamkeiten verbreitet sein moch¬ 
ten und daß solche Gerüchte zu jener Deutung des Schimpfwortes Katzel¬ 
macher führen mochten, soll nicht bezweifelt werden. Daß es jedoch nicht die 
richtige Etymologie ist, geht schon daraus hervor, daß das Schimpfwort viel 
älter ist. 


84 






bekannt waren. Die Häresie — ihre wichtigste religiöse These war duali¬ 
stisch: Gott als Herr des Himmels, der Teufel als Schöpfer und Herr der 
Er j e 1_ verbreitete sich rasch in allen Ständen der Bevölkerung und gelangte 
im 12. Jahrhundert zu großer Bedeutung. Sie erhielt sich bis an den Anfang 
des 14 Jahrhunderts, nachdem sie bereits eine derartige Ausdehnung erreicht 
lütte, daß zu ihrer Bekämpfung besondere Kriege (Albigenserkreuzzüge) 
geführt werden mußten. Die endgültige Ausrottung besorgte die Inquisition. 

Dem Kampf mit Feuer und Schwert ging, wie es gewöhnlich der Fall ist, 
auch einer mit geistigen Waffen voraus. Die Kirche ließ über die Irrgläubi¬ 
gen verbreiten, daß sie Unzuchtorgien feierten, bei denen sie den Teufel in 
Gestalt eines Bockes oder einer Katze anbeteten. Knielly weist darauf hin, 
daß in alten bildlichen Darstellungen Ketzer und Hexen einer Katze huldi¬ 
gend den Hintern küssen. Auf Grund solcher Vorstellungen mengte sich 
schon im 12. Jahrhundert der lateinische Ausdruck catarus (Katharer 1 , von 
griechisch katharos = rein 2 ) mit lateinisch catus = Kater 3 . Unter Verken¬ 
nung der Abstammung aus griechisch katharos und mit bewußt wortwitz- 
artiger Etymologie, wie sie zu polemischen Zwecken stets beliebt war, schrieb 
z. B. Alanus in seiner Schrift „Contra Waldenses" : catari dicuntur a cato, quia 
osculantur anum cati, in cuius specie, ut dicunt, apparet eis Lucifer, sie heißen 
Katharer nach dem Kater, weil sie den Hintern des Katers küssen, in dessen 
Gestalt, wie sie sagen, Lucifer ihnen erscheint. In einer lateinischen Predigt 
des 14. Jahrhunderts heißt es ähnlichen Sinnes: unde bene chetzer dicitur 
(haereticus), quod sicut cattus multos inficit, postquam buffonem in 
occulto lingit. Und schon im 13. Jahrhundert bringt der Franziskaner Bert- 
hold von Regensburg den Namen der „Ketzer" mit der „Katze" in Ver- 
bindung. 

Nach Ausrottung der Katharer verblieb das Schimpfwort Ketzer weiter 
im deutschen Sprachgebrauch, besonders bei den südlichen Sprachstämmen, 
u. zw. einerseits als Schelte für Italiener (weil doch die alte Häresie bei ihnen 
verbreitet gewesen war), andererseits als allgemeines Scheltwort. Elsässische 

1) Ungerechtfertigterweise hat man übrigens die Bezeichnung Katharer auch 
mit der dalmatinischen Stadt Cattaro in, Verbindung gebracht; man nannte 
die Sektierer daher auch Cattarener. 

2) Ein anderes Beispiel aus der Religionsgeschichte, wo die Anhänger einer 
Sekte sich als die „Reinen“ bezeichnen, liefern die englischen Puritaner (zu 
lateinisch purus, rein). 

3) Nicht nur mit griechisch katharos = rein berührt sich der Name der 
männlichen Hauskatze zufällig, sondern auch mit griechisch katarrhus = 
Herabfluß (deutsch: Katarrh), woher daher wohl Kater = Katzenjammer 
kommt (vgl. S. 195). 


8j 









Kraftausdrücke sind z. B.: du dummer Ketzer, Ketzerbu, Ketzerwetter, e 
ketzeri Kälte. Schweizerisch: fuler Chetzer, wüester Chetzer usw. Aus dem 
Bernischen ist verzeichnet worden: er louggnet (leugnet) wie ne Chätzer; 
im Dörfli ume chätzere (herumstrolchen) ; er het e Chätzer, es Chätzerli 
(Rausch, Räuschlein). Dabei ist die sodomitische Komponente auch nach 
dem Verschwinden der Katharer nicht ganz verblaßt. Die religiösen Gegen¬ 
sätze während der Reformation haben vielmehr dazu beigetragen, daß An¬ 
dersgläubige wieder den Vorwurf der widernatürlichen Wollust zu hören 
bekamen. Bei Johannes Fischart taucht das Schimpfwort Katzenhinternlecker 
auf. Die protestantischen Berner wurden verdächtigt, sich in ihren religiösen 
Zeremonien an Katzen zu versündigen und wurden daher von ihren katholi¬ 
schen Nachbarn „Katzenküsser" geschimpft, und ein langwieriger Grenzkrieg 
mit den Unterwaldnern, in den Bern verwickelt wurde, soll auch diese 
Schmähung zur Ursache gehabt haben. 

Im Schimpfwort Ketzer, selbst wenn es nur eine Umgestaltung von 
katharoi, die Reinen, bezw. der damals in der Po-Ebene verbreiteten italieni¬ 
schen Form gazari sein sollte, klang also der Vorwurf des Katzenhintern¬ 
küssens mit und Ketzer könnte demnach auch ein abgekürzter Ausdruck 
jenes Vorwurfs der Sodomie sein. Und wenn später aus Ketzer Katzelmacher 
geworden ist, so hat sich nur der in jenem kurzen Schimpfwort latent 
gebliebene obszöne Vorwurf wieder einen deutlichen sprachlichen Ausdruck 
verschafft. Warum dabei aus Ketzer gerade Katzel m a c h e r geworden sei, 
bliebe noch ungeklärt. Mitgewirkt hat dabei vielleicht der seit dem 15. Jahr¬ 
hundert gebrauchte Ausdruck „Ketzermacher" = ein Mensch, der andere 
zu Ketzern machen will, verleumdet oder heimtückisch betrügt. 

Jedenfalls ist zu beachten, daß — auch wenn angenommen wird, daß 
„Katzelmacher" tatsächlich von Ketzer kommt — die eigentliche Etymo¬ 
logie von Katzelmacher noch nicht am Ende ist, denn auch für das Wort 
„Ketzer" selbst stehen drei verschiedene Ableitungen zur Wahl: 

a) die schon erwähnte vom Namen der Katharersekte, also mittelbar aus 
griechisch katharos = rein, wobei sich demnach die Bedeutung aus der 
Vorstellung der Reinheit grade; zur verruchten Unreinheit und Unkeuschheit 
verkehrt hätte, 1 


1) Mit den Sekten der Katharer, Albigenser und Waldenser hängt auch ein 
verbreitetes französisches Schimpfwort zusammen: bougre = Schuft, ver¬ 
worfener Kerl kommt vom Namen der Bulgaren, weil die Sekte der Bogo- 
milen in Bulgarien verbreitet war, bezw. weil die Bulgaren schon als Ange¬ 
hörige der orientalischen Kirche als Ketzer galten. Unmittelbar scheint das 
französische Schimpfwort auf italienisch buggerone, bugiarone = Sodomit (aus 


8 6 




b) die Ableitung von Katze, * 1 so daß „Ketzer" eigentlich „Katzer" 
heißen sollte, hätte die alemannische Form Chätzer nicht zu schriftsprach- 
lieh Ketzer geführt; 

c) die von Collitz und Kluge-Götze vertretene Auffassung, die Ketzer 
(und seine älteren Nebenformen Kötzer, Quetser) auf das Zeitwort quet¬ 
schen (zu lateinisch quatere = schütteln, stoßen, zerschmettern) zurück¬ 
führt, dessen alter Sinn verletzen, zertrümmern, schädigen ist, so daß Ketzer 
die eigentliche Bedeutung Schädiger, Schänder hätte. 

Rückblickend auf all diese Deutungen von Katzelmacher sehen wir also, 
daß man den Ausdruck ableitet: von Katze, und zwar unmittelbar (1) oder 
über Ketzer (8b) oder von cascia = Maisbrei (2) oder von cacio = Käse 
(3) oder von Kotze == Teppich (4) oder von Kessel (5) oder von cazza 
= Rührlöffel (6) oder von cazzo = Penis (7) oder von katharos = rein 
über Ketzer (8a) oder von quetschen über Ketzer (8c). 

Es darf angenommen werden, daß in gewissem Sinne mehrere Quellen 
bei der Entstehung der Schelte Katzelmacher Zusammenflossen, daß bedeu¬ 
tungsgeschichtliche Quereinflüsse auf die Wortform eingewirkt haben, daß 
also ein Fall von etymologischer Überdeterminierung vorliegt. (Zur Frage 
der „Überdeterminierung" vgl. das Stichwort „Gas" in „Wörter und ihre 
Schicksale"). 


lateinisch bulgarus = Bulgare) zurückzugehen; das italienische Zeitwort 
buggerare bedeutet: widernatürliche Unzucht treiben, schänden; in übertrage¬ 
nem Sinne; betrügen. Daher auch im Deutschen Buserant = Homosexuel¬ 
ler. Wir sehen also auch im Falle Bulgare-bougre, wie beim deutschen Schimpf¬ 
wort Ketzer, die Vorstellungen Irrgläubiger und Tierschänder ineinander* 
fließen. 

i) Die Verknüpfung der Vorstellungen Ketzer und Katze ist auch 
selbst mehrfach begründet. Zunächst bezieht sie sich auf die angeblichen un¬ 
sittlichen Vorgänge bei den Irrgläubigen. Wobei auch zu bemerken ist, 
daß die Italiener überhaupt für die benachbarten Deutschen Jahrhunderte 
hindurch als Träger der unnatürlichen Wollust galten. Geiler von Kaisersberg 
(1445—15 10 ), der gegen die Kuh-, Buben- und Frauenketzer wettert, nennt 
die perversen Ausschreitungen an Tieren, besonders an Ziegen und Katzen: 
„der Walen (Welschen) Kezerey“. Eine andere Bedeutungsbrücke zwischen 
den Vorstellungen Ketzer und Katze ist die nächtliche Betätigung. Zwei 
gelehrte Jesuiten, Jakob Grether und Gottfried Henschen, vertraten die Mei¬ 
nung, man habe die Irrgläubigen „Kater“ (katharoi) genannt, weil sie, wie 
die Kater, ihre Versammlungen bei Nacht abhalten. Und endlich ist auch der 
Umstand, daß die Katze als falsch und heimtückisch gilt, für die Verbindung 
Katze-Ketzer förderlich, zumal da die Italiener, die dem süddeutschen Volke 
als Träger religiösen Irrglaubens bekannt waren, außerdem auch als beson¬ 
ders falsch galten („ein Wälscher ist ein Verfälscher“). 


87 









Killen 

kennt das Grimmsche Wörterbuch (der Band K ist aus dem Jahre 1873) 
nur in der Bedeutung „liebkosen" (dazu kille = sanft, zärtlich, traulich 
und schwedisch kela, dänisch kjäle = liebkosen, hätscheln). Etymologisch 
ganz unabhängig von dieser Wortsippe ist der drastische Ausdruck killen = 
töten 1 , der erst in der Nachkriegszeit zur allgemeinen Verbreitung gelangt, 
obwohl er als Volksausdruck gelegentlich bereits früher erscheint. Er geht 
auf eine anscheinend germanische Wurzel zurück, die im englischen Zeit¬ 
wort to kill == töten fortlebt. Killed in action war im Krieg der amtliche 
Ausdruck für: im Gefecht gefallen; to kill time, sagte der Engländer, indes 
wir die Zeit vorzugsweise nicht töten, sondern nur vertreiben; to kill two 
birds with one stone = zwei Vögel mit einem Stein erschlagen — ein Vor¬ 
gang, wo der Deutsche mit Fliegen vorlieb nimmt. 

Im Englischen bedeutet das Zeitwort kill aber nicht nur töten, sondern 
auch vernichten, beseitigen, aufheben, daher z. B. in der amerikanischen 
journalistensprache auch: eine Stelle tilgen, streichen (das „deleatur!" un¬ 
serer Buchdrucker). Diese Bedeutung war französischen Beamten offenbar 
nicht bekannt, denn als 1920 ein amerikanischer Journalist in Paris seinem 
Blatte als Nachtrag zu einer vorher abgesandten Depesche kabelte: „kill 
lloyd george" (Streiche Lloyd George, nämlich die ihn behandelnde Stelle) 
wurde er wegen Verdachts eines Mordkomplotts verhaftet und erst nach 
sprachkundlicher Aufklärung von Seiten der amerikanischen Botschaft frei¬ 
gelassen. 

Knickebein 

ist ein Likör, dem ein ganzer Eidotter beigegeben ist. Der Name wird so 
aufgefaßt, daß diese Mischung in die Beine geht, die Beine knickt. Über 
das Entstehen des Ausdrucks gibt es eine dichterische Überlieferung. Es 
heißt in einem Studentenliede, das eine scherzhafte Nachbildung eines Ge¬ 
dichtes von Schenkendorf ist: „Als der Sandwirt von Passeyer — Innsbruck 
hatt' mit Sturm genommen, — Ließ er sich ein Dutzend Eier — Und ein 
Dutzend Schnäpse kommen, — Machte daraus eine Mischung, — Schlürft’ 
sie mit Behagen ein. — Seitdem nennt man die Erfrischung — In ganz 
Deutschland Knickebein." 

i) Zu einer dritten etymologischen Gruppe scheint der ostfriesische Aus¬ 
druck Kille = Rinne, natürliche Wasserleitung zu gehören. Er dürfte ver¬ 
wandt sein mit kollern = sich rollend bewegen und daher auch mit Kugel 
und mit Keule (Stock mit verdicktem, kugelförmigem Ende). 


88 




Aber nach anderer studentischer Überlieferung wird die Erfindung des 
Knickebeins nicht mit dem Tiroler Freiheitshelden Andreas Hofer verbun¬ 
den sondern mit einem mecklenburgischen Studio zu Jena; er sei stets mit 
eingeknickten Beinen gegangen, daher habe sein Lieblingsgetränk seinen 
Spitznamen Knickebein geerbt. 

Jedenfalls ist das Wort Knickebein als imperativische Bildung aufzufas¬ 
sen, als eine zum Hauptwort erstarrte Befehlsform nach Art von Vergi߬ 
meinnicht, Stelldichein, Tunichtgut, Luginsland. Gerade unter den volks¬ 
tümlichen Bezeichnungen für Schnäpse finden sich viele solche er¬ 
starrte Imperative. So kennen zum Beispiel niederdeutsche Mund¬ 
arten den Ausdruck Smitum („schmeiß um!") für Branntwein. Ein Leip¬ 
ziger Ausdruck für Schnaps lautet: Wuppdich. Hessisch ist: Rackermich- 
dichtig. Eigentlich ist auch das Wort Schnaps selbst imperativischer Her¬ 
kunft: „schnapp es!". Im Französischen heißt ein starker Schnaps casse- 
gueule, das heißt: „Spreng die Kehle". Noch drastischere und ebenfalls 
imperativische Volksausdrücke der Franzosen für einen starken Schnaps 
sind casse-pattes (Brich die Pfoten) und roule-par-terre (Wälz dich auf dem 
Boden). 

Kur ' ' . ! : : : 

In dem Satze „Der kurländische Kurier läßt sich nicht kuranzen, er hat 
Kurage und macht der Tochter des kurfürstlichen Kurschmieds die Kur" 
kommt siebenmal „Kur" vor, und jedesmal ist diese Lautfolge anderer Her¬ 
kunft und anderer Bedeutung. 

1) Kur im Worte Kurland ist der Name der Kuren, eines einst an der 
Ostsee lebenden, vielleicht finnisch-ugrischen Volkes, das in die Liven, 
Letten und Litauer aufging und dem von ihnen bewohnten Lande den Na¬ 
men Kurland gab. (Daher auch Kurisches Haff, Kurische Nehrung.) 

2) Kur- = Lauf. Von lateinisch c u r r e r e (Supinum: cursum), fran¬ 
zösisch courir kommen außer Kurier = Eilbote auch die Fremdwörter 
kurant = laufend, gangbar („Preiskurant" ist eigentlich ein Verzeichnis 
der eben laufenden, d. h. der gültigen Preise), Kurrende (Laufchor, von 
Haus zu Haus wandernde, singende Schüler), Kurs (Lauf, Umlauf, Lehr¬ 
gang), kursiv, Exkurs, Diskurs, Rekurs, Sukkurs, Konkurs, Konkurrenz, 
curriculum u. a. m., auch Korso und Korsar (daraus „Husar", s. dieses 
Stichwort in „Wörter und ihre Schicksale“). 

3) Kuranzen = in Zucht nehmen, hart anfassen, kommt — ebenso wie 
unser Fremdwort Karenz = Wartezeit, Sperrfrist — von mittellateinisch 


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c a r e n t i a = Bußübung mit Geißeln (zu lateinisch carere = entbehren 
einem Orte fern bleiben) und hat ursprünglich in verschiedenen Mundar¬ 
ten noch karanzen oder koranzen gelautet. 

4) Kur- in französisch courage = Mut aus coeur — Herz, das auf 
lateinisch cor, cordis zurückgeht, ist auch enthalten in unseren Fremdwör¬ 
tern kordial, Akkord, Rekord, Konkordat; auf die griechische Vertretung 
dieser Sippe (kardia = Herz) gehen Fachausdrücke der Medizin, wie endo- 
card, pericard zurück. 

5) Kur- = Wahl kommt besonders in Zusammensetzungen vor wie: 
Kurfürst (Fürst, der an der Kaiserwahl beteiligt ist), Kurmark, Kurhessen, 
Kurpfalz, Willkür (früher auch Willens Kür, z. B. im Faust: „Des allge¬ 
meinen Willens Kür bricht sich an diesem Lande hier"), Walküre (die 
unter den Toten des Schlachtfeldes, der „WaT-statt, wählt), Kürturnen 
(bei dem sich jeder nach eigener Wahl turnerisch betätigen kann, im 
Gegensatz zum Riegenturnen), Kürlauf, kurz auch „die Kür" genannt 
(Vorführung nach eigener Wahl bei den Wettbewerben im Kunsteislauf, 
im Gegensatz zum Pflichtlauf), Kurkind (Wahlkind, d. h. Adoptivkind). 
Die Silbe kur oder kür in allen diesen Wörtern dürfte urverwandt sein mit 
altindisch jus = erwählen, gern haben und mit lateinisch gustus, Geschmack 
(Zeitwort gustare) 1 , auf dem u. a. italienisch gusto, französisch goüt 2 = 
Geschmack, französisch choisir, englisch choose = wählen fußen. Von alt¬ 
hochdeutsch kiosan (gotisch kiusan) = prüfend wählen leiten sich die alter- 
tümelnden Zeitwörter kiesen und küren 3 , erküren 4 ab (daraus auserkoren 
= auserwählt). In Mundarten finden wir heute noch kiesig = wählerisch 


1) Die in gustare vorausgesetzte indogermanische Stammwurzel wird auch 
in Augur (aus avis = Vogel und gustare) = Vogelprüfer, Zeichendeuter 
vermutet, so daß vielleicht auch das Fremdwort inaugurieren zu dieser 
großen Sippe Kurfürst — Willkür — auserkoren — Ragout — kosten gehört. 

2) Dazu auch unsere Fremdwörter Degout, Ragout, in denen noch die la¬ 
teinischen Vorsilben de- und re- enthalten sind. 

3) Neuerdings scheint der Gebrauch von „küren“ eine Belebung zu er¬ 
fahren, offenbar weil dieses Zeitwort geeignet erscheint, das wegen der 
Verfemung demokratischer Einrichtungen unansehnlich gewordene Zeitwort 
„wählen“ zu ersetzen. So spricht z. B. der sudetendeutsche Führer Konrad 
Henlein im Jahrbuch 1935 des Volksbunds für das Deutschtum im Ausland 
von den Männern, „die um ihren in Treu gekürten Führer in unbedingter Ge¬ 
folgschaft stehen.“ 

4) Zur Frage der Wandlung des s zu r (kiesen = küren) vgl. die Ausfüh¬ 
rungen über „Rhotazismus 46 im Anschluß an das Stichwort „Hoffart“ in 
„Wörter und ihre Schicksale“. 


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beim Essen, kören = wählen auf dem Viehmarkt. Der Familienname Kiese¬ 
wetter bedeutet wörtlich: Prüf-das-Wetter, Beurteile-das-Wetter, Schau- 
nach-dem- Wetter. Zu dieser Sippe gehört schließlich auch das Zeitwort 
kosten" = durch Schmecken prüfen. 

6 ) Kur- = Sorge gehört zu lateinisch c u r a und ist seit Anfang des 
16 Jahrhunderts im Deutschen für ärztliche Fürsorge gebräuchlich. Die 
Wurzel kommt in vielen Ableitungen und Zusammensetzungen vor: kurie¬ 
ren kurabel, kurios (eigentlich: besorgt, interessiert), Kurarzt, Kurort, Kur¬ 
salon, Kurtaxe, Kurschmied (Hufschmied, der die Tiere auch heilt), Kur¬ 
pfuscher, Kurat, Kurator, Kuratel, akkurat, Sinekure, Prokura, Prokurist, 
Prokurator (im Ungarischen zu prökator verkürzt), Pediküre, Maniküre, 
Custor, Custos. Zu lateinisch cura = Sorge gehört ferner auch se-curus = 
sicher, daraus italienisch sicuro, französisch sür (aber neben sürete auch 
securite), englisch secure und sure, im Deutschen vertreten nicht nur durch 
das Fremdwort Assekuranz, sondern auch durch das Lehnwort „sicher". 

7) Kur- = Hof — besonders in Kur machen (Hof machen, „hofie¬ 
ren"), Kurtisane, Courtoisie — kommt von französisch cour = Hof und 
dieses (über mittellateinisch cortis, fürstlicher Hof) aus lateinisch cohors 1 
__ eingezäunter Raum, Abteilung, Soldatenabteilung, worauf mittelbar auch 
unsere Fremdwörter Kurie, kurial, Kortege (Ehrengefolge), Cortes (spani¬ 
sches Parlament) fußen. 


Lücken büßen 

Lücke (althochdeutsch lukka) ist verwandt mit „Loch", dessen ursprüng¬ 
liche Bedeutung: Verschluß, Gefängnis, verborgener Aufenthalt, Höhle, 
Öffnung. 

Büßen ist verwandt mit gotisch bota = Besserung, das sowohl mit besser 
und best (samt dem zu diesem Komparativ und Superlativ gehörigen heute 
veraltet klingenden baß) zusammenhängt, als auch mit Buße. Das althoch¬ 
deutsche buoza im Sinne Besserung, Gutmachung hat sich immer mehr auf 
das rechtliche und kirchliche Gebiet verengt, daher ist Buße gleich Geld¬ 
strafe, eine Genugtuungshandlung aus Reue. Der allgemeine Sinn der 


i) Im lateinischen cohors ist vermutlich enthalten hortus = Garten, 
mit dem urverwandt ist deutsch Garten (althochdeutsch garto, gotisch 
gards = Haus, altnordisch gardr = Zaun, Gehege, Hof). Auf diese germa¬ 
nischen Wurzeln gehen zurück sowohl französisch jardin und englisch garden 
und yard, als auch altslawisch g r a d = Burg, Stadt, Garten (enthalten in 
Ortsnamen, wie Beograd, Visegrad, Nowgorod, Gradiska, Graz, Stargard usw.). 


91 










1 

Besserung hat sich aber erhalten in gelegentlich noch vorkomnienden 
süddeutschen Ausdrücken „das Garn büßen” (das Netz ausbessern) und 
Altbüßer = Flicker (Flickschuster) und in der schriftsprachlichen Redens¬ 
art Lücken büßen, d. h. wörtlich die Lücken ausbessern, ausfüllen. Luther 
übersetzt Nehemia 4,7: „höreten, daß die Mauern zu Jerusalem zugemacht 
waren, und daß sie die Lücken angefangen hatten zu büßen.” Bei Luther 
hieß es auch noch Hunger, Krankheit büßen, d. h. dem Hunger, der Krank¬ 
heit abhelfen. Auch bei Hans Sachs ist zu lesen: „Ich bitt, gebt mir ein 
Bissen Brot, zu büßen hier dem Hunger mein.” 

In Magdeburg gab es eine Kessel b e i ß e r Straße, was eine Verderbung 
des früheren Namens Kesselbüßergasse war. Die dort wohnten, und nach 
denen die Straße benannt war, waren weder kesselbeißende „Eisenfres¬ 
ser”, noch hatten sie wegen irgendwelcher Kessel Buße tun müssen. Sie 
büßten (besserten) die Kessel, waren also Kesselflicker (was man in Öster¬ 
reich Rasteibinder nennt). Die Altbüßer waren Schuhflicker. In Basel und 
Straßburg gab es Stadtquartiere „Unter Altbüßern”. (Geiler von Kaisersberg: 

„Die Altbüßer sitzen in den Winkeln, in den kleinen engen Gesslin”). 

Auch in Breslau und Hildesheim gab es Altbüßergassen; im letzteren Orte 
wurde dann aus Oltböter (so hieß die Gasse im 14. Jahrhundert) verderbt: 
Altpetristraße. Auch im Stettiner Straßennamen Oltbötenweg steckt wohl 
Altbüßer = Schuhflicker. Aus dem 15. Jahrhundert ist belegt die Berufs¬ 
bezeichnung : „grindt buesserin” = die mit Behandlung des Kopfausschlags 
der Kinder betraute Frau. 

In Schillers Teil mahnt Gertrud: „Willst du erwarten, bis er die böse 
Lust an dir gebüßt?” Seine Lust büßen bedeutet: dem Lusthunger 
abhelfen, also Lust stillen. Die Redensart ist heute kaum noch gebräuchlich, 
man würde sie mißverstehen und gerade das Gegenteil darunter verstehen: 
für empfundene Lust eine Strafe erleiden. Im Badischen sagt man: de gluste 
(Gelüste) biesse und versteht darunter: seinen Willen erfüllt bekommen. 

In manchen Gegenden versteht man unter „Büßen einer Krankheit” ein 
abergläubisches Heilzeremoniell, einen Kultakt zur Vertreibung des Krank¬ 
heitsdämons (z. B. im Badischen: „die Zähne büßen”). 

Mob 

wird heute im Deutschen nicht mehr so häufig gebraucht wie früher. Ge¬ 
wöhnlich tritt das Fremdwort in Wendungen wie Großstadtmob, Mob der 
Straße, plündernder Mob auf. Bis Mitte des 19. Jahrhunderts wurde es in 
Deutschland nur auf Londoner Verhältnisse angewandt. Nach Deutschland 


92 



1 ngte das Wort Mitte des 18. Jahrhunderts aus England, wo es im 17. 
lahrhundert entstanden war. Bis dahin schimpfte man dort den Tumulte ver¬ 
ursachenden Haufen the rabble (vom Zeitwort to rabble = durcheinander¬ 
zerren zerknüllen, in lärmenden Haufen überfallen). In den politisch 
unruhigen Zeiten Karls II. 1 begann man auf den Zusammenkünften der 
konservativen Klubs statt auf den rabble, auf das mobile oder den mob zu 
schimpfen. Mob war allem Anschein nach die Abkürzung von lateinisch 
mobile vulgus (wankelmütige Menge, Stelle bei Claudius) oder von 
mobilium turba Quiritium (der wankelmütigen Quiriten Schar, bei Horaz) , 2 
Über die Neigung der englischen Sprache zu solchen Wortstutzungen s. die 
Ausführungen über das Überhandnehmen einsilbiger Wörter, S. 284f. 

Aus dem Hauptwort the mob machte die englische Sprache auch das 
Zeitwort to mob = tumultieren, mißhandeln, pöbelhaft ausschimpfen und 
als satirischen Wortwitz mobility 8 = Pöbelhaftigkeit, im scherzhaften Gegen¬ 
satz zu nobility = Adel. Nach Christian Rogge, der den fruchtbaren Ge¬ 
danken von Quereinflüssen in der Wortgeschichte oft übertreibt und überall 
Verschmelzungswörter sieht, ist Mob überhaupt eine Verschmelzung: masse 
+ nobility 4 . 

Außer der auf das 17. Jahrhundert zurückgehenden Wortstutzung Mob 
_ Pöbel, gibt es noch eine moderne: Mob sagte man kurz in den letzten 
Jahrzehnten der k. u. k. Armee in Generalstabskreisen und in den militäri¬ 
schen Ämtern an Stelle von Mobilisierung, Mobilmachung; man 
sprach vom Mobfalle, von Mobvorschriften usw. In England nannte man 
das Depot, in dem die Rekruten die Kleidungs- und Ausrüstungsgegen- 


i) Über das Jahr 1680 in welchem die Tories über die Frage des Thron¬ 
folgerechts des katholisch gewordenen Bruders des Königs einen Sieg über die 
Whigs errangen, schreibt Macaulay in seiner Geschichte Englands: In that 
year our tongue was enriched with two words Mob and S h a m (Betrug), 
remarkable memorials of a season of tumult and imposture. 

l) Der gedanklichen Verbindung zwischen den Begriffen Menge und Wan¬ 
kelmut begegnet man wiederholt in Shakespeares Dramen. So heißt es z. B. 
im Prolog zu Heinrich IV.: the still-discordant wavering multitude, die im¬ 
mer streitige, wandelbare Menge; und Coriolan spricht von the mutable, rank¬ 
scentend many, der wankelmütigen, stinkigen Menge. In Schillers Maria Stuart 
sagt Elisabeth: Die wankelmütige Menge, die jeder Wind herumtreibt. 

3) Jonathan Swift hat, gerade umgekehrt, in seiner „Kunst der politischen 
Konversation“ mobility als den älteren Ausdruck angesehen und mob als seine 


Abkürzung. 

4) „Besonders lehrreich ist,“ polemisiert Rogge, „wie selbst ein Pott, durch 
zuversichtliche Angaben englischer Scharlatane irregeführt, englisch mob aus 
lateinisch mobile vulgus erklären konnte und übrigens auch Holthausen noch 
heute tut.“ 


93 











stände erhielten: mob-store (statt mobilization störe). Übrigens finden wir 
im Slang der englischen Soldaten im Weltkriege den Ausdruck mob auch 
zur Bezeichnung eines Regiments, eines Bataillons oder sonst einer Einheit. 
This mob is always on the move, sagte man von einem Truppenkörper, der 
immer hin und her verschoben wurde. What mob are you, welcher Mob 
seid Ihr, war eine ständige Frage, wenn Abteilungen sich begegneten. Der 
Ausdruck ist vermutlich aus mobilization gekürzt oder aus mobility Ä Be¬ 
weglichkeit und dabei auch beeinflußt von mob = Menge, Haufen, ohne 
daß der verächtliche Charakter des älteren Ausdrucks ganz übernommen 
worden wäre. 

In der englischen Verbrechersprache bezeichnet man als mob eine zusam¬ 
men „arbeitende" Bande (nach Barrere-Leland) oder den Helfershelfer 
eines Diebes. Im Slang der Schafzüchter im australischen Hinterland hat 
mob die Bedeutung: Herde. 


Nachahmen 

wird sowohl transitiv verwendet mit dem Akkusativ der nachgeahmten Per¬ 
son oder Sache (man ahmt die Greta Garbo nach, man ahmt ihre Haartracht 
nach), als auch intransitiv mit dem Dativ der Person (Klopstock: „ihr 
ahmt nur den Juden in ihrer Bitterkeit und Wut nach") oder dem Dativ 
der Sache (Wieland: „die außerordentliche Begierde, den erhabenen 
Mustern nachzuahmen"). Die Möglichkeit, dieses Zeitwort transitiv oder 
intransitiv zu gebrauchen, ist mitunter stilistisch fein ausgenützt worden. So 
schreibt z. B. Lichtenberg: „Sie müssen nicht das Werk, sondern dem 
Meister nachzuahmen versuchen." Von Herder wird unterschieden: „einen 
nachahmen, heißt, wie ich glaube, den Gegenstand, das Werk des Anderen 
nachahmen, ein e m nachahmen aber, die Art und Weise von dem Ande¬ 
ren entlehnen, diesen oder einen ähnlichen Gegenstand zu behandeln." 
Schärfer grenzt Sanders ab: „Wer mich nachahmt, dem bin ich nur ein 
Gegenstand, den er kopiert; wer m i r nachahmt, dem bin ich eine Persön¬ 
lichkeit, nach der als Muster er sich bildet." 

Die heutige Lautform „nachahmen" erscheint zuerst 1641 (bei Zesen). 
Aber noch ein Menschenalter später heißt es in Grimmelshausens Simplicis- 
simus: nachähmen oder nachöhmen. Bei Luther ist dem Zeitwort nach- 
ohmen wiederholt zu begegnen. In den Tischreden z. B. „der allen Ande¬ 
ren nachohmet und irer spottet", „die Eselsköpf ohmen nach guten Kün¬ 
sten", „also ohmen nach die Kätzer Gottes Wort." Auch hauptwörtlich: 
„Sonst ist alles ein Nachomen des rechten Gottsdienstes." 


94 



In nachahmen ist das Hauptwort O h m (oder Ahm) enthalten. Ohm 
ist der Name eines alten Hohlmaßes (ungefähr 150 Liter) und hatte 
orünglich die allgemeine Bedeutung Weingefäß. (Es hat nichts zu schäf¬ 
ten mit Ohm, der Nebenform von Oheim, noch mit der Maßeinheit des 
elektrischen Widerstands, benannt nach dem Physiker Simon Ohm). Das 
deutsche Wort Ohm (mittelhochdeutsch ame) kommt von mittellateinisch 
ima = Weingefäß, das mit griechisch ame = Gefäß verwandt ist. Vom 
Hauptwort Ohm kommt zunächst das mittelhochdeutsche Zeitwort amen == 
den Raum eines Fasses mit einem Visierstabe untersuchen, nachmessen, dann 
überhaupt abmessend wiedergeben, nachmessend gestalten, woraus sich 
schließlich die gegenwärtige Bedeutung von nachahmen entwickelt. Auch in 
neuhochdeutscher Zeit hat sich die alte einfache Form ahmen — mit der 
Bedeutung: etwas nach der Ahme, als einem bestimmten Maß, nach einem 
Vorbild, Muster machen — noch erhalten. Bei Lenau heißt es z. B.: „Um¬ 
sonst, daß ich dem Lied geböte, es will nicht ahmen leiser Lüfte Zittern/' 
Die Verkupplung mit der Vorsilbe „nach" begann Zu Luthers Zeiten. 
Eigentlich hatte aber, wie wir sahen, schon ahmen allein die Bedeutung von 
nachahmen, das also eine tautologische oder wenn man will verdeutlichende, 
verstärkende Bildung ist wie nachfolgen, ableugnen, ausleeren, emporheben, 
herabsenken, umwenden, widerspiegeln. 

Campe versuchte als Gegenstück von nachahmen das Zeitwort vor¬ 
ahmen einzuführen, etwa im Sinne: etwas tun, um Nachahmern als 
Vorbild zu dienen, originell sein. („Ich war nicht groß, nicht klein, kein 
Weiser und kein Tor; ich ahmte keinen nach und ahmte keinen vor"). 

Das in nachahmen enthaltene — männlich und sächlich gebrauchte — 
Hauptwort Ohm (und seine auch weiblich gebrauchte Nebenform Ahm), 
das übrigens auch enthalten ist in einem Fachausdruck der Schiffahrt (die 
A h m i n g = Maß für den Tiefgang des Schiffes), ist eines der deutschen 

Lehnwörter der Weinkultur aus dem Lateinischen, 

die Zeugnis ablegen davon, daß die Römer es waren, die den Weinbau nach 
Deutschland, in seine westlichen und südlichen Gaue, brachten. Römische Gabe 
ist schon das Wort 

Wein (althochdeutsch win) selbst, das auf lateinisch vinum zurückgeht. 
(Vom lateinischen Wort selbst ist zweifelhaft, ob es ein echt indogermanisches 
ist; es gibt Hypothesen, nach denen der Ursprung der Wurzel in semitischen 
oder kaukasischen Sprachen zu suchen sei). Mit vinum hängt auch 

Winzer (althochdeutsch winzuril, winzurnil) zusammen, dessen Vorbild 
das gleichbedeutende lateinische vinitor ist. 


95 






Most (schon althochdeutsch so lautend) erklärt sich aus lateinisch vinum 
mustum, junger Wein zu mustus = frisch, neu. 

Lauer (= Nachw&in, althochdeutsch Iura) kommt von lateinisch lora 
oder lorea = mit Wasser verdünnter Wein, das mit lavare = spülen, waschen 
verwandt ist. 

Essig ist abzuleiten aus lateinisch acetum und gehört daher zu jener gro¬ 
ßen Wortsippe, die wir S. 99 behandeln. 

Spund (ursprünglich besonders: Anstich des Fasses) kommt nach Kluge- 
Götze von lateinisch (ex)punctum = Stichloch, in eine Röhre gebohrte Öff¬ 
nung. 

Kelter (althochdeutsch calcatura, kelketra, kelketerra) geht zurück auf 
lateinisch calcatura zu calcare = treten (gemeint ist das Treten der Trauben 
mit den Füßen), worin calx = Ferse enthalten ist. 

Kufe (althochdeutsch kuofa) entwickelt sich aus lateinisch cuppa 
Becher, das urverwandt ist mit „Kopf“ und an die bedeutungsgeschichtlichen 
Beziehungen zwischen den Bezeichnungen des Schädels und denen der Trink¬ 
gefäße erinnert (vgl. S. 31 u. 121). 

Becher (althochdeutsch behhari) läßt rückschließen auf ein vulgärlatei¬ 
nisches Hauptwort bicarium, verwandt mit griechisch bikos = irdenes Gefäß. 

Kelch (althochdeutsch kelich) ist die Verdeutschung des gleichbedeuten¬ 
den lateinischen calix, wobei es, wie bei Kluge-Götze hervorgehoben, nicht 
etwa eine mit dem christlichen Gottesdienst zusammenhängende Entlehnung 
ist, sondern noch vor dem Christentum als Wort der Weinkultur übernom¬ 
men wurde. 

T r i c h t e r (althochdeutsch trahtari) kommt vom gleichbedeutenden 
lateinischen trajectorius (mittellateinisch verkürzt: tractorius) zu trajicere = 
aus einem Gefäß ins andere gießen, woher auch unser Fremdwort Trajekt 
herrührt. 

Stiefel = Stange, Stütze emporrankender Gewächse geht auf lateinisch 
stipula = Halm zurück und ist fernzuhalten von dem ebenfalls aus dem 
Lateinischen entlehnten Stiefel = Fußbekleidung, das zu mittellateinisch 
aestivale = Sommerliches (zu aestas = Sommer) gehört und ursprünglich 
zur Bezeichnung leichter Sommerschuhe diente. 

Pflücken kommt von vulgärlateinisch piluccare zu lateinisch pilare = 
Haare entfernen (fortlebend auch in unserem Fremdwort depilieren = ent¬ 
haaren, das in den letzten Jahrzehnten angesichts der zunehmenden Inan¬ 
spruchnahme der Damenfriseure und ihrer kosmetischen Leistungen auch 
außerhalb ärztlicher Kreise gebräuchlich geworden ist). 

P r o p f e n geht zurück auf lateinisch propagare = erweitern, ausdehnen, 
fortpflanzen, bezw. auf das Hauptwort propago = Ableger, Setzling, sodaß 
das Lehnwort „propfen“ eigentlich die Doublette des Fremdworts „propa¬ 
gieren“ ist. 


96 



I m p f e n gehört auch zu den Lehnwörtern, deren Aufnahme mit der 
Erlernung des Weinbaus von den Römern zusammenhängt. Natürlich bezog 
sich dieses Zeitwort vor dem 18. Jahrhundert nicht auf die bis dahin nicht 
bekannte Blatternimpfung, sondern nur auf den Weinbau und die Gärtnerei. 
Im Althochdeutschen lautete das Zeitwort impiton und dies ist wohl Ent¬ 
lehnung aus einem vorauszusetzenden lateinischen imputare zu putare = 

schneiden. 

Nachtigall, rossignol 

Nacht (althochdeutsch naht) ist verwandt mit altindisch nakt-, griechisch 
nyx (nyct*), lateinisch nox (noct-), gotisch nahts, englisch night, franzö¬ 
sisch nuit usw. 

Der zweite Wortteil in Nachtigall (althochdeutsch nahtagala, englisch 
nightingale, holländisch nachtegaal, schwedisch näktergal, dänisch näkter- 
gal) ist die alte germanische Wurzel gel, gal = tönen, woher auch das neu¬ 
hochdeutsche Zeitwort gellen; vielleicht besteht auch Urverwandtschaft mit 
lateinisch gallus = Hahn (der Gellende?). Im Althochdeutschen bedeutet 
galan besonders singen, Zaubergesänge singen. Nachtigall ist also: Sängerin 
der Nacht. 

Auch im Lateinischen und in den romanischen Sprachen beruht die Be¬ 
nennung dieses Vogels anscheinend auf der Beobachtung, daß er bei Tag 
nur wenig singt. Das lateinisch luscinia gilt als eine Zusammenziehung aus 
luscicinia. Die Bestandteile dieses lateinischen Wortes dürften sein: luscus = 
halblicht, dämmernd (davon lusciosus = schwachsichtig und französisch 
louche = schielend) und canere (Vergangenheit: cecini) = singen. Von 
luscinia („die in der Dämmerung Singende") gab es die Verkleinerung lus- 
dnioia (italienisch usignuolo). Aus dem lateinischen lusciniola entwickelt 
sich in Gallien losseignol und so entstand dann — im Wege der Dissimila¬ 
tion von 1 zu r zur Vermeidung von zweimal 1 (vgl. das Stichwort „Hof¬ 
fart" in „Wörter und ihre Schicksale") — das neufranzösische Wort ros¬ 
signol. 

Neun 

Selbst dem Laien muß es, wenn er mehrere Sprachen kennt, auffallen, 
daß das Wort für den Zahlbegriff 9 nicht nur im Deutschen eine Ähnlich¬ 
keit mit dem Eigenschaftswort neu aufweist, sondern daß eine — mehr 
oder minder deutliche — Beziehung zwischen diesen beiden Bezeichnungen 
in vielen anderen indogermanischen Sprachen besteht. Im Lateinischen z. B. 
novem und novus, im Italienischen nove und nuovo, im Englischen nine 


7 Storfer . Sprache 


97 






und new. Einige Sprachen zeigen sogar gleichlautende Ausdrücke für „neun" 
und „neu": z. B. nava im Altindischen, neuf im Französischen. Auch im 
Tocharischen, dieser erst im 20. Jahrhundert in Ost-Turkestan entdeckten 
indogermanischen Sprache, wird „neu" und „neun" mit demselben Worte 
(nju) ausgedrückt. 

Daraus folgt allerdings noch nicht, daß eine etymologische Verwandt¬ 
schaft unbedingt bestehen muß zwischen den Bezeichnungen für 9 einer¬ 
seits und denen für „neu" andererseits. Wenn Herr A Herrn B zufällig 
ähnlich sieht, ohne mit ihm im geringsten verwandt zu sein, so darf der 
Umstand, daß auch einige nahe Verwandte des A einigen nahen Ver¬ 
wandten des B ähnlich sehen, nicht überraschen und nicht zur Folgerung 
führen, die Familie A sei doch mit der Familie B verwandt. Daß z. B. das¬ 
selbe Wort Plan im Deutschen sowohl a) die Bedeutung Absicht hat 
(einen Plan verfolgen), als auch b) die Bedeutung Ebene (auf den Plan 
treten) und daß ein entsprechendes Verhältnis auch im Französischen vor¬ 
liegt, z. B. a) tirer un plan, einen Plan schmieden, b) plan incline, schiefe 
Ebene und auch im Englischen, z. B. a) to devise plans, Pläne entwerfen, 
b) open plain, offene Ebene, — das ändert nichts an der etymologischen 
Tatsache, daß nur den Wörtern, die die Ebene, die Fläche bezeichnen das 
gleichbedeutende lateinische planum zu Grunde liegt, daß sich hingegen all 
jene gleich- oder ähnlichlautenden Wörter, die die Bedeutung Grundriß, 
Entwurf, Absicht haben, sich aus irgend einer anderen Wurzel — wahr¬ 
scheinlich aus lateinisch planta = Fußsohle oder aus lateinisch planta = 
Pf lanze — entwickelt haben. Und auch, daß sowohl im Deutschen, als auch 
im Französischen und Englischen an die genannten Bezeichnungen für Ab¬ 
sicht und Ebene jeweils auch das Wort Planet anklingt, gestattet noch 
nicht die Annahme einer etymologischen Beziehung; Planet kommt näm¬ 
lich vom griechischen Zeitwort planan = herumirren. 

Es wäre also grundsätzlich auch möglich, daß neun, novem usw. einerseits 
und neu, novus usw. andererseits miteinander nicht verwandt sind, sondern 
daß die beiden Wortgruppen einander nur darum ähnlich sind, weil schon 
die beiden — einander nicht verwandten — Wurzeln, zu denen die beiden 
Wortgruppen gehören, untereinander lautlich ähnlich sind. Doch ist es im 
Falle dieser beiden Wortsippen der Sprachvergleichung wirklich gelungen, 
eine Verwandtschaftsbeziehung glaubhaft zu machen. 

Die Erklärung der Bedeutungsbeziehung neun-neu führt zu der Entste¬ 
hung der Zählarten zurück. Die erste Grundlage für das Messen 1 und das 

i) Vgl. über Elle, Klafter usw. das Stichwort „Zoll“ in „Wörter und ihre 
Schicksale“. 


98 




Zählen gab gewöhnlich der menschliche Körper ab. Das Dezimalsystem z. B., 
das jetzt in der Kulturwelt vorherrschend geworden ist, beruht auf der Zahl 
der Finger an den beiden Händen. Die Etymologie der indogermanischen 
Bezeichnungen der Zahl 8 läßt darauf schließen, daß der anatomische Bau 
der menschlichen Hand nicht nur für den Begriff 5, sondern auch für den 
Begriff 4 ein charakteristisches Vorbild liefert. Wenn wir die Hand vor¬ 
wärts gestreckt halten, tritt der Daumen, auch wenn wir ihn nicht seit¬ 
wärts strecken, stark zurück und vier Fingerspitzen sind es, die 
gleichsam in der vordersten Front stehen. Das Bild dieser 4 Fingerspitzen 
und ihre Bezeichnung wird für die Bildung der Zahl 8 von Bedeutung. 

Aus griechisch ake = Spitze, okris 1 — Spitze, Bergspitze, Ecke, Kante, 
akron = Spitze, Gipfel (enthalten in unseren Fremdwörtern Akropolis — 
Gipfelstadt, Hochstadt, Akribie = Genauigkeit, Spitzfindigkeit, Akroterie = 
Gipfelverzierung, Akrozephale = Spitzköpfiger, Akronym = aus Anfangs¬ 
buchstaben mehrerer Wörter gebildetes Wort, z. B. Hapag, Osaf, Ufa, 
Avus, Akrostichon 2 = Leistenvers, Akrobat 3 ) und aus lateinisch acus = 
Nadel, acidus = sauer, acer und acutus = spitzig, scharf (woraus franzö¬ 
sisch äcre und aigre, italienisch acuto usw.), acerbus — herb, sauer, traurig, 
ferner aus deren germanischen Verwandten, z. B. im Deutschen Ecke, Egge, 
Essig, auch Ahorn (lateinisch acer, griechisch akastos, offenbar wegen der 
spitzen Einschnitte der Blätter) und wahrscheinlich auch Ähre („Spitze des 
Getreides") — aus all diesen und zahlreichen anderen Vertretern dieser 
großen Wortsippe 4 wird auf eine indogermanische Wurzel ak- oder ok- = 
spitz rückgeschlossen, von dort aus ferner auf ein Hauptwort o k e t o m 


1) Dazu auch altlateinisch ocris, enthalten in mediocris = mittelmäßig, 
eigentlich auf halber Höhe befindlich. 

2) Der zweite Bestandteil in Akrostichon ist griechisch stichos = Reihe, 
Zeile, Vers, enthalten auch in Distichon, wörtlich Doppelvers. 

3) Akrobat, wörtlich Spitzenschreiter, Hochschreiter, scheint in moder¬ 
nen Sprachen zunächst nur für den Seiltänzer gegolten zu haben. Vielleicht 
deutet aber der Bestandteil akro- auf die Zehenspitzen hin, Akrobat wäre da¬ 
her wörtlich Fußspitzengänger. (Nach Prellwitz ist akris, der griechische Na¬ 
me der Heuschrecke, die Kurzform für akrobatousa = auf den Fußspitzen 
gehende.) Der zweite Bestandteil in Akrobat geht zurück auf das griechische 
Zeitwort bainein, schreiten, das auch im Krankheitsnamen Diabetes, Zucker¬ 
krankheit, wörtlich Durchschreitendes enthalten ist. 

4) In die indogermanische ak-Sippe gehören z. B. auch: mit 1 -Formantien: 
armenisch aselu = Nadel, lateinisch aculeus = Stachel; mit m-Formantien: 
griechisch akme (auch im Deutschen als Fremdwort gebraucht) = Spitze, 
Schneide, Höhepunkt, Entscheidungspunkt, altirisch acmen = Stein, Fels, 
Himmel; mit n-Formantien: altirisch acani-h = Pfeilspitze, Geschoß, grie- 


7* 


99 








mit der Bedeutung Spitzentum, Spitzenschaft, Spitzenreihe, womit die 
im Vordergrund erscheinenden vier Fingerspitzen der ausgestreckten Hand 
gemeint wären. * 1 Daraus ergäbe sich wieder die Dual form o k e t o u = 
zwei Spitzenreihen, d. h. 2X4 also 8 Fingerspitzen und aus diesem oketou 
soll sich die Bezeichnung der Zahl 8 in den indogermanischen Sprachen 
(altindisch astau, tocharisch okät, griechisch okto, lateinisch octo, altirisch 
ocht, gotisch ahtau, althochdeutsch ahto, angelsächsisch eatha, englisch eight, 
dänisch otte, französisch huit usw.) entwickelt haben. 

War nun bei einem Zählsystem, dem die Zahl der vorderen Fingerspitzen 
einer Hand, also die Zahl 4 zu Grunde lag, 2 die Zahl 8 erreicht, deren Dar- 


chisch akaina = Spitze, Stachel, akon = Wurfspieß, akone = Wetzstein, 
akanthos = Distel; mit s-Formantien: griechisch oxys = scharf, oxos = 
Weinessig, akoste = Gerste, lateinisch acus = Spreu; mit t-Formantien: grie¬ 
chisch akte = schroffe Küste mit Brandung, Landspitze; mit k-Formantien: 
litauisch asaka = Fischgräte (Walde-Pokorny). Kretschmer will auch in grie¬ 
chisch akuein = hören (Akustik!) die Wurzel ak- = Spitze erkennen; akuein 
wäre demnach also etwa: das Ohr „spitzen“, das Ohr „schärfen“, d. h. hören. 

1) In der zusammenfassenden Bezeichnung dieser vier Finger bezw. Finger¬ 
spitzen, d. h. im Außerachtlassen des Daumens bei dieser Zählung liegt viel¬ 
leicht auch ein gewisser anthropologischer Sinn, wenn auch der Daumen, in 
dem Maße, als sich der homo sapiens von seinen nächsten Verwandten im 
Tierreich wegentwickelt hat, immer mehr von seinem Sondercharakter unter 
den Fingern eingebüßt hat. (Man beachte z. B. die weitabspreizbare Daumen¬ 
zehe bei den Affen und den geringen Unterschied zwischen den fünf Zehen 
des Menschen.) Das Übergehen von dem 4—8—16 System der Zählung zum 
Dezimalsystem wäre gleichsam der Ausdruck jener biologischen Entwicklung 
des Menschen, die zufolge Anpassung an geänderte Lebensbedingungen des 
Menschen den ursprünglichen großen Unterschied zwischen dem Daumen einer¬ 
seits und den vier anderen Fingern, bezw. Zehen andererseits weniger beach¬ 
tenswert erscheinen läßt. Man beachte auch die Sonderbehandlung des Dau¬ 
mens durch die Sprache. Wohl haben auch die anderen Finger eigene Namen, 
Zeigefinger, Mittelfinger usw., aber in diesen Bezeichnungen ist das Wort 
Finger stets beibehalten (oder mitgedacht), indes der Daumen mit einem ganz 
anderen Worte bezeichnet wird. Darum heißt es z. B. einmal bei Walther von 
der Vogelweide, auf Grund der Erklärung einer alten Traumdeuterin, aus¬ 
drücklich, „daz min dume ein vinger si.“ Im Englischen spricht man von 
„the four fingers and the thumb.“ 

2) Spuren eines Vierersystems findet man auch in den uralaltaischen Spra¬ 
chen. So wird im Samojedischen 8 durch „zwei Viere“ (si dendet) ausgedrückt. 
— Die Anzeichen dafür, daß bei indogermanischen Völkern eine Vierer- 
Zählweise bestanden haben mochte, sind jüngstens von R. Löwe zusam¬ 
mengestellt worden. Daraus, daß die Indogermanen die Zahlen 1 bis 4 als die 
erste Tetrade zusammengefaßt haben, soll sich der Umstand erklären, daß 
die indogermanischen Wörter für 1 bis 4 undekliniert waren und daß dies- 


IOO 





Stellung also bereits beide Hände erfordert, so mußte die Zählung nun von 
euem beginnen, wenn über die Zahl 8 hinausgegangen werden sollte. 
Meun war also jene Zahl, bei der mit der Fingerspitzenzählung neu be¬ 
gonnen wurde. 

Die Zahl 9 scheint übrigens einst als heilige Zahl eine große Rolle in 
Glaube und Brauch der indogermanischen Völker gespielt zu haben 1 und ist 
auS dieser ihrer Sonderstellung erst durch die semitische (babylonische) 
Zahl 7 verdrängt worden, deren Schätzung auf die Beobachtung der sieben¬ 
tägigen Mondphasen zurückzuführen ist. 

Zum Schluß möchte ich noch betonen, daß die Deutung von „neun“ als 
„Beginn einer neuen Zählung nach Beendung einer Zählung der beiden 
vorderen Fingerspitzenreihen" nicht etwa als einwandfrei gesichert zu be¬ 
trachten ist. Man versucht, das Vierersystem, von dem Spuren in den indo¬ 
germanischen Sprachen erkennbar sind, auch anders zu deuten. Güntert z. B. 
erklärt das aus tessares, quattuor, vier usw. erschlossene indogermanische 
Zahlwort qwetwores als das „aus vier Spitzen und Winkeln be¬ 
stehende K r eu z z ei c h en." W. Brandenstein lehnt diese Deutung 

bezüglich nach 4 ein grammatikalischer Einschnitt in der Zahlenreihe besteht. 
Diesem Einschnitt steht ein weiterer hinter 16 (4X4) zur Seite, der mehrere 
Spuren hinterlassen hat. Wie schon Priscian es als bemerkenswert erkannt hat, 
heißt es z. B. im Lateinischen undecim, duodecim, tredecim, quattuordecim, 
quindecim, sedecim, aber dann: decem et septem, decem et octo usw. (Aller¬ 
dings kommt daneben auch septemdecim vor; dies ist aber die erheblich selte¬ 
nere Form.) Der Einschnitt zwischen 16 und 17 ist in den Tochtersprachen des 
Lateinischen auch noch mehrfach erhalten, z. B.: französisch onze bis seize, 
dann dix-sept, dix-huit usw., italienisch undici bis sedici, dann diciasette, 
diciotto usw. Im Armenischen sind wie im Lateinischen die Zahlen 11 bis 16 
m i t „und“, die Zahlen 17 bis 19 ohne „und“ gebildet. Dieser Einschnitt 
hinter 16 stärkt zweifellos die Annahme einer Viererzählerweise, die natürlich 
nicht die alleinige sein mußte, sondern möglicherweise nur für gewisse Zählun¬ 
gen gegolten hat und sich mit anderen Zählsystemen kreuzte. 

1) Der von der Midgardschlange verwundete Thor fällt 9 Schritte von ihr 
nieder. 9 Nächte hing Odin im Weltenbaum. Gegen 9 Berserker kämpft 
Qrvar Oddr. 9 Könige bezwang Olatr der Heilige. Auf Island war jedes 
Landesviertel in 9 Bezirke eingeteilt. Noch im 14. Jahrhundert mußten am 
Rhein 9 Männer über den Landfrieden wachen, in der Schweiz bestand das 
Gericht der Neuner, die Volksrechte erheischen oft 9-faches Wergeid, nach 
alemannischem Recht tritt am 9. Tag das Erbrecht des Kindes ein, nach den 
Bauernweistümern soll, wer eine Leibeigene zur Frau hat, 9 Schritte vor der 
Gerichtshalle stehen bleiben, 9-erlei Holz braucht man zum Notfeuer, Kreuze 
aus 9-erlei Holz schützen vor Krankheit usw. (Weitere Angaben s. bei 
Hoops in Schräders Reallexikon, im Handwörterbuch des deutschen Aber¬ 
glaubens, bei Weinhold und bei Lessmann). 


IOI 










ab, da nicht der geringste Anhaltspunkt dafür bestehe, daß das Kreuzzei- 
chen im täglichen Leben der ältesten Indogermanen eine solche Rolle 
gespielt hat. Brandenstein selbst gibt eine andere Deutung: „Wenn der 
Familienverband zur Großfamilie anwächst, muß dort, wo das Kleinvieh 
zur täglichen Nahrung gehört, wohl beinahe alltäglich ein Schaf geschlach¬ 
tet werden; dabei wurde der Tierkadaver gevierteilt, weil dies 
entsprechend den anatomischen Tatsachen am praktischesten ist. Es ist leicht 
verständlich, daß die Indogermanen durch dieses tägliche Erlebnis einer 
Vierteilung den Begriff vier gewannen, bzw. zur Zahl vier fortschritten/' 
In qwetwores findet Brandenstein indogermanische Wurzeln, die die Be¬ 
deutung „geschnittenes Fleisch" ergeben. Demnach wäre der Begriff „vier" 
also nicht mit der Zahl der vorderen Fingerspitzen an einer Hand verknüpft, 
sondern mit der Anzahl der Beine des Schlachttieres. Die Deutung 
von „neun" als „neuen Zählungsbeginns" verträgt sich aber nur mit der 
Annahme, daß der Begriff vier aus anatomischen Verhältnissen der mensch¬ 
lichen Hand gewonnen worden ist. 

Nihilismus 

Das lateinische Wort nihil = nichts ist — was auf den ersten Anblick 
sonderbar erscheinen mag — mit unserem Fremdwort Filet verwandt. Als 
Filet bezeichnete man das Fleisch der unter dem Rückgrat gelegenen Lenden¬ 
muskeln des Rindes. 1 Filet kommt von lateinisch filum, französisch fil = 
Faden. Filet bedeutet französisch ursprünglich einen kleinen, dünnen Faden, 
dann feines Netzwerk und schließlich ein fadenfein schneidbares Stück 
Fleisch oder Kuchen. Von fil = Faden kommt auch defilieren = wie an 
einem Faden entlang vorbeiziehen und defile = fadenartiger, d. h. schmaler 
Weg, Hohlweg. 2 Zu dieser Wortsippe gehören auch „Profil" und „Fili¬ 
gran". 3 

Das lateinische filum hatte auch die mundartliche Nebenform hilum = 
Fäserchen. Daher die Redensart: neque proficit hilum, es nützt kein Fäser- 

1) In Wien heißt es Lungen braten, was nichts mit der Lunge zu tun hat, 
sondern eine Verderbung von Lenden braten ist, wobei zu bemerken ist, 
daß die ältere Form von Lende Lu m bei ist (lateinisch lumbulus = Weich¬ 
teil). 

2) Militärisch ist jede Bodengestaltung, wo sich die Truppe nicht in der 
Breite entwickeln kann, ein Defilee, also nicht nur eine Schlucht, sondern 
auch eine Straße in einer Stadt, eine Brücke usw. 

3) Filigran (Fäden und Körnchen, meistens aus Gold und Silber, die 
als Verzierung auf Schmuckgegenständen auf gelötet sind) enthält neben filum 
= Faden auch ein zweites lateinisches Wort: granum = Korn. 


102 




'hen (etwa wie: keinen Pappenstiel wert sein). Angesichts der häufigen 
Verwendung von hilum in solchen negativen Ausdrücken wuchs ne-hilum =* 

. • Fäserchen zu einem Wort zusammen, z. B. in der Redensart nihilum 
venire zu nichts werden. Weitere Vereinfachung führte zu nihil oder nil = 

nichts. 

Die modern anmutende Bildung Nihilist aus nihil kam verhältnis¬ 
mäßig früh zustande. Schon im mittelalterlichen Latein gab es das männ¬ 
liche Hauptwort nichilianista = einer, der an nichts glaubt, Ketzer. Unab¬ 
hängig davon gebrauchte der Philosoph F. H. Jacobi 1799 in einem Briefe, 
den philosophischen Idealismus tadelnd, das Wort Nihilismus. Das 1801 
erschienene Neologische Wörterbuch von Mercier erklärt „nihiliste" als 
rienniste", als einen, der an nichts glaubt, sich für nichts interessiert. Ganz 
anders und offenbar von seinen Vorgängern nichts wissend, spricht Jean Paul 
1804 von Nihilisten im Gegensatz zu Materialisten, Stoffkennern. Er wid¬ 
met in der „Kleinen Nachschule zur ästhetischen Vorschule" den ersten 
Paragraphen den „poetischen Nihilisten" und meint damit im Gegensatz zu 
den gelehrten Dichtern, wie Rabelais, Swift, Goethe, jene, die wenig oder 
nichts gelesen haben („dies ist eben die rechte schriftstellerische Schöpfung 
aus dem Nichts, nämlich aus sich"). 

Im Jahre 1822 gebrauchte Görres gelegentlich das Wort Nihilismus im 
politischen Sinne * 1 , ohne aber damit durchzudringen. 1846 findet sich das 
Wort Nihilist bei Auerbach, 1850 bei Gutzkow. 

Allgemein bekannt wurden die Ausdrücke Nihilist und Nihilismus erst, 
als Turgenjew — offenbar ohne von den früheren Prägungen zu wis- 
sen 2 — s ie in seinem 1862 erschienenen Roman „Väter und Söhne" ge- 


i) „Möchte noch immerhin eine solche einzelne Regierung, die in der Angst 
vor der Zeit sich nicht zu lassen weiß, unter dem Bettlermantel jener Nihili¬ 
sten sich verkriechen.“ 

i) ¥undt scheint es wahrscheinlich, daß bei der Feststellung der späteren 
Bedeutung eine Erinnerung an die frühere überhaupt nicht vorhanden war, 
sondern jedesmal eine Neubildung aus dem nämlichen Worte nihil vorliegt. 
Eine Bemerkung von Ranke aus dem Jahre 1879 sieht einen inneren Zusam¬ 
menhang zwischen dem seit 1862 so benannten Nihilismus der russischen Ju¬ 
gend und gewissen geistigen Strömungen im Vormärz: „Ich besinne mich, 
daß ich von dieser Lehre zuerst — ich denke es war im Jahre 1839 — in 
Paris gehört habe — als von der Philosophie der Polen. »Vergangenheit sei 
Nichts, Zukunft sei nichts; die Gegenwart ist alles. In dieser hat nur die 
Revolution die Empfindung der Wahrheit...* In diesem Gedanken sehe ich 
die Wurzel des Nihilismus, der also von den Polen auf die Russen übergegan¬ 
gen sein würde. Schon bei jener ersten Begegnung mit dem Nihilismus wurde 
mir gesagt, daß die slawischen Nationalitäten dazu bestimmt seien, diese Dok- 


103 









brauchte. Nun bezeichnete man, Turgenjews Helden Basarow vor Augen 
habend, anarchistisch gesinnte Intellektuelle und der „Propaganda der Tat" 
huldigende russische Revolutionäre als Nihilisten. Das Wort wirkte als 
Schimpfname, die damit Bedachten nahmen es aber mit gewissem Stolz auf 
sich und deuteten es: sie hätten ihre Sache auf nichts gestellt, sie fürch¬ 
teten nichts und wollten von den verhaßten Einrichtungen der bestehen¬ 
den Gesellschaftsordnung nichts schonen. Turgenjew selbst verwahrte sich 
übrigens später in seinen Lebenserinnerungen gegen die verbreitete An¬ 
nahme, er habe in das Wort Nihilismus einen Tadel der Jugend jener Zeit 
hineingelegt: „Nicht im Sinne eines Vorwurfs, einer Kränkung hatte ich 
dieses Wort gebraucht, vielmehr als einzig richtigen Ausdruck für eine 
geschichtliche Tatsache; es wurde aber zu einem Werkzeug der Verleum¬ 
dung — ja beinahe zu einem Brandmal der Schande gemacht." 


Paprika, Pfeffer 

Als vor mehreren Jahren die ungarische Bühnenschauspielerin Franziska 
Gaal zum erstenmal in einem Film, in einem deutschsprachigen Tonfilm, 
spielen sollte, hat man angesichts der ungarischen Färbung ihrer deutschen 
Aussprache nicht nur beschlossen, daß die Künstlerin eine Ungarin darzu¬ 
stellen habe, sondern man war auch bestrebt, schon im Titel des Films den 
ungarischen Einschlag unverkennbar zum Ausdruck zu bringen. Regisseure 
und Dramaturgen, Propagandaleute und Verleiher, unter ihnen das unga¬ 
rische Element ausgiebig vertreten, hielten eine besondere Beratung über den 
zu wählenden Titel ab, dem) sie eine große Bedeutung beimaßen. Sie gelang¬ 
ten schließlich zum Ergebnis: das auf der ganzen Welt zweifellos b e k a n n- 
teste ungarische Wort, das zudem die Bezeichnung für eine kern¬ 
ungarische Sache ist, überdies wohllautend ist und schlagwortartig wirkt, sei 
— Paprika. Wie weit es mit dem kernungarischen Charakter von Paprika — 
von Wort und Sache — her ist, werden wir bald sehen. 

Zwischen Pfeffer und Paprika besteht bloß eine etymologische, aber keine 
botanische Verwandtschaft. Denn der Paprika gehört (wie auch Kartoffel, 
Tomate, Tabak, Aubergine, Bilsenkraut, Tollkirsche) in die Pflanzenfamilie 


trin in der Welt zu behaupten und durchzuführen/ 4 Wenn Fontane in 
seinen Erinnerungen „Von Zwanzig bis Dreißig“ einen Ausspruch aus dem 
Jahre 1844 verzeichnet: „Schade, daß Sie so sehr Nihilist sind, nicht ein 
russischer, sondern ein recht eigentlicher, will also sagen einer der gar nichts 
hat“, so hat er den Begriff des russischen Nihilismus — er schrieb diese 
Erinnerungen 1898 — anachronistisch zurückverlegt. 


104 





jer Solanazeen, der Nachtschattengewächse, der Pfeffer hingegen zu den 
Piperazeen. 

Der schwarze Pfeffer (piper nigrum) * 1 , die wichtigste von den etwa 700 
Arten des Piper, ist ein ursprünglich an der Malabarküste (im Südwesten 
Vorderindiens) heimischer Kletterstrauch, den man jetzt im ganzen indisch- 
malayischen Gebiet (besonders auf Sumatra), ferner im tropischen Amerika 
anbaut. Die Griechen lernten den Pfeffer im 4. vorchristlichen Jahrhundert 
durch die indischen Feldzüge Alexanders des Großen kennen. Der Pfeffer¬ 
handel mit Alexandrien als wichtigstem Umschlagplatz spielte dann eine 
große Rolle im alten römischen Reiche. Das altindische Wort pippali = 
beere, Pfefferkorn wurde im Griechischen zu peperi, im Lateinischen zu 
piper (daraus italienisch pepe, französisch poivre, englisch pepper usw.). 
im Althochdeutschen lautete die Bezeichnung pfeffar, doch die Germanen 
waren bereits vor der althochdeutschen Zeit mit diesem Gewürz bekannt. 
Daß sie es hoch schätzten, bezeugt der Bericht des Zosimus: als der West¬ 
gotenkönig Alarich im Jahre 410 Rom belagerte, bekam er auf seine For¬ 
derung neben 5000 Pfund Gold, 30.000 Pfund Silber, 4000 Seidengewän¬ 
dern, 3000 scharlachroten Pelzkleidern auch 3000 Pfund Pfeffer. Auch 
später diente Pfeffer nicht selten zu Geschenk- und Tributzwecken; so 
wurden im Jahre 1111 dem deutschen Kaiser von der venezianischen 
Signoria 50 Pfund Pfeffer dargebracht und im Jahre 1177 erhielt Kaiser 
Friedrich I. einen Jahrestribut in Pfeffer. Welche Bedeutung der Pfeffer als 
wertvoller Handelsartikel in der Vergangenheit hatte, besonders im späten 
Mittelalter und in der frühen Neuzeit, können wir heute kaum noch ermes¬ 
sen. Der Pfeffer galt unbestritten als das wichtigste Gewürz, oft rechnete 
man mit Mengeneinheiten des Pfeifers wie mit Währungseinheiten, und 
wenn man in Deutschland die reichen Kaufleute Pfeffersäcke 2 schalt 
(der Ausdruck ist seit 1532 belegt), so wurde dabei dieses Gewürz gleich¬ 
sam als Symbol des großzügigen, weite Entfernungen überwindenden Han¬ 
dels angesehen. Übrigens wurde schon von den Römern der Ausdruck 
piperarii, Pfefferleute, als allgemeine Bezeichnung für Krämer überhaupt 
verwendet. Bezeichnend ist auch dänisch peversend (wörtlich: Pfefferbur¬ 
sche) = Junggeselle. Der Ausdruck erklärt sich wohl aus dem Umstand, 
daß man für den Dienst der niederen Handelsangestellten, die man auch auf 
Reisen schickte, nur ledige junge Männer brauchen konnte. Auf dem Pfef- 


i) Der sogenannte weiße Pfeffer ist nichts anderes als der reif geerntete 
und geschälte schwarze Pfeffer. 

i) Besonders die Nürnberger Kaufleute nannte man Pfeffersäcke. Im en¬ 

geren Sinne hatte Pfeifersack die Bedeutung: habgieriger, geiziger Kaufmann, 


105 










ferhandel beruht zum guten Teil die Blüte Venedigs gegen Ende des Mit¬ 
telalters, und um ihre Vorzugsstellung im Pfefferhandel mußte die Lagunen- 
stadt viele langwierige Kriege mit Genua führen. Einer der wichtigsten 
Beweggründe jenes Strebens, einen Seeweg nach Indien zu finden, das be¬ 
kanntlich zur Entdeckung Amerikas führte, sah es auf die Vereinfachung 
und Verbilligung der Pfeffereinfuhr ab, die bis dahin auf die festländischen 
Karawanenwege angewiesen war und der die im 15. Jahrhundert erfolgte 
Eroberung Konstantinopels durch die Türken und deren Ausbreitung i n 
Vorderasien manche Erschwerung verursachte. Als den Portugiesen die Um- 
seglung Afrikas gelang, sicherte der daraus folgende Vorsprung Portugals 
im Verkehr mit Süd- und Ostasien, besonders auch mit den Pfefferinseln 
diesem Lande eine Zeitlang eine führende Stellung im Welthandel. Anfangs 
des 17. Jahrhunderts entrissen die Holländer den Portugiesen die Einfuhr 
aus den malayischen Gebieten, aus den sogenannten Gewürzinseln, und so 
verhalf nun wieder der Pfeffer den Holländern zu einer bedeutenden Stel¬ 
lung im Welthandel, von der sie allerdings seit dem 18. Jahrhundert allmäh¬ 
lich vieles an England abtreten mußten. 

Einen neuen Weg zu den Pfefferländern Asiens hatte Kolumbus nicht 
gefunden. Aber die entdeckte „Neue Welt" entschädigte Europa reichlich 
für diese Enttäuschung. Eine lange Reihe bis dahin völlig unbekannter Pflan¬ 
zen lieferten der weißen Menschheit neue Genuß- und Nahrungsmittel. Mit 
der Sache übernahm die Alte Welt oft auch den Namen von der Neuen, 
wie dies z. B. beim „Mais" und der „Schokolade" — beide Bezeichnungen 
sind mexikanisch — der Fall ist. Zu den Nachtschattengewächsen, die aus 
Amerika nach Europa verpflanzt wurden, gehört neben Tabak, Tomate, 
Kartoffel auch jene Pflanze, die die Wissenschaft später Capsicum annuum 
taufte. Daß aus der Frucht dieser Pflanze ein Gewürz zu gewinnen ist, haben 
die spanischen und portugiesischen Eroberer früh erkannt. Der beißende 
Geschmack dieses Gewürzes legte einen Vergleich mit dem Pfeffer nahe 
und man belegte es daher mit einem Namen, der auf diesen Umstand und 
auch auf die Herkunft der Pflanze hinwies, bezeichnete sie als indiani¬ 
schen oder brasilianischen Pfeffer, bezw. da es vielerorts 
spanische Seefahrer waren, die die erste Bekanntschaft mit diesem Gewürz 
vermittelten, als spanischen Pfeffer. Ein späterer volkstümlicher 
Name des aus der Frucht des Capsicum annuum gewonnenen Gewürzes war 
türkischerPfeffer, und dies hängt damit zusammen, daß der Capsi¬ 
cumanbau sich besonders auf der damals zum osmanischen Reich gehörigen 
Balkanhalbinsel verbreitete, wie dies auch bei andern wertvollen Geschenken 
Amerikas, z. B. beim Tabak (Mazedonien!) der Fall war. Der „indianische 


106 




Pfeffer" wurde also ebenso zum „türkischen Pfeffer", wie der aus West- 
ndien kommende Mais als „türkischer Weizen”, das ebenfalls aus West¬ 
indien und Mexiko nach Europa eingeführte Truthuhn („Indianer” noch 
heute in Österreich, dinde von poule d’Inde im Französischen) in manchen 
Sprachen auch als türkisches Geflügel (z. B. englisch turkey) bezeichnet 

wurde. 

per wissenschaftliche Name des Capsicum kommt von griechisch kapsikos 
— beißend. Der scharf riechende und schmeckende Stoff, den die Frucht 
jer Pflanze enthält, heißt Kapsizin. Aus der Schale wird das sogenannte 
Kapsizinrot gewonnen. Das aus dem in Amerika wachsenden Capsicum 
erzeugte Gewürz kommt als Cayenne- oder Guineapfeifer in den Handel. 
Wenn das Gewürz in Essig eingemacht wird, bezeichnet man es gewöhnlich 
als „Chilli". 

Schon im Anfang des 16. Jahrhunderts, also bald nach der Entdeckung 
Amerikas, wurde mit dem Anbau von Capsicum auf der Balkanhalbinsel 
begonnen. Aus Serbien kam die Pflanze auch nach Ungarn, wo sie nach der 
Feststellung von Zoltän Gomböcz erst in der ersten Hälfte des 18. Jahrhun¬ 
derts allgemein wurde. Im Wörterbuch des Albert Molnär ist sie noch als 
török bors (türkischer Pfeffer) und piper indicum angeführt. Die Bezeich¬ 
nung paprika ist zweifellos die slawische Verkleinerungsform von neugrie¬ 
chisch piperi = Pfeffer. Der älteste ungarische Beleg für die Bezeichnung 
paprika ist aus dem Jahre 1748. Als also die ungarischen Stände auf dem 
Preßburger Landtag 1741 in temperamentvoller Begeisterung die Säbel zogen 
und ihrem „König” Maria Theresia Blut und Leben zur Verfügung stellten, 
gab es noch kein ungarisches Wort paprika. 

Mittlerweile hat aber die Paprikakultur in Ungarn große Fortschritte 
gemacht, besonders in der Gegend von Szeged, und die Botanik kennt jetzt 
eine besondere varietas szegedinensis des Paprika. Das Gewürz ist ein typi¬ 
sches Merkmal der mit Recht geschätzten ungarischen Küche geworden, * 1 von 
der sich bekanntlich auch die ebenfalls gutbeleumdete Wiener Küche man¬ 
ches angeeignet hat. Daß nunmehr eine innige Verknüpfung zwischen den 
Vorstellungen Ungarn und Paprika besteht, ändert aber nichts an der Tat¬ 
sache, daß Paprika eine slawisierte Form einer altindisch-griechischen Be¬ 
zeichnung für ein asiatisches Gewürz ist, welche Bezeichnung — in bota¬ 
nisch unbegründeter Weise — auf eine andere, von Spaniern und Portu- 


i) Paprika ist jene nationale Lieblingsspeise, nach der der ungarische „Hans¬ 
wurst“ benannt wird; er heißt Paprika Jancsi (Paprikahänschen). Über solche 
nach nationalen Lieblingsspeisen benannte komische Gestalten s. die Fußnote 

i auf S. 2iy. 


IO 7 













giesen aus Amerika nach Europa gebrachte und dort erst von den Türken 
und den Serben zu den Ungarn gelangte Pflanze übertragen worden ist. 

Das Schicksal, als besonders kernungarisch zu wirken, in Wirklichkeit ab er 
einer fremden Sprache entlehnt zu sein, teilt das Wort Paprika noch mit 
einigen andern. Das Wort Husar, die Bezeichnung einer Kavalleriegattung 
die alle modernen Staaten tatsächlich nach ungarischem Vorbild eingeführt 
haben, kommt durch südslawische Vermittlung aus dem Romanischen und 
ist eigentlich eine Doublette von „Korsar 14 (vgl. das Stichwort „Husar 14 i n 
„Wörter und ihre Schicksale“). Die Attila, der verschnürte Rock der 
ungarischen Nationaltracht, heißt nicht nach dem großen Hunnenkönig, so n - 
dem ist ebenfalls romanischer Herkunft und gehört zu italienisch attilare =5 
sich ausrüsten, schmücken (attilarsi = sich mit ausgeschmückter Elegant 
kleiden, attillato = geschniegelt, geziert, eng anliegend). An dem Worte 
Puszta, das im engeren Sinne eigentlich nur Steppen, große Viehweiden 
in öden baumlosen Ebenen bezeichnet, haften angesichts des romantischen 
Tiefebenenkults der Ungarn so viel Gefühlswerte, daß der Name für gewisse 
Landstriche und einzelne Ortschaften auch dann beibehalten wurde, als auf 
jenen seinerzeit von den Türken ganz verwüsteten Gebieten schon blühende 
Obst-, Wein- und Getreidekulturen entstanden waren. Der Name der ungari¬ 
schen Puszta, deren Romantik über Ungarns Grenzen hinauswirkt, ist jedoch 
ebenfalls Lehnwort, er enthält die slawische Wurzel pust = leer, öde, die 
übrigens auch in den ungarischen Zeitwörtern pusztul = zugrundegehen und 
pusztit = verwüsten, vernichten enthalten ist. Das Wort Betyar = Lump, 
Räuber ist dank der Romantik, die im 19. Jahrhundert das ungarische Bandi¬ 
tentum (Rozsa Sändor, Sobri Joska u. a.) umwitterte, auch außerhalb Ungarns 
bekannt geworden. Das Ungarische verdankt das Wort der Berührung mit 
den Balkansprachen. Serbokroatisch becar bedeutet aber nicht nur Vagabund, 
Stromer, sondern vor allem: Junggeselle. Die gleiche Bedeutung haben auch' 
bulgarisch bekarin und rumänisch becher. Alle diese Wörter sind mittelbare 
oder unmittelbare Entlehnungen aus dem Türkischen, wo bekjar die Bezeich¬ 
nung für Junggeselle ist. Aber auch in diesem Falle, wo ein repräsentatives 
ungarisches Wort auf ein türkisches zurückgeht, ist es kein eigentlich turani- 
sches (uralaltaisches) Wort, denn das türkische fußt auf einem semitischen, 
aut arabisch bikr = Jungfrau. Den Bedeutungsabstand von Jungfrau zu 
Junggeselle überbrückt das gemeinsame Element der Ledigkeit, den Übergang 
von Junggeselle zu Vagabund, Räuber der Umstand, daß dieselben ökonomi¬ 
schen Ursachen, die gewisse Personen (z. B. zweite und dritte Söhne) zum 
Ledigbleiben verurteilten, sie oft auch zwangen, in die Welt zu ziehen und 
ein unstetes, vielleicht auch unehrliches Leben zu führen. Bezeichnenderweise 
hieß der ungarische Bandit nicht nur betyar, sondern auch szegeny legeny, 
d. h. wörtlich armer Bursche, armer Junggeselle. (Man vgl. auch oben, S. 105 
dänisch peversend = Junggeselle und das Stichwort „Hagestolz, Kadett“ in 
„Wörter und ihre Schicksale“.) Cs är das’ ist in Ungarn seit 1835 der Name 

108 








r 


Musikstückart und taucht als Name eines Tanzes Anfangs der 40er 
«f aU f 5 a J s Baron B£la Wenckheim und seine Freunde diesen Volkstanz auf 
***** leinen Bällen einführten. Seither hat Csardäs, Begriff und Bezeichnung, 
de ° - n der ganzen Kulturwelt als ein Stück echten Magyarentums durchgesetzt. 
S *k auch in diesem Falle ist es mit dem Magyarentum des Wortes nicht weit 
1 6 Csärdäs ist eine Ableitung aus csärda = Heideschenke. Dieses nicht älter 

Is * 79 ° belegte Wort ist zweifellos ein Lehnwort slawischer Herkunft. Im 
q bokroatischen hat cardak die Bedeutung: Podium, Warte, Wachhaus auf 
Pf'hlen an der Grenze, Behältnis für Maiskolben. Slowenisch öardac = Block¬ 
haus, russisch tscherdak = Erker, Speicher, tschertog = Saal, Halle, Prunk- 
emach. Dazu gehört auch: rumänisch cerdac = Aussichtswarte, Veranda, mit 
Geländer versehener Gang an der Außenseite eines Hauses, albanisch tsardak 
___ p u ßboden aus Holz, bedeckter Vorplatz. Dies alles scheint zurückzugehen 
über türkisch tschardak = viereckiges kleines Zimmer, Terrasse, viereckige 
Aussichtswarte auf dem Dach von Sommerhäusern, Altane auf vier Säulen auf 
persisch tschartak, in welchem Worte der zweite Teil vermutlich arabisch 
u k = Gewölbe ist, der erste Teil aber persisch t s c h a r (tschahar) = vier, 
(verwandt mit altindisch catvarah, griechisch tessares, tetra-, lateinisch 
quattuor, altirisch cethir usw.), so daß uns in „Csardas“ ein sonderbarer Ab¬ 
kömmling einer indogermanischen Bezeichnung für die Zahl 4 gegenübersteht. 
— Von den angeführten sechs Wörtern, die man außerhalb Ungarns als typi¬ 
sche Vertreter des ungarischen Wortschatzes empfindet, ist keines ein echt 
iranisches (uralaltaisches) Wort. Paprika, Husar, Attila, Puszta sind indoger¬ 
manischen, Betyar ist semitischen Ursprungs; Csardas ist zur Hälfte indoger¬ 
manisch, zur Hälfte semitisch. Mit Ausnahme von Attila sind alle angeführten 
Wörter unmittelbar aus slawischen Sprachen in das Ungarische gelangt. 


Im Französischen heißt der Paprika: piment (von lateinisch pigmentum 
== Farbstoff, woher auch unser Fremdwort Pigment, zu pingere = färben, 
französisch peindre). Volkssprachliche Bezeichnung des Paprika im Fran¬ 
zösischen sind: poivre long, langer Pfeffer oder poire de Cayenne, Cayenne- 
Birne, wohl verderbt aus poivre de Cayenne, Cayenne-Pfeffer. Das unga¬ 
rische Wort Paprika hat der Franzose zur Bezeichnung des Gewürzes selbst 
nicht übernommen, er gebraucht es aber in übertragenem Sinne. Baver dans 
Ie paprica (in den Paprika geifern) ist eine familiäre Redensart mit der Be¬ 
deutung: aufschneiden, übertreiben. Im Jahre 1917 gab es eine französische 
Frontzeitung unter dem Titel „Bavons dans le Paprika". Wie im Deutschen 
haftet auch im Französischen der Vorstellung „papriziert" der übertra¬ 
gene Begriff des „Beißenden", „Pikanten" an („In der Luft liegt Pa¬ 
prika"). Im Jahrzehnt vor dem Weltkrieg war das Wort Paprika bevor¬ 
zugt als Titel für Sammlungen zotiger Witze (sogenannte „Junggesellen¬ 
bücher"). Eines der vor dem Kriege sehr verbreiteten Bücher von Jules 


109 









Grand-Carteret, die einzelne Gebiete aus der Geschichte der Karikatur behan 
delten, führte den Titel „Paprika". In Paris bezeichnete man verstohlen 
verkaufte pornographische Photographien und auch den Handel mit ihnen 
als Paprika. (L. Spitzer vermutet, daß das Wort Paprika 1911 durch ein 
Wiener Operettenensemble nach Paris verschleppt worden sei.) 

Von den vielen bildlichen Redensarten der französischen Sprache, i n 
denen von Pfeffer die Rede ist, seien einige erwähnt: poivre et sei (Pfeffer 
und Salz) = schwarz und weiß gesprenkelt, eher comme poivre (teuer wie 
Pfeffer), chier du poivre (Pfeffer scheißen) = sein Wort brechen, im wich¬ 
tigen Augenblick verschwinden, jemandem großen Kummer verursachen 
moudre du poivre (Pfeffer mahlen) = langsam vorwärtskommen. Mehrere 
Bedeutungen hat die Redensart piler du poivre (Pfeffer stoßen): schlecht 
arbeiten; von einem Abwesenden schlecht sprechen; im Sattel hüpfen; bei 
der Infanterie: am Ort treten ohne zu marschieren. Das Wort poivre 
selbst hat in der französischen Gaunersprache auch die Bedeutung: Gift, 
Schnaps, Syphilis. 

Auch der englische Slang bedient sich gern des Wortes pepper. 
Im übertragenen Sinne bezeichnet es ein scharfes, hartnäckiges Tun. To 
pepper im Sinne von zurechtweisen, züchtigen kommt auch bei Shakespeare 
wiederholt vor. IT1 give you pepper, ich werde Dir Pfeffer geben, entspricht 
unserem: ich werde es Dir einsalzen. Als peppered galt im älteren englischen 
Turfslang jemand, der sehr große Einsätze auf ein Pferd gewettet hatte. To 
throw pepper in the eyes (Pfeffer in die Augen streuen) bedeutet: betrügen. 
Gleichbedeutend ist auch: to use the pepper-box, sich der Pfefferbüchse 
bedienen. Pepper-box (Pfefferbüchse) hat im Slang auch die Bedeutung 
Hitzkopf, Heißsporn, ist auch eine Bezeichnung für Revolver; außerdem 
werden im Volksmund die Kuppeln verschiedener öffentlicher Gebäude und 
Kirchen pepper-boxes genannt. To have (oder: take) pepper in the nose 
(Pfeffer in der Nase haben oder in die Nase nehmen) bedeutet: eigensinnig 
sein. Pepperer = Hitzkopf; pepperiness == Hitzigkeit; peppery = hitzig, 
heftig. Pepper-and-salt (Pfeffer und Salz) für einen schwarz und weiß 
gesprenkelten Stoff ist u. a. bei Dickens belegt. Im Marineslang ist Tom 
Pepper Spottname für einen Lügner, einen Aufschneider. 

Auch im Deutschen ist die Ausbeute an übertragenen Bedeutungen 
von Pfeffer ergiebig. Eine unverfrorene Äußerung, eine dreiste Handlung 
kennzeichnet man als „starken Pfeffer" (wie „starkes Stück", „starker 
loback".) Wir sprechen von gepfefferten Reden, gepfefferten Anekdoten, 
gepfefferten Rechnungen. Ein unredlicher Beamter wird aus einem Unter¬ 
nehmen hinausgepfeffert (Einfluß von „hinausgefeuert"?), man pfeffert 



no 












einen Stein nach einem Köter, der Jäger pfeffert ein Eichhörnchen vom 
fraum die Artillerie pfeffert in die feindlichen Stellungen hinein. Wenn es 
heißt man zahle einem fünfzig aus dem spanischen Pfeffer, so wird wohl 
nicht' nur auf das beißende Capsicum, sondern auch auf das spanische Rohr 
als Züchtigungsmittei angespielt. Über verpfeffert = luetisch angesteckt (so 
z B in einem Briefe der Liselotte von der Pfalz) s. das Stichwort „Syphilis" 
j n „Wörter und ihre Schicksale". 

Im Elsaß heißt es von einem, den man überall antreffen kann, er sei 
Pfeffer auf allen Suppen. In Sachsen sagt man von einer „Koketten", die 
sich beim Gehen ziert („mit dem Steiß wackelt"), sie reibe Pfeffer. Ein 
weit verbreiteter Volkspruch ist: Der Pfeffer hilft dem Mann aufs Pferd, 
der Frau in die Erd 1 . Er erklärt sich einerseits aus der Auffassung, der Genuß 
von Pfeffer (oder von Gewürzen überhaupt) erhöhe die männliche Ge¬ 
schlechtskraft 2 und andererseits daraus, daß Pfeffer zur Herstellung von 
Fruchtabtreibungsmitteln verwendet wurde. 

Die Redensart hier liegt der Hase im Pfeffer hat die Bedeu¬ 
tung : dies ist der wichtigste Punkt in der ganzen Angelegenheit. Das erklärt 
sich daraus, daß „Pfeffer" die volkstümliche Bezeichnung für stark gewürzte 
Saucen ist. 3 (Daß Pfeffer als das wichtigste Gewürz oft die allgemeine Be¬ 
deutung Gewürz hat, geht auch aus den Bezeichnungen Pfefferkuchen, 
Pfefferzelten, Pfeffernüßchen, Pfefferkarpfen hervor.) Die Speise, die man 
in Berlin Hasenklein nennt, heißt im Westen und im Süden meistens Hasen¬ 
pfeffer. Wenn man von jemandem sagt, er wisse wo der Hase liegt, so 
meint man wörtlich, er wisse, wo der Hase in der Brühe liegt, 4 d. h. er ver¬ 
stehe es, wenn er in die Schüssel langt, rasch die Fleischstücke in der Sauce 
zu finden und herauszuholen. 5 Bei Moscherosch (17. Jahrhundert) heißt es: 


1) Elsässische Formen des Sprichwortes: Pfeffer lüpft dr Mann uPs Roß 
und d’Frau ins Grab; Pfeffer hilft de Buebe ufs Pferd u de Maidle unter die 
Erd. In ähnlicher Weise heißt es in einem alten holländischen Sprichwort 
von der ebenfalls als Aphrodisiakum geltenden Petersilie: Peterselii helpt de 
mannen to paerdt, de vrouwen onder de aerdt. Englisch: A parsley-field will 
bring a man to his saddle and a woman to her grave. 

2) In manchen deutschen Gegenden mischen junge Frauen ihren Männern 
mit Absicht viel Pfeffer in die Speisen. 

3) „Uber schwarz, stinkend Fleisch macht man gern einen gelben Pfeffer“, 
heißt es in Fischarts Gargantua. 

4) Man vgl. italienisch: vediamo, dove giace la lepre; französisch: c’est 1 h. 
que git le li&vre. 

5) Gekünstelt ist die bei H. Schräder angegebene Deutung: Zur Vermittlung 
des Sinnes (bei der übertragenen Bedeutung: hier liegt der Hase im Pfeffer) 
weist man wohl darauf hin, daß pfeffern soviel als schießen bedeutet (einem 


III 







Keiner aber weiß, wo der Has im Pfeffer liegt, als der ihn angericht. Seba- 
stian Brant sagt im Narrenschiff von Prozeßkrämern, die den Advokaten 
viel zu verdienen geben: „Sie sind der Has, der in der schriber pfeffer 
kummt." Aus der Gleichung Pfeffer = scharfe Sauce erklärt sich auch die 
Redensart in den Pfeffer geraten = in Verlegenheit kommen, j n 
Schwierigkeiten geraten. (Ich vermute, daß auch ungarisch päcba jön =- 
in Schwierigkeiten geraten von deutsch „Beize" kommt, obschon es auch an 
„in die Patsche kommen" anklingt, das aber wohl zu Patsche = Pfütze zu 
halten ist.) 

Zum Schluß erwähnen wir noch die Redensart: Jemanden hinwünschen 
oder hinschicken, wo derPfeffer wächst. Demokritos-Weber meint 
„das Land wo der Pfeffer wächst", sei „Banta, das selbst Javaner ansehen 
als das Land der Verwesung, des Fluches und des Todes; aus diesen Gegen¬ 
den stammt die Redensart: ich wollte Du wärest, wo der Pfeffer wächst." 
Er meint die javanische Landschaft Bantam, deren gleichnamige Hauptstadt 
einst der Hauptverschiffungsplatz für Pfeffer war. Dazu ist allerdings zu 
bemerken, daß die Portugiesen erst 1511 zum erstenmal nach Java gelang¬ 
ten, daß aber schon im Jahre 1512 in Thomas Murners Narrenbeschwörung 
zu lesen ist: Ach werents an derselben statt, wo der pfeffer gewachsen hat, 
Es ist anzunehmen, daß diese Wendung schon damals keine neue Prägung 
war und daß dem Ausdruck die alte Vorstellung zugrunde liegt: es seien 
sehr entfernte Gebiete, wo jenes exotische Gewürz wachse. Damit erledigen 
sich auch die Deutungen, die die Redensart gar nicht auf den Pfeffer, son¬ 
dern auf den „spanischen Pfeffer", auf den Paprika beziehen. Jemanden 
hin wünschen, wo der Pfeffer wächst, heiße gar nicht ihn nach Java oder 
Sumatra schicken, sondern in die tropische Hölle von Französisch-Guyana 
(nach dessen Hauptstadt Cayenne der Paprika auch Cayenne-Pfeffer heißt), 
wohin Frankreich bisher seine Schwerverbrecher deportierte. Dem ist jedoch 
entgegenzuhalten: Als Thomas Murner die Redensart gebrauchte, war die 
Küste von Guyana zwar schon entdeckt, aber an dieses Gebiet knüpfte sich 
damals noch keinerlei schreckeneinflößende Vorstellung, es galt vielmehr, 
wie auch die andern neu entdeckten Gebiete als ein wahres Land der Ver¬ 


eins auspfeffern) und die Körner des Hasenschrots auch wohl Pfeffer genannt 
wurden. Oder man sagt auch wohl, man habe an das Pfefferkraut (lepidium) 
u. dgl. zu denken. — Auch Peter Rosegger, dem wohl die in Österreich nicht 
übliche Bedeutung Pfeffer = Gewürzsauce fremd war, scheint die Redensart 
vom Hasen im Pfeffer mißzuverstehen und mit Pfeffer irgend ein Kraut zu 
meinen, denn er schreibt einmal: „ob nicht irgendwo eine Wildtaube niste 
oder ein Has* im Pfeffer.“ 


112 





heißung- Jemanden hinwünschen, wo der Pfeffer wächst, hieß also ur¬ 
sprünglich nur: jemanden s e h r w e i t wegwünschen. (Im Elsaß kommt die 
Redensart auch in folgender Form vor: Wenn de nummen in Grenowel 
warst, wo der Pfeffer wachst. Die Stadt Grenoble repräsentiert für das 
elsässische Landvolk gleichsam die weite Ferne.) 


paschen, schmuggeln, schwärzen 

Im Faust klagt Mephisto: „Mir ist ein großer, einziger Schatz entwen¬ 
det / Die hohe Seele, die sich mir verpfändet / Die haben sie mir pfiffig 
weggepascht.“ Paschen — zuerst 1777 in Adelungs Wörterbuch gebucht 
(als „nur im gemeinen Leben Oberdeutschlands gebraucht“) — kommt in 
oberdeutschen Mundarten mit der Bedeutung schmuggeln vor, daher 
Pascher = Schmuggler. Abpaschen bedeutet meistens durchbrennen, so z. B. 
in der Studentensprache und in der Wiener Gauner- und Kellnersprache 
(„mir is heund a Gast ohpascht"), entsprechend den mehr norddeutschen 
Ausdrücken türmen und abhauen. In übertragenem Sinne bedeutet abpaschen 
auch sterben. Die Ableitung des Wortes von hebräisch passah = über¬ 
schreiten (daher im Jüdischdeutsch paschen = die Grenze überschreiten, 
nämlich mit verbotenen Waren) dürfte die richtige sein 1 . Weniger wahr¬ 
scheinlich ist die Ableitung von französisch passer = vorübergehen (von 
lateinisch passus = Schritt). Einzig der alte deutsche Volksausdruck ab¬ 
paschen = mit Würfeln besiegen, hängt offensichtlich mit dem franzö¬ 
sischen passer zusammen, und zwar mit dem Spiel „passe-dix“ = „über¬ 
schreite zehn“, ein Spiel mit drei Würfeln, wobei der Wurf mit mehr als 
zehn Punkten gewinnt. (Das Spiel sollen die Römer nach Gallien gebracht 
haben; es wurde in Frankreich noch anfangs des vorigen Jahrhunderts viel 
gespielt; jeu de la passe heißt im französischen Argot auch heute ein volks¬ 
tümliches Hasardspiel.) 2 


1) Die Vermittlung zwischen dem Hebräischen und der deutschen Gemein¬ 
sprache besorgte das Rotwelsch, aus der es zunächst, nach Mitte des 18, Jahr¬ 
hunderts, die Studenten übernahmen, unter denen ja die Theologen hebräisch 
konnten und »für die das Überlisten der Zollwächter an der Stadtgrenze ein 
Hauptspaß war« (Trübners Wörterbuch). Goethe dürfte das von ihm ge¬ 
brauchte »wegpaschen« (s. die eingangs angeführte Fauststelle) wohl als 
»burschikos« empfunden haben. 

2) Das wienerische paschen = die Hände vor Vergnügen ineinander schla¬ 
gen hängt mit dem obenerwähnten Paschen nicht zusammen, sondern ist ein 
lautmalerisches Zeitwort, eine sanftere Abart des patschen (z. B. in patschnaß, 
Patschhändchen). 


in 


8 Storfer • Sprache 










Schmuggeln tritt erst im 18. Jahrhundert in der hochdeutschen 
Schriftsprache auf. Es kommt von niederdeutsch smuggeln (dazu dänisch 
smug = heimlich, smughandel = Schleichhandel). Im Englischen ist 
smuckellor seit 1661, smuggle seit 1687 belegt. Vielleicht besteht Verwandt¬ 
schaft mit schmiegen, anschmiegen; die Brücke, die den Bedeutungswandel 
vermittelt, wäre dann: sich an den Boden schmiegen, d. h. sich ducken, 
sich heimlich durchwinden (man denke an ,,Schleich cc -handel). 

Der süddeutsche Ausdruck für schmuggeln ist schwärzen. Er hängt 
wahrscheinlich damit zusammen, daß im Rotwelsch, der alten deutschen 
Gaunersprache, swerze (Schwärze) schon im 14. Jahrhundert die Nacht (im 
übertragenen Sinne daher die Heimlichkeit) bedeutete. Übrigens hat man 
zur Erklärung des Zeitwortes schwärzen auch den Umstand herangezogen, 
daß Schmuggler sich das Gesicht schwärzen, um unkenntlich zu sein. Man 
vergleiche auch „schwarze Reichswehr <c (geheim gehaltene Truppenver¬ 
bände), schwarzhören (wenn man keine Rundfunkgebühren zahlt), 
Schwarzfahren (ohne Fahrschein auf der Eisenbahn oder Straßenbahn fah¬ 
ren) usw. Wenn Autodiebe den gestohlenen Wagen ganz zerlegen, um die 
Beute in einzelnen Bestandteilen zu verwerten, so nennt man das in Berlin 
Schwarzschlachten. Im Krieg verstand man darunter das Schlachten von Rin¬ 
dern oder Schweinen unter Verletzung von Lebensmittelverordnungen. 

Pistole 

An der Zurückführung von Sachnamen auf Eigennamen findet das große 
Publikum offenbar unersättlichen Gefallen, denn von Zeit zu Zeit wieder¬ 
holen sich in Tageszeitungen und volkstümlichen Zeitschriften Aufsätze, 
die immer wieder das Macadampflaster des Amerikaners MacAdam und 
die Schrapnells des Obersten Shrapnell „aufwärmen“. Aber nicht nur der 
„gleichnamige Erfinder" ist sehr beliebt, die Formel „nach dem Orte der 
Erzeugung" steht auch nicht in tiefem Kurse. Neben den richtigen machen 
sich unter diesen abgedroschenen Ableitungen aus Ortsnamen auch einige 
falsche breit und sie erweisen sich als nicht minder hartnäckig. Oft 
ist es allerdings bei gewissen etymologisch dunklen Wörtern das Fehlen 
oder vorläufige Fehlen einer anderen Deutungsmöglichkeit, das — ange¬ 
sichts zufälliger Lautähnlichkeit eines geographischen Eigennamens — die 
Entstehung einer etymologischen Legende fördert. Selbstverständlich soll 
nicht etwa bestritten werden, daß viele dieser Ableitungen aus geographi¬ 
schen Eigennamen einwandfrei sind. Der Magnet und das Magne¬ 
sium erinnern mit Recht an die thessalische Landschaft Magnesia, das 
Kupfer an die Insel Kypern, das P e r g a m e n t an die Stadt Pergamon, 

114 







w0 man als Ersatz für Papyros zuerst Tierhäute für das Schreiben herrich¬ 
tete. Diese Liste ließe sich lange fortsetzen. Unter diesen auf geographische 
Eigennamen zurückgehenden Sachnamen wird gewöhnlich auch die P i s t o 1 e 
angeführt. Die kleine Handfeuerwaffe heiße so, weil sie zuerst in der ita¬ 
lienischen Stadt P i s t o i a (bei Florenz) erzeugt worden sei. Auch Kluges 
Etymologisches Wörterbuch vertrat früher, durch viele Auflagen hindurch 
bis zur allerjüngsten Zeit, diese Ableitung. Darüber, daß kein geschicht¬ 
licher Beleg dafür vorliegt, daß diese Waffe gerade in Pistoia erzeugt wor¬ 
den wäre, hat man sich nicht lange gewundert. Allerdings fanden sich Auf¬ 
zeichnungen, daß man in Pistoia kleine Dolche verfertigt hatte. Diese 
hießen pistoyers und in Italien bedeutet pistolese auch jetzt ein Jagdmesser. 
Es müßte also eine Übertragung des Namens vom kleinen Dolch auf die 
kurze Handfeuerwaffe erfolgt sein (Diez: „weil beide versteckt geführt 
wurden?“), was zwar nicht belegt, immerhin aber grundsätzlich nicht aus¬ 
geschlossen ist. Es liegt übrigens auch eine Vermutung von Frisch vor, 
Pistole sei aus lateinisch pistillus = Stößel (italienisch pestello) abgeändert 
und habe die ursprüngliche Bedeutung: Werkzeug mit Knauf. 

Eine geistreiche Hypothese über die Herkunft des Wortes Pistole („wo¬ 
mit die stümperhafte Beziehung des Wortes Zu der Stadt Pistoia fällt“) hat 
Rudolf K1 e i n p a u 1 aufgestellt. Er sieht in Pistole das italienische pistoia 
(lateinisch epistola) = Brief. Als im 14. Jahrhundert die Handfeuerwaffen 
ganz kleinen Kalibers in Italien auf kamen (im Jahre 1364 ließ die Republik 
Perugia 500 Stück solcher Waffen anfertigen), mag diese Waffe den Na¬ 
men pistoia bekommen haben, indem man sie einem Briefe, d. h. richtiger 
einer Brieftaube verglich. Jedenfalls stimmt, was Kleinpaul als allgemeine 
Voraussetzung seiner Deutung ins Treffen schickt, nämlich der Umstand, 
daß Schußwaffen oft Vögeln verglichen und nach Vögeln be¬ 
nannt worden sind. „Wenn im Mittelalter, wo der Reiher gebeizt ward, 
Geschütze und Handfeuerwaffen die Namen von Stoßvögeln erhielten, 
Namen, die teilweise heute noch leben, so war das doch eine handgreif¬ 
liche, schöne, aber als solche niemand entgehende Metapher.“ ^Vir nennen 
die Beispiele Falkaune und Falkonett, Muskete, Terzerol. Der Falke (latei¬ 
nisch falco, mittellateinisch falcona) ist bekannt als Jagdvogel. Nach der 
Erfindung des Schießpulvers ist die Schußwaffe auf dem Gebiete der Jagd 
gleichsam an die Stelle des Stoßvogels getreten. Heißt die Falkaune 
und das kleinere F a 1 k o n e 11 nach dem Falken 1 , so kommt der Name 


0 Das Schweizerische Idiotikon sieht — bei der Behandlung des Wortes 
Fagune (so hieß in der Schweiz im 16. Jahrhundert die Falkaune) — die 

ID 








Muskete (moschetto) von dem einer Sperberart. Mosquet ist der spa¬ 
nische, 6mouchet der französische Name eines Sperbers, dessen Brust mit 
kleinen Flecken (frz. mouche von lat. musca = Fliege) gesprenkelt ist und 
der deutsch, ebenfalls mit Hinsicht auf die Sprenkelung, „Sprinz cc heißt. 
Nach diesem Stoßvogel hieß das auf eine Gabel aufgelegte Luntenschloß, 
gewehr, das 1521 im Heere Karls V. an Stelle der Hakenbüchse trat, um 
dann etwa 100 Jahre später, von Gustav Adolf verbessert, alle anderen 
Gewehrarten zu verdrängen, Muskete. (Daher „Musketiere“ nicht nur in 
Frankreich, sondern bis 1918 auch der Name für die Mannschaft in den 
ersten beiden Bataillonen der deutschen Linieninfanterieregimenter.) Ter- 
z e r o 1 war der Name einer kleinen Pistole. Der Name kommt vom ita¬ 
lienischen Wort terzuolo, dem Namen einer Habichtsart. Der Vogelname 
terzuolo selbst (französisch tiercelet) ist nicht ganz klar, man führt ihn 
auf tertiolus (lateinisch tertius) = der Dritte zurück, weil nach dem Volks¬ 
glauben in den Nestern dieser Vogelart jedes dritte Junge ein Männchen 
sei, oder weil nach einer anderen Volksmeinung das Weibchen um ein 
Drittel kleiner sei als das Männchen. Aber wie immer es zum Namen der 
Habichtsart gekommen sein mag, gesichert erscheint jedenfalls, daß die 
Waffe Terzerol nach dem Raubvogel terzuolo heißt. 

Hier haben wir also in Falkonett, Muskete und Terzerol drei einwandfreie 
Zeugen dafür, daß die Neigung bestand, Schußwaffen nach Vögeln zu be¬ 
nennen, wie übrigens auch nach Schlangen: Serpentins, Feldschlangen u. 
dgl. Daneben werden noch vereinzelte Benennungen eines einzelnen Ge¬ 
schützes von seiten der Truppe als Adler, Nachtigall * 1 , Hahn, Taube u. dgl. 
überliefert. In einer Lindauer Urkunde aus dem Jahre 1723 ist von einem 
Eammerstückh (Geschütz) „der Adler“ die Rede. Noch im Weltkrieg hat¬ 
ten bayrische Soldaten für ein russisches Geschütz den Namen Auerhahn 
aufgebracht. Das alles läßt Kleinpauls Deutung Pistole = Brief, d. h. Brief¬ 
taube als nicht unwahrscheinlich und jedenfalls besser begründet erscheinen 
als die Ableitung von der Stadt Pistoia. 

Als erwiesen kann jedoch die Vogeldeutung nicht gelten. Zumal da noch 
eine weitere Ableitung auf den Plan tritt, die man als befriedigend ansehen 
darf. Demnach wäre das Wort Pistole tschechischen Ursprungs. Zum 
lautmalenden tschechischen Wort pisk = Pfiff (piskati = pfeifen) ist das 

Vergleichsgrundlage nicht darin, daß das Geschoß wie ein Raubvogel auf den 
Gegner losgelassen wird, sondern im schwirrenden Flug der Kugel. 

i) Nachtigall war im Besonderen der volkstümliche Name einer schweren 
Geschützart, die sonst Kartaune hieß (von mittellateinisch quartana = Viertel* 
büchse). 

ii6 












^ort pisfala = Pfeife gebildet. Meyer-Lübke hat in seinem Romanischen 
FtvcQologischen Wörterbuch auf die (übrigens viel früher schon vom 
tschechischen Historiker Palacky erkannte) Möglichkeit eines Zusammen¬ 
hangs zwischen Pistole und tschechisch pi&ala = Pfeife hingewiesen, aller¬ 
dings hinzugefügt: „doch fehlt die historische Begründung der Auffassung“. 
Seither hat Kurrelmeyer, der, wie übrigens auch K. Strekelj, unabhängig von 
Meyer-Lübke auf die tschechische Spur gelangte, die vom Romanisten ver- 
Inißten historischen Belege beigebracht. Pistole kommt deutsch zuerst in 
schlesischen Geschichtsquellen zwischen 1421 und 1429 als Name von 
Feuerwaffen vor: und zwar in Formen wie pischulle, pischoll, pischczal usw. 
Daß in diesen Fällen das tschechische Wort pisfal = Pfeife im Sinne von 
Handrohr, Handfeuerwaffe gebraucht wird, beweist der Umstand, daß ge¬ 
legentlich auch das tschechische Wort übersetzt erscheint und daß deutsch 
pfeife" im Sinne von Pistole gebraucht wird 1 . So ist in einem schlesischen 
Dokument aus dem 15. Jahrhundert die Rede von „steynbuchsen und pulver 
und steyne ... und ouch p f e i f f e n und hawfenicz“. Das letzte Wort be¬ 
deutet Haubitzen und erinnert uns daran, daß die Herkunft der Pistole aus 
dem tschechischen pisfal nicht ein Unikum darstellt. Gerade auf dem Ge¬ 
biete des Kriegswesens finden sich im Deutschen und in den euro- 


i) Die Grundlage für die Gleichstellung von Schußwaffe und Pfeife liefert 
Jas gemeinsame Merkmal des Hohlen. Darauf gründet sich auch die Inan¬ 
spruchnahme der Pistole als weiblichen Geschlechtssymbols. So 
heißt es in einem schweizerischen Volksreim: Min Schatz is vo Uri und ich 
us Tirol, min Schatz hed en Sabel und ich e Pistoll. Hier ist also die Form, 
das Ausgehöhltsein der Pistole für die Symbolik des Volkslieds wichtiger als 
ihr Charakter als Angriffswaffe, denn sonst haben nämlich Angriffs¬ 
waffen männlichen Symbolwert. Dies gilt z. B. für den Säbel, wie 
der eben angeführte Volksreim zeigt. Ein anderer, ebenfalls aus der Schweiz, 
lautet: Aide, aide, aide (Ade), der Heiri un si Vre (der Heinrich und seine 
Veronika), sie fored übr d’ See, der Heiri zieht de Sabel us und sticht der 
Vre alle Federe us. Ebenso dient auch das Bajonett als männliches Geschlechts¬ 
symbol. Sein Pankenett putzen kommt in oberdeutschen Mundarten verschie- 
denorts mit der Bedeutung onanieren vor. Man beachte auch österreichisch 
Titschkerl = Bajonett, tischkerln = coire. Aus dem Pariser Argot bucht 
Villatte 1912 als Bezeichnungen des männlichen Gliedes: braquemart, kurzes 
Schwert, dard, Spieß (astiquer le dard, den Spieß putzen = onanieren). Aus 
dem englischen Slang buchen Farmer und Henley: bayonet, fixed-bayonet, auf¬ 
gestecktes Bajonett, lance in rest, eingelegte Lanze, dagger, Dolch, battering- 
piece, Belagerungsgeschütz. Bei den Römern war hasta (Lanze) ein gangbarer 
Euphemismus für penis. Römische Dichter gebrauchten für das männliche 
Glied gelegentlich auch arma (Waffe) schlechthin (z. B. Petronius, Proper- 
tius). 










päischen Sprachen überhaupt mehrere Eindringlinge aus dem Tschechi¬ 
schen. Sie gehen auf die Zeit der Hussitenkriege und auf den Dreißig, 
jährigen Krieg zurück. Die Gelegenheit zur Berührung mit tschechischen 
Kriegsleuten und mit den redensartlich gewordenen „böhmischen Dörfern" 
war jedenfalls zeitweilen reichlich gegeben. Außer der schon erwähnten 
Haubitze (aus tschechisch houfnice = hölzerne Steinschleuder 1 ) er¬ 
wähnen wir noch Trabant aus tschechisch drab = Fußsoldat, Torni¬ 
ster aus tanistra (das wohl ebenso wie ungarisch tarisznya, rumänisch 
taistra und daraus siebenbürgisch-sächsisch teister, auf zwei untereinander 
nicht verwandte Vorfahren, auf spätgriechisch tagistron = Futtersack des 
Reiters und lateinisch canistrum == Brotkorb zurückgeht). In diesem Zu¬ 
sammenhang seien noch folgende militärische Sachnamen genannt, die aus 
dem Osten, und zwar aus mehr oder weniger slawischen Zusammenhängen 
kommen: Säbel, Pallasch, Husar 2 , Pekesche, Litewka. 

Zur Stützung der tschechischen Ableitung von „Pistole“ kann noch er¬ 
wähnt werden, daß für das Gleichnis, das der Bedeutungsübertragung von 
pisfal = Pfeife auf Pistole = Handfeuerwaffe zugrunde liegt, eine Ana¬ 
logie vorhanden ist. Nicht nur das Wort Pistole bedeutet ursprünglich nur 
Pfeife, Rohr, sondern auch das Wort Kanone, dem eine bedeutungs¬ 
geschichtlich ähnliche Metapher zugrunde liegt. Der Ursprung von Kanone 
ist semitisch: akkadisch qanu, hebräisch qane bedeutet Schilfrohr, dar¬ 
aus griechisch kane = kleines Rohr, aus dem sich sowohl Kanon = Rohr¬ 
stab, Meßstab und dann allgemein Maß, Regel, als Kanone = Geschütz, übri¬ 
gens auch Kanal, entwickelten; Kanonen rohr ist also sprachgeschichtlich 
eigentlich eine Tautologie, wie Attentatsversuch, Plaisirvergnügen, Guerilla¬ 
krieg. 

Wir können vom Wort Pistole, das uns bereits zu verschiedenen wort¬ 
geschichtlichen Ausblicken veranlaßt hat, nicht Abschied nehmen, ohne vor¬ 
her noch einer seiner bisher nicht erwähnten Bedeutungen zu gedenken. 
Pistole hieß der von Philipp II. von Spanien eingeführte Doppelscudo, wel¬ 
ches Wort dann besonders in Frankreich Fuß gefaßt hat als Münzbe¬ 
zeichnung; aus Geschichtsbüchern und historischen Romanen ist das 
Wort Pistole als Münzbezeichnung auch in Deutschland bekannt geworden. 
Im deutschen Schrifttum kommt „Pistolet" zuerst 1575 in Fischarts Gar- 


1) Das aus dem Dreißigjährigen Krieg stammende Wortspiel: »Was dem 
Häuf nütze, ist die Haufnitze« (Haufen = Truppe, Bataillon) darf nicht 
etymologisch gewertet werden. 

2) Vgl. dieses Stichwort in »Wörter und ihre Schicksale«. 










an tua vor. Man nimmt an, daß le pistolet in Frankreich zuerst ein Scherz¬ 
name war, den man kleinen spanischen Geldmünzen gegeben hat, und er¬ 
klärt sich die Sache so: le pistolet sei eine Verkleinerung von la pistole; 
man habe ja auch gewisse kleine Dolche in Italien pistolette und pistolese 

nannt und so habe man eine gewisse spanische Münze, die kleiner gewe¬ 
sen sein soll als andere, Pistolchen, pistolet genannt. Der eigentliche Sinn 
war also: das Kleine. Ein französischer Autor, Henry Estienne, fügt hinzu, 
es werde eine Zeit kommen, in der man die kleinen Männer pistolets (Pi¬ 
stolchen) und die kleinen Frauen pistolettes (Pistolinchen) nennen werde. 
(Eitzen: „Wenn das ernst gemeint gewesen wäre, wäre es eine der seltenen 
Voraussagen für einen Bedeutungswandel.“) Eine andere kühne Deutung 
des Münzennamens Pistole meint, der Durchmesser dieser Goldstücke sei 
ursprünglich genau so groß gewesen wie das Kaliber der Pistole genannten 
Schußwaffe. 

Wesentlich glaubhafter ist die Verwandtschaft des Münzennamens Pistole 
mit dem Worte Piaster. Da diese Geldbezeichnung jetzt nur noch im 
Orient vorkommt, wäre man zunächst geneigt, in ihr ein indisch-persisches, 
arabisches oder türkisches Wort zu vermuten. In Wirklichkeit ist das Wort 
erst aus dem Abendland in den Orient gedrungen. Die Bezeichnung Piaster 
gebrauchten zuerst die Spanier, und zwar für den in Südamerika in Kurs 
gesetzten spanischen Peso. Das Wort Piaster ist auch mit Pflaster ver¬ 
wandt. Das Stammwort ist das mittellateinische plastrum = Metallplatte. 
Die Vermittlungsform ist italienisch piastra = Metallplatte, und besonders 
seine Verkleinerung piastola = Plättchen. Von piastola zu Pistole und Pia¬ 
ster ist der Weg nicht mehr weit. Die lautliche Übereinstimmung der roma¬ 
nischen Geldbezeichnung Pistole mit dem ursprünglichen tschechischen Waf¬ 
fennamen Pistole ist also wohl nur eine zufällige. 

Pluzer 

An dem österreichischen Worte Pluzer kann man eine Reihe von Er¬ 
scheinungen aus dem Gebiete der Bedeutungsübertragung beobachten. Pluzer 
bedeutet zunächst 

1) einen Kürbis, besonders einen großen Kürbis. Man vermutet, daß 
dieses Hauptwort verwandt ist mit dem mundartlichen Zeitwort pluzen, her- 
pluzen = schwer mit Geräusch niederfallen (also etwa wie plumpsen). Der 
Name Pluzer würde sich demnach also irgendwie auf den Eindruck gründen, 
den das Einbringen der Kürbisse vom Felde, das Hinwerfen der schweren, 
aber minderwertigen Früchte hinterläßt. 









2) Pluzer heißt ferner eine bauchige Flasche aus Steingut mit schma¬ 
lem Hals. Die Bedeutungsübertragung beruht vor allem auf der Formähnlich, 
keit, vielleicht auch darauf, daß ausgehöhlte Kürbisse mitunter als Gefäße 
verwendet worden sind. Diese Bedeutungsbeziehung zwischen den Be¬ 
griffen Kürbis und Flasche besteht nicht nur im Österreichischen. Aus ara¬ 
bisch qar’a = Kürbis entwickeln sich die Bezeichnungen der Flasche im 
Spanischen, Katalanischen und Portugiesischen: calabaza, carbassa, cabaza 
Es gibt einen „Flaschenkürbis c< (Lagenaria vulgaris aus griechisch-lateinisch 
lagena = Flasche) und es ist zu beachten, daß für das Altertum, wie Merin- 
ger hervorhebt, nur der hartschalige, weißblühende Flaschenkürbis in Be¬ 
tracht kommt, denn der gelbblühende (cucurbita pepo) ist erst aus Amerika 
eingeführt worden. Primitiven Völkern dienen Flaschenkürbisse als Gefäße 
und ein großer Teil der vorgeschichtlichen Töpferkunst, vor allem die 
Bandkeramik, geht auf Kürbisformen zurück. 

In früheren Zeiten gingen in Wien bei Volksfesten oder sonstigen gro¬ 
ßen Menschenansammlungen Frauen herum, die aus Steingutflaschen Wasser 
oder Mineralwasser feilhielten. Das war das „Pluzerwasser“. Manchmal ver¬ 
kauften sie aus dem Pluzer auch Pluzermüli, d. h. Wasser mit gestoßenen 
Kürbiskernen und in diesem Falle war die „Pluzer <c -Bezeichnung doppelt 
begründet. Bei der Redensart „i kunt vor Zürn in an Pluzer spring’n“ ist 
nicht klar, ob vom Kürbis oder von der Flasche die Rede ist, jedenfalls ist 
etwas für den Menschen sehr Enges gemeint. 

3) Nicht nur auf eine Flasche bestimmter Form, auch auf das mensch¬ 
liche Haupt wird der österreichische Name des Kürbisses übertragen 1 . 
Besonders einen großen Kopf, einen sogenannten Wasserkopf, nennt man 
Pluzer. Die Bezeichnung kann, muß aber nicht etwas Verächtliches haben, 
scherzhaft ist sie jedenfalls. „An Zylinder auf’n Pluzer cc , heißt es in einem 
alten Wiener Drahrerlied. In den sein Pluzer geht nix eini, sagt man von 
einem, der schwer von Begriff ist. Daß der Kürbis gelegentlich als Symbol 
der geistigen Minderwertigkeit dient, beruht vermutlich sowohl auf dem 
geringen Wert der Frucht, als auch auf der Vorstellung der Hohlheit, da 
man auf dem Lande Kürbisse zu praktischen Zwecken oder zur Verwen¬ 
dung in gewissen alten Bräuchen oft aushöhlt. Man beachte übrigens auch 
im Ungarischen: tökfilkö = Kürbisjunge (auch Schellenober) im Sinne von 
Trottel, tökbuta = dumm wie ein Kürbis, tökreszeg = besoffen wie ein 
Kürbis. (Das Eingehen auf die ungarische Bedeutungsreihe Hoden-Kürbis- 
Schellen würde hier zu weit führen.) 

i) Ähnlicherweise hat in der schwäbischen Kundensprache Kürbis auch 
die Bedeutung: Kopf. 


120 


















^enn man an den alten ländlichen Kinderbrauch denkt, in einen aus- 
—bohlten Kürbis Löcher zu schneiden, die Augen, Nase und Mund dar- 
;'ellen sollen 1 , erscheint die Vorstellungsverknüpfung Kürbis—Kopf nicht 
-0 weit hergeholt 2 * * . Auch spielt die schon behandelte Gleichung Kürbis = 
pluzer = Gefäß dabei mit. Ferner muß man auch wissen, daß die Kultur¬ 
sprachen in ihrem Wortschatz lebendige Andenken an jene Zeiten erhalten 
haben, in denen die Menschen die Schädel der Toten als Trinkgefäße be¬ 
nutzten. Das deutsche Wort Kopf (verwandt mit englisch cup = Becher, 
Obertasse) hat noch im Mittelalter „Trinkgefäß“ bedeutet, woraus sich dann 
zunächst die Bedeutung Hirnschale entwickelte. Auch die einwandfreie 
sprachliche Verwandtschaft zwischen „Kopf“ und „Kübel“ und zwischen 
Schädel“ und „Schale“, sowie die Entwicklung des lateinischen testa = 
Schale zu französisch tete = Kopf deutet auf die einstige Verwendung von 
Menschenschädeln als Trinkgefäßen. Im Bregenzerwald, in Graubünden und 
in Glarus nennt man den Handwerker, der aus Holz Milchgefäße u. dgl. 
anfertigt: Schädler. Die Übertragung des Wortes Pluzer auf den Schädel ist 
also mehr als ein volkstümlicher Scherz, eine uralte Vorstellungsverknüpfung 
zwischen Trinkgefäß und Menschenhaupt wirkt dabei als unbewußtes ar¬ 
chaisches Moment mit. 

4) Nicht nur den Kopf kann Pluzer bedeuten, auch der Mensch selbst 
kann mit diesem Wort bezeichnet werden. Es wird dann zum gerichtsnoto¬ 
rischen Schimpfwort. Aus einer Gerichtsverhandlung in Schwechat im 
Oktober 1933 wegen Körperverletzung: „I bin friedlich beim Tisch g’sess’n. 
Auf amai kummt er und stänkert mi an. Dreimal hat er ma kräftig ins 
Ohr g’schrien: Pluzer! Damit Ruh 5 ist, hab i eam langsam wegtaucht. Dann 
san ma a bisserl z’samg’wachs’n.“ Pluzer bedeutet in diesem Falle etwa: 
Idiot. Es ist ein Fall jener häufigen Bedeutungsverschiebung, bei der man 


1) lm Frankfurterischen bezeichnet man als Kerwes-Kepp mit Aage (Kür¬ 
bisköpfe mit Augen): ausgehöhlte und mit Löchern (Mund und Augen) ver¬ 
sehene Kürbisse, in die ein Licht gesteckt wurde, 

2) Auch in der französischen Volkssprache wird der Kopf calebasse 

(Flaschenkürbis) genannt; vendre la calebasse (den Kürbis verkaufen) = je¬ 
manden verraten, anzeigen. Man vgl. im Argot: citrouillard (Kürbisling) = 

Kopf, cucurbitac6 (Kürbisartiges) = Dummkopf. Auch das Italienische kennt 
die Bedeutungsentwicklung von succa = Kürbis zu »Kopf« und zu Dumm¬ 

kopf. Schon im Vulgäriateinischen dient Cucurbita zur Bezeichnung eines 
einfältigen Menschen (z. B. bei Petronius, verdeutlicht bei Apulejus: Cucurbitae 
caput). Der Japaner bezeichnet scherzweise einen Raum, in dem buddhisti¬ 
sche Priester versammelt sind, wegen deren kahlgeschorenen Schädel: tog- 
.wambune, Kürbisschiff. 


121 











mit dem Namen eines Körperteils den ganzen Menschen bezeichnet, ^j c 
Graubart, Fettwanst, Leichtfuß, Dummkopf u. dgl. Gerade den Kopf 
treffende volkstümliche Bezeichnungen werden oft als Schimpfworte fü r 
den ganzen Menschen gebraucht. So hat, um nur ein Beispiel zu nennen 
das im Weltkrieg berüchtigt gewordene Schimpfwort Boche in französischen 
Mundarten ursprünglich die Bedeutung Dickkopf, Quadratschädel. 

5) Schließlich hat Pluzer noch eine fünfte Bedeutung. Eine aus dem 
Jahre 1800 stammende Definition kann im großen und ganzen auch heute 
noch gelten: „ein unerhebliches Versehen, besonders gegen die Kon* 
venienz“ Wie kommt es zu dieser Bedeutung? Führt dazu eine Brücke von 
einer der vier vorherigen Vorstellungen Kürbis, Flasche, Kopf, Dummkopf? 

Am verlockendsten erscheint es, von der letztgenannten Bedeutung aus- 
zugehen. Dann stünde es so, daß wer einen Pluzer, d. h. einen minder¬ 
wertigen Kürbisschädel hat, auch selbst Pluzer geschimpft wird, und was 
er nun in seiner Dummheit anstellt, heißt nun auch Pluzer. Unmöglich ist 
diese Kombination nicht, aber gar kein sprachgeschichtlicher Beleg spricht 
dafür. Vor allem ist festzustellen, daß Pluzer weniger die Handlung eines 
Dummen bedeutet, als ein Versehen aus Ungeschicklichkeit, Unaufmerksam¬ 
keit oder Zufall. Wenn nun nach einer anderen Deutung ausgeschaut wer¬ 
den soll, möchte ich zu beachten geben, daß man in manchen Gegenden 
Frankreichs für Korb geben donner la citrouille, den Kürbis geben sagt. 
Vielleicht wird die vergleichende Volkskunde noch einmal feststellen, daß 
der Kürbis als minderwertiges Gewächs in verschiedenen, von einander un¬ 
abhängigen Gegenden Europas gleichsam als Symbol des Mißerfolges galt, 
so daß es auch diesmal dem Bewußtsein bereits verloren gegangene archaische 
Vorstellungen sind, die ihre Spuren im Wortschatz hinterlassen haben. 

Vielleicht hängt aber die Bedeutung Pluzer = Versehen gar nicht mit 
der Vorstellung des Kürbisses zusammen, sondern mit jenem Zeitwort, das 
vermutlich in der Wortgeschichte hinter Pluzer steht: mit dem schon erwähn¬ 
ten pluzen = hinplumpsen. In diesem Falle also würden sich vom Zeitwort 
pluzen herleiten sowohl das Hauptwort Pluzer = hinplumpsende Frucht = 
Kürbis, als auch das Hauptwort Pluzer = Hinplumpsen = ungeschickter 
Schritt. Daß die Bezeichnung einer ungeschickten Art der Fortbewegung aus 
dem Konkreten übertragen wird und dann etwas Negatives im geistigen 
oder sittlichen Sinne bedeutet, kommt in der Wortkunde mehrmals vor. So 
kommt z. B. das Wort Trottel von treten und enthält einen Hinweis auf die 
unsicheren kleinen Schritte der Schwachsinnigen. Beim doppeldeutigen Wort 
Fehltritt sind die Übertragungsverhältnisse durchsichtig. Einen Versager, eine 
Fehlleistung nannte man früher, und noch jetzt in manchen Mundarten, 


122 














-nen „Purzelbock“, was ja bekanntlich auch zunächst eine körperliche Be¬ 
legung bedeutet. (Aus Purzelbock erklärt sich dann die Redensart „einen 
I3ock schießen“.) 

Im übrigen ist noch zu bemerken, daß es nicht ganz sicher ist, ob Plu- 
zer = Kürbis usw. und Pluzer = Fehler sprachgeschichtlich überhaupt ver¬ 
wandt sind. Schon Schmeller hat in seinem Bayrischen Wörterbuch die Ver¬ 
mutung ausgesprochen, daß Pluzer = Fehler mit tschechisch blud = Irr- 
kmi, blouditi = irren zusammenhängt. In den hundert Jahren seit Schmel¬ 
ler hat sich diese Hypothese weder erhärten noch ausschließen lassen 1 2 . 

putsch 

Putsch in dem Sinne „kleiner Aufstand mit Überrumpelungstaktik“ ge¬ 
langte 1839 aus der schweizerischen Mundart in das Schriftdeutsch. 
Das schweizerische Wort ist anscheinend zurückzuführen auf althochdeutsch 
bozan = stoßen, schlagen, woher auch „Amboß“ (althochdeutsch anaboz) 
= Gestell, auf dem man schlägt. Im Tirolischen gibt es noch ein Zeitwort 
boassen = schlagen, stoßen, klopfen (z. B. den Schnee von den Füßen 
a’boassn). Auch mundartlich bosseln = Kegel schieben ist zu erwähnen. 
Es besteht auch Verwandtschaft mit englisch beat = schlagen, mit franzö¬ 
sisch pousser = stoßen, bosse = Beule, bouton = Vorstoßendes, Knospe, 
Knopf, debut = erster Stoß, mit italienisch botto = Stoß, bozza = 
Beule. Zur selben Sippe gehört im Deutschen Butzen = Klumpen, d. h. 
„Vorstoßendes“ (enthalten in „Butzenscheibe“ = Scheibe mit der „Butze“, 
der Erhöhung in der Mitte). 

Als ursprüngliche Bedeutung von schweizerisch Putsch führt man ge¬ 
wöhnlich Platzregen, plötzlicher Guß an 1 . Dies ist eine Ungenauig- 


1) Die slawische Wurzel blud dürfte zum indogermanischen Erbgut gehören 
und mit dem veralteten deutschen Wort blenden = mischen, vermischen, ver¬ 
wechseln (daher Blendling = Mischling, Bastard, Zwitter) verwandt sein. Das 
jüdische Zeitwort blondzen = sich verirren, auf Abwege geraten — z. B. im 
Sprichwort: besser zehnmal fragen, ejder (ehe) einmal blondsen — hängt jeden¬ 
falls — ohne mittelbare Beziehung zum österreichischen Pluzer-Fehler — 
mit dem genannten slawischen Zeitwort zusammen. 

2) Es wirkt dabei wohl auch mit der Anklang an die lautmalenden Wör¬ 
ter Patsch (= Schlag, Patschhand, patschnaß) und plätschen = laut aufschla- 
gen (wovon auch Platzregen, oberelsässisch Platschregen). Das Schweizer¬ 
deutsch hat übrigens viele Ausdrücke für die verschiedenen in der Schrift¬ 
sprache kaum auseinanderzuhaltenden Stärkegrade des Regens; z. 
B. im Berner Oberland: e Steipeta oder Spritzeta, es Schitteli oder es Rägelli, 


123 










keit, die auf eine Bemerkung von Gottfried Keller zurückgeht. Die ür 
sprüngliche Bedeutung von Putsch ist im Schweizerischen viel allgemeiner 
Im Idiotikon sind viele Spalten mit Belegen der vielfachen Verwendung d es 
Worts gefüllt. Putsch ist zunächst ein Ausruf beim Zusammenprall 
Dinge oder Personen (also wie Oha, Hoppla, Bumsti), aber auch das Ge 
rausch des Zusammenpralls selbst (das hat en rechte Putsch tue). Put^ 
ist auch der Stoß selbst (d’Geiß hed mer e Putsch g’ge, d’ Sackuhr hed en 
Putsch übercho), auch ein Stoß im bildlichen Sinne (Zwingli schreibt z. ß 
er habe um Christi willen „so viel großer unsäglicher Pütschen erlejd“)* 
Hierher gehört auch das Zeitwort putschen == stoßen (er het mit sine 
Chopf gnickt, also wie wenn er mit ime Schafbock butsche hätte wolle)- 
zur Gesundheit putschen = mit dem Trinkglas anstoßen. 

Putsch ist auch ein Maß (en Putsch Geld müeßt ihr riskiere), wer viel 
erbt, hat „en großen Putsch übercho“. Putsch ist auch eine Bezeichnung fü r 
Most, Obstwein; verputschen = zu Most verwandeln. Bachputsch ist die 
plötzliche Anschwellung des Baches zufolge Platzregens, Anputsch ist An¬ 
prall, der erste Anputsch ist die erste Aufregung. Das Plötzliche, Sto߬ 
artige ist fast in allen Bedeutungen vorherrschend. So bekam das Wort, auf 
menschliches Verhalten bezogen, besonders auch den Sinn: Aufwallung, 
sinnlose Aufregung, strohfeuerartige Begeisterung. Die Neigung zu sol¬ 
chem Verhalten hat eifersüchtige Nachbarschaft besonders den Zürichern 
vorgeworfen; man nannte daher, wie Gottfried Keller schreibt, „jede när¬ 
rische Gemütsbewegung, Begeisterung, Zornigkeit, Laune oder Mode der 
Züricher einen Züriputsch“. 

Züriputsch war aber vor allem die Bezeichnung für ein bestimmtes 
politisches Geschehnis im Jahre 1839. Schon vorher hatte man den am 
6. Dezember 1830 erfolgten Zug der Freiämter nach Aarau den Freiämter¬ 
putsch genannt. Aber erst dem Züricher Putsch vom Jahre 1839 war es 
Vorbehalten, das schweizerische Mundartwort in die politische Terminologie 
der hochdeutschen Schriftsprache zu verpflanzen. Die Ursache jener Volks¬ 
bewegung war der Umstand, daß David Friedrich Strauß, der 


es Schmeizeta, e Schitti, e Schuur, e Gutz und e Wolkenbruch. Auch andere 
deutsche Mundarten verfügen über ähnlich reiche Skalen. So hat z. B. der 
große Sprachreiniger Campe, der für die Fremdwörter vornehmlich aus den 
niederdeutschen Mundarten Ersatz holen wollte und daher bestrebt war, den 
Reichtum des Niederdeutschen aufzuzeigen, u. a. die Ausdrücke für regnen 
zusammenstellte; seine niederdeutsche Skala geht von „es mistet“ (für Staub¬ 
regen) ansteigend über es schnuddert, stippert, pladdert, guddert, gießt bis 
zum „es gießt in Mollen“. 


I2 4 


















mit seinem „Leben Jesu“ viel Aufsehen verursacht hatte, als Professor 
C die theologische Fakultät der Universität Zürich berufen wurde. Bevor 
30 h der blutjunge schwäbische Theologiedoktor die Lehrkanzel beziehen 
? nte brach im Kanton Zürich der sogenannte Straußenhandel aus. Eine 
Flut von Flugschriften der Antistraußen verteidigte die orthodoxen kirch- 
|vL n Belange, und schließlich zogen große Haufen bewaffneter Bauern 
■ die Kantonshauptstadt, und in wenigen Stunden — das war eben der 
Putsch — endete der Straußenhandel mit dem Sieg der Konservativen. Ein 
Mitglied der Regierung, Dr. Hegetschweiler, büßte sein Leben ein, andere 
Mußten die Flucht ergreifen und eine konservative Regierung trat an die 
Stelle der fortschrittlichen. David Friedrich Strauß selbst wurde, bevor er 
die Professur überhaupt antreten konnte, pensioniert. Für das Wort Putsch 
bedeutete jener bewegte Tag die Aufnahme in den hochdeutschen Wort- 

schätz. . 

Schon daraus, daß der konservative Züriputsch von 1839 ein erfolg¬ 
reicher Putsch war, ist zu ersehen, daß die Definition des Wortes Putsch 
[m Deutsch-Englischen Wörterbuch von Muret-Sanders und im Deutsch- 
Französischen von Sachs-Villatte als m i ß 1 u n g e n e Volkbewegung eine 
unbegründete Einschränkung darstellt. Hingegen ist als richtig anzuerkennen 
die Bemerkung im Handwörterbuch der deutschen Sprache von Sanders- 
Wülfing, daß die Bezeichnung Putsch heute etwas Verächtliches hat. 
Jedenfalls wird für jene Vorgänge, die man gewöhnlich als den Kapp* 
Putsch, den steirischen Heimwehr- oder Pfrimer-Putsch bezeichnet, von 
den Teilnehmern selbst und von deren Gesinnungsgenossen die Bezeich¬ 
nung Putsch kaum verwendet. 

Das Wort Putsch hat auch zu verschiedenen Zusammensetzungen 
(Putschpolitik, Putschmethode, Putschstimmung, Putschangst usw.) geführt. 
Neuerdings hat sich auch das Zeitwort aufputschen eingebürgert. Es 
bedeutet nicht nur zum Putsch bewegen, aufwiegeln, sondern besonders 
auch: leidenschaftliche Stimmung erregen. Offenbar wirkt der Anklang an 
„aufpeitschen 4c hier sinnbestimmend mit. Gegen andere Weiterbildungen, 
wie Putschist, Putschismus sprach sich die Zeitschrift des All¬ 
gemeinen Deutschen Sprachvereins 1919 wie folgt aus: „Uns bleibt nur 
die Hoffnung, daß unser Volk, wie so manche Krankheitsstoffe, so auch 
diese Begriffe und damit ihre Bezeichnung bald wieder ausscheiden wird. 
Aber die Wörter Putschist und Putschismus sind noch immer nicht ver¬ 
schwunden und in Sprachvereinskreisen trachtet man, wenigstens die frem¬ 
den Endungen auszumerzen. Die „Wiener Sprachblätter“ (1936) empfeh¬ 
len statt Putschist: Putscher (Mehrzahl: Putschmänner), statt Putschismus. 

125 









Putschtum. („Allerdings könnte jemand bei dem letzten Worte an der 
Lautfolge —tscht— Anstoß nehmen und sie ungebräuchlich finden. p r 
wird anderer Meinung werden, wenn man ihn an das Wort Deutschtum 
erinnert, das ja dieselbe Lautfolge enthält.“) 

Die Zurückführung des heute allgemeinen Worts Putsch auf die Züricher 
Vorgänge im Jahre 1839 erinnert daran, daß es noch ein Beispiel für die 
Bereicherung des literarischen Wortschatzes durch ein bestimmtes politisches 
Ereignis gibt. Das Wort Krawall war ursprünglich ein Ausdruck der 
hessischen Mundart, angeblich aus französisch charivari = Katzenmusik 
Straßenlärm, aber viel wahrscheinlicher aus bayrisch Grewehi, fuldaisch 
Geraball. Der Hanauer Aufstand am 27. September 1830, der von der 
einheimischen Bevölkerung Graball genannt wurde, führte zum allgemeinen 
Bekanntwerden des Wortes Krawall, das dann aus dem Deutschen auch 
in einige andere Sprachen eindrang (z. B. ins Tschechische, kraval, i ns 
Schwedische, krawall). 

Der mundartliche Ausdruck „Geraball'’, der dem Worte Krawall ver¬ 
mutlich zu Grunde liegt, dürfte mit Rebell verwandt sein, das über fran¬ 
zösischen Umweg auf lateinisch rebellis = Aufrührer (eigentlich „den Krieg 
Wiederholer") zurückgeht 1 . In dieser Bedeutungseinengung — von Kriegs¬ 
wiederholer zu Aufrührer — drückt sich gleichsam die Siegesgewißheit der 
römischen Eroberer aus. Rom führt gewissermaßen gegen ein Volk nur 
einen Krieg, der Gegner wird in diesem jedenfalls besiegt und unter¬ 
worfen, und greift er doch noch einmal zur Waffe, so ist dies eben schon 
Aufruhr, Rebellion. 


i) Rebellisch und rebellen — auch mit der abgeschwächten Be¬ 
deutung: unruhig sein, lärmen — sind im Deutschen richtige Volksausdrücke 
geworden und sind auch aus den Mundarten reichlich belegt. (Von unruhigen 
Bienen wird z. B. an vielen Orten gesagt, sie seien rebellisch. Das Elsässische 
Wörterbuch verzeichnet Wendungen wie „In Paris rewellen si alle Fingers 
lang“ oder „Die Buewe tuen uf dr Stross rewelln“. Aus dem Ostfränkischen 
ist rawelisch mit der Bedeutung konfus, aufgeregt gebucht. Ein österreichisches 
Gstanzl lautet: Hinta mei Hosntürl — Han i a Forelln — Wannst ma a 
Sechsa gibst — Lass i ’hn rebelln.) Beim sächsischen Ausdruck R e b e 11 e r = 
Weckruf ist wohl Anklang an französisch reveille (auch in der deutschen Mi¬ 
litärsprache gebraucht für: Trommelschlag oder Hornsignal zum morgendli¬ 
chen Wecken) wirksam. Aus der Beziehung von bayrisch-fuldaisch Geraball 
zu Rebell folgt, daß Krawall — Rebellion zu jenen etymologischen 
Doppelformen gehört, die ich in „Wörter und ihre Schicksale“ unter den 
Stichwörtern „authentisch-Effendi“ und „loyal-legal“ behandle. 


12 6 















Quintessenz 

Quinta essentia (griechisch pempte ousia, bei Aristoletes pempton stoi- 
cheion) heißt wörtlich fünftes Wesen. Lateinisch quinta ist die Ordnungs¬ 
zahl zu quinque, was ebenso wie griechisch pente, armenisch hing, alt¬ 
indisch panca, gotisch fimf, altnordisch fimm, englisch five (angelsächsisch 
fif), deutsch fünf (althochdeutsch fünf, finf) von den Anhängern der 
Ursprachenhypothese auf eine urarische Wurzel, etwa penque, zurückgeführt 
wird. Essentia ist die von Cicero eingeführte Übersetzung 1 2 für griechisch 
ousia, Wesen, wesentlicher Auszug. Als quinta essentia wurde in der pytha¬ 
goreischen Lehre der neben den vier sichtbaren Elementen (Feuer, Wasser, 
Luft, Erde) bestehende fünfte, unsichtbare Luftstoff, der Äther, gemeint, 
dann der von einem Chemiker aus einem Körper ausgezogene feinste Stoff, 
ferner übertragen das Wesen einer Sache. Agrippa von Nettesheim ver¬ 
stand unter Quintessenz einen Auszug aus allen Elementen, den Weltgeist, 
und bei seinem Zeitgenossen Rabelais ist Quinte Essence der Name der 
Königin von Entelechien, wo der ganze Hofstaat damit beschäftigt ist, 
Sprichwörter schauspielerisch darzustellen. Die von Bürger und Zschokke 
erfolglos vorgeschlagene — später allerdings gelegentlich auch von Maxi¬ 
milian Harden verwendete — Verdeutschung „Fünftelsaft“ (Bürger: 
„Minnesold ist aller Freuden Fünftelsaft“) beruhte jedenfalls auf einem 
Mißverstehen der ursprünglichen Bedeutung. 

Rabeneltern 

Es ist eine Eigenheit der deutschen Sprache, lieblose Eltern als Raben¬ 
eltern zu bezeichnen, von einer Rabenmutter, einem Rabenvater zu sprechen-. 
Franzosen und Engländer haben keine entsprechenden Ausdrücke mit Be¬ 
zugnahme auf den Raben. Es heißt bei ihnen pere denature usw. und 
unnatural (oder cruel) father usw. 


1) Fritz Mauthner bezeichnet diese Übersetzung als greulich; in den ro¬ 
manischen Sprachen ist „essentia“ auch so heruntergekommen, daß es bald 
nicht viel mehr als den Auszug wohlriechender oder wohlschmeckender Dinge 
bezeichnete. 

2 ) Schiller hatte eine Vorliebe für diese Ausdrücke. Im Prolog zur 
Jungfrau von Orleans heißt es: Wider ihn im Heer der Feinde kämpft j Sein 
nächster Vetter und sein erster Pair / Ja seine Rabenmutter führt es an. Im 
Fiesko: Rabenvater! Was hast du gemacht? diesen ungeheuren, gräßlichen 
Fluch deiner armen, schuldlosen Tochter? In Kabale und Liebe: Blick hieher, 
hieher, du Rabenvater, — ich soll diesen Engel würgen? 


127 










H. Lessmann, der hinter jeder Redensart Gedankengut der germanisch 
Mythologie witterte oder wenigstens Märchenstoffe, versuchte auch die 
drücke Rabenvater, Rabenmutter aus einem Märchenstoff zu deuten ^ 
Märchen werden oft Menschen gegen ihren Wunsch in Vögel verwandelt 
so z. B. die sieben Söhne der Witwe im Bechsteinschen Märchen ßj«! 
sieben Raben”. Eines Tages, als die Geduld der Mutter mit der Bosheit 
und Wildheit der Knaben zu Ende war, rief sie aus: „O, ihr bösen Raben 
jungen, ich wollte, ihr wäret sieben schwarze Raben und flöget fort, daß 
ich euch nimmer wieder sehe! £C Und alsbald wurden die sieben Knaben 
zu Rabenvögeln, fuhren zum Fenster hinaus und verschwanden. Diese Mut- 
ter sei also sowohl im eigentlichen als im übertragenen Sinne eine Raben¬ 
mutter gewesen. 

Richtiger ist es, den Ursprung der Redensart in alten volkstümlichen 
Anschauungen über die Brutpflege bei den Raben zu suchen. Die Auf¬ 
fassung, diese Brutpflege sei ungenügend, ist schon für das Alte Testament 
belegt. Hiob macht dem Raben den Vorwurf, er werfe die Jungen aus dem 
Nest. Auf die mangelhafte Fürsorge der Eltern spielt wohl auch die Stelle 
in einem Psalme König Davids an, wo es heißt: Gott gibt den jungen 
Raben, die zu ihm schreien, ihr Futter. In seinem berühmten „Buche der 
Natur“ (1349) schreibt Konrad von Megenberg: Die raben werfent etliche 
kint ausz dem nest, wenn si der arbait verdreuszt mit in, dasz sie nicht 
genuog speis pringen mügent. Pater Abraham a Santa Clara sagt in seinem 
Buche „Judas der Erzschelm“: „Wann der schwarze Vatter und die 
schwarze Mutter, beide Rabenvieh siehet, daß anfangs ihre ausgeschlossene 
(ausgebrüteten) junge Raben weiß gekleidet sein und nicht mit gleicher 
Schwärze prangen, so halten sie diese junge Dieb nicht für ihre eigene 
Brut.“ Es galt die Auffassung, daß die Rabenjungen in den ersten neun 
Tagen, solange sie nackt und hell sind, von den Eltern verlassen und ver¬ 
nachlässigt im Nest hocken und nur auf den „Tau des Himmels“ ange¬ 
wiesen sind. Die erbosten Eltern sollen sich nur von Zeit zu Zeit nach dem 
Nest umschauen und erst vom neunten Tage an, wenn an den Jungen die 
ersten schwarzen Federn sichtbar werden, sind sie beruhigt und beginnen 
Futter herbeizuholen. 

In Wirklichkeit ist es eher umgekehrt. Gerade in der ersten Zeit ist die 
elterliche Fürsorge der Raben die liebevollste. „Beide Eltern“, heißt es 
Zum Beispiel in Brehms Tierleben, „lieben die Brut außerordentlich und 
verlassen die einmal ausgekrochenen Jungen freiwillig nie. Sie können 
allerdings verscheucht werden, bleiben aber auch dann immer in der Nähe 
des Horstes und beweisen durch allerlei klagende Laute und ängstliches 


128 











Hin- und Herfliegen ihre Sorge um die geliebten Kinder. Wiederholt ist 
beobachtet worden, daß die alten Raben bei fortdauernder Nachstellung 
ihre Jungen dadurch mit Nahrung versorgten, daß sie die Atzung von 
oben auf das Nest hinabwarfen.“ 

Der Irrtum, die Rabenj ungen würden von ihren Eltern aus Lieblosigkeit 
frühzeitig hinausgeworfen, beruht offenbar auf der Beobachtung des Um¬ 
standes, daß die Alten aus richtiger Rabenweisheit darauf drängen, die 
kaum flügge gewordene junge Brut möglichst rasch in den Daseinskampf 
einzuführen. Es entspricht dies der allgemeinen Vogelnatur. Unter gün¬ 
stigen Umständen veranlassen die Eltern die jungen Raben, den Horst bereits 
Ende Mai oder Anfang Juni, also im Alter von 8—10 Wochen, zu ver¬ 
lassen. Die Jungen werden dann von ihren angeblich lieblosen Eltern auf 
Wiesen und Äcker geführt, dort noch gefüttert, gleichzeitig aber „in allen 
Künsten und Kniffen ihres Gewerbes unterrichtet“. Wirklich selbständig 
wird der junge Rabe erst gegen Herbst hin. 

Wir sprechen auch von Rabensöhnen, Rabentöchtern, Rabenkindern 
und meinen damit Kinder, die zu ihren Eltern lieblos sind 1 . Diese Ausdrücke 
scheinen mir nur Umkehrungen der ursprünglichen Redensart von den 
Rabeneltern zu sein und man muß wohl nicht, wie es Riegler tut, anneh¬ 
men, es habe da eine Volksfabel über den Geier mitgewirkt, nach der die 
Geier jungen sich an den altgewordenen Eltern für die ihnen seinerzeit 
teilgewordene grausame Behandlung rächen, indem sie sie ohne weiteres 
töten. 

Im Gegensatz zu der deutschen Redensart von Rabensöhnen gilt bei den 
Japanern und den Chinesen der Rabe geradezu als ein Vorbild der 
kindlichen Dankbarkeit gegen die Eltern. Es heißt bei diesen Völkern, der 
Rabe bringe seinen Eltern, wenn sie alt geworden sind, Futter. Daher das 
japanische Sprichwort: Karasu ni hambo no ko ari — der Rabe hat die 
Tugend, (den Eltern) die Nahrung zu vergelten. 

Räsonnieren 

Das französische Zeitwort raisonner (von raison = Vernunft aus latei¬ 
nisch ratio) bedeutet: seine Vernunft gebrauchen, urteilen, überlegen, rich¬ 
tig denken, Schlüsse ziehen. Es kann auch transitiv verwendet werden und 
bedeutet dann: etwas durchdenken. Das französische Zeitwort ist sowohl 
ins Englische (to reason), als ins Deutsche übernommen worden. Am deut- 


i) Im fünften Akt der Räuber spricht Karl Moor zu seinem Bruder Franz: 
fahr in die Hölle, Rabensohn, 


9 Storfer. Sprache 


129 











sehen Zeitwort räsonnieren ist geistesgeschichtlich bemerkenswert, daß ^ 
einen im Französischen nur gelegentlich in die Erscheinung tretenden Neben, 
sinn zum Hauptsinn, zur nahezu alleinigen Bedeutung entwickelt hat. 1^ 
Französischen hat raisonner neben den oben angeführten gelegentlich auch 
die Bedeutung: debattieren, Einwendungen machen, widersprechen. (Haupt, 
sinn und Nebensinn von raisonner finden sich nebeneinander in der Rede. 
Wendung: raisonnons de bon sens et ne raisonnons guere, überlegen wir 
mit gesundem Menschenverstand und räsonnieren wir nicht lange.) 
deutschen Sprachgebrauch ist die Hauptbedeutung sozusagen schon g an2 
verschwunden. Kant, als Vorkämpfer der „Vernunft" („Habe Mut, dich 
deines eigenen Verstandes zu bedienen!"), gebraucht allerdings räsonnieren 
noch in dem Sinne: sich Gedanken machen und sie äußern. Er verteidigt 
z. B. „das Recht auf Räsonnieren gegenüber der Kirche, die nicht räson- 
niert, sondern glaubt". Er spielt dabei auch auf Friedrich den Großen an 
auf dessen Standpunkt: Räsonniert, so viel ihr wollt und worüber ihr wollt 
aber gehorcht! Doch gerade der große Preußenkönig selbst gebraucht das 
Wort räsonnieren mit Vorliebe in verächtlichem, schwer tadelndem Sinne; 
z. B.: „Von den Officier an, bis auf den letzten gemeinen Mann, raisonniret 
keiner, sondern executiret nur, was befohlen worden" und „Dahergegen 
muß man nach aller Schärffe der Gesetze wider denjenigen Soldaten ver¬ 
fahren, der Meuterey macht, der raisonniret oder der plündert". Wir sehen 
hier also das Räsonnieren (Nörgeln, Kritisieren, Murren, Widersprechen) 
des Soldaten als ein schweres Verbrechen neben Meuterei und Plünderei 
angeführt. Heute würde sich das Zeitwort räsonnieren als viel zu unscharf 
erweisen zur Bezeichnung des tadelnswerten Verhaltens von „Meckerern" 
und „Kritikastern". Fritz Mauthner meint, daß die Beschränkung des Zeit¬ 
wortes räsonnieren auf die verächtliche Bedeutung vom preußischen Sprach¬ 
gebiet ausgeht 1 , wo „vom höchsten Beamten bis zum Schutzmann das 
,Nichträsonnieren ! c dem Bürger entgegengehalten wird, fast in der Bedeu¬ 
tung: schweigen Sie, reden Sie nicht". (In Österreich gibt es ein geflügeltes 
Wort: Maul halten und weiter dienen!) 2 

1) Prof. Franz Blume (Jena), der mich freundlicherweise beim Lesen 
der Korrekturen dieses Buches unterstützt und mir bei dieser Gelegenheit auch 
in sachlicher Richtung manchen wertvollen Fingerzeig gegeben hat, macht 
mich auf einen Scherz aus dem Vormärz (nach Hans Ostwalds „Urberliner 
Humor 44 ) aufmerksam: „Ick sage ja keen Wort, Herr Kumsarjus.“ — „Halt 
Sie’s Maul! Sie raisonniert inwendig ! 44 

2) Eine ähnliche und geistesgeschichtlich ebenfalls sehr bezeichnende 
Wandlung zur verächtlichen Bedeutung weist das Wort Rationalist auf 
Besonders dem französischen Volkscharakter wird üblicherweise Rationalis¬ 
mus vorgeworfen. 

T 3° 






















r 

j H. Campe empfahl zur Ersetzung des Fremdwortes räsonnieren: Ver¬ 
nunft« 1 . vernunftein, widerbellen. Klopstock hatte „beweistümeln" ge¬ 
braucht. Keine dieser Verdeutschungen konnte sich durchsetzen. Angesichts 
der verächtlichen Bedeutung, die im deutschen Gebrauch dieses Zeitwortes 
vorherrschend wurde, hatte es sich anscheinend als geeignet ergeben, für 
eine üble Sache eine üble, d. h. eine welsche Bezeichnung beizubehalten. 


Renommieren 

Im französischen Zeitwort renommer ist das lateinische nomen (Name), 
nominare (nennen) leicht erkennbar. Renommer heißt wiederernennen, zum 
zweiten Male wählen, se faire renommer sich einen Namen machen. Und 
das Hauptwort renommee bedeutet einen guten Namen, Berühmtheit. Das 
Hauptwort hat auch im Deutschen, als Fremdwort gebraucht, diese Bedeu¬ 
tung* Das Zeitwort aber, dessen sich die deutsche Studentensprache vor 
etwa zweihundert Jahren bemächtigt hat (mit Weiterbildungen wie Renom¬ 
mist, Renommage), hat im Deutschen einen vom Französischen stark ab¬ 
weichenden Sinn bekommen. Das „Burschicose Wörterbuch“ von 1846 de¬ 
finiert das Renommieren: „1) dicktun; 2) sich blähen; 3) sich loben; 
4) sich rühmen; 5) durch sein Benehmen Aufsehen machen; 6) furo- 
rieren; 7) burschicos auftreten; 8) famosieren; 9) auf der Hochschule 
durch Raufen, Schlagen, Saufen und Commersiren berühmt machen; 10) 
den Studio spielen; 11) Aufwand und Wind machen.“ Soviel Aufwand 
und Wind zu machen versteht das originalfranzösische Wort renommer 
nicht. Wollte man deutsche Sätze, wie z. B. daß ein adliges Offizierskorps 
einen einzigen Renommierbürgerlichen duldet oder daß jemand der Renom¬ 
mierchrist in einem bestimmten Verwaltungsrat war, derart ins Französische 
übersetzen, daß das ursprüngliche französische renommer beibehalten wird, 
würden die Franzosen sehr staunen. Ebenso wie sie Augen gemacht haben 
müssen, als ein deutscher Hundezüchter — es war vor dem Kriege — in 
einer französischen Zeitschrift „chiens ä renommer“ (also „Hunde zum 
Wiederernennen“) zum Kauf anbot. Heute allerdings dürfte selbst im 
Kreise von deutschen studentischen Verbindungen ein Angebot von „Re¬ 
nommierhunden“ seltsam anmuten. 


Schnorren 

Schnorre mit der Bedeutung Maul (besonders auch für den Rüssel 
des Schweines) ist ein altes, in alemannischen Mundarten nach Zeugnis des 
Schweizerischen Idiotikons und des Elsässischen Wörterbuchs noch Iebendi- 


131 


9* 







1 

ges Wort. Eme gschenkte Ross, heißt es im Appenzellischen, moss-me nüd 
i d'Schnorre luege, und ein anderer Appenzeller Spruch lautet: Es is besser, 
me wörf eme Hond e Stock Brod i d'Schnorre, as daß-er einn biss. In grober 
oder verächtlicher Weise wird auch bei Menschen von einer Schnorre ge¬ 
sprochen: e wüeschti Schnorre, e tummi Schnorre mache, e suri Schnorre 
mache. Wenn einer seine Schnorre überall hinsteckt, möchte man ihm gern 
eins über die Schnorre geben. Ein gegen Italiener gerichteter schweizerischer 
Spottreim lautet: Tschinggela-morre, hast Dreck a der Schnorre. Elsässische 
Belege z. B.: Mit der Schnurr wüelt d’Säu im Dreck erum. Oder: Dem bin 
i üwer d'Schnurr gtare. 

Schnurre = Maul ist enthalten in der Zusammensetzung Schnurr¬ 
bart, d. h. wörtlich Maulbart, Schnauzbart. In Frankfurt nennt man den 
Schnurrbart auch kurz Schnorres, z. B.: mit seim klaane Schnorres uff der 
Lippe. Auch das Pfälzische kennt Schnorres = Schnurrbart. Im Henneber- 
gischen, in Franken: Schnorrwichs = Schnurrbartpomade. 

Es darf vermutet werden, daß die Ausdrücke Schnorre, Schnurr = Maul, 
ebenso wie ihre Synonyme Schnauze, Schnute und Schnabel (übrigens auch 
die gleichanlautenden Zeitwörter schnalzen, schnappen, schnarchen, schnar¬ 
ren, schnattern, schnauben, schnaufen, schneuzen, schnüffeln, schnupfen) 
laut- und b e w e g u n g s nachahmenden Ursprungs sind. Im Schweizeri¬ 
schen entspricht denn auch dem Hauptwort Schnorre ein Zeitwort 
schnorren, das einen in der Hauptsache akustischen Vorgang bezeich¬ 
net. Schnorren wird in schweizerischen Mundarten in derbem, meist ver¬ 
ächtlichem Sinne gebraucht für (viel, eilfertig, laut, grob, aufdringlich, un¬ 
nütz, bösartig) reden, schwatzen, das Maul voll nehmen, aufschneiden, auf- 
begehren. (Er überschnörret ain, er lot niemer rede.) In der schweizerischen 
Komödie „Cäsar in Rüblikon" (1935) von Walter Lesch poltert ein dörf¬ 
licher Vorkämpfer des „autoritären Kurses": „d'Schnurrerei im Gmeindrat 
muess jetz äntli ufhöre — handle wämmer". Ferner gibt es im Schweizeri¬ 
schen das Hauptwort Schnorrer = Schwätzer, Großmaul, Krakeeler. 

Aber Schnorrer als Bezeichnung für einen Bettlertypus kommt im Schwei¬ 
zerischen kaum vor. Trotzdem besteht die Verwandtschaft zwischen dem 
Schweizerischen schnorren = schwatzen und dem Slangwort schnorren = 
betteln. 1 Den Bedeutungsübergang besorgt die Anwendung des Zeitwortes 


i) Im Judendeutsch wird zwischen Bettler und Schnorrer in der Weise 
unterschieden, daß die letztere Bezeichnung vorzugsweise auf jüdische Arme 
angewendet wird und gewöhnlich nur, insoweit sie Glaubensgenossen um Un¬ 
terstützung angehen, gleichsam an eine durch die Religion gebotene Pflicht 
der Barmherzigkeit und der Solidarität pochend. Max Graf hat in einem 


132 









schnurren auf bestimmte charakteristische Geräusche. Auszugehen ist davon, 
daß als schnurren in der Hauptsache längere, gleichmäßige, aber unruhige 
Geräusche bezeichnet werden, die einigermaßen wie „schnrr" tonnen. Die 
Katze * 1 schnurrt und das Spinnrad, der Hohlkreisel schnurrt und das Fleisch 
a m Bratenwender, sogar der Nachtfalter schnurrt und heißt daher u. a. auch 
Schnurrer. Ein schnurrendes Ding (z. B. das auch Knarre genannte Gerät 
des Nachtwächters 2 ) wird als Schnurre bezeichnet und der Übergang auf den 
Begriff Maul scheint sich bei solchen Tieren vollzogen zu haben, deren 
Stimrne (wie es z. B. bei der Katze der Fall ist) als Schnurren gekennzeich¬ 
net werden konnte. 

ln übertragenem Sinne bedeutet Schnurre (vermutlich mit Anspielung 
auf die Knarre, mit welchem Gerat im Fastnachtstreiben und bei sonstigen 
Volksbelustigungen Spaß getrieben wurde) auch: Belustigungsmittel, Posse, 
Anekdote 3 ; in weiterer sinnverschlechternder Übertragung: albernes Zeug, 
Krimskrams. Dazu gehört auch das Eigenschaftswort schnurrig = drollig, 
sonderbar. Die Schnurrpfeife war ein primitives musikalisches Gerät. Mit 
Schnurrpfeife und Maultrommel zogen die Bettelmusikanten herum, auch 
kündigten sich die herumziehenden Lumpensammler durch die Stimme der 

Feuilleton eine grundsätzliche Abgrenzung der Begriffe Bettler und Schnorrer 
versucht. Der Bettler sei ein demütiger Mensch, der gebückt und entblößten 
Hauptes dem Mitmenschen entgegentritt. Der Schnorrer aber sei selbstbewußt, 
energisch, aktiv, er fordere seine Gaben, da es ihm selbstverständlich erscheine, 
daß der Reiche von seinem Überfluß abzugeben habe. Die Armut des „Bettlers“ 
sei von keinem Standpunkt aus gesehen komisch und sie gebe keine geistige 
Überlegenheit, die nicht den Armen, der bettelt, doch bedauern und bemitlei¬ 
den müßte; der „Schnorrer“ aber sei überlegen, besitze Humor und fordere 
auch gegen sich selbst zu Humor heraus. 

1) Eine semasiologische Beziehung zwischen der Stimme der Katze und 
einem herumziehenden Habenichts, wie sie der Fall schnurren-Schnorrer zeigt, 
liegt auch der Ableitung des französischen Wortes maraud == Lump, Maro¬ 
deur von einem französischen mundartlichen Namen des (lärmend und Scha¬ 
den verursachend) herumstreichenden Katers zu Grunde. (Vgl. das Stichwort 
„marod“ in „Wörter und ihre Schicksale.“) 

2) In der älteren Studentensprache daher Schnurre (und auch Schnurrbart) 
auch der Name des Nachtwächters und — wohl daraus übertragen — auch 
des Polizisten. 

3) Auf dieser Vieldeutigkeit von schnurren Schnurren beruht ein Ho¬ 
monym von P. Jakoby, das mit den Zeilen beginnt: Der Hans erzählt’s, der 
Kater tut’s in süßer Ruh, als dritter im geselPgen Bund es lustig tun die 
flinken Rädchen. Schnurre (= Posse) war übrigens ein Lieblingswort L es¬ 
sin g s. („Wie viel leichter ist es, eine Schnurre zu übersetzen, als eine Emp¬ 
findung.“ „Sie werden es kaum glauben, daß ich die mutwilligsten Schnur¬ 
ren oft in «ehr trüben Augenblicken geschrieben habe.“) 


133 








Schnurrpfeife an (daraus Schnurrpfeifereien = wertloser Kram, Albern- 
heiten). Auf die Schnurrpfeife der Bettelmusikanten gründen sich eigentlich 
die Wörter schnurren = bettelnd herumziehen und Schnurrer (auch 
Schnurrant) = herumziehender Bettler 1 . Das ältere Rotwelsch hatte für bet¬ 
telnde junge Mädchen die Ausdrücke: Schnurrpilsel, Schnurrscheie, Schnurr- 
schicksel, Schnurrkeibelche. In der sächsischen Studentensprache bedeutete 
„eine Vorlesung schnurren”: sie hören ohne Kollegiengeld zu zahlen, „das 
Konvikt schnurren”: unberechtigt (an Stelle eines Ausgebliebenen) im 
Stiftungsspeisesaal essen. Im Badischen und im Elsässischen wird das Spa¬ 
zierengehen der jungen Leute zu einer bestimmten Stunde in einer bestimm¬ 
ten Straße („Korso", „Abendmarkt”) auch als Schnurren bezeichnet. „Bist 
nächte (gestern abend) wider uf de Schnurr gewen?” Da dieses Schnur¬ 
ren gewöhnlich nach Feierabend erfolgt, spricht man auch vom „Achte- 
Schnurren”. In Ostpreußen bedeutet „auf die Schnurr gehen”: in die 
Spinnstube gehen; aber auch von Frauen gebraucht, die abends auf Männer¬ 
fang ausgehen. Daher: in die Schnurr geraten = liederlich werden. Man 
vgl. eine Stelle bei Hans Sachs: Wenn ein Hur ist in der Schnurr lang umb- 
geloffen, unter Mönnich und Pfaffen geschloffen ... 

Die Lautänderung von schnurren zu schnorren geht möglicherweise auf 
jüdischen, Einfluß zurück. Jedenfalls kommen die Wörter schnorren und 
Schnorrer im Judendeutsch sehr häufig vor. (Unzähligemal z. B. in „Rosin¬ 
kess mit Mandlen”, der Sammlung jüdischer Schwänke von Olswanger, die 
die Schweizerische Gesellschaft zur Volkskunde veröffentlicht hat.) 2 

Die Lautform schnorren statt schnurren setzt sich im 18. Jahrhundert 
durch. Bei Goethe (in der Geschichte Gottfriedens von Berlichingen) heißt 
es bereits: „dergleichen Volk schnorrt im Lande herum”. In einem Mirza- 

1) Im Elsaß werden besonders auch Zigeuner und herumziehende Musiker 
als Schnurranten bezeichnet (daher Schnurrantemusik). In rheinfrän¬ 
kischen Gauen kommt Schnurrant im Sinne von Possenreißer, Gaukler vor. 
Kehrein gibt für das Nassauische die Nebenformen Schlorrant und Schlarrant 
an, worin der Einfluß des Zeitwortes schlarren = plärren, laut schreien zu 
erkennen sei. (H. Platz: „Wenn man sich der überlauten Art erinnert, in der 
diese Leute z. B. auf den Jahrmärkten tätig sind, dann wird man wohl zuge¬ 
stehen müssen, daß diese Assimilation auch in begrifflicher Hinsicht adäquat 
ist.“) 

2) Die häufige Verwendung des Ausdrucks Schnorrer im Judendeutsch hat 
dazu verlockt, seine Herkunft im Hebräischen zu suchen. Man hat ihn mit 
S c h i n o r, dem Namen einer Landschaft im alten Palästina, in Verbindung 
gebracht. Die Einwohner dieses minder fruchtbaren Landes, die „Schinorer“, 
hätten oft in andere Gegenden Boten um Nahrungsmittel entsenden müssen. 
Jedoch läßt sich nicht die geringste wortgeschichtliche Tatsache zur Stützung 
dieser Etymologie von Schnorrer anführen. 


*34 






Schaffy (Bodenstedt) verspottenden Gedichte von Ludwig Ganghofer heißt 
Er der zu Ispahan ... einige Worte mühsam sich zusammenschnorrte." 
/Nascher, in seinem — auch sonst unverläßlichen und durchaus wertlosen 
_____ Buch des jüdischen Jargons", behauptet, Ganghofer sei derjenige, der 
das Zeitwort schnorren in die deutsche Sprache einverleibt habe. Wogegen 
schon allein die oben angeführte Goethe-Stelle spricht.) Eine scherzhafte 
Weiterbildung von Schnorrer (nach Paul Lindaus Aufzeichnung zu seiner 
2 eit für herumziehende — echte oder unechte — spanische Tänzer ge¬ 
braucht) ist: Schnorreros. 

Schnorren ist nicht das einzige Wort der deutschen Umgangssprache, bei 
dem man durchaus zu Unrecht an eine jüdische Herkunft denkt. Solche 

pseudojüdische Wörter 

sind z. B. auch: Pofel, Petiten, Schabbesdeckel, nappezen. 

pofel oder Bowel hat die Bedeutung: schlechte Ware, Schund (auch in 
der Nebenform Bafel gebräuchlich). Auch in den Mundarten ist das Wort 
sehr verbreitet. Das Schwäbische Wörterbuch verzeichnet die Wendungen: 
Er hat noch mehr so alten Pofel im Haus, hellen Pafel schwätzen. In der 
Schweiz bedeutet Pofel auch Durcheinander, Gedränge, Getriebe, Hausgesinde 
in lauter Tätigkeit (wo-n-i hei cho bi, han-i ne grüsliche Bofel a’troffe, si 
chunnt der ganze Tag nie us-em Pofel use). In Tirol ist „der Pofel“ (auch 
Nachpofl) das letzte Gras auf der Wiese, das dann die Tiere nach dem Mähen 
abweiden. Im Steirischen wird auch Pofelwerk gebraucht, mit der Bedeutung 
rohe Volksmassen, halbwüchsige, bengelhafte Jugend. Stark verbreitet in vie¬ 
len Bedeutungsnuancen ist das Zeitwort p o f e 1 n. Die Mucken thund mir viel 
verpalieln, sagt bei Hans Sachs ein Krämer von seiner Ware. Bei Rosegger 
bedeutet anpofeln: anlügen, betrügend Vorreden. Sonst bedeutet pofeln im 
Steirischen: wimmeln, sich drängen, brummend schwatzen, qualmen (von Rau¬ 
chern). Im Berner Oberland bedeutet „es poflet“: es ist ein Gedränge, ein Ge¬ 
tue, ein Durcheinander. Der Umstand, daß der Ausdruck Pofel besonders viel 
von jüdischen Hausierern gebraucht wurde, zur Bezeichnung von Schund, alter 
ungangbarer Ware (daher: sich einboweln = schlechte oder überflüssige Ware 
einkaufen, die Leute einboweln = den Käufern schlechte Ware anhängen) ver¬ 
leitete dazu, darin fälschlicherweise ein jüdisches Wort zu sehen. (Hans Rei- 
mann weiß in seinem mit wenig; Witz und viel Behagen übel zusammengestop¬ 
pelten Büchlein über die deutsche Sprache anzugeben, daß das Wort Pofel vom 
Namen der sündenreichen Stadt Babel kommt.) In Wirklichkeit ist jedoch 
povel, bovel ein gutes mittelhochdeutsches Wort, das bis auf Luther keinen 
verächtlichen Sinn hat, sondern schlechthin die Bedeutung: Volk. Es kommt 
von lateinisch populus. Die erst nach Luther mit verächtlichem Sinn erfüllte 
neuhochdeutsche Form P Ö b e 1 ist eigentlich nur die Nebenform des volkstüm¬ 
lichen oberdeutschen „Pofel“. 


13 5 








jüdisch mutet auch das Slangwort Petiten an, das die Bedeutung hat- 
faule Ausflüchte, grundlose Einwendungen, Kniffe, Machenschaften. Castelli 
bucht 1847 in seinem Wörterbuch des Niederösterreichischen (u. zw. im Haupt 
teil, nicht etwa in dem der Gaunersprache, dem Jenischen, gewidmeten Nach' 
trag) Batitn machen = betrügen. Das Wort ist nicht jüdischer, sondern ro¬ 
manischer Herkunft. Es geht zurück auf italienisch partita (zu lateinisch 
pars) = Teil, Waren- oder Rechnungsposten. Verpartieren bekam im Deut¬ 
schen schon früh die Bedeutung: unredlich teilen, auf unlautere Weise ver¬ 
handeln, „packeln“, Machenschaften treiben. Die ältere Sprache kennt Partita 
oder Partitahandlung im Sinne von Betrug, Gaunerei; Partitaspieler = Falsch¬ 
spieler. Bei Unger-Khull wird aus einem steirischen Dokument des Jahres 1690 
angeführt: du tausend sacraments partitimacherischer bestialischer Hundsfud 
Batiten ist also eine mundartliche Nebenform von Partiten. In der heute vor¬ 
herrschenden Form Petite ist vielleicht der Anklang an Petition (an eine Be¬ 
hörde gerichtetes Gesuch, Eingabe) wirksam. 

Schabbesdeckel buchen das Grimmsche und das Weigandsche Wör 
terbuch als deutschen Voiksausdruck mit der Bedeutung: breiter Hut 
den die Juden am Samstag tragen (im Gegensatz zu den Mützen der Werk¬ 
tage). In erweiterter Bedeutung kann der Ausdruck Schabbesdeckel zunächst 
auf jeden breitkrempigen, feierlich wirkenden und dann auf jeden Hut über¬ 
haupt angewendet werden. Den ersten Teil der Zusammensetzung Schabbes¬ 
deckel hält man allgemein für die jüdische Ausspracheform von hebräisch 
schabbath. Vilmar erklärt Schabbesdeckel als „ein ursprünglich von Juden und 
Judengegnern gebrauchtes Wort“, ohne die Behauptung beweisen zu können. 
H. Platz hat aber neuerdings glaubhaft gemacht, daß man den ersten Teil der 
Zusammensetzung bisher fälschlicherweise auf den hebräischen Namen des sie¬ 
benten Wochentags zurückgeführt hat. Der Ausdruck wird zuerst 1800 er¬ 
wähnt im Westerwäldischen Idiotikon, dann wird er 1812 auch bei Stalder 
als schweizerisch gebucht. An keiner dieser beiden Stellen ist die Rede davon, 
daß das Wort irgendwelche Beziehung zum Sabbath und zu Juden hätte. 
Stalder schrieb „Schabisdeckel“. Loritza führt 1847 im Idiotikon Viennense 
die Form Schappersdeckel an, die er — wie Stalder sein Schabisdeckl — von 
alemannisch Schapper, Schäber (mittelhochdeutsch schappel) = Kranz als 
Kopfschmuck (aus altfranzösisch chapel) ableitet. In der Tat, führt H. Platz 
aus, ist chapel das Grundwort, aber nicht auf dem Wege des mittelhochdeut¬ 
schen schapel, sondern es wurde das neufranzösische chapeau von neuem 
entlehnt. Chapeau für Hut ist in mehreren deutschen Mundarten lebendig ge¬ 
blieben (z. B. in der Pfalz, in Mecklenburg). Andererseits ist auch „Deckel“ 
eine scherzhafte Umschreibung für Hut. Der Schabbesdeckel — also eigentlich 
„C hapeaudecke 1“, Schapohdeckel — ist eine scherzhafte tautologische 
Zusammensetzung, wie Pläsiervergnügen, Jardingarten usw. Die Umwandlung 
von Schabisdeckel, Schappendeckel usw. zu Schawesdeckel, Schabbesdeckel ist 
eine auch begriffsumwandelnd wirkende Volksetymologie. Dabei möchte ich 


136 




noch zu bedenken geben, ob nicht auch eine andere Deutung des ersten Teiles 
von Schabbesdeckel möglich wäre. Kabis, Kabbes (zu lateinisch caput) ist eine 
Volksbezeichnung für den weißen Kopfkohl (Brassica oleracea capitata). Nun 
werden die Bezeichnungen für Kohl und Kürbis in vielen Mundarten und auch 
in vielen fremden Sprachen zur spöttischen und verächtlichen Bezeichnung des 
menschlichen Hauptes verwendet. Meine Vermutung Schabbesdeckel 
könnte vielleicht früher Kabisdeckel gelautet haben, ist daher nicht all¬ 
zukühn. Jedenfalls aber, ob nun der Schabbesdeckel ein Chapeaudeckel ist 
oder ein Kabisdeckel, keineswegs enthält der Ausdruck einen Bestandteil jüdi¬ 
scher Herkunft, der erste Teil der Zusammensetzung ist jedenfalls romanisch. 

Den Ausdruck nappezen = schlummern, leicht schlafen teilt das Wiener 
Slang mit dem Judendeutsch, und daher ist mancher geneigt anzunehmen, daß 
es sich um eine hebräisch-jüdische Wortwurzel handelt. Aber die Wortge¬ 
schichte zeigt, daß die bayrisch-österreichische Mundart und das Judendeutsch 
hier ein altes germanisches Wort lebendig erhalten haben. Aus dem 
Althochdeutschen kennen wir hnaffizan (in den Psalmen des Notker um das 
Jahr iooo naffezen, naffzen) = schlummern, im Schlafen nicken, aus dem 
angelsächsischen hnappian. Dazu gehört im Englischen das Zeitwort to 
nap = schlummern, nickend schläfrig sein und das Hauptwort nap == Nicker¬ 
chen (z. B. to take a nap, after dinner’s nap). Noch im frühen Neuhochdeutsch 
waren die Wörter naffatzen, naphizen und ähnliche Nebenformen schrift¬ 
sprachlich lebendig. Bei Sebastian Franck ist zu lesen: so etwas ernstlich in der 
Predigt wirt gesagt, so nöfzens, schnorchens, da unwilt allen. In verschiedenen 
deutschen Mundarten kommt noch das einfachere Zeitwort napfen = nicken 
vor; nappezen ist anscheinend — und das gilt wohl schon für den althoch¬ 
deutschen Vorläufer — die Iterativform von napfen und bedeutet daher: wie¬ 
derholt napten, wiederholt nicken (die gleiche lautliche Beziehung wie bei 
blicken-blitzen, schlucken-schluchzen, saufen-seufzen). Im Bayrisch-Österrei¬ 
chischen gibt es auch ein Hauptwort: der Naffezer (an Naffezer tan, jetzt 
kirnt me der Naffezer). Im Steirischen hat Nappetzer nach Unger-Khull auch 
die Bedeutung: schläfriger Mensch, langweilige Arbeit. Auch in Oberösterreich 
wird der Ausdruck Napfezer auf einen Menschen schläfrigen Wesens angewen¬ 
det. (In Kaltenbrunners Oberösterreichischem Jahrbuch 1844 beginnt ein 
„Napfezer“ überschriebenes Lied von L. Luber mit den Zeilen: Überall 
mue-r-i- ’s hörn, Kim i wo de will hi, Da-r-i- wahrhafti de Napfeza bi. Die 
48., letzte, Strophe lautet: Des Gsangl ha i dicht’, Un i sags meine Treu, Und 
es derfst es a glabn, I ha gnafezt dabei. In einem österreichischen mundart¬ 
lichen Gedicht aus dem Jahre 1840 heißt es: In der Schul han ichs erst Jahr 
gschlaffn, das annert und dritt hab ih g’nafetzt und d’ Dinten vaschütt. Jeden¬ 
falls kann die reingermanische Abstammung von nappezen nicht bezweifelt 
werden. Von vornherein abzuweisen sind lächerliche Erklärungen, „nappetzen“ 
hänge zusammen mit (Ka-)napee oder komme von tschechisch na pecu = „auf 
dem Ofen“ (nämlich: auf dem Ofen schlafen). 


137 





Schwindler 

Von althochdeutsch swintan = vergehen, abnehmen, kommen die Wör¬ 
ter schwinden, verschwinden, Schwund, Schwindsucht, verschwenden (=zum 
Verschwinden bringen), auch Ortsnamen wie Schwand, Schwenda, Ge- 
schwende (wo ein Wald verschwunden ist, d. h. ausgerodet wurde, also 
ähnlich den Ortsnamen auf -roda und -rode). Damit verwandt ist auch 
Schwindel im Sinne von Taumel, nämlich das Gefühl, als ob man ver¬ 
schwinden würde, als ob einem Kraft und Leben schwände. Gesondert *u 
betrachten ist aber — wenngleich die Verwandtschaft mit den bisher ge¬ 
nannten Wörtern nicht ganz abzuweisen ist — die Wortgruppe, die mit 
Schwindel = Betrug zusammenhängt, also schwindeln, Schwindlet 
usw. Das Wort Schwindler ist ziemlich jungen Alters und seine Herkunft 
beschränkt sich nachweislich auf ein engbegrenztes Gebiet. Es läßt sich auf 
ungefähr 160 Jahre zurückverfolgen; nur steht es nicht genau fest, ob es 
aus Hamburg nach London gelangt ist oder ob es die Handelswelt der 
Hansastadt aus London übernommen hat. Letzteres ist immerhin das Wahr¬ 
scheinlichere, denn der älteste Beleg (für swindler) ist für England be¬ 
zeugt, und zwar für das Jahr 1775. Demnach läge bei Schwindler, wie es 
der schwedische Linguist Erik Wellander formuliert, eine Wortentlehnung 
aus dem Englischen vor unter gleichzeitiger Assimilation mit einem schon 
vorhandenen einheimischen Worte. 

Als Lichtenberg 1794—1799 seine bekannten Erklärungen der Hogarth- 
schen Sittenbilder veröffentlichte, konnte er zu jenem Kupferstich, der die 
verführte Molly im Zuchthaus zeigt, schreiben die berüchtigten Per¬ 

sonen, die man in England Swindlers nennt (eines der Wörter, die der 
große Doktor Johnson in seinem ebenso großen Wörterbuch vergessen hat). 
Sie sind Betrüger, die durch fein ausgedachte Ränke, und zwar hauptsächlich 
unter dem Schein eines Mannes von Stand und Vermögen, die Menschen 
um ihr Eigentum zu bringen versuchen.“ Um diese Zeit wurde das Wort 
Schwindler in Deutschland allerdings gelegentlich auch im Sinne von Phan¬ 
tast, Schwärmer, unbesonnener, leichtsinniger Mensch gebraucht. In den mei¬ 
sten Fällen waren aber doch unlautere Kaufleute, Wechselreiter gemeint, und 
in dem 1806 erschienenen Holsteinischen Idiotikon von Schütze heißt es: 
„Swindler, so nennt man in Hamburg und Altona die Negozianten, die 
sich mit Wechselgeschäften zu sehr und über ihre Kräfte einlassen, um ihr 
gefährliches Negoz zu bezeichnen.“ Während Schwindler hier noch als 
hamburgisches Wort gekennzeichnet ist, führt das 1810 erschienene Cam- 
pische Wörterbuch das Wort Schwindeier oder Schwindler bereits ohne 


138 



r 

geographische Einschränkung und mit der Erklärung „ein Kaufmann, der 
sich törichten Unternehmungen überläßt”. 

Im Kreise Malmedy wird ein heiliger Schwindeier oder 
Schwindelius verehrt. Von diesem Heiligen weiß man andernorts und auch 
in der Kirchengeschichte nichts. Offenbar liegt eine Verderbung des Na¬ 
mens des heiligen Suindbert oder Schwindbert vor, der um die Wende des 
6 und 7. Jahrhunderts bei den Friesen das Christentum verbreitet hatte. 
p er Name Schwindbert weist die alte deutsche Wurzel swint = kräftig, 
gewaltig, geschickt auf. Sie ist mit der obigen Wortgruppe schwinden, ver¬ 
schwinden, Schwund usw. nicht verwandt und ist heute nur noch in dem 
süddeutschen Worte geschwind = schnell erhalten. 

Schwul, Schwulität 

Für schwül geben die Wörterbücher als erste Bedeutung an: beklemmend 
und drückend heiß, wie die Luft vor dem Gewitter. Das Eigenschaftswort 
(und seine Nebenform schwul) dürfte sprachgeschichtlich Zusammenhängen 
mit althochdeutsch swilizon = langsam verbrennen, altnordisch svaela = 
Rauch, Qualm und daher auch mit dem neuhochdeutschen (besonders nieder¬ 
deutschen) Zeitwort schwelen = langsam dampfend verbrennen. Im Hoch¬ 
deutschen ist (aus niederdeutsch swul = drückend heiß) seit Mitte des 17. 
Jahrhunderts „schwul” nachweisbar, das sich nach Kluge-Goetze unter dem 
Einfluß des Gegenwortes kühl anfangs des 18. Jahrhunderts zu schwül ver¬ 
wandelte. (Vereinzelt kommt aber „schwul” auch später noch vor, z. B. in 
einer Stelle bei Arndt, die sich auf „Pfuhl” reimt: „September trüb und 
schwul”.) 

Vielartig ist die Verwendung von schwül in übertragenem Sinne. Bei 
Eichendorff ist s. B. von schwülen Augen, schwülen Träumen die Rede. 
Man spricht von einer schwülen (Erotik gleichsam wie einen Gewitteraus¬ 
bruch verheißenden) Atmosphäre, wenn Tanzlokale halb, verdunkelt und 
rote Lampen eingeschaltet werden („schwüle Tangobeleuchtung”) usw. 

Eine Rückwandlung aus schwül zum ursprünglichen u-Laut zeigt das 
jüngere Slangwort schwul = homosexuell. Es dürfte in dieser Bedeutung 
zuerst in Berlin aufgetreten sein, 1 doch ist es nicht klar, wie es zu dieser 


i) Schon Carl Julius Weber bemerkte vor etwa hundert Jahren in seinem 
Demokritos: „Erschlaffung und Ubergenuß bringt zur Unnatur der sogenann¬ 
ten warmen Brüder (Sprache Berlin s).“ Und noch früher bei Magister 
Laukhard: „Die Geistlichkeit in Paris war besonders in Verdacht, Meister in 
der Kunst zu sein, die man branler Pepine nannte — in B e r 1 i n nannte man 


139 








Bedeutung gekommen ist. Soll schwul = homosexuell sich erst aus dem 
Ausdruck „warme Brüder" = Homosexuelle entwickelt haben? Aber 
auch die Entstehung dieser Bedeutung von „warm" harrt noch der Aufklä 
rung. Vielleicht weil die „Warmen" Männer sind, die ihren Geschlechts- 
genossen gegenüber in erotischer Hinsicht nicht gleichgültig, sondern warm 
empfinden. 

Aus der Bedeutung beklemmend heiß entwickelt sich für „schwül" auch 
die Bedeutung: bang. Es wird ihm schwül zumute ums Herz = er kriegt 
Angst. Daraus schuf die Studentensprache im 18. Jahrhundert das makkaro- 
nische Hauptwort (vgl. S. 214 ff) Schwulität = Verlegenheit, Bang- 
nis, Not. Dann auch: in Schwulibus = in Ängsten, in Nöten. 

Spitzel 

Das Wort Spitzel im Sinne Spion taucht anfangs des vorigen Jahr¬ 
hunderts in Österreich auf. Hofers österreichisches Wörterbuch defi- 
niert 1815 den Spitzel: „ein Späher, welcher das, was andere tun, einem 
Vorgesetzten heimlich zuschwätzt“. Für Österreich begann ja mit dem Wie¬ 
ner Kongreß eine lange Periode der politischen Spitzelei, sie überdauerte 
das jahrzehntelange Metternichregime * 1 und erlebte im Weltkrieg neue Glanz¬ 
jahre, über die in Jaroslav Haseks Schwejk einiges nachgelesen werden kann. 
Der nicht erlahmende Eifer der metternichschen und nachmetternichschen 
Polizei hatte zur Folge, daß die österreichische Umgangssprache und ihre 
kriminelle Unterwelt sich eine üppige Auswahl von Ausdrücken für Denun¬ 
zianten und geheime Polizeiagenten zurechtlegte. Um hier nur einige zu 


solche die warmen Brüder.“ Aus der 1790 erschienenen Autobiographie von 
Karl Friedrich Bahrdt, einem gemaßregelten Aufklärungstheologen: „In Ber- 

1 i n sind alle Arten der Wollust, selbst die scheußlichste, der warme Bruder.“ 
Der „Richtige Berliner“ (Meyer-Mauermann) verzeichnet übrigens auch die 
Ausdrücke: er schwult nach mir = er sieht heimlich (verliebt) her und schwu¬ 
len, abschwulen = Schularbeiten von einem Anderen abschreiben. — Aus 
der mitteldeutschen Kundensprache wurde gebucht: auf die warme (schwule) 
Fahrt gehen == sich einen (zahlenden) homosexuellen Partner suchen; aus West¬ 
falen (F. E. Schnabel 1910): angewärmter Käl (Kerl) = Homosexueller; aus 
der Seemannssprache: schwules Paket = Lesbierin. Für das Sächsische ver¬ 
zeichnet Müller-Fraureuth für „Webe“ (W. B., Abkürzung von warmer Bru¬ 
der) neben Päderast auch die Bedeutung Frauenfeind (besonders als Schelt¬ 
wort für alte Junggesellen). 

1) Berthold Auerbach hat sich allerdings 1849 in seinem Wiener Tagebuch 
beeilt, die Einrichtung der Spitzelei als bereits endgültig abgetan hinzustellen: 
„Wem wäre das heutige Wien nicht lieber, als das alte mit seinen Spitzeln?“ 


T40 






nenn en : Naderer, Verdeckter, Vigilant, Konfident, Schmierer, Schmieriger 
(von Schmiere stehen zu neuhebräisch semira = Bewachung), Näscher, Gnei- 
sterer (von wienerisch gneißen = wissen, erfahren, ahnen), Kieberer oder 
Kiewerer oder Kiewisch (vom rotwelschen Zeitwort kiwitschen, kibitschen 
spähen, prüfen, untersuchen, besonders auch Prostituierte ärztlich unter¬ 
suchen; von diesem Kiewisch und nicht vom Vogelnamen kommt auch „Kie¬ 
bitz“ = Zuschauer beim Kartenspiel), aus der Gaunersprache auch Spanner, 
Spannjunge (man vergl. die Metapher: gespannte Aufmerksamkeit, gespannt 
sein auf etwas), Slichner, Lampen („stieke, es sind Lampen da"), Wams, 
Wämser, daneben noch allgemein für die Polizei: die Ziss, die Höh, die 
Gwedsch, die Putz, für die Polizisten auch: die Mistelbacher; nur selten 
Polente und Bulle, welche Ausdrücke in Wien als berlinisch empfunden 
werden 1 . Dazu kommen mehrere Zeitwörter der Wiener Umgangs- und 
Unterweltsprache mit der Bedeutung denunzieren, anzeigen, verraten: zün¬ 
den, verzünden, vermossern, verluachnern, verpetzen (vielleicht im Sinne von 
verbellen, vom veralteten Worte Petze = Hündin), pezetten (von pezet = 
„pe“ + „zett“ = Polizei, Buchstabenwort der jüdischen Gaunersprache), 
verwamsen, verzinken, verslichnen, verslichern, Lampen machen, Lampen 
reißen. Der Ausdruck aber, der die größte Geltung erlangt hatte und im 
ganzen deutschen Sprachgebiet bekannt wurde, ist Sp it z el. Im Jahre 1848 
sang man in Wien: Was macht die Spitzelei, was macht die Spitzelei, was 
macht die lederne Spitzelei? (Es gibt eine Karikatur von K, Geiger vom 
3. Mai jenes bewegten Jahres: Katzen singen dieses Lied, indes im Hinter¬ 
grund Hunde — nicht grade Spitzhunde — entsetzt die Flucht ergreifen.) 

Dem Ausdruck Spitzel = Polizeispion hat die Wortgeschichte reichlich 
vorgearbeitet. Auf zwei Wurzeln muß man zurückgreifen. Die eine ist das 
althochdeutsche spioz (mittelhochdeutsch spiez), worunter die Waffe Spieß 
zu verstehen war. Die andere ist das althochdeutsche spiz, das das Geweih 
des Rotwildes, aber auch den Bratspieß bedeutete. (Man beachte, daß bei 
beiden Etymons ein „Spitzen des Mundes“ zur Aussprache nötig ist; über 
diese Gebärde siehe weiter unten Fußnote 1 auf S. 144.) 

Schon aus dem Worte Spieß selbst entwickelten sich mit der Zeit ver- 


i) Man glaube nicht, aus der großen Anzahl der Bezeichnungen für die Po¬ 
lizei besondere Folgerungen auf den Charakter des Wieners ziehen zu dür¬ 
fen. Die Üppigkeit solcher Synonymen scheint der städtischen Umgangs¬ 
sprache überall eigen zu sein. So hat z. B. das Berner „Mattenenglisch“ (ein 
nach dem Stadtteil Matte bekanntes Lokalidiom, halb Gaunersprache, halb 
scherzhafte Schülergeheimsprache) u. a. folgende Bezeichnungen für den Po¬ 
lizisten: Tschugger, Putz, Plutzger, Pfützg, Pflütz, Pflüder, Grüenspächt. 


141 










schiedene Ausdrücke mit verächtlichem Beigeschmack. Spießgeselle bedeu 
tete ursprünglich zwar nur den Waffengenossen schlechthin, später aber be¬ 
sonders den Genossen im bösen Tun. Spießbürger hieß der zur Verteidigung 
der Stadt mit Spieß und Schild bewaffnete Bürger; als aber die Feuerwaffen 
aufkamen, bekam das Wort Spießbürger einen verächtlichen Sinn. 

Aus dem Hauptwort Spieß entwickelte sich schon früh das Eigenschafts¬ 
wort spitz. Es bedeutete von jeher auch in übertragenem Sinne: schlau 
listig. Schon im Mittelalter bedeutete spitz buobe einen verschlagenen, ver¬ 
schmitzten Menschen, seit dem 16. Jahrhundert besonders auch einen Falsch¬ 
spieler; an einen „Spitzbuben'* verliert z. B. in Hans Sachsens „Verspieltem 
Reiter“ Klas Schellendans sein Hab und Gut. Spitzkaffer wurde im Badi¬ 
schen als Volksausdruck für einen verschmitzten Bauern gebucht. Jemand 
der durch sein Handeln einen Spitz finden konnte, war spitzfindig. Das 
Ostjüdische hat das aus der früheren südwestdeutschen Heimat mitgenom¬ 
mene Wort Spitz in diesem Sinne bewahrt; „a spitzl obtun'' bedeutet im 
Jüdischen einen Streich spielen. Eine Spitzrede ist eine verletzende Rede 
(sticheln), der Spitzname ein verletzender Namen (Spottname, früher Ekel¬ 
name) . 

Neben spitz = spitzfindig = spitzbübisch ist für die Entstehung der 
Wortbedeutung Spitzel = Polizeispion auch der Hundename Spitz 
eine Voraussetzung 1 . Es ist nicht geklärt, ob der Spitz (niederdeutsch Spitt) 
nach der spitzen Schnauze so heißt, oder nach seiner Wachsamkeit, d. h. 
nach dem Ohrenspitzen. Die gereckten Ohren als Ausdrucksbewegung der 
Aufmerksamkeit haben schon in dem klassischen Altertum ihren sprach¬ 
lichen Niederschlag gefunden; bei Vergilius z. B. stehen die Aufmerksamen 
„arrectis auribus“ da. Die Rasse des Spitzes (die sich übrigens in Deutsch¬ 
land von Pommern aus verbreitet hatte und daher auch als „pommerische 
Hundeart“ galt) wurde besonders wegen der Wachsamkeit geschätzt; zum 
mindesten fiel am Spitz das häufige laute Kläffen auf. Schon Dante kenn¬ 
zeichnet im Purgatorio die Aretiner als bösartige Spitzhunde, die streitsüch¬ 
tiger seien als es ihrer Fähigkeit zu schaden entspreche. Voltaire nennt 
die nörglerischen Kritiker les roquets de PHelicon, die Spitzhunde im Mu¬ 
senhain. Vermutlich ist es die auffällige Eigenschaft der Wachsamkeit oder 
wenigstens der Bellbereitschaft, die den Namen des Spitzes dazu befähigt, 
auch als Bezeichnung für den Polizeiagenten zu dienen 2 . Sonst müßte man 


1) Man vgl. auch das elsässische Spitz = Gendarm. Das Elsässische Wör¬ 
terbuch (1907) verzeichnet: Gibt acht, dort is e Spitz. (Sollte eine Rückbil¬ 
dung von Spitzel vorliegen?) 

2) Als die Grundlage für die Bedeutungsübertragung könnte man auch die 


142 





glauben, der Jagdhund, der das Wild aufzuspüren hat, eigne sich eher für 
diese Bedeutungsübertragung. Tatsächlich bedienten sich die Sprachen auch 
des Hundes im allgemeinen bei der Schaffung von Ausdrücken, die die 
Tätigkeit der Polizei und der Spione bezeichnen sollen. Cicero nannte die 
Helfer des Verres: canes, Spürhunde. Boccaccio sagt gelegentlich einfach 
cane für Spion. Ein stark verbreitetes Wortspiel nannte die Dominikaner, 
deren Orden anfangs des 13. Jahrhunderts zur Aufspürung des Ketzer¬ 
wesens gegründet wurde und vom Heiligen Stuhl die Übertragung der In¬ 
quisition erlangte, domini canes, Hunde, Spürhunde des Herren. (Der Stifter 
des Ordens, der heilige Dominikus, hat übrigens neben der Fackel und der 
Erdkugel den Hund zum Attribute.) In der englischen Diebs- und Bettler¬ 
sprache, im Dreigroschenopernmilieu, bedeutet bloodhound den Häscher. 
Aus Schillers Wallenstein kennen wir die Stelle über den Kriegsrat von 
Questenberg: „Wieder so ein Spürhund, gebt nur acht, der die Jagd auf 
den Herzog macht“. Börne spricht — im Gegensatz zu dem „Polizeiwild“, 
d. h. den von der Polizei bedrängten Bürgern — von den Polizeihunden 
(ohne an vierbeinige zu denken). Die Gaunersprache hat den Ausdruck 
Teckel oder Dackel für den Landjäger. 

Zu den Vorläufern des wienerischen Wortes Spitzel zählt auch das Zeit¬ 
wort spitzen = auf etwas lauern, auf etwas gespannt sein, auch: etwas 
für sich erwarten, erhoffen. I spitz scho' drauf, hört man auch heute noch 
oft sagen. Borchardt-Wustmann erklären die Redensart: entweder weil man 
unwillkürlich den Mund spitzt, wenn man etwas Leckeres für seine Zunge 
erwartet (in Goethes Werther: „in der Hoffnung auf ein künftig Pfand 
sein Mäulchen spitzen”) oder besser unmittelbar so von den Sinnen gesagt 1 , 
wie auch von einem Spannen der Sinne die Rede ist (man vergl. dazu das 
schon angeführte Spanner als wienerisches Synonym von Spitzel). Auch im 
Sinne von staunen wird das Zeitwort spitzen in Wien gebraucht: da wirst 
aber spitzen. In einem Gaunerlied heißt es: „Wenn wir im Tschecherl (klei- 

Zudringlichkeit des kleinen Kläffers ins Auge fassen. Ebenso heftet 
sich einem auch der Spion an die Fersen. Als Analogie könnte man die in 
Frankreich im 1 6. Jahrhundert auf gekommene Bezeichnung mouche oder mou- 
chard für Denunzianten, Geheimpolizisten anführen; diese seien zudringlich, 
verfolgten einen überallhin wie die Fliegen (mouches). Aber das Wort mouchard 
soll nach anderer Deutung zuerst den Gehilfen des Inquisitors Mouchy gegol¬ 
ten haben; doch auch in diesem Falle wäre es die Vorstellung von der Fliegen¬ 
ähnlichkeit, die die Bezeichnung mouche = Geheimpolizist jahrhundertelang 
lebendig erhalten hat. 

i) Im Mittelhochdeutschen sogar: diu ougen spitzen gen ein; und: sin herze 
unde al sin gedanc spitzen. 


*43 









nes Kaffeehaus) sitzen, tun dö Pülcher (Pilger, d. h. junge Angehörige der 
Unterwelt) spitzen, wie auf unserem Griffling tun dö Gettern blitzen“ (si^ 
wundern, wie an unseren Händen die Brillanten glitzern). 

Die Freudsche Feststellung, daß im Seelischen auch die winzigsten und 
nichtigsten Erscheinungen „über determiniert"' sind, das Ergebnis vieler 
Ursachen darstellen, gilt auch für die Wortgeschichte. Die Voraussetzun¬ 
gen für die Entstehung des Wortes Spitzel bieten so ein Beispiel von über- 
determinierung: 1 ) spitz = listig, wie in spitzfindig und Spitzbube, 2 ) 
Spitz = der wachsame und durch sein Gekläff denunzierende Hund, 3 ) die 
Ohren spitzen = lauschen, lauern oder allgemeiner erwartungsvoll den 
Mund 1 , die Sinne überhaupt spitzen, — das sind alles Voraussetzungen für 
das Zustandekommen des Wortes Spitzel. Übrigens dürfte der Anklang an 
das Wort Spion (mittelbar auf deutsch „spähen“ fußend, im 17. Jahr¬ 
hundert aus den romanischen Sprachen rückentlehnt, im 18. Jahrhundert 
ein deutsches Volkswort) für die Entstehung des Ausdrucks Spitzel nicht 
ohne Einfluß gewesen sein 2 . 

Noch mehr als das bei aller Verbreitung stets mundartlich anmutende 
Spitzel fand eine Fortbildung dieses Wortes Eingang in den allgemeinen 
deutschen Wortschatz. Das Wort Lockspitzel schuf der in der Schweiz 
als Emigrant lebende deutsche freiheitliche Dichter Karl Henckell durch 
sein sogenanntes Lockspitzellied, das am 2 . Februar 1888 in der Züricher 


1) Die Gebärde des gespitzten Mundes im Zustande der interessier¬ 
ten, freudigen Erwartung geht auf die Wollust des Säuglings bei der Nah¬ 
rungsaufnahme zurück. Gebärdensymbolisch ist der Mund uns gleichsam als 
Lustrüssel verblieben. Zu beachten ist auch, daß sich beim sogenannten süßen 
Gesichtsausdruck der Mund darum spitzt, weil die für das Empfinden des 
Süßen bestimmten Geschmacksnerven hauptsächlich an der Zungenspitze lie¬ 
gen und der gespitzte Mund gleichsam das Sichhindrängen dieser Teile zum 
Empfang des freudig erwarteten Gastes darstellt (indes der sauere und der 
bittere Gesichtsausdruck daraus entsteht, daß die für das Saure und Bittere 
in Betracht kommenden und an den Zungenrändern, bezw. an der Zungen¬ 
wurzel angeordneten Nerven den unangenehmen Reizen auszuweichen versu¬ 
chen). 

2) Aus dem Wienerischen sind noch zwei Verwendungen der Wurzel Spitz 
zu verzeichnen: g’spitzt ausschaun heißt schlecht, kränklich ausschauen und 
Spitz (auch Nobelspitz) ist ein kleiner Rausch; in dieser Bedeutung kommt 
übrigens Spitz auch sonst gelegentlich im oberdeutschen Sprachgebrauche vor, 
so heißt es 1535 in einem Fastnachtspiel des Hans Sachs: „ich glaub’, er hab 
einen guten Spitz.“ Ein Beleg um 1562: „er hett ein spitzle gedrunken“. 
Auch französisch pointe = Spitze bedeutet einen kleinen Rausch. Entschei¬ 
den d dürfte dabei die Vorstellung sein: Spitze = etwas Kleines, etwas We¬ 
niges. 


144 







post erschien und nach der Melodie des „kreuzfidelen Kupferschmiedes“ 
z u singen war. Die deutsche Regierung hielt damals in der Schweiz Geheim¬ 
agenten, die die „subversiven Elemente“ zu überwachen hatten. Wie zu 
allen Zeiten die Geheimagenten, die gerne was zu melden haben und es 
nötigenfalls auch selbst produzieren, betätigten sich diese deutschen Agen¬ 
ten auch als agents provocateurs. Minister von Puttkammer gab es im deut¬ 
schen Reichstag auch zu, daß er zum vertraulichen Überwachungsdienste 
„allerdings keine Gentlemens verwenden könne“. Auf diesen etwas zyni¬ 
schen Ausspruch spielte Henckells satirisches Gedicht an und so schuf es 
als seither eingebürgerte Verdeutschung des agent provocateur das Wort 
Lockspitzel. Henckells — bewußtes oder unbewußtes — Vorbild bei dieser 
Neuschöpfung war vielleicht der Ausdruck Lockvogel, der auf zwei Stellen 
des Alten Testaments zurückgeht: „ihre Häuser sind voller Tücke, wie ein 
Vogelbauer voller Lockvögel ist“ (Jeremias 5, 27) und „ein falsch Herz 
ist wie ein Lockvogel auf dem Kloben und lauert, wie er dich fangen 
könne“ (Jesus Sirach 11, 31). 

Steckbrief 

Der älteste Beleg ist ein Mainzer Text aus dem Jahre 1355, wo 
„Hafft- oder Steckbrieffe" erwähnt werden. Zwei etymologische Erklärun¬ 
gen stehen zur Wahl. Die eine nimmt auf Stock = Gefängnis Bezug. Stock 
war ursprünglich der Holzblock, in den man die Füße des Gefangenen 
„steckte“; davon hieß der Gefangenenwärter Stöcker oder Stockmann, das 
Gefängnis Stockhaus und abgekürzt Stock; daher auch stockfinster und viel¬ 
leicht auch verstockter Sünder; einstecken bedeutet verhaften, ins Stocken 
geraten = festsitzen, nicht weiterkommen. Steckbrief war demnach der 
schriftliche Auftrag, jemand zu stecken, d. h. ihn aufzuhalten, in den Stock 
zu legen. 

Die andere Erklärung, die die Autorität der Brüder Grimm auf ihrer 
Seite hat, geht auf gewisse Arten der Vorladung vors Gericht zurück. Da 
der Überbringer unangenehmer Botschaft an Herren heftigen Gemütes leicht 
Gefahren ausgesetzt war, erfolgte die Vorladung vor die heilige Feme, wenn 
der Schuldige auf einem Schlosse wohnte, „darein man nicht ohne Sorg und 
Abenteuer kommen könnt", derart, daß der Bote nachts drei Späne aus dem 
„Rennbaum" oder „Riegel" des verschlossenen Tores heraushieb, das La¬ 
dungsschreiben in die so entstandene Narbe steckte und dem Burgwächter 
zurief, ein Brief sei in den Grindel gesteckt, er solle es dem sagen, der 
in der Burg sitzt. Die Späne, die der Bote herausgehauen hatte, um den La- 

145 

10 Storfer • Sprache 





dungsbrief hineinzustecken, mußte er dem Auftraggeber mitbringen, gewis¬ 
sermaßen als Empfangsbestätigung für den Steckbrief. In Städten wurde die 
Vorladung in die Haustüre des Angeklagten gesteckt. Da man auf diese 
Weise an ihn einen Brief ohne sein Wissen gelangen ließ, bekam die 
Redensart „jemand etwas stecken“ auch die Bedeutung: heimlich Nach¬ 
richt zukommen lassen. Bei unbekanntem Aufenthalt des Angeklagten 
wurde die Ladung öffentlich, in der Regel an Kreuzwegen aufgesteckt und 
dies führte zu der jetzigen eingeschränkten Bedeutung des Wortes Steck¬ 
brief. 

Stinken, stänkern 

Das althochdeutsche stinkan hatte noch den allgemeinen, neutralen Sinn: 
einen Geruch von sich geben (also auch: angenehm duften). Dementspre¬ 
chend hatte auch das Hauptwort stank die Bedeutung des Geruchs, des 
Duftes im allgemeinen, nicht etwa nur den des üblen Geruchs. Wiederholt ist 
in althochdeutschen Texten von süßem Stank die Rede; so heißt es z. B. 
bei Notker: suozen stang tuve dir min gebet. Sogar vom süßen Stank 
Christi wird in religiösen Schriften gesprochen. In der Paraphrase des 
Hohenliedes von Williram (11. Jahrhundert) heißt es: der stank dines 
mundes ist samo der suozon epfelo. Auch im Mittelhochdeutschen erhält 
sich teilweise noch die neutrale Bedeutung von Stank. Eine für 1315 belegte 
Straßburger „badestube zum stank" hatte offenbar parfümierte Bäder zu 
bieten. In der mittelhochdeutschen Zeit beginnt aber schon die Bedeutungs¬ 
verschlechterung, sodaß die Bedeutung von stinken sich schließlich auf den 
üblen Geruch beschränkt. (Über die Erscheinung des pejorativen Bedeu¬ 
tungswandels, der Anlaß gibt von einem Pessimismus der Sprache zu reden, 
vgl. das Stichwort „niederträchtig" in „Wörter und ihre Schicksale".) Für 
den ursprünglich neutralen Charakter des Begriffs stinken zeugen noch ver¬ 
einzelte Spuren. So bewahrt z. B. den alten Sinn die südbayrische Mundart 
der Sprachinsel Lusern in den vicentinischen Alpen. In dänischen und nor¬ 
wegischen Mundarten werden die Büchsen, in denen Wohlgeruch verbrei¬ 
tende Mittel aufbewahrt werden, stinkekrukke (krukke = Krug, Büchse) 
oder ähnlich genannt. 

Daß im Angelsächsischen stincan neben allgemein duften und im Beson- 
dern übelriechen auch „aufwirbeln" bedeutet (was vielleicht mit gotisch 
stigqan = Zusammenstößen in Parallele zu stellen ist), läßt die Vermutung 
aufkommen, daß stinken vielleicht mit s t e c h e n verwandt sei. Man könnte 
an Gerüche denken, die erst wahrgenommen werden, wenn etwas aufge¬ 
stochen, aufgewirbelt, aufgerührt wird. 




Die Berliner Redensart „stinken Se mal, wie det riecht“ dürfte eine auf 
dem Wege des Austausches der Zeitwörter entstandene Scherzform sein und 
läßt keinesfalls etwa den Schluß zu, daß stinken jemals auch den Sinn 
riechen in transitiven Sinne gehabt hätte. 

Merkwürdig ist auch die Redensart „erstunken und erlogen“. Sie 
kommt von der Vorstellung der stinkigen Lüge, der faulen Lüge her, vom 
Vergleich der Lüge mit einer schlechten, in Verwesung übergegangenen 
Speise oder mit einem Aas. (Über die Ableitung von faul = träge und 
faul = verwesend s. das Stichwort „faul“ in „Wörter und ihre Schicksale“.) 

Über die Wendung vom „abgestunkenen“ Schauspieler, Redner 
usw., der vom Bilde des unter Gestank abziehenden Teufels der Mysterien¬ 
spiele her genommen sein dürfte, vgl. das Stichwort „Teufel“ in „Wörter 
und ihre Schicksale“. 

Die Bedeutung des Zeitwortes stänkern gibt Sanders-Wülfing wie 
folgt an: 1) Stank verbreiten, damit erfüllen, 2a) Unfrieden stiften, b) sich 
müßig umhertreiben, c) schnüffelnd, stöbernd durchsuchen. Das Zeitwort 
ist erst seit 1678 gebucht. Es dürfte zunächst hauptsächlich von Studenten 
und Soldaten gebraucht worden sein, ebenso wie das Hauptwort Stänker, 
Stänkerer (Zedlers Lexikon 1821: Stencker, Raisonneur heißt bei den Sol¬ 
daten derjenige, der murret und brummet.) J. J. Bode gebraucht in seiner 
vortrefflichen Montaigne-Übersetzung Stänker für querelleur. Während im 
oberdeutschen Gebiet heute die Form „Stänkerer“ die Vorherrschaft hat, ist 
sonst „Stänker“ gebräuchlicher. (Bei Thomas Mann bezeichnet Johann Bud¬ 
denbrook jemanden als einen „ollen Stänker“.) Die Ableitung des Wortes 
Stänker aus dem Namen des streitsüchtigen Theologen Franz Stancarus im 
17. Jahrhundert, dessen dogmatische „Stänkereien“ berüchtigt waren, ist 
falsch, mag man — dem Geschmack der Zeit entsprechend — das Anklin¬ 
gen seines Namen an das Wort Stank polemisch auch ausgewertet haben. 

Daß stänkern nicht nur Gestank verbreiten, einen Streit aufwirbeln 
bedeutet, sondern auch „schnüffelnd, stöbernd durchsuchen“ 1 , geht entweder 
aut den Quereinfluß des Zeitwortes stechen (stöbern, wienerisch' stierin) 
zurück oder ist eine Stütze der schon angedeuteten Hypothese, daß stinken 
mit stechen, aufstechen form- und bedeutungsgeschichtlich verwandt sein 
könnte. Zum Verständnis der Form stänkern muß man auch wissen, daß es 
im Mittelhochdeutschen auch ein Zeitwort stenken gab; es war das Fakti- 
tivum (die Bewirkungsform) zu stinken (Verhältnis wie zwischen sinken 


i) Prof. Franz Blume (Jena) verweist mich auf eine Stelle bei Lessing: „Da 
habe ich wohl meine alten Papiere durchstänkern müssen“. 


io* 


147 










und sinken lassen, d. h. senken, zwischen dringen und drängen, schwimmen 
und schwemmen, springen und sprengen, sitzen und setzen usw.). Stenken 
bedeutet also: stinken lassen, Gestank verursachen. Und stänkern ist eine 
die häufige Wiederholung ausdrückende Ableitungsform (das Iterativum 
oder Frequentativum) von stenken, also: immer wieder Gestank verursachen. 
Mundartlich hat sich übrigens gelegentlich neben stänkern auch noch die 
mittelhochdeutsche Form stänken erhalten. So kommt dieses Zeitwort im 
Steirischen vor, wo es neben stänkern im hochdeutschen Sinne auch bedeu¬ 
tet: durch Stichellieder auf dem Tanzboden zu Gegenliedern herausfordern. 
Wir sehen hier wieder in der Vorstellung des Sticheins eine Gedanken¬ 
brücke zwischen stinken und stechen. Die Möglichkeit einer solchen Brücke 
ist übrigens nicht nur in der Vorstellung von der Entstehung des Gestankes 
zufolge Aufstechens von organischen Stoffen gegeben , 1 sondern auch in der 
Vorstellung von physiologischen Wirkungen des üblen Geruches: er ist 
stechend, er sticht in die Nase. 


Strohwitwe 

Das Wort Witwe (althochdeutsch wituwa) und seine Entsprechungen 
im Englischen, Französischen, Lateinischen (widow, veuve, vidua) sind ver¬ 
wandt mit altindisch vidhus = vereinsamt, vidhava = die Vereinsamte 2 . 
Man schließt auf eine indogermanische Wurzel vidh — trennen, berauben, 
bezw. leer werden, Mangel haben, die wohl auch enthalten ist in lateinisch 
di-videre = teilen (dazu unsere Fremdwörter Division, Dividende, Devise, 
Individuum) und im deutschen Worte „Waise“. Die Bezeichnungen für den 
Witwer sind erst aus jenen für die Witwe entstanden. Für den Mann, 
dem seine Frau starb, gab es ursprünglich bei den indogermanischen Völkern 
kein besonderes Wort; der Umstand war für ihn nicht bezeichnend, um- 


1) Vielleicht darf hier auch an die Etymologie von Pfütze gedacht 
werden: von lateinisch puteus = Brunnen, ausgestochene Grube zu putare = 
stechen, schneiden. 

2) Falsch ist die Deutung Witwe = witte Frau, weiße Frau (wegen der 
weißen Trauerkleider). — Französisch vide und englisch void (beide bedeu¬ 
ten: leer) dürften von lateinisch vacuus abstammen und nicht von viduus = 
beraubt, scheinen aber von diesem immerhin beeinflußt zu sein. — Die Bezeich¬ 
nungen der Witwe in den skandinavischen Sprachen gehören nicht zur Sippe 
vidua — Witwe; die alte nordische Wurzel ist ekkja = die Einzige, die Ver¬ 
einzelte (daraus dänisch enke, schwedisch enka = Witwe); hier ist also das 
Begriffselement „eins, allein“ wortbildend und nicht wie in anderen indoger¬ 
manischen Sprachen: „beraubt (des Mannes)“. 


148 




somehr war es für die Frau, wenn ihr Mann starb, ein wesentlicher Um¬ 
stand, mitunter auch ein folgenschwerer (Witwenverbrennung). 

Nicht so einfach ist die Deutung des Wortes Strohwitwe. Heute be¬ 
deutet es die Ehefrau, die vorübergehend von ihrem Manne getrennt ist. Ein 
scherzhafter erotischer Nebenton schwingt mit und dieser spielt entweder 
auf die Sehnsucht der Frau nach dem Gatten an oder auf die ihr sich bie¬ 
tende Gelegenheit, sich freier zu bewegen. Eine Strohwitwe modernen Sin¬ 
nes setzt auch einen Strohwitwer voraus und auch dieser Begriff ist im 
Sprachgebrauch meistens auf einen anzüglichen Lustspielton abgestimmt. 

Mit der Silbe Stroh in den Wörtern Strohwitwe und Strohwitwer haben 
sich Sprachforscher wiederholt beschäftigt. Am bequemsten ist die Erklä¬ 
rung von Behaghel, dem eine Analogie mit Strohmann vorschwebt. Der 
Strohmann ist eine mit Stroh ausgestopfte Puppe, die Vögel zu verscheu¬ 
chen, er ist kein richtiger Mann und ebenso sei die Strohwitwe keine rich¬ 
tige Witwe. Dieser zweifellos unzulänglichen Erklärung hält Hohlfeld Bei¬ 
spiele aus anderen germanischen Sprachen entgegen, in denen die Bezeich¬ 
nungen für Strohmann und Strohwitwe so wesentlich voneinander abwei¬ 
chen, daß die Verlockung zu jenem falschen Analogieschluß ganz entfällt. 
So ist der Strohmann im Englischen man of straw, im Schwedischen halm- 
karl, dänisch straamand, aber die Strohwitwe heißt in diesen drei Sprachen 
übereinstimmend Gras witwe, d. h. grass-widow 1 , gräsenka, gräsenke. 

Andere haben für die Frage der Herkunft der „Stroh“-Witwe den Um¬ 
stand herangezogen, daß die Vorläufer dieses Ausdruckes Strohjungfer 
(oberdeutsch Strohdirndl) und Strohbraut lauten. Das Stroh ist also im 
zusammengesetzten Ausdruck Strohwitwe älter als das Element Witwe. Die 
Bezeichnung Strohbraut führte man darauf zurück, daß es im späten Mit¬ 
telalter vielfach ländliche Sitte war, gefallenen Mädchen zur 
öffentlichen Beschämung Strohkränze aufs Haupt zu setzen und daß solche 
Mädchen, wenn sie zum Altäre geführt wurden, statt des Myrtenkranzes 
einen Strohkranz tragen mußten. Auch ist einer solchen Braut am Polter¬ 
abend Häcksel, kleingeschnittenes Stroh, vor die Türe gestreut worden. Im 

i) Grass-widow, das bereits für das 17. Jahrhundert belegt ist (zunächst 
allerdings mit der Bedeutung verlassenes Mädchen, ledige Mutter), hat man 
fälschlicherweise auch aus französisch gräce = Anmut, Gunstbezeugung ab- 
leiten wollen. Das Englische hat übrigens für die Strohwitwe auch die Be¬ 
zeichnung mock-widow, Scheinwitwe. Weitere Synonyme steuert das Slang bei: 
wife in water colours (Weib in Wasserfarben), im ältesten Slang widow- 
bewitched (verzauberte. Witwe), im amerikanischen Slang California widow 
(Anspielung auf die Zeit des kalifornischen „Goldrausches 46 , als viele Männer 
ihre Familie für lange Zeit verließen). 


149 










Faust, im Gespräch mit Gretchen am Brunnen, droht das Lieschen dem 
Bärbel: „Das Kränzel reißen die Buben ihr und Häckerling streuen wir 
vor die Tür.“ Im Urkundenbuch der Stadt Chemnitz vom Jahre 1399 bedeu¬ 
tete strobrute zweifellos: Bräute, die keine Jungfrauen waren. 

Neben der Bedeutung gefallenes Mädchen tritt aber schon früh auch die 
der verlassenen Frau auf. Die „Dithmarsche historische Geschichte“ 
des Johannes Neocorus spricht von der Strenge der Dithmarschen gegen die 
grasswedewen (Graswitwen), offenbar hier: gefallene Mädchen. Aber 
schon 1543 bucht ein in Antwerpen erschienenes Wörterbuch des Nieder¬ 
ländischen haeckweduwe (haeck ist niederdeutsch Heuhaufen, Heuschober) 
und erklärt diese Heuschoberwitwe wie folgt: veufe attendant son mari 
estant en long voyage, Witwe, die auf ihren Mann wartet während seiner 
langen Reise. In Zedlers Universallexikon 1744 finden wir neben den 
Strohwittben („heißet man aus Scherz an etlichen Orten diejenigen Weiber, 
deren Männer verreiset oder abwesend seyn“) auch den Strohbräutigam. 
So „pfleget man in Nürnberg denjenigen zu nennen, welcher es hat kund 
werden lassen, daß er vor der Hochzeit bei seiner Braut geschlafen hat. Und 
es werden solchen Personen, wenn sie sich auf dem Lande befinden, Stroh¬ 
kränze aufgesetzet, in welchen sie auch zu Strafe bey der Trauung in die 
Kirche gehen müssen“. Übrigens verstand die Moral auch hier, sich die 
Unmoral tributpflichtig zu machen. In den Bayreuther Verordnungen von 
1726 ist zu lesen, daß Brautleute, „die sich vor der Zeit verunkeuscht hat¬ 
ten“, bei der Kopulation Strohkränze tragen mußten „oder diese Strafe in 
Geld redimieren“. Diese Buße war das sogenannte Strohkranzgeld. Übrigens 
besteht in einzelnen schwäbischen Gemeinden noch heute der Brauch, daß 
das gefallene Mädchen drei Sonntage hintereinander öffentlich vor der 
Kirche einen Strohzopf tragen muß. 

H. Schräder ist der Meinung, in den Ausdrücken Graswitwe, Strohwitwe 
sei Gras und Stroh das Symbol des Hinfälligen, rasch Welkenden, Wert¬ 
losen. (Das Stroh als Symbol des Wertlosen z. B. bei Jesaia 33, 11: mit 
Stroh geht ihr schwanger.) Daß zur Strafe für die voreheliche Verfehlung 
das minderwertige Stroh die edle Myrte ersetzen mußte, erscheint ganz ein¬ 
leuchtend. Soll dieser Umstand aber auch die Bezeichnungen Strohwitwe, 
Strohwitwer für die von einander getrennten Eheleute erklären? Aus dem 
Bedürfnis nach einer anderen Erklärung schreibt 1841 die Ökonomisch¬ 
technologische Encyclopaedie von Krünitz: „von dem ausgedroschenen Stroh 
hergenommen und hier gleichsam leer bedeutend, eine leere Stelle, also 
eine Strohwitwe ist eine Frau, deren Mann fehlt, dessen Stelle im Bette, so 
überhaupt an ihrer Seite, leer ist." Die Deutung Stroh = leer ist unhalt- 


150 



bar 1 und wir haben sie angeführt als Beispiel dafür, 2u welch gewaltsamen 
Konstruktionen man in der Wissenschaft greifen muß, wenn prüde Hem¬ 
mung den Weg zu der natürlichen Ursache verlegt. Dabei mußte man sich 
bloß nach dem etymologischen Wink richten, den Goethe im Faust gibt. 
Marthe Schwerdtlein erzählt klagend von ihrem lieben Manne: „Er hat mir 
nicht wohlgetan; geht da stracks in die Welt hinein und läßt mich auf dem 
Stroh allein“. Das Stroh ist offenbar das Bettstroh, das übliche ländliche 
Lager und daher ist Strohwitwe eine Frau, die nicht zufolge des Todes eines 
Mannes ganz vereinsamt, sondern nur im Bett verlassen ist. Man beachte übri¬ 
gens die gedankliche Verknüpfung zwischen dem Stroh und der geschlecht¬ 
lichen Vernachlässigung der Frau durch den Mann in folgender Stelle bei 
Weber-Demokritos: „Es ist bekannt, daß die schönsten Fräuleins.,., die schön¬ 
sten roten Wangen bekommen, sobald sie aufs Stroh gelegt werden,... auf 
dem sie ohnehin Bürgers Lenore fast täglich spielen.“ (Anspielung auf fol¬ 
gende Zeilen der Ballade: „Lenore fuhr ums Morgenrot empor aus schwe¬ 
ren Träumen: bist untreu, Wilhelm, oder tot? wie lange willst du säu¬ 
men?“) 

Stroh wird nicht nur allgemein für Bett, Lagerstätte gebraucht, sondern 
im besonderen Sinne auch für das uneheliche B e i 1 a g e r. Diesen 
engeren Sinn bestätigt im besonderen auch der Umstand, daß statt Stroh¬ 
witwe auch Graswitwe gesagt wurde (im 16. Jahrhundert niederdeutsch 
grasswedewe, sowie die oben angeführten Beispiele aus dem Englischen und 
Skandinavischen, und auch niederländisch haeckweduwe, Heuschoberwitwe). 
Es liegt hier offenbar eine Anspielung auf den geheimen Verkehr vor, 
auf den Verkehr nicht im Ehebette, sondern in der Scheune, auf dem Heu¬ 
schober, auf dem Felde. (Grienberger führt ein bezeichnendes kärntneri- 
sches Volkslied an: I waß, wers verraten hat / daß d’ in Gras warst bei 
mir / i hab an grüen A .. / und du hast grüene Knie.) Daß bei Wortbildun¬ 
gen die Anspielung auf das Außereheliche durch den Hinweis auf den Ort 
des Verkehrs geschieht, ist in der Wortgeschichte auch sonst bekannt, man 
denke z. B. an die Synonyme Bankert und Bastard (das auf der Bank, bezw. 
auf dem basto, dem Saumsattel gezeugte Kind). Auch das Französische 
bringt die Begriffe des Strohs und des außerehelichen Geschlechtsverkehrs 
in sprachliche Zusammenhänge. Paillasse = Strohsack (von paille = Stroh) 
bedeutet auch Dirne, paillasse ä soldats = Soldatendirne 2 ; brüler le pail- 


1) Wäre das Stroh in Strohwitwe das Symbol der Leere, so müßte — in 
Anbetracht der Etymologie von „Witwe“ (vidua = die Beraubte, die Ent¬ 
leerte) — „Strohwitwe“ eigentlich als Tautologie gelten: die leere Leere. 

2 ) Man vergleiche damit in der österreichischen Soldatensprache des Welt- 









lasse, den Strohsack verbrennen = eine Dirne um die Bezahlung prellen- 
paillasson == Hurenkerl, Herzensfreund einer Dirne; paillard = unzüchtig 
wollüstig; paillarder = Unzucht treiben; paillardise = Unzucht, Aus¬ 
schweifung * 1 . 

Das Stroh in der Bedeutung Liegestätte kommt auch in anderen' deut¬ 
schen sprachlichen Bildungen vor. Der Strohtod (englisch straw-death) 
war für den Ritter des Mittelalters der prosaische Tod, im Gegensatz zu 
jenem auf dem Felde der Ehre. In Siebenbürgen ersetzt man im Bett des 
Kranken die Federnmatratze durch einen Strohsack, auf dem es sich leichter 
sterben soll. In Bayern heißt auf dem Stroh liegen (auch: auf dem 
Marterstroh, anderswo: auf dem Peinstroh) soviel wie krank sein, beson¬ 
ders in den Wehen sein. Früher war es dort allgemeine Sitte, daß die 
Bäuerinnen ihre Wehen auf dem Stroh verbringen und erst nach der 
Niederkunft ins reine Kindbett gelangen. In Hermann und Dorothea heißt 
es: „Hier auf dem Strohe liegt die erst entbundene Frau des reichen Be¬ 
sitzers“. Aufs Stroh kommen heißt ein Kind bekommen. In diesem Zusam¬ 
menhang sei auch ein Pflanzenname erwähnt. Unserer lieben Frauen Bett¬ 
stroh oder Liebfrauenstroh oder Marienstroh ist der volkstümliche Name der 
Pflanze Galium verum, der übernatürliche Kräfte zugeschrieben werden. Sie 
war in heidnischer Zeit der Freya, der germanischen Venus, der Göttin der 
Liebe und der Fruchtbarkeit, heilig und Strohbündel dieser Pflanze wurden 
schwangeren Frauen ins Bett gelegt, um die Niederkunft zu erleichtern; 
trotz wiederholter Verbote von Seiten der Kirche wurde dieser Brauch auch 
im Christentum beibehalten, allerdings auf die heilige Maria übertragen. 

Zusammenfassend also: Strohwitwe (Graswitwe) ist ursprünglich das 
(auf dem Stroh) verführte und dann verlassene Mädchen und später zu¬ 
folge scherzhafter Übertragung eine zeitweilig von ihrem Mann verlassene 
Ehefrau. Stroh bedeutet also in dieser Zusammensetzung die Liegestätte. 
Die Strohwitwe ist eine Bettwitwe, sowie man mit einer ähnlichen Kon¬ 
struktion eine Frau, deren Schönheit sich erst im entkleideten Zustande 


krieges die Bezeichnung Feldmatratze für die sogenannten „weiblichen 
Hilfskräfte 16 , die in den militärischen Kanzleien der Etappe für die Front 
benötigte Soldaten abzulösen hatten. 

i) Im Argot der argentinischen Dirnen bedeutet „im Stroh schlafen 66 : unvor¬ 
sichtig sein, nicht aufpassen (nämlich beim Geschlechtsverkehr); Vidor Borde 
hat folgende Strophe aufgezeichnet: Qu6 te has creido medio zorzo / Que en 
las p a j a s me he dormido? / Cuando vos me las pegaste / Pegados ya las 
hetenido. (Du bist wohl halb verrückt, daß du glaubst, ich hätte im Stroh ge¬ 
schlafen? Als du mich anstecktest, da war ich bereits angesteckt.) 





richtig herausstellt, eine Bettschönheit nennt. Viel jüngeren Datums ist der 
parallele Begriff des Strohwitwers, ebenso der lüstern-ironische Beigeschmack 
beider Begriffe, die Anspielung auf die Sehnsucht des verlassenen Ehe¬ 
partners nach dem abwesenden, bezw. auf die Neigung zur Ausnützung der 
vorübergehenden Freiheit. Das Scherzhafte ist selbst dann nicht ganz aus¬ 
geschaltet, wenn ein Dichter, wie Goethe im Westöstlichen Diwan, das 
Wort in gehobener Tonart verwendet: „Die Strohwitwe,.die Aurora, ist in 
Hesperus entbrannt.“ 

Den romanischen Sprachen fehlen Wörter zur kurzen Bezeichnung der 
Strohwitwenschaft. Sie müssen sich mit Umschreibungen behelfen, z. B. 
italienisch moglie il cui marito e in viaggio, und ebenso französisch femme, 
dont le mari est en voyage (Frau, deren Mann verreist ist), ma femme est 
absente (meine Frau ist abwesend, d. h. ich bin Strohwitwer). 

Ungarisch szalmaözvegy ist nur eine wörtliche Lehnübersetzung aus dem 
Deutschen. 

Toast 

Das dem Englischen entnommene Fremdwort Toast wird im Deutschen 
wie in der Ursprache mit zweierlei Bedeutung gebraucht: 1) Trinkspruch, 
2) geröstete Brotschnitte 1 (daher auch gebräuchlich: tosten = Brot rösten). 
Diese beiden Bedeutungen muten zunächst so unzusammenhängend an, daß 
man annehmen möchte, es handle sich um eines jener Homonymenpaare, 
die bei völligem Gleichlaut und völlig gleicher Schreibweise auf zwei ver¬ 
schiedene Quellen zurückgehen, wie es etwa der Fall ist bei Golf (das 
Rasenspiel) von schottisch gowf == Schlag und Golf (der geographische 
Begriff) von griechisch kolpos = Busen. Aber trotz der zwei einander 


i) Toast = geröstete Brotschnitte kommt auch bei Shakespeare vor. In den 
Lustigen Weibern sagt Falstaff: Go fetch me a quart of sack, put a toast in’t, 
geh hol mir ein Quart „Sack 44 , leg ein Stück geröstet Brot hinein. (Dieses quart 
of sack, das Falstaff öfters fordert, — auch in „König Heinrich IV.“ ist 
von einem cup of sack die Rede, bei Schlegel-Tieck als „ein Glas Sekt 44 über¬ 
setzt, — wurde übrigens der Ausgangspunkt des deutschen Wortes Sekt, das, 
von Berlin ausgehend, seit 1830 das vorherige „Champagner 44 teilweise ver¬ 
drängte. Bei Shakespeare hat sack die Bedeutung: trockener Wein, vino 
secco, Wein aus am Stock getrockneten Beeren. Da aber der berühmte Charak¬ 
terdarsteller Ludwig Devrient, seine Falstaffrolle weiterspielend, in der Wein¬ 
stube Lutter und Wegner in Berlin Champagner mit den Worten „ein Glas 
Sekt!“ zu bestellen pflegte, bürgerte sich schließlich das bis dahin nur selten 
und jedenfalls nur für süßen Südwein gebrauchte Wort Sekt als Bezeichnung 
für den Schaumwein ein.) 


153 







fernen Bedeutungen von englisch Toast handelt es sich diesmal tatsächlich 
um das gleiche Wort. Zugrunde liegt das Zeitwort to toast = rösten, das 
über das Altfranzösische auf lateinisch tostus, das Partizip von torrere z u . 
rückweist. Der Zusammenhang zwischen Brotrösten und Trinkspruch erklärt 
sich aus einem alten Brauch, der in England bestanden hat. Wenn jemand 
an der Tafel einen Trinkspruch ausbrachte, tat er ein Stück geröstetes Brot 
in seinen Becher, ließ ihn dann am Tisch herumgehen, so daß jeder Gast 
etwas aus dem Becher trank; wenn der Becher zum Redner zurückkam 
trank er den Rest aus und aß das Brot. So wurde toast allmählich zur 
Bezeichnung jener Person oder jener Sache, auf deren Erfolg getrunken 
wurde, später der Trinkspruch selbst. 1 Da es üblich war, in Trinksprüchen 
der Schönheit einer gefeierten Dame zu gedenken, hatte toast auch die beson¬ 
dere Bedeutung „gepriesene Schöne". Im Jahre 1709 erzählte die Zeitschrift 
The Tatler die Geschichte von einer schönen Dame zur Zeit Karls II., die 
vor ihren Verehrern ein Bad nahm, wobei diese Herren sie so bewunderten, 
daß sie schließlich aus Begeisterung unter lauter Lobpreisung ihrer Schön¬ 
heit nach und nach das ganze Badewasser austranken. Weil nun die mit 
feierlichen Komplimenten apostrophierte Holde im Wasser so dasaß, wie 
eine geröstete Brotscheibe in einem Getränke, habe man seither eine durch 
einen Trinkspruch gefeierte Dame, später sogar den Trinkspruch selbst als 
Toast bezeichnet. 

Das Eintunken von Brot in Wein ist übrigens eine uralte Sitte. Sie ist, 
wie Kretschmer hervorhebt, im Orient so verwurzelt, daß sie auf das Abend¬ 
mahl gegen die Darstellung der Evangelien übertragen wurde. In der arme¬ 
nischen schismatischen Kirche taucht der Priester bei der Kommunion die 
Hostie in den Wein und reicht sie den Gläubigen. (Da bei diesem Verfah¬ 
ren leicht Wein verloren gehen kann, so werden in der griechisch-orientali¬ 
schen Kirche die Hostien in den Wein geworfen und dann für jeden einzel¬ 
nen mit einem Löffel herausgeholt.) 

Veronal 

Das überaus wirksame Schlafmittel Veronal, das in größeren Mengen 
Lebensmüden sogar zum ewigen Schlaf zu verhelfen vermag, entstand 1903 
aus gemeinsamen Arbeiten des Klinikers J. v. Mering und des Chemikers 
Emil Fischer. Seither ist Veronal auch zum Ausgangspunkt vieler anderer 

i) Nach Rudolf Kleinpaul habe aber englisch toast = Trinkspruch nichts 
mit toast = geröstetes Brot zu tun, sondern komme von deutsch „s t o ß t 
(an).“ 


r 54 





_ - h i a f m ittel geworden. Wieso es dazu kam, daß die Diäthylbarbitursäure — 
dies ist die eigentliche wissenschaftliche Bezeichnung dieses Mittels — 
‘ a j e Veronal genannt wurde, erzählte dreißig Jahre später Prof. Müller- 
Gnupa in einer Wiener Zeitschrift. Als Prof. Emil Fischer mit der Farben¬ 
industriegesellschaft in Leverkusen über die Einführung des neuen Mittels 
geschäftlich verhandelte, konnte man sich lange auf keinen Namen einigen. 
Da sagte schließlich Fischer, die Uhr in der Hand: „Meine Herren, in einer 
halben Stunde geht mein Zug, ich habe schon in Verona Nachtquartier 
bestellt". Und rasch einigte man sich auf den Namen „Veronal". 

Zwilling 

Riickert hat in zwei Verszeilen der „Weisheit des Brahmanen“ sieben 
Hauptwörter, die aus „zwei” gebildet sind, untergebracht: „Die Zwei ist 
Zweifel, Zwist, ist Zwietracht, Zwiespalt, Zwitter. Die 
Zwei ist Zwillingsfrucht am Zweige süß und bitter.” Von zwei 
kommt außerdem auch zwölf (gotisch twalif, wörtlich: zwei drüber), zwan¬ 
zig, zwischen, Zwieback, Zwielicht, Zwilch (zweifädiges Gewebe), Zwirn 
(zweidrähtiges Garn, englisch twine), Zuber (Zweihenkliges, im Gegensatz 
zum Eimer, dem Einhenkligen) und vielleicht auch Geweih (das „Gezweig” 
des Hirsches); ferner zwei bayrisch-österreichische Ausdrücke: Zwie¬ 
sel = Gabelung, Spaltung (schisma) und Zwecken = Zacken, Zinken. (Im 
älteren Steirisch hieß das Doppeljoch für Zugtiere: Zwilchjoch.) Das Wort 
zur Bezeichnung eines von zwei gleichzeitig geborenen Kindern einer Mut¬ 
ter lautete althochdeutsch zwinilinc, daraus durch Angleichung Zwilling 
(englisch twin, holländisch tweeling). Der Name des Züricher Reformators 
Zwingli ist eine schweizerische Fassung von Zwilling. Die Bedeutung Zwil¬ 
ling hat übrigens auch der evangelische Name Thomas, er kommt von 
aramäisch ta-ma = Zwilling. (Nach dem Evangelium führt Thomas den 
Beinamen „Zwilling”: Thomas ho legomenos Didymos. Richtig ist aber, 
daß Thomas selbst die Bedeutung Zwilling hat. Didymos = Zwilling ist ein 
häufiger griechischer Name, ebenso lateinisch Gemellus von Geminus.) 

Christian Morgenstern (der auch den Elefanten weiter entwickelt hat zum 
Zwölefanten) war vom Worte Zwilling so beeindruckt, daß er aus ihm 
einen neuen Begriff herausdestillierte, den „Zwi”, den Menschen mit zwei 
Gehirnen: „ein Mensch, der selbst sich duzt, ein Mann, der Aug in Aug 
sich sitzen kann.” Scherzweise nennt man einen Zwilling auch einen 
Illing; wie wenn Zwilling die Bezeichnung für das Paar wäre. 


155 
















kreuz und quer 















Schweizerische Wörter im Hochdeutschen 


„Ich bin ein Schweizer”, schrieb 1758 der aus dem Aargau stammende 
berühmte Arzt und Philosoph Johann Georg von Zimmermann in der Vor¬ 
rede seines Buches vom Nationalstolz, „und von einem Schweizer läßt sich 
die Reinlichkeit der Sprache ebensowenig fordern als vormals die athenien- 
sische Annehmlichkeit von einem Böotier.” Das Sonderbare an diesem Aus¬ 
spruch ist, daß er eben zu einer Zeit getan wurde, als das Vorurteil, das 
man durch viele Geschlechter hindurch gegen das Schweizerdeutsch gehegt 
hatte, gerade zu schwinden begann. Luther, der der neuen Schriftsprache 
hauptsächlich das Mitteldeutsche zugrunde gelegt hatte, dabei aber zur Be¬ 
reicherung des obersächsisch-thüringischen Wortschatzes Anleihen in ver¬ 
schiedenen Gebieten, darunter auch beim Plattdeutsch machte, hatte gerade 
für den schweizerischen Ast des Alemannischen wenig übrig. Man kennt 
seine geringschätzige Meinung über Zwinglis Sprache. Anderseits wieder 
wehrte man sich in der Schweiz lange gegen das „sächsische” Bücherdeutsch. 
Den zahlreichen Nachdrucken, die der Basler Buchdrucker Adam Petri von 
Luthers Neuem Testament veranstaltete, mußte von der 1522 erschienenen 
zweiten Auflage angefangen („so ich gemerckt hab, dass nit yederman ver- 
stan mag etliche Wörter in yetzt gründlichen verteutschten neuwen testa- 
ment") ein von Konrad Pellikan aus Rufach verfaßtes Wortregister beige¬ 
geben werden, das „die ausslendigen Wörter auf unser Teutsch anzeigt”. 
So wird dort u. a. albern als nerrisch oder fantestisch, Anstoß als Ärgernis, 
Aufschub als Verzug, bange als engstlich, besudeln als verunreinen, ernten 
als schneiden, flehen als bitten, fühlen als empfinden, mieten als dingen, 
plötzlich als gehlings, prüfen als mercken, Ufer als Gestade, wetterwendisch 
als unstet veroberdeutscht. Noch 1671 befahl der Berner Rat den Geist¬ 
lichen, „sich beim Predigen eines ungewöhnlichen neuen Deutsch zu ent¬ 
halten”, es ärgere bloß die Hörer. 

Dieser Widerstand gegen das gleichschalterische Schriftdeutsch ermöglichte 
es, daß manche Wörter, manche Wendungen der älteren oberdeutschen Sprache 
in der Schweiz noch lebendig blieben, als sie im Reiche schon verschollen 


*59 







waren. Und wenn 1706 ein deutscher Literaturhistoriker (Erdmann Neu. 
meister) über einen Schweizer Dichter, den Züricher Pfarrer Johann Wil¬ 
helm Simmler, schrieb: dictio est helvetica, hoc est crassa, ridicula, minus 
germana, der Stil ist schweizerisch, also plump, lächerlich, minderdeutsch 
so ahnte es dem lateinisch Schreibenden gar nicht, daß all das, was ihm un¬ 
deutsch schien, in Wirklichkeit älteres und edleres, bodenständigeres und 
unberührteres Deutsch war als die zum großen Teil durch abstraktionsver¬ 
sessenes Gelehrtenkauderwelsch und durch hemmungslose Sprachmengerei 
barbarisierte neuhochdeutsche Schriftsprache des 17. Jahrhunderts. Um die 
Mitte des 18. Jahrhunderts begann der Umschwung. Äußerungen von 
Schweizer Seite, wie etwa die anfangs angeführte von Zimmermann, ge¬ 
hörten um diese Zeit schon zu den Seltenheiten. Die Schweizer Autoren 
gingen jetzt gewissermaßen aus ihrer Verteidigungsstellung heraus. Es han¬ 
delte sich für sie nicht mehr nur um den Anspruch, auf eigenem Gebiete 
Bewährtes und Geschätztes aus der eigenen Mundart in die Schrift aufneh¬ 
men zu dürfen. Sie gehen vielmehr zum Angriff über gegen die „diktatori¬ 
sche Dreistigkeit" Gottscheds 1 . Bodmer schreibt 1746: „Ich habe mit allem 
meinen Nachsinnen noch keinen tüchtigen Grund ausfinden können, warum 
eben der Meißner Dialekt die Herrschaft haben sollte". Die Schweizer nah¬ 
men den Kampf auf gegen die schulmeisterliche Schablone, wie sie vor allem 
der norddeutsche Sprachpapst Gottsched vertrat, für den lebendigen Sprach¬ 
gebrauch gegen Drillgrammatiker und Lexikographen, für die sinnliche 
Kraft der aus der Mundart „Machtwörter" schöpfenden Sprache an Stelle 
einer papiernen. Die Sprache der Leidenschaft stehe über den Regeln; eine 
These, würdig des Landes eines Rousseau, eines Haller. Dieses Sprach- 
programm der Schweizer fand besonders bei Herder begeisterte Unter¬ 
stützung. Die deutsche Literatur begann auf die Vorzüge der schweizeri¬ 
schen Sprachsonderheiten aufmerksam zu werden, auf das alte Erbgut, das 
sich dort in der Stille bewahrte, auf die sinnliche, anschauliche Art einzelner 
Wörter und Wortweiterbildungen. Der Aufschwung der deutschen Schrift¬ 
sprache in der klassischen Periode der deutschen Dichtung ist ohne den 
schweizerischen Spracheinfluß kaum denkbar. Dies wird heute von deutschen 
Sprachforschern meistens auch anerkannt. „Durch die Schweizer wurde der 
Volkssprache der Eintritt in die Literatursprache zurückgewonnen" (E. Wilke 
in seiner Wortkunde) ; „daß aus der Sprache der Dichtung Freiheiten der 


i) Der Gottschedianer Christoph von Schönaich kritisierte in seinem 1754 
erschienenen Buche „Die gajize Ästhetik in einer Nuß 44 heftig die Sprache 
der Schweizer. Von Haller sagte er in einem Epigramm: „Ach wollt* ihn 
einer nur ins Deutsch erst übersetzen/' 


160 






Wortfügung, Kraft und Fülle des Ausdruckes nicht ganz verbannt wurden, 
danken wir den Schweizern" (Stephan Wätzold). 

In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts kann man geradezu von einem 
Schub schweizerischer Einwanderer in das deutsche Wortreich sprechen. 
Dieser Schub wurde begünstigt durch die Vorliebe deutscher Klassiker für 
Reisen in die Schweiz (Klopstock, Wieland, Goethe), besonders auch durch 
die brieflichen Beziehungen, die die Klassiker mit führenden Persönlichkeiten 
des schweizerischen Geisteslebens (Bodmer, Lavater) pflegten. An der Ein¬ 
gewöhnung Schweizer Wörter ist begreiflicherweise auch Schillers Teildrama 
wesentlich beteiligt. Eine zweite Hauptperiode der Beeinflussung des neu¬ 
hochdeutschen Wortschatzes durch das Schweizerische knüpft sich an die 
Schriften von Gottfried Keller 1 und Conrad Ferdinand Meyer. Gering ist 
hingegen die außerschweizerische Sprachwirkung Jeremias Gotthelfs. Wenn 
auch bei ihm, wie Walter Muschg jüngstens in seiner meisterhaften Gotthelf- 
Monographie zeigte, das ständige Ringen zwischen dem reinen Hochdeutsch 
und dem reinen Bernerdeutsch mitunter ein harmonisches Gleichgewicht her¬ 
stellt, so wirkt das Mundartliche bei ihm doch im allgemeinen eben als 
mundartliche Zutat und wird nicht wie bei Keller zur Bereicherung des 
Hochdeutschen verwendet. 

Und nun wollen wir einige Beispiele von Wörtern geben, die aus dem 
Schweizerischen Eingang in die neuhochdeutsche Schriftsprache gefunden 
haben. Wobei wir absehen wollen von jenen Wörtern, die sich auf die 
Alpenwelt beziehen (wie A1 m und Senne, Firn und Kamm, Föhn 
und Bise, Gletscher und Lawine, rodeln und jodeln usw.), 
denn daß solche Wörter der Schriftsprache durch das Oberdeutsche geliefert 
werden, ist ebenso selbstverständlich, wie daß das Plattdeutsche die auf 


i) Die bei Gottfried Keller vorkomenden schweizerischen Wörter 
hat Franz Blume 1928 zusammengestellt. Er führt auch zwei Äußerungen 
Kellers über die Verwendung von Mundart in der Dichtung an. 1875 schreibt 
Keller an Emil Kuh über Fritz Reuter: „Durch solche energische Geltend¬ 
machung der Dialekte wird das Hochdeutsch vor der zu raschen Verflachung 
bewahrt.“ Drei Jahre später meint er — angesichts Theodor Storms „Renate“ 
— doch, „daß etwas Barbarisches darin liege, wenn in einer Nation alle 
Augenblicke die allgemeine Hochsprache im Stiche gelassen und nach allen 
Seiten abgesprungen wird, so daß das Gesamtvolk immer bald dies, bald jenes 
nicht verstehen kann und in seinem Bildungssinn beirrt wird... Natürlich 
gewinnt die gesamte Nationalsprache, wenn die Stämme und Provinzen ihre 
Idiome kultivieren und festhalten; aber ich glaube, man solle die Übung den 
Quernaturen überlassen, welche nicht anders können, selber in seinem Hause 
alle möglichen Dialekte sprechen, aber schreiben in der einen und allgemeinen 
Sprache, wenn man sich dieser einmal gewidmet hat.“ 


161 


11 Storfer • Sprache 










Meer und Schiffahrt bezüglichen Wörter wie Ebbe und Klippe, Flotte und 
Flagge, Teer und Tran usw. beisteuert. 

ABGLANZ wurde 1750 von Bodmer gebildet. In seinem Noah trägt 
eine Bildsäule die Inschrift: Kniet vor dem Abglanz der Gottheit. Der schon 
erwähnte Gottschedianer Schönaich fragte zwar höhnisch, was „Abglanz'* 
denn sei, das Wort drang dennoch in die Schriftsprache, besonders in die 
dichterische, ein und kommt auch bei Goethe vor („Am farbigen Abglanz 
haben wir das Leben"). 

ABSCHÄTZIG, im Sinne von geringschätzig 1431 in Graubünden be¬ 
legt, in der Züricher Bibelübersetzung 1548 gebraucht, wurde durch Wie¬ 
land auf genommen, gelangte aber erst im 19. Jahrhundert in den allgemei¬ 
nen Gebrauch. (Nach Fritz Mauthner ist abschätzig eine Lehnübersetzung 
von französisch deprecie.) 

ABWASSER, das ursprünglich jedes von Mühlen, Brunnen, Teichen usw. 
abgeleitete Wasser bedeutete und erst im 19. Jahrhundert abschätzig wurde, 
d. h. hauptsächlich von Ortschaften, Fabriken usw. abgeleitetes Schmutz¬ 
wasser zu bezeichnen begann, wurzelt zwar nicht in schweizerischen Mund¬ 
arten allein, sondern in den alemannisch-schwäbischen überhaupt, jedoch ist 
die Einführung des Wortes in die allgemeine deutsche Schriftsprache einem 
Schweizer zuzuschreiben, dem Leonhard Thurneisser, der 1612 in Straßburg 
ein Buch „Von Wassern" veröffentlichte. 

ANHEIMELN gehört erst seit den 80er Jahren der hochdeutschen 
Schriftsprache an. Im Jahre 1837 konnte der Appenzeller Mundartforscher 
Tobler noch stolz fragen: „Wie gibt der Hochdeutsche das oberteutsche 
heimelig, anheimeln, anheimlich wieder?" Die Grundbedeutung des schwei¬ 
zerischen Wortes heimeln, anheimeln ist: angenehmerweise an die Heimat 
erinnern. Die Bedeutung der oberdeutschen Endung -ein ist: nach etwas 
riechen oder schmecken (z. B. hundein, wildein, säuerlen, fischelen, 
fleischelen, räuschelen, böckelen, füchselen). „Etwas heimelt mich an" be¬ 
deutet also: es wirkt mit seinem Wesen (seinem Geschmack, seinem Geruch) 
so angenehm auf mich, daß ich mich wie zu Hause fühle. Die Vermittlung 
dieses oberdeutschen, besonders schweizerischen Zeitwortes in die hochdeut¬ 
sche Schriftsprache dürften Auerbachs Schwarzwälder Geschichten besorgt 
haben. 

ANSTELLIG war in der deutschen Schriftsprache noch ganz unbekannt, 
als Lavater 1772 in seinen Physiognomischen Fragmenten es empfahl: „Eine 
brave wackere Tatfraue, entschlossen und fruchtbar . . . Eine Hauptfrau 


< 


162 





anstellig und angriffig. Im Vorbeigehen zu sagen: dürfte ich nicht diese gut 
schweizerischen Wörter zur Naturalisierung empfehlen, liebe mannhafte 
Deutsche?” Und von „anstellig” sagt er noch: „ein Schweizerwort, die Ge¬ 
schicklichkeit mancherley Dinge gut einzurichten und anzuordnen und sich 
in alles leicht zu finden.” Dieser Sinn deckte sich offenbar mit dem von 
Luther verwendeten Eigenschaftswort ausrichtig, und daher eignete sich 
anstellig dazu, das Fremdwort agil zu verdrängen und als Übersetzung von 
lateinisdi habilis zu dienen. Schiller bedient sich bereits im Teil des neuen 
Wortes und legt es dem Vogte in den Mund: „Das ist ein schlechtes Volk, 
zu nichts anstellig, als das Vieh zu melken und faul herumzuschlendern auf 
den Bergen.” Bei Jean Paul lesen wir von „der Frau feineren, zarteren, 
anstelligeren Hand”. 

AUFBEGEHREN ist erst im 19. Jahrhundert durch Schweizer Autoren 
in die deutsche Literatursprache eingeführt worden. In der Schweiz aber ist 
das Zeitwort bereits für das 16. Jahrhundert belegt. Die älteste Stelle datiert 
1582: „wer aufbegehren wolle, solle zuerst seine Schulden bezahlen”. Man 
unterscheidet zwei Bedeutungen: die Auflehnung des Untergebenen gegen 
den Höheren, das Trotzen, Widersprechen, Sich-zur-Wehr-setzen gegen Zu¬ 
mutungen auf der einen Seite und anderseits das heftige Aufbrausen, das 
Wettern des Vorgesetzten dem Untergebenen gegenüber 1 . Im Schweizer¬ 
deutsch ist „aufbegehren” zu unterscheiden von „auf begehren” = begehren, 
auf zu sein, d. h. aufstehen wollen. Daher das Wortspiel: er bigert gern uf, 
nur nüd ame Morge früh. Daß das Zeitwort aufbegehren mit „begehren” 
verwandt ist und zur Sippe gern, gierig, Begierde, Geiz gehört, ist nicht 
ganz sicher. Schmeller bringt es mit „gären” in Verbindung. In den bild¬ 
lichen Ausdrücken aufbrausen, auf wallen hätten wir schließlich auch Ana¬ 
logien. Man vgl. übrigens auch bei Goethe im Werther: „Ein Volk, das 
unter dem unerträglichen Joch eines Tyrannen seufzt,... wenn es endlich 
aufgärt und seine Ketten zerreißt." 

ENTSPRECHEN im heutigen Sinne gehört noch keine zwei Jahrhunderte 
dem Schriftdeutsch an. Es kommt zwar schon im Mittelhochdeutschen vor, 
bedeutet aber dort einfach antworten, erwidern. Im Französischen hatte 
repondre aber auch den abstrakten Sinn „gemäß sein” bekommen, und in 
diesem Sinne gab es im Deutschen das Fremdwort respondieren. Das Ale¬ 
mannische schuf sich aber eine Übersetzung des französischen Ausdrucks, 
und so entstand der moderne Sinn von entsprechen (Geiler von Kaisersberg: 

i) Bei Jeremias Gotthelf kommt redensartlich vor: aufbegehren wie ein 
Häftlimacher, wie ein Bürstenbinder. 


I &3 


u* 








„die Getät und der Nam sollen einander entsprechen''). Den alemannischen 
Ausdruck griff der junge Wieland während seines Aufenthaltes in der 
Schweiz auf. „Nie hat eine Gestalt den inneren Vollkommenheiten mehr 
entsprochen", sagt er über die Episteln des Horaz in der Zueignung seiner 
Übersetzung. Gottsched und seine Schule bekämpften lebhaft das neue 
Wort, es wurde als lächerliches Modewort mit dem Bann belegt, aber bei 
Lessing fand es (1759) Schutz: „Dieses entsprechen ist itzt den Schweizern 
eigen und nichts weniger als ein neu gemachtes Wort." Heute könnten wir 
das Zeitwort entsprechen gar nicht mehr entbehren, es sei denn, wir hätten 
ein anderes, das ihm genau — entspricht. 

MACHENSCHAFT ist in der Schweiz bis in die Mitte des 18. Jahrhun¬ 
derts zurück verfolgbar, und zwar hatte es zunächst die Bedeutung: Kon¬ 
trakt, Vereinbarung, Vergleich. Vielleicht ist die weitere Bedeutungsent¬ 
wicklung durch lateinisch machinatio beeinflußt. Im Bernischen lautete das 
Wort auch Machetschaft. Es bekam erst später den Sinn üble Praktiken, 
böswilliges, heimliches Tun. (Für dieses Verhalten gebraucht übrigens 
Jeremias Gotthelf den auch bei Hans Sachs und Thomas Murner vorkom¬ 
menden Ausdruck „unter dem Hütlein spielen", was vielleicht auf Prak¬ 
tiken von Betrügern im Karten- oder Würfelspiel zurückgeht.) An der Ein¬ 
führung des Wortes Machenschaft in das Schriftdeutsch sind besonders 
Lavater, Gottfried Keller und Johannes Scherr beteiligt. 

TAGEN im Sinne von „Tag werden" war von jeher allgemein deutsch; 
im Sinne von „eine Verhandlung abhalten" ist das Wort aber schweizerisch 
und gelangt erst Ende des 18. Jahrhunderts in die deutsche Schriftsprache. 
In Schillers Teil kommt das Wort mehrmals vor (z. B. „so laßt uns tagen 
nach den alten Bräuchen"). Aus der Schweiz kommt später auch vertagen = 
den Zeitpunkt einer Verhandlung verlegen. Vertagen verdrängte das bis 
dahin in der deutschen Amtssprache übliche ajourner. („Vertagen" gab es 
allerdings auch im Mittelhochdeutschen, aber im Sinne „einen Gerichtstag 
ansetzen", und dieses ältere „vertagen" war bereits verschollen, als das Wort 
am Ende des 18. Jahrhunderts aus der Schweiz mit neuer Bedeutung in die 
Schriftsprache drang.) 

STAUNEN ist kaum zweihundert Jahre Schriftdeutsch, indes „erstaunen" 
bereits 1529 im Züricher Neuen Testament vorkommt. Der berühmte 
Schweizer Arzt, Botaniker und Dichter Albrecht von Haller gebraucht das 
Zeitwort 1730 mit einer erklärenden Fußnote: „träumend vor sich hin- 
blicken" („dieses alte schweizerische Wort behalte ich mit Fleiß; es ist die 
Wurzel von erstaunen und bedeutet rever, ein Wort, das mit keinem anderen 


164 




r 


eegeben werden kann.") Auch Hebel verwendet 1803 mundartlich stune 
jm Sinne: träumend vor sich hinblicken. Das Schweizerische hatte das 
Zeitwort offenbar aus Frankreich: neufranzösisch etonner, altfranzösisch 
estoner (von vulgärlateinisch ex-tonare = herausdonnern, dem das grie¬ 
chisch-lateinische tonos, tonus = Ton 1 zugrunde liegt, der ursprüngliche Sinn 
von etonner ist: erschrecken, gleichsam wie vor einem Donnerschlag). Ob¬ 
schon der vorwiegende Gebrauch von „erstaunen" im Deutschen eine Präpo¬ 
sition vorsieht („über etwas erstaunen"), bricht auch im Deutschen gelegent¬ 
lich der französische transitive Charakter durch, und „erstaunen" bedeutet 
dann „jemand in Erstaunen versetzen". So schreibt z. Goethe einmal: „diese 
Übereinstimmung, die einen jeden erstaunen muß." Und Rückert: „eines 
hat mich oft erstaunt." Bei Mörike heißt es: „Des Mädchens Anblick hat 
mich erstaunt." Und in jüngster Zeit Will Vesper in seiner Parzival- 
Bearbeitung: „manch Wunder, das mich erstaunte." Der Grammatiker, der 
gegen einen Satz in der Modebeilage der „Neuen Zürcher Zeitung" vom 
11 . Juni 1933 („der Prinz erstaunte die Welt dadurch, daß er...") Ein¬ 
spruch erhob, dürfte durch den Hinweis auf jene klassischen Vorbilder 
beruhigt worden sein. Bemerkenswert ist auch der Gebrauch von staunen 
mit Dativ, z. B. bei Goethe („ich staune dem Wunder"), Voß, Uhland. 

UNBILL kommt zwar schon 1573 in Fischarts Flöhhaz vor, setzt sich 
aber erst dank Albrecht von Haller durch; „ein allerliebstes Wort", spottet 
1754 der schon erwähnte Gottschedianer Christoph von Schönaich, „wir 
sind noch nicht so weit, es zu verstehen". 

UNENTWEGT, in Deutschland durch Jeremias Gotthelf (Schulden¬ 
bauer 1854) und Gottfried Keller (Züricher Novellen 1878) bekannt 
geworden, kommt vom schweizerischen Zeitwort entwegen = vom Platze 
bewegen. Um 1870 begann das schweizerische Wort unentwegt (zunächst 
als Spottwort gegen spießbürgerliche Politiker) in die deutsche Zeitungs¬ 
sprache einzudringen, und es gehörte zum ständigen Repertoire säuerlicher 
Pedanten, die unter dem Vorwand, Sprachdummheiten zu bekämpfen, über 
alles Lebendige den Schulmeisterbakel schwangen, auch gegen das „lächer¬ 
liche Modewort unentwegt" unentwegt zu wettern. 


i) Es darf nicht verschwiegen werden, daß einzelne deutsche Vertreter der 
vergleichenden Indogermanistik sich dieser Ableitung von staunen aus dem 
Französischen (zu griechisch tonos) widersetzen und sich lieber an eine indo¬ 
germanische Urwurzel stu = steif sein, starr sein halten, so daß dann staunen 
zur großen Sippe stehen, gestehen, verstehen, Anstalt, starren, Stamm, stützen, 
Stollen, Staude, Stall, Stunde gehören würde. 


i6s 









Aus der Fülle der Wörter der neuhochdeutschen Schriftsprache, die aus 
der Schweiz stammen, seien zum Schluß noch angeführt: Abbild (wird 
durch Hallers Ode „Doris“ 1730 bekannt 1 , aber das Deutsche Wörterbuch 
von Hermann Paul nimmt das Wort auch in die Ausgabe 1935 noch nicht 
auf), Abhang, sich aufbäumen (in der Zürcher Bibel 1530 „uf- 
bäumen“ mit der eigentlichen Bedeutung: sich in die Höhe richten wie ein 
Baum), aufwiegeln (Luthers „erregen“ verstand man in der Schweiz 
nicht, das schweizerische ufwiggle gelangte in die Schriftsprache zuerst in 
die Form auf wickeln, so auch in Bodmers Miltonübersetzung 1732, das 
Zeitwort gehört aber nicht zu „wickeln“, sondern zu „Weg“, „bewegen“), 
Augenschein, Ausmaß (fehlt in den meisten Wörterbüchern, so 
z. B. bei Grimm, Heyne, Weigand und wird im Jahrgang 1936 der „Mut¬ 
tersprache“ — sowohl was die Verwendung im wörtlichen als die im über¬ 
tragenen Sinne anbelangt — als „Modewort“ abgelehnt), bildsam, 
Ehrenmann (diese Lehnübersetzung von lateinisch vir honestus taucht 
zuerst Ende des 15. Jahrhunderts in schweizerischen Texten auf und ver¬ 
breitet sich dann von dort zunächst nur im oberdeutschen Sprachgebiet), 
erschweren, Faulpelz (s. dieses Stichwort in „Wörter und ihre 
Schicksale“), Fehde (nach etwa zweihundertjährigem Todesschlaf 1732 
von Bodmer neu belebt), geistvoll, Heimweh, kernhaft, Pro¬ 
porz, Putsch (vgl. dieses Stichwort im ersten Teil dieses Buches), 
Stichentscheid, Töchterschule, verzetteln, Vorspie¬ 
gelung, Wächter, Zerwürfnis. 


i) „Wie angenehm ist doch die Liebe / Erregt ihr Abbild zarte Triebe / 
Was wird das Urbild selber sein?" — Von Börne wird das Hauptwort Ab¬ 
bild, das bei Adelung als „ungewöhnlich“ gekennzeichnet wird, mit Vorliebe 
gebraucht. 


166 




Aus dem Wortschatz des Wieners 


Abbetiteln 

gebraucht der Wiener meistens im antiphrasischen Sinne. (Antiphrase 
nennt man in der Stilistik die Ironie, die sich der gegenteiligen Aussage 
bedient; sie liegt z. B. vor, wenn man jemand, dessen Gebaren alles eher 
denn sauber ist, einen sauberen Herrn nennt, oder wenn man statt „fällt 
mir nicht ein, es zu tun"' sagt: „ich kann mich beherrschen" oder „ich 
bin nicht so vergnügungssüchtig".) Wenn der Wiener also sagt, etwas 
könne ihm abgebettelt werden, so will er gewöhnlich ausdrücken, daß 
er das Betreffende überaus gerne hergeben oder tun möchte. Die kunnts mir 
ohbeddln, sagt der „Biez", der Vorstadt-Dandy, zu seinem Begleiter von 
einem vorübergehenden Mädchen, das ihm gefällt; er darf es nur nicht zu 
laut sagen, sonst könnte er bei der Dame, wenn sie den liebenswürdig 
gemeinten Ausdruck als zynisch empfindet, sich selbst „ane ohbeddln", d. h. 
sich eine Ohrfeige zuziehen. Auf Ohrfeigen bezieht sich auch die gebräuch¬ 
liche Wendung: wannst ka Ruah gibst, wirst mir no ane ohbeddln. 

Äußerin 

oder äußerl gehn (Hügel, 1847, schreibt: eiserl gehn) = den Hund ins 
Freie führen, damit er seine Notdurft verrichte. Die Stunde des Äußerin 
nennt man scherzweise die Zeit vor 10 Uhr abends, in der man gewöhnlich, 
knapp vor Haustorschluß, die Hunde zum letztenmal auf die Straße führt. 
Man sagt auch vereinfacht: der Hund hat geäußerlt (paradoxerweise: „der 
Hund hat schon drinnen geäußerlt"). Es gibt auch die Scherzbezeichnung 
„Ministerium des Äußerin" für jenen verschwiegenen Ort, in dessen man¬ 
nigfaltiger, euphemistischer Umschreibung alle Sprachen einfallsreich sind. 

Gelegentlich gebraucht man „äußerin" scherzhaft übertragen auch vom 
Menschen im Sinnne von: spazieren gehen. So sagte einmal die berühmte 
Schauspielerin Gallmeyer, als sie anläßlich eines französischen Gastspiels 
eine Zeitlang pausieren mußte: „Da können wir halt äußerin gehen." 


167 







Bahöll 

oder Pachöll (meist in der Verbindung mit machen, z. B. „machens kan 
Pahöir) bedeutet Lärm, Geschrei, Tumult. Der Bemerkung Prof. Hintners 
„außer die Mauern der Stadt Wien scheint das Wort nicht gedrungen zu 
sein", ist entgegenzuhalten, daß Unger-Khull das Wort in den Formen Pa- 
hele, Pachöll, Bachöll 1903 auch als steirisch anführt. Nicht weniger als vier 
Etymologien liegen für das wienerische Bahöll vor: 1. eine germanische, 

2. eine romanische, 3. eine hebräische und 4. eine magyarische. 

1. Grienberger sieht in Bahöll eine Versteifung des Fluches bi heile (bei 
Hölle), ähnlich wie im Falle bigott (aus „bei Gott", wobei aber zu bemer¬ 
ken ist, daß diese Deutung von „bigott" mit Recht angefochten wird). We¬ 
der der vorauszusetzende Lautwandel von bi helle zu Bahöll, noch die Be¬ 
deutungsentwicklung von einer Fluchformel zur Bedeutung Tumult ist sehr 
wahrscheinlich. 

2. Eduard Pötzl, der Wiener Lokalhumorist der Vorkriegsjahrzehnte, der 
sich über den Wortgebrauch des Wieners oft Gedanken gemacht hat, leitete 
Bahöll von französisch bahuter = lärmen ab, aber auch hiefür müßten Be¬ 
weise erst beigebracht werden. 

3. Hintner identifiziert Bahöll mit hebräisch behala = Schrecken, Be¬ 
stürzung, Lärm (Lev. 26, 16. Ps. 78, 33. Jer. 15, 8). Um diese hebräische 
Herkunft des wienerischen Wortes glaubhaft zu machen, müßte das he¬ 
bräische Wort erst im Judendeutsch oder im Rotwelsch, der deutschen 
Gaunersprache — das wären die beiden nächsten Vermittlungsmöglichkei¬ 
ten — nachgewiesen werden. 

4. Vollkommen aus der Luft gegriffen ist die Angabe J. Jacobs in sei¬ 
nem 1929 erschienenen Wörterbuch des Wienerischen, Bahöll käme von 
ungarisch päholni = hauen, prügeln. 

Wir müssen uns damit abfinden, daß eine befriedigende Etymologie von 
Bahöll noch aussteht. Es würde mich nicht überraschen, wenn bei fort¬ 
schreitender Erforschung der oberdeutschen Mundarten sich genügend Be¬ 
lege dafür einstellen sollten, daß es sich bei Bahöll einfach um ein laut¬ 
malerisches Volkswort handelt. 


Blaazen 

bedeutet (mit verächtlichem Beigeschmack) weinen, heftig weinen, plötz¬ 
lich in Weinen ausbrechen. Der ursprüngliche Sinn in der österreichischen 
Mundart ist: blöken (vom Rind und vom Schaf). Ein Sprichwort lehrt: 
blatzete Küah vergeßn am liabsten eanere Kaibln. Im derb übertragenen 



r 


i 


Sinne wird blaazen auch für singen gebraucht. So heißt es 1817 in den Brie¬ 
ten des neuen Eipeldauers: „schon blatzen’s d c Wäschertrampeln beim 
Wäschaufhenken". Aus blaazen gebildet ist das Hauptwort G’blaaze und das 
Eigenschaftswort blatzed. Ein leicht zum Weinen neigendes Mädchen ist a 
blatzadi Gredl. . 

Blad 

bedeutet dick und wird besonders von Menschen gesagt. „A bladi Blunzen" 
stellt eine doppelte Charakterisierung dar, denn schon Blunzen allein 
(eigentlich Wurst, besonders Blutwurst) bedeutet im übertragenen Sinne 
ein dickes Kind oder eine dicke Frau. 

Die sprachliche Herkunft des Wortes blad ist nicht ohne weiteres erkennt¬ 
lich. Keineswegs ist es eine lautliche Variante von brat (breit), noch ist es 
eine Abzweigung von blöd, zumal da blöd ursprünglich durchaus nichts 
„Blades" bezeichnete, vielmehr die Bedeutung gebrechlich, zaghaft, unbe¬ 
haglich hatte. Blad ist nichts anderes als das Partizip „g e b 1 ä h t", das in 
der Mundart sich zu einem selbständigen Eigenschaftswort verdichtet hat. 
Für diesen Vorgang gibt es auch in der Schriftsprache reichlich Beispiele, 
wie etwa dick aus gediehen, dünn aus gedehnt, drall aus gedreht usw. 

Gflickt 

oder gsteppt bedeutet blatternarbig. In dem sein Gsicht steckt an Arbeit, 
sagt man spöttisch von einem Blatternarbigen. Gflickter oder Gsteppter 
kommt häufig als Beiname in Unterweltskreisen vor („der gflickte Ferdl"). 
Eine Quelle aus 1905 verzeichnet für ein blatternarbiges Gesicht auch den 
Ausdruck „jüdischer Friedhof" („nämlich nur kleine Hügel und Täler, 
aber keine Kreuze"). Ein anderer wienerischer, der Herkunft nach wohl 
ländlicher Ausdruck zur Bezeichnung eines Blatternarbigen: auf den hat der 
Teufl Arwes droschen (Erbsen gedroschen 1 ). 


i) Auch im Badischen: uff dem hett der Deufel Ärbse ussdrosche. Ähnlich 
lautet ein in Ostpreußen übliches Gleichnis: er sieht aus, als wenn der Teufel 
Bohnen auf ihm gedroschen hatte, — es wird aber mehr auf jemand bezogen, 
der schlecht gelaunt ist. Man vgl. auch die berlinische Apostrophierung des 
Blatternarbigen: dir hamse woll mit Kirschkuchen jeschmissen. Auch heißt es 
dort von ihm, er] sei mits Jesichte ufn Rohrstuhl jesessen. In Schlesien: er hot 
an Frotze wie a Berliner Steenflaster. Sächsich: der mit sein’ ausgeknaupelten 
Kärschkuchengesicht. In Lützelflüh (Berner Oberland) heißt e plaaterigs oder 
plaatere-hipflets Gsicht auch: es* bäsewuurfets. Man spricht sonst auch vom 
abgeknabberten Kirschkuchengesicht, und in manchen Gegenden Deutschlands 
heißt es vom Blatternarbigen, er sei mit dem Gesicht in die Erbsen gefallen. 

169 


I 








Die Blatternkrankheit selbst heißt übrigens in Wien nicht nur Bladdern, 
sondern auch Bockerl (von Pocken). Für heftig erschrecken sagt man: „die 
Bockerlfraas kriagn" (Fraas von Freisen, althochdeutsch freisa = Gefahr, 
Schrecken). 


Gizzi 

Ein sonderbares Wort ist das wienerische Hauptwort Gizzi = Ärger, ver¬ 
haltener Zorn. Mayr (1902) definiert: „Wort, das der Schuljunge anwen¬ 
det, wenn er einerseits bei dem andern einen im Entstehen befindlichen Un¬ 
willen vermutet, anderseits aber nicht ansteht, dieses aufkeimende Gefühl zu 
Zornesflammen anzufachen. Er fragt ihn dann: Hast an Gizzi?" Mit 
Recht stellt Schranka 1905 fest, daß zu dieser Neckfrage auch eine be¬ 
stimmte reibende Handbewegung am Kinn gehört. Der Sinn der Frage und 
der Gebärde ist gewissermaßen: „Zeige doch deine Wut, es gelingt dir doch 
nicht, sie zu verbergen!" 

Wenig befriedigend sind die gewöhnlich vorgebrachten Etymologien für 
Gizzi * 1 . Der Hinweis auf italienisch guizzo = Zappeln (z. B. bei Jacob 1929) 
ist fast so unbegründet wie die Hypothese einer substantivierenden Ver¬ 
schmelzung von „gift(et) sich". Es wäre auch an das veraltete österreichi¬ 
sche Wort „der Gidi" = Aufregung, körperliche Verwirrung, zu denken, 
das Höf er 1815 anführt („es kommt mir der Gidi, so oft ich in dem Thea¬ 
ter auf treten muß") und nicht nur neben englisch giddy = schwindlig, son¬ 
dern kühn auch neben griechisch gyion = Glied, gyioein == die Glieder 
brechen, und neben hebräisch gid = Nerv stellt. Auch muß es auffallen, 
daß Gizzi im Wienerischen ein Synonym hat, das lautlich anklingt: Der 
Biez 2 oder Bitzl ist ein plötzlich auftretender, aber nicht gerade heftiger Zorn. 
Er ist bitzli = er ist leicht reizbar; es steigt ihm gleich der Bitzl. Bitzlbalg 
ist ein reizbares Kind. Bitzlgeher oder Bitzlreiter nannte man früher eine n 
Soldaten, der stets unzufrieden ist und nörgelt. Dieses „Biez" leitet sic h, 


Im französischen Argot ist das blatternarbige Gesicht: poele ä marrons 
oder ä chätaignes, Pfanne mit Kastanien, grenier ä lentilles, Linsenkammer, 
moule ä gaufres, Waffelkuchen oder morceau de Gruyere, ein Stück (löchri¬ 
ger) Schweizerkäse; auch ne pas s’etre fait assurer contre la grele (sich gegen 
Hagel nicht versichert haben lassen) ist eine Metapher für das blatternarbige 
Gesicht. 

1) Die Vermutung von M. Mayr „Gizi könnte von dem alten gehiuze = 
Lärm, Aufregung hergeleitet sein“ entbehrt jeder Grundlage. 

2) Das auf S. 167 im Sinne von Vorstadt-Dandy gebrauchte Biez scheint 
auch zu Biez, Bitzl = Zorn zu gehören. Den Übergang zum Begriff Stutzer 
liefert wohl die Vorstellung des Schneidigen, Draufgängerischen. 


170 




r 


ebenso wie das Wort „bitter", wohl vom Zeitwort „beißen“ ab 1 (man 
denke an die übertragene Bedeutung von „bissig“ und „Bißgurn“), aber 
zwischen „Biez“ und „Gizzi“ läßt sich schwer eine etymologische Brücke 

schlagen. 

Meines Erachtens geht der Ausdruck Gizzi auf den Zuruf zurück, mit 
dem Kinder Ziegen rufen, locken, necken. Der süddeutsche Name der 
Ziege ist Geiß, welches Wort mit „Ziege“ wahrscheinlich irgendwie ver¬ 
wandt ist. Das schweizerische Gitzi = Zicklein dürfte früher einmal im 
ganzen oberdeutschen Sprachgebiet, also auch in Österreich, die Bezeich¬ 
nung der jungen Ziegen gewesen sein. 2 In der Schweiz ist auch noch der 
Lockruf Gitzi erhalten geblieben. So verzeichnet z. B. das Schweizerische 
Idiotikon aus Graubünden den Lockruf „gitzi gä gä“: bei entsprechender 
Fingerhaltung, zunächst an die Ziegen, um sie zum Stoßen zu reizen, dann 
aber auch, verbunden mit der Gebärde des Rübenschabens, an Menschen 
gerichteter Zuruf oder Ausdruck der Schadenfreude. Die Ähnlichkeit in 
der Anwendung jenes graubündnerischen Neckrufes und in der des wiene¬ 
rischen Ausdrucks ist augenfällig. Vielleicht darf man auch in der wiene¬ 
rischen Handbewegung am Kinn, die in der Reizfrage das Wort begleitet, 
eine Spur der Ziegenbartverspottung sehen. Zur Stützung dieser Erklärung 
des wienerischen Wortes Gizzi aus der Verspottung und Reizung der Ziege 
sei noch daran erinnert, daß der Sprachgebrauch auch sonst noch Spuren 
vom Necken und Verhöhnen der Ziege beim Volke aufweist. Man denke 
an das Necken der Schneider durch den Zuruf Mekmek und ihre Darstel¬ 
lung mit Ziegenbart, auf den judenfeindlichen Ruf Hep Hep (aus Heppe 
— Habergeiß) 3 , an den Gebrauch von „Ziege“ als Scheltwort für alte 
Frauen im Berlinischen, vielleicht auch an die Bezeichnung „Ziegenpeter“ 
für die Erkrankung der Ohrspeicheldrüse, wenn nämlich Kluge damit recht 
hat, daß dieser Namen sich auf das ziegenartig tölpelhafte Aussehen grün¬ 
det, das der Erkrankte vorübergehend annimmt. 


1) Eine andere Ableitung führt Bitzl = Jähzorn auf das gleichbedeutende 
italienische bizza zurück. Webinger meint, daß der Bitzl, der dem Jähzorni¬ 
gen aufsteigt (auch: „der Bitzl rent eam aufi“) körperlich aufzufassen ist. 
Bitz bedeutet im Steirischen: Anschwellung, Stümpfchen und hängt wohl mit 
Butz (Schreckgestalt) und Butze (Knospe, verdickte Stelle) zusammen (zu alt¬ 
hochdeutsch bozzan = stoßen s. S. 123 „Putsch“). 

2) Gitzi (= Ziege) heißt im Emmental auch ein unbesonnen dreinfahren¬ 
des Kind; Übergitzi ein übermütiger junger Mensch; gitzisprung macht, wer 
austollt (man vgl. damit die Herkunft von Kapricen und Kapriolen — und 
daher auch von Kabriolett — aus lateinisch caper = Ziegenbock). 

3) Vgl. das Stichwort „Hephep“ in „Wörter und ihre Schicksale“. 


171 







Keppeln 



Daß keppeln in Wien nörgeln, keifen, einen Streit immer wieder neu be¬ 
ginnen, bedeutet, muß man dem „Zug’rasten“ aus dem Reiche erst erklären. 
Und doch ist dieser Ausdruck altes gemeindeutsches Sprachgut, das der 
Schriftsprache und den meisten Mundarten allerdings verlorengegangen ist. 
In der Würzburger Landgerichtsordnung von 1618 ist noch zu lesen: Procu- 
ratoren sollen sich vor Gericht alles Schmähens, Zankens oder Kippeins ent¬ 
halten. Und auch im Simplizissimus des Grimmelshausen: sie fingen an mit 
uns zu kippeln. Eine niederösterreichische Strophe aus der Biedermeierzeit 
lautet: Mein Weiberl ist g'sund, b'sunders 's Brüstel is guet, i g'spürs alle 
Tag, wanns mi ankepeln tuet. Ein zänkischer Kerl ist ein Keppelmaster. 

Das Wort keppeln hat nichts mit kappen und kippen = abschneiden 
(Kapaun = verschnittener Hahn, Kipper = Geldbeschneider, Münzfäl¬ 
scher) zu tun, wie mitunter vermutet worden ist. Keppeln (mittelhoch¬ 
deutsch kibel, kivel) ist vielmehr urverwandt mit der Wortsippe kauen 
(althochdeutsch kiuwan) und Kiefer (althochdeutsch kewa). Wahrschein¬ 
lich auch mit keifen; entfernt möglicherweise auch mit Kinn. Es handelt 
sich offenbar um eine von der Bewegung des Gebisses selbst bestimmte 
Wortwurzel. Keppeln scheint die Iterativform, die das Wiederholen der 
Tätigkeit anzeigende Form von „kauen“ zu sein. Der Ausdruck Keppel- 
zähne, womit der Wiener scherzhaft die Schneidezähne meint, besonders 
diq oberen, wenn sie übermäßig ausgebildet sind und aus dem Mund heraus¬ 
ragen, scheint die Ableitung von keppeln aus kauen zu bestätigen. 

Im Schweizerischen entspricht dem wienerischen keppeln die Lautform 
chiben; z. B.: „er het albig eppes (alleweil etwas) z-chiben“; oder „der 
Mueters Reden hilft mehr als des Vaters Chiben“. 

Eine Nebenform des wienerischen keppeln ist kifeln == nagen; z. B. am 
Hungertuch kifeln, oder an Baan o-kifeln (ein Bein abnagen); bei Abraham 
a Santa Clara beginnt ein Volkslied mit den Worten: Es küffelt ein Schnei¬ 
der ein Gaisfuß ab. 


Klachel 


bedeutet heute einen starken, rohen Jüngling. Wie in vielen Fällen, hat das 
Wienerische auch hier einen mittelhochdeutschen Ausdruck lebendig be¬ 
wahrt, den die neuhochdeutsche Schriftsprache verloren hat. Mittelhoch¬ 
deutsch kleckel, klechel bedeutete den Glockenschwengel, 1 von 
welcher Bedeutung aus dann die Übertragung auf einen plumpen, robusten, 

i) InTirol wird Klachö auch heute gebraucht mit der Bedeutung: Glocken¬ 
schwengel und Ohrgehänge in Tropfen- oder Klöppelform. 


172 





r 


roben Menschen erfolgte. Das Wienerische verfügt auch über die Zeitwör¬ 
ter klacheln = sich plump bewegen, umaklacheln, umanandaklacheln = 
herumschlendern, faul und untätig herumlümmeln, sich hinklacheln, z. B. 
sich aufs Sofa hinklacheln. Sehr häufig finden sich alle diese Ausdrücke in 
den zur Zeit des Wiener Kongresses vielgelesenen „Briefen des Eipel- 
dauers", z. B.: „damit die ehrlosen Klacheln nit vom Volk san todtgeschla- 
worden" — „endlich san m'r um ans hamklachelt" — „ein Mensch, 
der ’s Ummerklacheln in der Stadt so gwont is" — „in den Theater führn 
' nix als Mörder- und Galgenklachelnkomödien auf." Im Ausdruck Galgen- 
klachel = Verbrecher spielt wohl angesichts der volkstümlichen Gleichung 
Galgenschwengel = Gehenkter auch die ursprüngliche Bedeutung Klachel 
= Glockenschwengel mit. 

Nicht nur die „Roheit" des Glockenschwengels bietet eine Grundlage 
zu einer Bedeutungsübertragung, auch ein anderer Umstand, das Herunter¬ 
hängen des Schwengels, führt 2u bildhaften Volksausdrücken: für das 
bayrische Sprachgebiet verzeichnet Schmellers Wörterbuch für „Klachel" 
noch drei Bedeutungen: Hoden (z. B. Widderklächeln 1 ), männliches 
Glied 2 , Nasensekret (in Tirol: Rotzklachl). 

Analogien für die beim wienerischen Worte Klachel wirksame Bedeu¬ 
tungsübertragung (von Glockenschwengel zu Rohling) bieten die zu Schelt¬ 
wörtern gewordenen Gegenstandsbezeichnungen: Bengel (ursprünglich 
Knüppel, im Englischen mundartlich bangle = Knotenstock, und in der 
deutschen Buchdruckersprache Bengel oder genauer Preßbengel als Bezeich¬ 
nung der Hebelstange, mit der die Spindel einer Presse angezogen wird), 
Flegel (von lateinisch flagellum = Geißel zur Bedeutung Dreschflegel 
entwickelt und dann auf einen groben Kerl übertragen) und schweizerisch 

1) Mail beachte den holländischen Slangausdruck het Klohkenspel (Glok- 
kenspiel) für Hoden. Ein englischer Slangausdruck vergleicht die Hoden mit 
den Gewichten einer Pendeluhr: clock-weights. Aus dem Pariser Argot: caril- 
lonner ä Pitalienne (nach italienischer Art die Glocken läuten) = sich päde- 
rastisch betätigen. 

2) Die sprachsymbolische Verknüpfung der Vorstellungen Glockenschwen¬ 
gel (= Klachel) und männliches Glied ist verschiedentlich belegt. So wird 
schweizerisch Ginkel, Güngel, Gingel (für etwas baumelndes, sich hin- und 
herbewegendes) auch im sexuellen Sinne gebraucht. Für Frankfurt verzeichnet 
Kühlewein 1909 Bimbam = Penis, gleichbedeutend ist in Tirol Gimpelgam- 
pel, in Ostpreußen Pimmel, in Waldeck Pümmel, im Elsaß Bimmel oder Klüp- 
fel. Unter den Kosenamen, die bei Rabelais die Kinderfrau dem Glied des 
jungen Gargantua gibt, kommt auch pendilloche (Pendelchen, Schwengelein) 
vor. — Auch die Doppelbedeutung plumper Mensch und Penis, die im Worte 
Klachel zu Tage tritt, ist für die Mundarten nicht untypisch. So hat z. B. 
dieselbe Doppelbedeutung das bayrisch-österreichische Hallawachl. 


173 










Hegel (ursprünglich Hagmesser, grobes Klappmesser, geeignet z Um 
Hag-, d. h. Strauchschneiden und im übertragenen Sinne Lümmel, Grobian 
Fastnachtsnarr, übrigens auch Penis). 


7 


Pamstig 

wird besonders von einer Frucht gesagt, deren Inneres ausgetrocknet 
schwammig ist. Der nicht mehr junge Rettich ist pamstig. 1 Anfangs des vori- 
gen Jahrhunderts bezeichnete man auch einen unbeholfenen Menschen ah 
pamstig: der Kerl is pamsti wie an Radi. Daneben war wohl auch die Vor¬ 
stellung des Hohlen, lächerlich Aufgeblasenen im Spiel. Fürst Pamstig war 
eine Possenfigur, eine Art Serenissimus in einer Komödie, die während des 
Wiener Kongresses Abend für Abend im Leopoldstädter Theater gespielt 
worden ist. Daher noch in den siebziger Jahren die Redensart: er glaubt 
er is der Fürst Pamsti, d. h. so aufgeblasen ist er. Dem Eigenschaftswort 
pamstig liegt vermutlich das mundartliche (z. B. bei Lexer als kärntnerisch 
verzeichnete) Hauptwort „der Pampf" = teigartige Masse, dicker Brei zu¬ 
grunde. Daraus wird auch das Eigenschaftswort pampfet und das Zeitwort 
pampfen, sich anpampfen = in sich hineinstopfen, beim Essen den Mund 
vollnehmen, gelegentlich auch in dem Sinne: mit vollen Backen etwas Heißes 
im Mund behalten, bis es abkühlt. Das in Schmellers Bayrischem Wörter¬ 
buch verzeichnete Pamfili = gefräßiger Mensch zieht wohl den Namen des 
heiligen Pamphilius nur wegen des Anklangs an pampfen heran. Pampfen 
oder mampfen = mit vollem Mund essen kennt auch das Schwäbische. Un- 
ger-Khulls Steirisches Wörterbuch führt auch an: Pampferei oder Pampf- 
werk = gieriges, überhastetes Essen. Dieses Dialektwörterbuch scheint übri¬ 
gens pampfet, pampfig (von Pampf = dicker Brei, der rasch sättigt) und 
bamstig = schwülstig, auf geschwollen (von Bamst = Dickbauch) als etymo¬ 
logisch nicht zusammengehörig auseinanderzuhalten. Sonnleithner, 1824, 
leitet pamstig — mehr nach dem Gefühl als mit Begründung — von 
„Barns" ab, „einem ausgestopften Sitze oder einem dicken, vollhaarigen 
Felle auf dem Sitze des Sattels", 

Zu erwähnen wäre noch das berlinische pampig = widerspenstig, 2 das 
vielleicht irgendeine weitläufige Verwandtschaft zum oberdeutschen pamstig, 
pampfet hat. 

1) In gewissen Zusammenhängen hat pamstig auch die Bedeutung weich, 
schlapp. So bucht Reiskel 1905 in seinem wienerischen erotischen Glossar den 
Ausdruck „bamstige Nudel“. 

2) „Zu Anfang darf man nicht zu pampig sein im Bau, mit der Zeit 
lernt man dann schon, wo man was riskieren kann“, heißt es in Falladas be¬ 
kanntem Gefängnisroman; das dort vorkommende Gauneridiom ist dem Nord¬ 
westdeutschen zuzuordnen. 


174 





Pflanz 


.j t j em Wiener als lächerlich. 1 Dieses männliche Hauptwort bedeutet Prah¬ 
len oder „großartiges" Auftreten, und zwar ohne Rücksicht darauf, ob jener, 
dem dieses verächtlich machende Wort gilt, mit Mitteln protzt, über die er 
tatsächlich verfügt, oder ob er durch das „Pflanztreiben" hochstaplerisch 
über seine Verhältnisse hinausgeht. Daß der Ausdruck mit „Pflanze" zu¬ 
sammenhängt, empfindet wohl jeder; nicht ohne weiteres durchsichtig ist 
aber wie es zu dieser weitbogig erscheinenden Bedeutungsübertragung ge¬ 
kommen ist. Den Schlüssel bietet uns das schon abgestorbene alte Zeitwort 
si^ pflänzeln" = sich mit Pflanzen schmücken, und allgemeiner: sich 
schmücken, putzen überhaupt. In einer alten, in München bewahrten Hand¬ 
schrift heißt es: auch ire haubter sein gephlentzt, mit krautern, laub und 
gras gekrenzt. Bei Sebastian Franck ist zu lesen: „so vil Geschmuck, so vil 
Pflanzes." Und Abraham a Santa Clara predigte einmal in Wien zur Tür¬ 
kenzeit: Das Gotteshaus ist kein Haus, wo die Jesabel sich soll aufpflän- 
zeln. In der Kongreßzeit spottet „der Eipeldauer" in einem seiner berühmten 
Briefe: da san s' aufpflanzlt und frisiert, als wenn s* glei auf d’ Redutt gehn 


wollten. 

Im heutigen Wienerisch sind die Formen sich pflänzeln, sich aufpflän- 
zeln schon abgestorben, es wird nur noch das Hauptwort „der Pflanz" 2 
gebraucht, und zwar meistens in Verbindung mit machen oder treiben. 
Daneben gibt es noch das Zeitwort jemanden pflanzen = necken, zum 
besten halten. 3 (Damit verwandt ist vermutlich schwäbisch Pflounz = Tadel, 
einem einen Pflanz anhenken = ihm einen üblen Ruf machen; in der 


1) Felix Weingartner schreibt in einem musikgeschichtlichen Essay: „Der 

Wiener hat ein urkräftiges Wort für alles, was etwas zu sein scheint, ohne es 
zu sein; es heißt Pflanz.“ Und fügt hinzu, daß er die Absicht gehabt hatte, 
eine „Geschichte des Pflanz in der Kunst“ zu schreiben. 

2) Aus der Wiener Verbrechersprache: Pflanzmoß = falsches Geld, 
pflanzen = Wahnsinn simulieren (nach Max Pollak 1904). Pflanz- 
m u r r e r ist ein Scheinstreit, der ein den Taschendieben günstiges Gedränge 
hervorrufen soll. In der Hantyrka, der Prager Gaunersprache, bedeutet flanc: 
Schwindel, Betrug, Vortäuschung. 

3) Mehr noch als im Wienerischen haben die Ausdrücke pflanzen und 
Pflanz machen im Schweizerischen übertragene Bedeutungen ange¬ 
nommen. Zunächst kommt Pflanz oder Pflanz machen wie im Wienerischen 
mit der Bedeutung vor: den Vornehmen spielen; z. B. „der macht den Pflanz 
nicht übel“, oder „was will der so der Pflanz mache, man weiß ja, was er 
isch“. In anderen Fällen sind in der Schweiz unter „Pflänz“ falsche Vorgaben 
oder Flausen zu verstehen: mach mer keine Pflänz, si nützed di dermol nüd. 
Der Wiener würde in solchen Fällen Faxen oder Schmeh sagen. Nit lange 
Pflänz mache, gebraucht der Schweizer wie „nicht viel Federlesens“. In 


175 







Pfalz: jemand einen Flenzel anhengen, — an ihm etwas aussetzen. Hingegen 

kommt das frankfurterische — u. a. bei Friedrich Stoltze belegte_fj aan 

zeln, herumpflaanzeln = sich aus Langeweile faul herumtreiben, vermutlich 
von flanieren.) 

Ramasuri 

bedeutet: lärmende Unterhaltung, Unordnung, Gepolter. Die ältere Form 
ist Remisori. Sq heißt es z. B. 1814 in den „Briefen des Eipeldauers": Wer 
ein rechter Siffling war, der hod sein Remisori tüchti habn kinnen, denn 
d' Wein waren unvergleichlich. Eine Übergangsform zeigt das Wort in 
einem Gedicht von Castelli in niederösterreichischer Mundart: Au'm Freid- 
hof (Friedhof) soan an'm Ab'nd nach'n Sög'n (Segen) — dö Stück’ln 
von sein'n Leib zafetzta (zerfetzt) g'lögn — Und voa da Kiachndia (Kir¬ 
chentür) hods bei da Nacht — durch vieli Jahr a Römassori gmacht. Hier 
bedeutet Ramasuri: Spuk, Gespenstergepolter. (Übrigens bucht Josef Sonn¬ 
leithners 1824 anonym erschienenes Idioticon Austriacum auch ein Zeitwort 
ramatten = poltern; Hügels Idiotikon Viennense 1873 bezeichnet dieses 
Zeitwort bereits als veraltet.) Schmellers Bayrisches Wörterbuch erklärt 
Remasuri: Ausgelassenheit der Kinder und des Gesindes in Abwesenheit 
der Eltern. 

Ramasuri gehört anscheinend zu jenen Wiener Volkswörtern, die — wie 
Ambuschurl = Mundstück der Trompete (embouchure), Adrattär = Ver¬ 
ehrer (adorateur), schmafu = gleichgültig (je m’en fous) und viele andere 
— französischer Herkunft sind. Es gibt ein französisches Hauptwort 
ramas = Haufen, Plunder. Das zugehörige Zeitwort ist ramasser. Neben 
dem Element re- (zurück, wieder) ist in diesen Wörtern enthalten das latei¬ 
nische massa = Klumpen, woher mittelbar auch unsere Fremdwörter Masse, 
massiv kommen. Ramasser bedeutet französisch sammeln, einheimsen, zu¬ 
sammenraffen. (Ramasser toutes les cartes heißt alte Karten zusammen¬ 
raffen; daher auch der Name eines Kartenspiels Rams, Ramsch 1 oder 
Ramschl: man hat in diesem Spiel möglichst viele Stiche zu machen.) 


Sätzen wie „der Bueb hat nüt as Pflänz in Chopf“ oder „i will der dini 
Pflänz scho ustribe“ hat unser Wort die Bedeutung: närrische Einfälle. Ein 
Basler „Fastnachtzettel“ des Jahres 1935 beginnt mit der Verszeile: „Trotz 
Liedli, Spiel und andere Pflänz..Mit „Mutwillen, Übermut“ ist die Be¬ 
deutung von „Pflänz“ wiederzugeben in der Redensart: us luter Pflänz nit 
wüsse was a-fah (anfangen). Das Schweizerische Idiotikon bucht ferner die 
Redensart „einem die Pflanz mache“ = einem schön tun (Graubünden), den 
Text lesen, ihn zurechtweisen (Aargau, Schwyz). 

1) Auch der in deutschen kaufmännischen Kreisen übliche Aus¬ 
druck Ramsch ist hier zu nennen. Im Jahre 1911 versieht Schirmers Wör- 






Verwandte von „Ramasuri”, d. h. andere Abkömmlinge von französisch 
ramas ramasser, finden sich in der schweizerischen Mundart. Man 
braucht in der Schweiz ramussiere, ramissiere, ramüsiere (meist z'sämme- 
ramüsiere) für zusammenraffen, meist mit scherzhaftem Beigeschmack. Aus 
Luzern sind folgende Sprüche aufgezeichnet worden: Der g'hört au ned zu 
^ S C henierte, der ramussierti alles mit enander, Dreck und Koriander... 
D' Engländer sind nie ful, wenn's a's Ramassiere god. Auf den Namen des 
Kartenspiels Rams, das früher, bevor es durch das Spiel Jass (Klaver-Jass) 
verdrängt wurde, in der Schweiz stark verbreitet war, spielt die schweizeri¬ 
sche Redensart an: rams sin (sein) = im Rams verlieren, keinen Stich 
nachen, in übertragenem Sinne: geschäftlich zugrunde gerichtet sein oder 
schwanger sein. 

Scheppern 


ln seinem „Judas” schreibt Abraham a Santa Clara: „Herr, seynd wir 
Joch dein Geschirr, und wann du an uns schlaegst, wollen wir nicht schep¬ 
pern, sondern einen guten Klang geben.” Dieses rasselnde Geräusch, das das 
verbrochene Geschirr verursacht, scheint das lautmalerische Zeitwort scheppern 
ursprünglich zu bezeichnen. Vor Kälte scheppern einem die Zähne, vor 
Angst die Knie, vor Müdigkeit die Knochen, in Aufregung spricht man mit 
gscheppreter Stimme. Ein altes Klavier, eine schlechte Schreibmaschine, ein 

terbuch der Kaufmannssprache das Wort Ramsch mit dem Vermerk „fast 
nur norddeutsch“. Aber schon Schmellers Bayrisches Wörterbuch führt das 
Zeitwort ramschen (zamramschen) = raffen und das Hauptwort Ramsch = 
ungeordneter Haufen. Den Eingang in die allgemeine Umgangssprache fand 
aber dieses Volkswort wohl durch Vermittlung der Kaufmannssprache 
und da mag es zutreffen, daß diese sich zuerst in ihrem norddeutschen Be¬ 
reiche des Ausdrucks bemächtigt hatte. Neuerdings hat das Wort im ganzen 
deutschen Sprachgebiet Aufnahme in die Umgangssprache gefunden. In ein¬ 
zelnen Wirtschaftszweigen, z. B. im Buchhandel, ist es geradezu ein Fach¬ 
ausdruck geworden und selbst in gerichtlichen Entscheidungen ist davon die 
Rede, ob und wann ein Verleger befugt sei, die Vorräte ohne Verletzung der 
Interessen des Verfassers zu „verramschen“. Die Ableitung von Ramsch aus 
französisch ramas, ramasser ist übrigens nicht unbestritten. Man hat auch auf 
das hebräische Wort ramuz (= Betrug) hingewiesen, das in der deutschen 
Gaunersprache, dem Rotwelsch, in der Form des Zeitwortes ramschen == 
betrügen fortgelebt haben soll (daher Ramsch = Diebserlös, Ramschkone = 
Hehler). Eine andere Erklärung führt zum mittelniederdeutschen Ausdruck 
*,in rampe“, das bedeutet etwa: in Bausch und Bogen. 1663 wird „Ramp“ 
jedenfalls definiert als „eine Menge bunt zusammengewürfelter Sachen“. (Mit 
Kwimpe = Erdaufwurf, Auffahrt, das — zunächst als Fachausdruck des Fe- 
M'ungbaus — aus dem Französischen entlehnt ist, hat dieses norddeutsche 
„Ramp“ nichts zu tun.) 


12 -Storfer . Sprache 


177 











ausgedientes Taxi scheppert, Münzen und Schlüssel scheppern in der 
Tasche. In einem Schnadahüpfl heißt es: Zwo kuaschwarzi Rösser j a sche- 
barnda Wagn / das ist ja mei Bueberl j i kenn erhm in Fahrn. Ein Geschep. 
per auf dem Pflaster verursacht der lange Säbel („die Dragoner mit de 
schebraten Säbel"), bei Hebbel heißt es auch: sie scheppern mit den Helmen. 

Als steirisch gibt Unger-Khulls Wörterbuch an: Tschreappn = 1) alter 
Topf, 2) zerbrochenes Geschirr, Scherben, 3) schwatzhaftes Weib; ferner 
tschreappad = mißtönend, heiser; tschreappn = mit gebrochener, heiserer 
Stimme reden. 

Vergleichsweise erwähnen wir hier die Bezeichnung für „Scherben" i n 
slawischen Sprachen: russisch tscherepok, tschechisch strep usw. (dazu unga¬ 
risch cserep). 

Stier 

sein heißt in der Wiener Volkssprache keine „Marie", d. h. kein Geld ha¬ 
ben (potz, blank, schwarz, neger, parterre sein). „Unsere Edelknaben", die 
Deutschmeister, sangen: Mir san vom ka und ka Infantrieregiment Hoch- 
und Deutschmeister Numro Vier — aber stier. Man spricht von stieren 
(geldlosen, übertragen: langweiligen, ereignislosen) Zeiten, von einem stie¬ 
ren (schlechtbesuchten) Theater; auch ein Ball, eine Unterhaltung, ein 
Wirtshaus kann stier sein, wenn dort „nichts los ist", wenn es öde und lang¬ 
weilig zugeht. Bei Mayr, 1902, wird das Wort „stier" erklärt als „der nach 
seiner Bedeutung recht unangenehme Ausdruck, der zunächst das Leere in 
der Brieftasche, im weiteren aber alles Öde und Unangenehme bezeichnet 
und die Grundlage für ein eigentümliches Hauptwort, die Stierität, gebildet 
hat, das in der Verbindung ,die höchste Stierität* den Inbegriff alles Grau¬ 
ens und der gähnenden Hoffnungslosigkeit darstellt". 

Zum Eigenschaftswort stier gehört neben Stierität auch ein zweites Haupt¬ 
wort: „der Stier*’. Man sagt von jemand, der an Geldmangel leidet, den 
rennet der Stier, er komme aus dem Stierkampf nie heraus, der Stier sei sein 
Wappentier... Aber diese tierische Personifizierung der Geldnot ist bloß 
ein Wortspiel, der Ausdruck stier ist mit dem Namen des männlichen Rin¬ 
des nicht in Verbindung zu setzen, auch wenn die Nähe der Redensart „der 
schwarze Ochs hat seinen Fuß getreten" (the black ox has trod on his foot) 
= er ist in Not geraten, leicht dazu verlocken könnte. Völlig unbegründet 
ist es auch stier = geldlos in Verbindung zu bringen mit der „stierigen 
Kuh, d. h. der Kuh, die „stiert", sich nach dem Stier sehnt. 

Auch mit dem Sternbild des Stiers hat die Geldnot des Wieners nichts 
zu schaffen, wenn es auch feststeht, daß eine andere oberdeutsche Mundart, 
das Schweizerische, jenem Neumond, der eintritt, während die Sonne im 


178 



Frühling im Zeichen des Stieres steht, einen besonderen Einfluß auf den 
Menschen zuschreibt. Es ist Stier-Nüw (d. h. Stier-Neumond) bedeutet: es 
herrscht üble Laune; im Stier-Nüw gibore si = dumm sein. 

Unbegründet ist auch der Einfall von Prof. Gaheis, das wienerische stier 
ehe auf lateinisch sterilis = unfruchtbar zurück. 1 Wenig überzeugend ist 
auch die Ableitung von stier •-= geldlos aus mittelhochdeutsch stoerare — 
Störer (Leopold Höfer: „Geldlosigkeit, Unordnung, die sind eine Störung 
zünftigen Wesens: der goldene Boden des Handwerks ist zerstört".) 

Man muß zur Aufhellung der Herkunft des wienerischen Eigenschafts¬ 
wortes stier auf das mundartliche Zeitwort stieren zurückgreifen 2 , dessen 
Urverwandtschaft mit stören und starren, und auch mit stark und griechisch 
Stereos = hart, nicht unwahrscheinlich ist. Die vielerlei Bedeutungen von 
stieren wollen wir (unter Anlehnung an Mareta, 1865) in vier Gruppen 
ordnen : 

a) Die greifbarste Bedeutung ist herumstochern, herumstöbern. In 
einer 1605 im Kloster Bruck gedruckten Christlichen Postille heißt es: 
Gäns stüren und wüten im Koth umb. Bei Abraham a Santa Clara: daß euch 
der Henker die Zäehn stühr. Zahnstierer nannte man in Wien im 19 . Jahr¬ 
hundert den Zahnstocher, Pfeifenstierer das Gerät zum Reinigen der lan¬ 
gen Pfeife. Wer keinen rechten Appetit hat, tut mit der Gabel in den Spei¬ 
sen „ummerstieren" (herumstochern). Den Quark aufstieren, war eine häu¬ 
fige, bildlich gebrauchte Redensart. (Im Erzgebirge sagt man: in e Wespn- 
Nast sterln, und der Stab, mit dem gebuttert wird, ist der Butter-Sterl.) 

b) Eine Weiterentwicklung der Bedeutung von stieren führt zum Bilde 
des Suchens 3 . In den „Briefen des Eipeldauers" ist zu lesen: Endli hat 
er sein Beutl außerzogen, un da hat er lang mächti im Geld herumg'stiert 
(1818), der junge Herr stiert alles auf, wo's a Tanzei gibt (1814). Alle 
Kneipen aussterln (absuchen, besuchen) ist ein studentischer Ausdruck. Die 
armen Leute, die Abfallhaufen nach verwertbaren Dingen (früher besonders 


1) Derselbe Klassikophilologe treibt in den „Wiener Blättern für die Freunde 
der Antike“ die Freundschaft zur Antike so weit, daß er z. B. auch im wiene¬ 
rischen „g’haut“ = gewitzigt (z. B. „g’hauter Kerl“, „o du g’scheidter, o du 
ganz gehauter Fratz“) ein lateinisches Wort erkennt: cautus (zu caveo) = 
vorsichtig. 

2) „Die begierden des fleisches durch den bösen Geiste auffgestürlet wer¬ 
den“ (Caspar Schwenckfeld, Vom Artikel der Vergebung der Sünden, 1593). 
„Es ist aber auch kein so strenges Gesetz,... daß du es alles so genau ausstier- 
len und beschnarchen oder begautzen müssest“ (Johann Riemer, Der trunkene 
Träumer, 1689). 

3) Im Rotwelsch wird das Huhn auch Stier oder Stierche genannt, weil 
es in der Erde „herumstiert“ (scharrend sucht). 


12* 


179 







nach industriell verwendbaren Knochen) absuchen und dabei zum Herum- 
stochern sich eines Stabes bedienen, heißen Baandlstierer. Ein Couplet aus 
der Mitte des 19. Jahrhunderts: A Kaffeehaus war vor Zeiten bloß bestimmt 
für noble Leut — Jetzt gibts drin, 's ist kein Schenierer, Schusterbubn und 
Banerstierer. 

c) Im übertragenen Sinn bedeutet stieren ferner: ärgern. Des stiert mi 
(Schranka, 1905, schreibt: das stiert mir's) = das ärgert mich, das ist mir 
zuwider. Ein Stierer ist daher nicht nur ein neugieriger Schnüffler (der in den 
Angelegenheiten anderer herumstiert), sondern auch ein hartnäckiger Nörg- 
ler, ein Stänkerer. 

d) Seltener ist eine weitere übertragene Bedeutung von stieren: grü¬ 
beln, nachgrübeln. Vielleicht wirkt bei dieser Bedeutung das andere Zeit¬ 
wort stieren = unbewegt schauen mit, das von starren kommt und mit unse¬ 
rem stieren nicht unmittelbar zusammenhängt. 

Das österreichische stieren deckt sich in seiner Bedeutung vielfach mit 
dem wurzelverwandten englischen Zeitwort to stir = rühren, bewegen, 
schüren (z. B. das Feuer). My blood was stirred bedeutet: mein Blut war 
erregt. „Meine Seele ist verwirrt", heißt es bei Shakespeare, „like a fountain 
stirred", wie eine aufgerührte Quelle. There is no money stirring = da 
rührt sich kein Geld, da gibt es kein Geld unter den Leuten. 

Diese letztgenannte englische Redewendung läßt uns zum wienerischen 
stier = geldlos zurückkehren. Wie entwickelt sich diese Bedeutung des 
Eigenschaftswortes aus den oben angeführten Bedeutungen des Zeitwortes? 
Von stieren kommt der Ausdruck abstieren (sprich oh-schtieren oder oh- 
schtierln) der Wiener Unterweltssprache im Sinne: einem Schlafenden oder 
Schwerbetrunkenen die Taschen durchsuchen (durchstöbern), um ihn um 
das ganze Bargeld zu erleichtern. Auch unter Kartenspielern heißt es, wenn 
man jemandem, gleichsam wie einem wehrlos Schlafenden, alles abgenom¬ 
men hat, man habe ihn oh-gschtierlt. 

Stier sein ist also eigentlich eine Abkürzung von abgestiert sein, 
und stier ist ein zum selbständigen Eigenschaftswort verdichtetes Partizipium, 
wie dick aus gediehen, dünn aus gedehnt, drall aus gedreht oder das wiene¬ 
rische blad aus gebläht. 

Andere Erklärungen für das wienerische stier gehen von der allgemeinen 
Wurzel starren aus; stier wäre demnach ein Synonym von starr = bewe¬ 
gungslos, und eine stiere Börse wäre wie ein stieres Gasthaus: leer und ohne 
Bewegung. Aber die oben gegebene Ableitung aus stieren = stochern, su¬ 
chen und aus abstieren = absuchen, ausplündern gibt sich viel ungezwun¬ 
gener. 


180 




Tiernamen als Krankheitsnamen 

Sprachliche Spuren der parasitären Dämonologie 
(Pathologia animata) 


Das Wort Krebs (althochdeutsch chrebazo, krebaz, krebiz) ist dunkler 
Herkunft. Mit griechisch karabos, lateinisch carabus = Seekrebs ist es nicht 
verwandt. Viel eher hängt Krebs mit althochdeutsch krapho = Haken zu¬ 
sammen, in welchem Falle der Benennung des Tieres der Hinweis auf seine 
Scheren zugrundeliegt, oder mit dem Zeitwort krabbeln und dann wäre der 
Krebs (und auch die Krabbe) nach der Fortbewegungsart benannt. Fran¬ 
zösisch ecrevisse ist germanischen Ursprungs und mit deutsch Krebs ver¬ 
wandt. 

Der Tiername Krebs hat verschiedene Bedeutungsübertragungen erfah¬ 
ren. An der mittelalterlichen Rüstung bezeichnete man wegen der Ähn¬ 
lichkeit mit dem Panzer des Krustentieres den Brustharnisch und die Schutz¬ 
decke der Oberschenkel als Krebs. Auch Luther übersetzt das griechische 
thorax (Epheser 6, 14) mit Krebs. 

Aus der Beobachtung der sonderbaren Fortbewegungsart des Krebses 1 
erwachsen die Ausdrücke krebslings, Krebsgang. Vom faulen 
Schüler, dessen Leistungen „zurückgehen", heißt es, daß er krebst. Auch 
der Franzose spricht vom marche de l’ecrevisse, wenn es statt vorwärts 
zurück geht, italienisch heißt es fare il viaggio del gambero, spanisch andar 
como uno cangrejo. Der Engländer hingegen spricht vom sidling walk 
(Seitwärtsgehen) of a crab. 

Seit ungefähr 1830 ist in deutschen Buchhändlerkreisen für unver¬ 
kaufte Bücher, die vom Sortimenter zum Verleger zurückwandern 
(Remittenden), das Spottwort „Krebse" bekannt. 2 (Man vgl. damit das 

1) Von einer wirklichen Rückwärtsbewegung kann eigentlich nur beim 
schwimmenden Krebs die Rede sein, nicht beim gehenden. 

2) Französische Buchhändler sagen r o s s i g n o 1 (Nachtigall), womit sie 
aber nicht nur das an den Verlag remittierte Buch bezeichnen, sondern auch 
das im Laden verbliebene, aber unverkäufliche Buch, Man versucht diese son- 








bei freien Schriftstellern gebräuchliche „Bumerang" für Manuskripte, die 
von Redaktionen oder Verlegern abgeiehnt, an den Verfasser zurückgelan¬ 
gen, ähnlich der Bumerang genannten Wurfkeule der Australier, die, wenn 
sie ihr Ziel verfehlt, zum Werfer zurückschwirrt. * 1 ) 

Mit der Fortbewegungsart des Krebses hängt auch das Zeitwort kreb¬ 
sen zusammen, das außer Krebse fangen auch bedeutet: sich lebhaft bewe- 
gend bemühen. (E. Friedli erklärt für das Berner Deutsch: So wie das 
gefangene Tier, seines Lebens sich wehrend, zappelt, so heißt „chräbse" 
auch: ohne Aussicht auf Erfolg sich abmühen.) Die Redensart mit etwas 
krebsen gehen = etwas schnöde ausnützen verbindet man — nicht 
sehr glaubhaft — mit einer Volkserzählung von einem Bauern, der mit 
der Leiche seiner Frau Krebse fing. 

Die bemerkenswerteste Bedeutungsübertragung, die sich am Worte Krebs 
vollzieht, ist jene, die diesen Tiernamen als Krankheitsnamen erschei¬ 
nen läßt. Schon die Griechen hatten für die bösartige Geschwulst den 
Namen des Krebses (karkinos) verwendet, womit Galenos, ihr großer 
Arzt, auf eine Ähnlichkeit der Aderzeichnung, der strahlenförmigen Ader¬ 
schlängelung um das Krebsgeschwür herum mit den Füßen des Flußkreb¬ 
ses verweisen wollte. 2 Unwahrscheinlich ist die Vermutung einiger Wort¬ 
torscher, man habe die Röte der Geschwulst mit der Farbe der gekochten 
Krebse verglichen. Hingegen mag die Vorstellung von der Gefräßigkeit 
des Krebses für diese Krankheitsbezeichnung mitbestimmend gewesen sein. 
Die böse Geschwulst sei gleichsam ein feindseliges, gefräßiges Tier, das 
den Menschen schließlich ganz auf frißt. Der seit dem 13. Jahrhundert vor¬ 
kommende deutsche Krankheitsname Krebs (mittelhochdeutsch krebez) 
ist eine Lehnübersetzung aus dem Griechischen. 

Auch der lateinische Name des Krebses, cancer hat die Grundlage 
für ein deutsches Wort abgegeben. Er hat auf Umwegen zum Worte 
Schanker geführt, zur gemeinsamen (erst mittels der Voraussetzung des 
Eigenschaftswortes hart oder weich unterscheidenden) Bezeichnung für den 
syphilitischen Primäraffekt und für den Ulcus molle. Die Vermittlung von 


derbare Bezeichnung des „Ladenhüters“ als „Nachtigall“ so zu erklären, das 
unverkäufliche Buch hocke auf dem unzugänglichsten, dem obersten Fach, 
wie ein Vogel auf dem Baum. Die Deutung ist nicht zwingend. 

1) Im Argot der französischen Schriftsteller heißt ein oft zurückgewiesenes 
Bühnenstück oder ein von Verlegern abgelehntes literarisches Werk: ours, Bär; 
der Verfasser eines solchen: marchand d’ours, Bärenhändler. 

2) Im Spanischen heißt die Hautflechte, die sich im Auftreten von gewun¬ 
denen Linien auf der Hand äußert: culebrilla, kleine Schlange. 


182 




zu Schanker besorgte das Französische, wo das lateinische cancer in 
V^Formen fortlebt: erstens in unveränderter Schreibweise cancer für 
- gjs gelehrter Krankheits- und Sternbildname, zweitens in halb- 
A 1 ter Form cancre für die Krabbe und übertragenerweise für einen 
Schlucker, einen Knicker oder einen Faulpelz und drittens, in 
bereits ganz französischer Form, chancre für die Krebskrankheit und den 
Schanker und auch in einer übertragenen Bedeutung, entsprechend dem 
deutschen „Krebsschaden". 

Neben Schanker besteht im Deutschen auch die volkstümliche Form 
Kanker (ungarisch kankö) und das veranlaßt Höfler zur Annahme, daß 
in Schanker-Kanker neben dem lateinischen cancer auch das griechische 
eanßraina = um sich fressendes Geschwür sich sprachlich fortgepflanzt hat. 
Als »gesetzlicher" Abkömmling des letzteren griechischen Wortes lebt im 
Deutschen heute noch das Wort „Gangrän" als Bezeichnung für gewisse 
brandige Erkrankungen. 

Mit dem Ausdruck Polypen (griechisch: Vielfüße), dem früher 
üblichen Namen der Tintenfische, bezeichnet man gutartige geschwulst- 


törmige Wucherungen der Schleimhäute in Nase, Kehlkopf, Speiseröhre, 
Harnröhre usw. Bei dieser Übertragung ist vielleicht daran gedacht wor¬ 
den, daß die personifizierte Krankheit wie ein Tintenfisch mit seinen Armen 
in Aushöhlungen nach tiefliegenden, schwer zugänglichen Stellen hinreiche 1 . 

Frosch (althochdeutsch frosk, wahrscheinlich mit der Grundbedeu¬ 
tung „Hüpfer") als Krankheitsname ist eine Lehnübersetzung von latei¬ 
nisch ranula = Fröschlein. Als ranula bezeichnte die mittelalterliche Medi¬ 
zin jede unter der Zunge zu beiden Seiten des Zungenbändchens, besonders 
bei Kindern vorkommende Geschwulst, entzündete Drüsen, da solche 
prall gefüllte, glatte Bälge unter der Mundschleimhaut schön durchscheinen 
und den Vergleich mit dem glatten Froschbauch nahelegen (Höfler). Der 
volkstümlichen Bezeichnung „Frosch" entspricht auch die offiziell-medizi¬ 
nische: „Fröschleingeschwulst". Als Froschblähen bezeichnete die ältere 
Medizin eine Lymphdrüsenanschwellung am Halse, als Froschquaken ein 
gewisses Geräusch bei organischem Herzfehler und bei Verwachsung des 
Herzens mit lufthaltigen Organen. 


i) L. Günther glaubt auch, daß die aus der Studentensprache in die Gau¬ 
nersprache übergegangene Bezeichnung Polyp für „Polizist“ nicht nur 
eine scherzhafte Umgestaltung des letzteren Hauptwortes darstellt (wie im 
Falle „Polente“ = Polizei), sondern daß auch „ein ganz leidlicher Sinn“ vor¬ 
liegt, wenn man an die Fangarme jenes Meeresungeheuers erinnert; aus dem 
gleichen Gedankengang heraus heißt der Polizist in der polnischen Gauner¬ 
sprache pajok, d. h. Spinne. 


183 







Einen Frosch im Halse haben wird mit der Bedeutung 
braucht: mit heiserer Stimme singen, 1 mit verquollener Stimme reden 
Ähnlich im Amerikanischen: to have a frog in the throat; daher fro 
= heiser. Im Venezianischen sagt man aver le rane, Frösche haben von 
einem Schwermütigen oder einem Hypochonder. Pare che abbia una rana 
nel corpo, es scheint, daß er einen Frosch im Leibe hat, sagt man in Itali e 
nischen von einem, dem der Magen knurrt. 

Die Vorstellung, daß ein Frosch sehr gut im menschlichen Leibe leben 
könne, ist überhaupt ziemlich verbreitet. Es wird daher auch scherzhaft 
davor gewarnt, zu viel Wasser zu trinken, es könnten sonst leicht im Magen 
Frösche zur Welt kommen. 2 Hysterikerinnen haben sich nicht selten über 
Frösche im Bauch beklagt. 

So wie der Frosch auch in Wirklichkeit oft mit der Kröte verwech¬ 
selt wird, vermengt sich auch die übertragene Bedeutung dieser beiden Tier¬ 
namen. Auch die Kröte gehört zu den unheimlichen, elbischen Wesen 
Hexen und böse Weiber stehen in Beziehung zu ihr. Von einem verkrüp* 
pelten oder mißgestalteten, z. B. mit einem Buckel zur Welt gekommenen 
Kinde heißt es, es sei verkrottet (vom Krötenalp gezeugt). Der Krampf 
der Gebärmutter wurde im Volke als „Krot" bezeichnet und in 
Bayern und Österreich wurde daher eine in Krötenform dargestellte Gebär¬ 
mutter an heiligen Orten als Opfergabe dargebracht. 3 Man bezeichnet im 


1) Der Franzose sagt von solch einem Sänger, er habe eine Katze in der 
Kehle, avoir un chat dans la gorge. 

2) Tu attraperas des grenouilles, du wirst dir Frösche zuziehen, warnt 
der Franzose scherzhaft den Wassertrinkenden. 

3) Die kranke Gebärmutter wird auch als eine lebendige Maus 
im Leibe aufgefaßt, d. h. als ein elbischer Dämon in Mausgestalt. Als Maus 
bezeichnet man auch den sichtbar beweglichen und bei der Handbewegung 
anschwellenden Handballen; auch der Franzose nennt ihn souris = Maus 
(die Isländer vergleichen dieses Muskelspiel mit dem Zappeln eines Fisches 
und nennen es Lebensfisch). Die Stelle am inneren Oberarm, wo der Muskel¬ 
ballen bei der Bewegung anschwillt (Biceps), ist die Stelle, „wo das Mäus- 
lein läuft ; 1706 schrieb noch der Arzt Scheuchzer über den Anteil der 
Muskeln bei der Fortbewegung: wenn die einten (einen) Mäuslein arbeiten, 
andere können ruhen. „E par Müs ha“ wird in der Schweiz gebraucht für: 
muskelstarke Oberarme haben. Lateinische Schriften des späteren Mittelalters 
und der frühen Neuzeit bezeichnen den Oberarm als lacertus = Eidechse. 
Auch das Wort Muskel ist nur eine Eindeutschung von lateinisch muscu- 
lus — Mäuschen. Schließlich ist Maus und Mäuschen (Kammermäuslein) eine 
stark verbreitete Bezeichnung für den weiblichen Geschlechts¬ 
teil. (Das Grimmsche Wörterbuch verzeichnet auch: mausen, blinde Maus 
spielen für Geschlechtsverkehr.) Goethe gebraucht in seinem Tagebuch und 


184 






Volke daher solche in Kapellen auf gehängte oder als Amulett gegen 
Frauenkrankheiten getragene Krötennachbildungen auch einfach als „Mut- 
(Hovorka-Kronfeld). Auch wird überhaupt die Gebärmutter selbst 

als Tier aufgefaßt. 1 

Auf dem Vergleich der unebenen Krötenhaut mit gewissen Veränderun¬ 
gen der Menschenhaut bei der Erkrankung beruht wohl, daß im Lettischen 
krvupis = Kröte auch zur Bezeichnung der K r ä t z e dient. (Man vgl. dazu 
im Slovakischen rapuch, rapavy = blatternarbiger Mensch von rapucha 
jCröte.) Vielleicht ist angesichts des gemeinsamen Anlauts auch an eine 
Urverwandtschaft zwischen Krätze (kratzen) und Kröte zu denken. 

In anderen Fällen wird Kröte oder Krott einfach statt Frosch (oder 
Fröschlein) mit den bei diesen Tiernamen angeführten Krankheitsbedeu- 
tungen gebraucht. Ausdrücke wie „Kröte im Hals", „Krott unter der 
Zungen" sind schon für das 16. Jahrhundert belegt „Wann im Hals eine 
Krott oder anderer Unflath wächst", heißt es in einer Quelle aus dem 
Jahre 1740. 


in seinen Briefen wiederholt das elsässische Misel = Mäuschen für junge 
Mädchen, Miesein für Liebelei, „nicht ohne allen lüsternen Beigeschmack“, 
wie H. Schräder sagt. Bei Shakespeare kommt mouse-hunt, Mäusejäger, im 
Sinne von „Schürzenjäger“ vor. Auch das Wort Muschel (Venusmuschel!), 
das ebenfalls von lateinisch musculus = Mäuschen kommt, dient zur Be¬ 
zeichnung der weiblichen Scham (vgl. das Stichwort „Porzellan“ in „Wörter 
und ihre Schicksale“); daher auch der obszöne Berliner Ausdruck „in die 
Muschel rotzen“ = coire. Hier ist auch anzuführen aus dem französischen 
Argot: gaspard (Kaspar) = vulva. Dieser Ausdruck wird erst verständlich, 
wenn wir wissen, daß gaspard im Argot eine Bezeichnung der Ratte ist. 
Für diese Übertragung auf den weiblichen Geschlechtsteil ist nach Chautard 
die Ähnlichkeit mit dem Fell dieses Nagetiers maßgebend. Schließlich erwäh¬ 
nen wir noch einen deutlichen Beleg aus 1466: Mautze = vulva, bei dem 
allerdings nicht klar ist, ob der Schamhügel mit dem Mauspelz oder dem 
Katzenfell verglichen wird. Die Gleichung Maus = vulva hindert nämlich 
nicht die gleichzeitige Auffassung der weiblichen Scham als einer (mäuse¬ 
fangenden) Katze sprachsymbolisch zu wirken. (Vgl. im französischen Argot: 
boulotter le chat, die Katze aufessen, für cunnilingus.) Noch mit einem ande¬ 
ren Tiernamen, dem des Kuckucks, wird die Behaarung des mons Veneris 
belegt: in der Volkssprache werden die ersten Schamhaare als Gauch be¬ 
zeichnet (auch „der erste Gauch“). Allgemein wird auch für Flaumhaare 
überhaupt („Milchhaare“) Gauchhaare verwendet. 

1) Nach dem pfälzischen Arzt Tabernaemontanus (16. Jahrhundert) soll 
schon Plato gesagt haben, „die Gebärmutter sei ein lebendiges Tier, des Ge¬ 
barens begierig, derohalben wo es unzeitig aufgehoben und lange unfruchtbar 
bleibt, so wird es unwillig und ungeschlacht, erhebt sich, durchschleift den 
Bauch . ..“ usw. 


185 







Die Augenkrankheit Star hat ihren Namen nicht vom Singvog e ) 
Star (althochdeutsch stara, verwandt mit lateinisch sturnus), sondern steht 
zum Zeitwort starren in Beziehung. Im Althochdeutschen hieß es von 
dem an dieser Augenkrankheit Leidenden, er sei staraplint, d. h. er sei 
blind (schlechtsehend) bei offenen („starrenden") Augen. Hingegen hat 
im Französischen eine andere krankhafte Erscheinung am Auge einen rich¬ 
tigen Vogelnamen: das „Gerstenkorn" wird außer orgelet (zu lateinisch 
hordeum = Gerste) auch compere-loriot (Goldamsel, Pirol) genannt. Die 
Vergleichsgrundlage für die Übertragung dieses Vogelnamens auf die eitrige 
Entzündung am Augenlid scheint die gelbe Farbe zu sein. 

Die Gicht heißt im deutschen Volksmund auch Bock. Es handelt sich 
wohl um den Tiernamen, aber es liegen zwei Bedeutungsübertragungen 
dahinter. Tiernamen werden häufig auf Waffen und Geräte übertragen 
(vgl. das Stichwort „Tiger" in „Wörter und ihre Schicksale") und so ist 
der Bock auch eine Bezeichnung für die Daumenschraube der Tortur 
geworden. Wenn man nun die Gicht als Bock bezeichnet, so ist eigentlich 
nicht der Tiername, sondern unmittelbar nur der Name eines Folter¬ 
geräts auf die Krankheit übertragen worden, um auszudrücken, der Kranke 
habe das Empfinden, als wären seine Beine in einem „Bock", einem 
Schraubstock. 

Eine große Rolle spielt der Wolf auf dem Gebiete der Krankheits¬ 
namen. Die linsenförmige Geschwulst unter der Haut nannten die Römer 
1 u p a = Wölfin, nach dem reißenden Umsichgreifen des Übels. 1 Daher 
ist auch italienisch und spanisch lupia, französisch loupe Bezeichnung einer 
gewissen runden Geschwulst. (In diesem Zusammenhang verdient eine son¬ 
derbare Bedeutungsübertragung angeführt zu werden. Bei der Übertragung 
des lateinischen Tiernamens auf die Geschwulst ist das gierige Umsichgreifen 
die Vergleichsgrundlage. Französisch loupe 2 wird aber nun auch weiter 
übertragen, diesmal geht die Übertragung von einem anderen Merkmal 
der Geschwulst, von ihrer flachen, runden Form aus und auf diesem Um¬ 
wege wird französisch loupe und daraus deutsch Lupe die Bezeichnung 


1) Im älteren englischen Armeeslang hieß ein zu raschem Absterben von 
Hautteilen führendes Geschwür, das sich britische Soldaten in Portugal hol¬ 
ten, b 1 a c k -1 i o n, schwarzer Löwe. 

2) Im Französischen hat loupe auch noch weitere Bedeutungen: Knorren 
des Baumes, Höcker des Kamels. Bei beiden Bedeutungen scheint von der aus¬ 
gebuchteten Gestalt der Geschwulst, vom Angeschwollensein ausgegangen 
worden zu sein. Nicht klar ist die Bedeutungsgrundlage bei dem gauner¬ 
sprachlichen Ausdruck loupe = Faulenzerei (vielleicht ist bestimmend die 
Vorstellung des Herumstreifens). 


186 




. gew i s ses rundes, flaches Glasgerät. 1 Wer würde ohne Wissen um 
^Zusammenhang ohne weiteres erkennen, daß unsere Lupe, unter 
^’^wir wörtlich und bildlich die genau zu betrachtenden Dinge nehmen, 

* ntlich eine_ Wölfin ist? Der semasiologische Vorgang ist hier nicht 

C *^3 wie wenn man in einem Dorfe einem Mann, der einen Schnurr- 
bart^estimmter Art trägt, den Spitznamen „Ungar" gäbe, und man dann, 
weil dieser Mann zufällig auch ein lahmes Bein hat, später einen anderen 
Hinkenden ebenfalls „Ungar" nannte.) 

Wolf 2 selbst diente in der deutschen Sprache im Laufe der Jahrhun- 
.. rte 2U r Bezeichnung verschiedener Erkrankungen, was bei den 
Engelhaften medizinischen Kenntnissen und der dadurch bedingten Ver¬ 
mengung der Krankheitsbilder nicht Wunder nehmen darf. 

a) Eine Zeitlang bezeichnete man auch die sonst Krebs genannte Krank¬ 
ls a j s Wolf, weil sie sich gleichsam wie ein wilder unersättlicher Wolf 
immer weiter in das gesunde Fleisch frißt. 

b) Unter Wolf verstand man ferner feuchte Feigwarzen am After, die 
die Haut wund machen und Erythema intertrigo verursachen 3 . 

c) Diese wundmachende Eigentümlichkeit, die auch bei anderen Erkran¬ 
kungen vorkommt, erklärt nach Höfler, daß der Name Wolf sich auch 


1) Fördernd für diese Übertragung von der runden, flachen Geschwulst 
auf das runde, flache Glasstück war vielleicht auch die Metapher, die beim 
Auge und in der Optik von einer Linse sprechen läßt. Französisch lentille 
(von lateinisch lenticula, Verkleinerung von lens = Linse) bezeichnet außer 
der Linsenfrucht im allgemeinen auch einen linsenförmigen Körper, im be¬ 
sonderen die Glaslinse. Der Engländer gebraucht lentil für die Frucht und 
lens im anatomischen (Augenlinse) und im optischen Sinne. Das deutsche 
Wort „Linse“ — das auch mit diesen drei Bedeutungen gebraucht wird — 
dürfte übrigens nicht vom lateinischen lens kommen, sondern mit diesem auf 
eine gemeinsame unbekannte Quelle zurückgehen. 

2) Die Frage der Verwendung von Tiernamen für Krankheiten berührt 
sich auch mit der Frage der Tiermetaphern zur Bezeichnung des Heißhun¬ 
gers und der krankhaften Unersättlichkeit (bayrisch: fressat Krankat). Ich 
verweise auf das Stichwort „Hunger“ in „Wörter und ihre Schicksale“ und 
auf das dort erörterte österreichische Mader (Marder) = Heißhunger. 
Hungrig wie ein Wolf ist man übrigens nicht nur im Deutschen. He is 
hungry like a wolf oder he has a wolf in his stomach, sagt der Engländer; 
wolfish = gefräßig, wolfer = Fresser. Dem Italiener ist der Heißhunger 
„die Krankheit der Wölfe“: il male della lupa; er sagt auch: avere una lupa 
in corpo. 

3) „Die Beschwerung des Hindern, welche die Latini intertrigium und 
wir Deutsche den Wolf nennen“, heißt es 1591 im „Gifftjagenden Kunst vnd 
Haussbuch“ des Pfarrherrn Michael Bapst. 


187 










1 

übertragen läßt auf jede beißende, die entzündete Haut blutigrot eröff. 
nende Hautkrankheit, wenn sie, wie z. B. die venerische Erkrankung oder 
der Ruhrfluß, ihren Sitz am After, am Gesäß, an den Leisten usw. hat 
Wie sehr der Name Wolf auch die Behandlung beeinflußte, zeigt, daß 
man frisches Fleisch oder vier lebende Hühner auf den „Afterwolf” legte 
um den hungrigen Wolf zu besänftigen. Die Bezeichnung Wolf für das 
Auf geriebensein der Innenschenkel ist bereits für den Anfang des 16 
Jahrhunderts belegt („Arswolff" oder „Wolff an den Schenkeln”). Man 
unterscheidet, je nachdem ob man sich die Aufreibung beim Gehen oder 
beim Reiten erwarb, einen ergangenen Wolf und einen Reitwolf. 1 

d) Als Wolf oder fressenden Wolf bezeichnet das Volk auch jene Haut- 
krankheit, die sonst auch der Laie heute meistens mit dem lateinischen 
Namen Lupus bezeichnet; wissenschaftlich heißt dieser Wolf Narben¬ 
flechte oder Lupus vulgaris zum Unterschied von der Schmetterlingsflechte, 

Lupus erythematosus. 

Die zuletzt genannte Hautkrankheit, die Schmetterlingsflechte, gibt uns 
hier Anlaß auch den Schmetterling unter den Tiernamen als Krank¬ 
heitsnamen anzuführen, wenngleich es sich bei diesem Tier nicht um deut¬ 
sche Krankheitsnamen handelt. Wir verweisen auf das Stichwort „Schmet¬ 
terling” in „Wörter und ihre Schicksale" (spätgriechisch psora = Nacht¬ 
falter = Krätze, rumänisch streligii di moarte = Todesschmetterlinge = 
Nesseln, litauisch drugys = Schmetterling = Fieber). Entscheidend für die 
Verwendung von Schmetterlingsbezeichnungen für Krankheiten ist jeden¬ 
falls die Auffassung dieses Tieres als eines dämonischen Wesens. 


Noch unheimlicher und unheilvoller als das „was da fleucht", wie etwa 
der Schmetterling, ist das „was da kreucht". Daher der große Anteil des 
Wurmes an der „Pathologia animata" 2 . Als Würmer bezeichnete z. B. 
die ältere Naturkunde lange Gewebefasern, z. B. abgestorbene Sehnen 


1) In älteren Schriften ist scherzhaft von Reitern die Rede, die die Wölfe, 
von denen sie angefallen werden, mit Hirschtalg füttern müssen. 

2) Der „Urwalddoktor“ Albert Schweitzer berichtet von den Negern im 
Ogowegebiet (Äquatorialafrika): „Der Wurm ist für sie die Verkörperung 
des Schmerzes. Werden sie auf gef ordert, über ihren Zustand zu berichten, so 
erzählen sie die Geschichte des Wurmes, wie er zuerst in den Beinen war, 
dann in den Kopf kam, von hier nach dem Herzen wanderte, aus diesem in 
die Lunge ging und sich zuletzt im Bauch festsetzte. Alle Medikamente sollen 
gegen ihn gerichtet sein.“ 


188 





Bindegewebspfröpfebeim sogenannten Fingerwurm (Panaritium), 
oder die Volksmedizin durch bloßes Zusammendrücken wie ein belebtes 
tötet”. Auch die madenähnlichen Talgpfröpfe der Haut werden 
Würmer bezeichnet. (Auch der Ausdruck Mitesser, comedones, 
jlt s j e gleichsam als parasitäre Lebewesen am Menschen dar.) „Würmer” 
S -;nd ferner geschlängelte Gefäßknäuel, z. B. die Krümmungen der „Gold¬ 
gier” 1 Auch die wie eine Made in der Wabe im Zahnfleisch sitzende 
Zahnwurzel wurde nach Höfler in der älteren Medizin als Wurm bezeich¬ 
nt (so übrigens auch bei den Negern im ägyptischen Sudan). Die Zahn- 
Wurzelentzündung hieß: roter Wurm. 

Im Faust, in Auerbachs Keller, heißt es: „Zieh ich wie einen Kinderzahn 
den Burschen leicht die Würmer aus der Nase.” Die Würmer aus 
der Nase ziehen war zu Goethes Zeiten nur mehr ein heiteres Gleichnis. Im 
17 und 18. Jahrhundert heilten auf den Jahrmärkten herumziehende Quack¬ 
salber auf ihren schnell aufgeschlagenen Schaugerüsten Leute, die sie als 
krank oder schwermütig vorstellten, dadurch von ihren Leiden, daß sie vor¬ 
täuschten, einen Wurm, die Ursache der Krankheit, aus dem Gehirn durch 
die Nase herauszuziehen 2 , ähnlich wie die Hirten die Bremsenlarven aus 
der Nase des Viehs entfernen. 

Aber was im Zeitalter der Aufklärung nur mehr als Scherz wirkte, 
war vordem einmal voller Ernst. Das kriechende Tier, in schlechtem Ange¬ 
denken seit dem Sündenfall des ersten Menschenpaares, hat eine besondere 
Eignung dazu, krankheitsverursachende Dämonen zu personifizieren. So wie 
dem primitiven Menschen als der natürliche Tod der Tod zufolge Einwirkung 
äußerer Gewalt gilt und staunenerregend und Geheimnisahnungen hervor¬ 
rufend nur jener Tod ist, den wir als den „natürlichen” bezeichnen, so hat 
auch das der Wortbildung zugrundeliegende primitive Denken die Neigung, 


1) Für Hämorrhoiden kommt auch die deutsche Bezeichnung Schlange 
vor. In einer Quelle aus dem Jahre 1482 wird dieses Leiden „Unterschlang” 
genannt. Vielleicht ist auch die Vorstellung Verschlungensein hier wirksam. 

2) Aus der ursprünglichen Bedeutung der Redensart vom Würmer-aus- 
der-Nase-ziehen: jemanden von krankheitverursachenden Lebewesen, von pa¬ 
rasitären Dämonen befreien, entwickelte sich die heutige: jemandem stück¬ 
weise ein Geheimnis entlocken. Im Französischen: tirer ä quelqu’un les vers 
du nez; englisch: to worm a secret out of a person; spanisch: sacar el gusano 
(los Iombreos) de la nariz. Der Italiener zieht Spatzen aus der Nase: tirare 
le passere del naso. Im Erzgebirge sagt man übrigens: dar tut os wullt ’r en 
a Wermel aus’n Orsch ziehen = er zeigt eine Scheinfreundlichkeit, um etwas 
abzulocken. Vgl. auch die Redensart: jemandem etwas aus dem Steiß ziehen. 
Vielleicht ist die Nase in die Redensart von den herausgezogenen Würmern 
überhaupt nur als euphemistische Ersetzung von After hineingeraten. 







die Krankheit als das Ergebnis der unmittelbaren Einwirkung eines Dämons 
als das Eindringen eines Lebewesens, eines Tieres in unseren Körper auf* 
zufassen. Wenn man Sodbrennen hat, so nagt an einem der Herzwurm 
erkrankt der Haarboden, so ist der H a a r w u r m am Werke, die Gürtel! 
rose zeigt die Spuren des G ü r t e 1 w u r m e s auf der Haut. Den Kno¬ 
chenfraß verursacht der Bei n- oder G1 i e d e r w u r m, die Hämorrhoi¬ 
den der Blut wurm, die Zungenkrankheit des Rindes der Zungen¬ 
wurm. Die Bauchschmerzen werden einem Bauchwurm zur Last 
gelegt, die Kopfschmerzen einem Kopfwurm. Das „Gerstenkorn' u hieß 
früher auch Augenwurm. 

In das sittliche Gebiet gehört der an einem nagende Gewissens¬ 
wurm (englisch worm of conscience, italienisch verme della coscienza 
tarto del rimorso, spanisch gusano de la conciencia, französisch ver röngeur). 
Auch die Redensart mich wurmt etwas 1 (== etwas nagt an mir) 
erinnert daran, daß der Wurm nach altem Volksglauben die Metamor¬ 
phose eines elbischen Wichtes ist, der den Menschen oder das Tier nagend 
„wurmt”, 2 der sich von seinem Opfer wie eine Fleischmade nährt. (Über 
Würmer als Personifizierung von Sorgen, Marotten, Launen, „Grillen” wird 
im nächsten Abschnitt die Rede sein.) 

Natürlich gehören nicht hierher die Bezeichnungen jener Krankheiten, 
die tatsächlich von „Würmern” (Bandwürmern, Finnen usw.) verur¬ 
sacht werden 3 ; sie sind, nebstbei bemerkt, so zahlreich, daß eine eigene 
Wissenschaft, die Wurmkunde oder Helminthologie, sie behandelt. 


Zur Vorstellung von den in einem und an einem nagenden Würmern 
ist in Parallele zu stellen das Bild: M ü c k en (Mucken) oder Gril¬ 
len im Kopf haben. Wohl verstehen wir unter Mucken und Grillen heute 

1) Im 18. Jahrhundert wurde das Zeitwort noch intransitiv gebraucht 
(z. B. bei Schiller: das wurmte beim alten Karl; so wurmt es m i r oft, daß 
ich nicht tugendhaft bin). 

2) Auch der Engländer hat ein Zeitwort, das dem deutschen wurmen 
entspricht: to worm. Übrigens sagt er auch: it gives me a snake, das gibt mir 
eine Schlange. 

3) Zu den Krankheiten, an denen wirkliche Würmer die Schuld tra¬ 
gen, gehört auch die vom sogenannten Gehirnblasenwurm (Coenurus cerebra- 
lis) verursachte Drehkrankheit der Schafe. Ich nehme an, daß der Be¬ 
zeichnung des menschlichen Irrsinns als holo = Schaf in der Sprache der 
Wanjamwesi in Ostafrika der Gedanke an jene Schafskranklieit zugrunde 
liegt. 


190 





wunderliche Einfälle, seltsame Launen, trübe Gedanken, ursprünglich 
nur ^b er m eine schwere Erkrankung im Gehirn gedacht worden. Es handelt 
. bei den Mücken und Grillen im Kopf nicht etwa um dichterisch ange- 
51 , Gleichnisse, sondern um echte Beispiele der parasitären Dämono- 
UU . L ^ es Volksglaubens 1 . Es ist eine uralte, wohl den meisten Völkern 
l0 f* e fee Vorstellung, daß sich im Kopf des Menschen Elben in Tier- 
^--talt einnisten, die außer Krankheitszuständen, wie z. B. Kopfweh, auch 
Störungen der Denktätigkeit oder des seelischen Gleichgewichts verursachen 
f R Riegler). Für die mittelalterliche Medizin gab es wirklich eine musca in 
cerebro (eine Fliege, Mücke im Gehirn) ; die quälenden Geister, die in 
Mückengestalt Fieber verursachen, hatte man auszutreiben oder im Patien¬ 
ten zu töten. 2 Bei Bonaventura des Periers (16. Jahrhundert) ist von einem 
Ritter die Rede, der seiner Frau die Grillen durch einen Aderlaß aus dem 


Kopfe treibt. 

Im 16 . und 17. Jahrhundert tritt bereits in der deutschen Sprache der 
Gebrauch von „Grillen" und „Mucken" im übertragenen Sinne auf. Von 
der 1558 erschienenen Schwanksammlung „Katzipori" des Michael Lindener 
heißt es auf dem Titelblatt, daß „darinn newe Mugken, seltsame Grillen, 
unerhörte Tauben, visirliche Zotten verfaßt und begriffen sind." Joham 
nes Fischart („Bienenkorb" 1579) spricht von „spitzfündigen fremden 
Grillen" und in Grimmelshausens Simplicissimus heißt es: „wann ihm die 
Mucken ein wenig verflogen" (3, 406) und „wann ich meine alte Possen 
und Grillen übe" (3, 190). Bei Fischart ist übrigens auch von „Hum¬ 
meln im Kopf" die Rede. Bei Scheffel heißt es einmal: „Es hat jeder 
Mensch seine eigenen Mucken und Käfer und Grillen, doch ihr habt einen 
H o r n s c h r ö t e r im Haupt" (Hornschröter = Hirschkäfer.) 

Auch in anderen Sprachen werden Insektennamen zur Bezeich¬ 
nung von geistigen Störungen herangezogen. 3 He has his head full of 


1) Obschon es sich ursprünglich um die Auffassung der Schrullen als wirk¬ 
licher Mücken handelte, hat sich dann der Sprachgebrauch dahin entschieden, 
daß er die sichtbaren Insekten vorzugsweise als Mücken, die „im Kopfe 44 
meistens als Mucken bezeichnet. (Bei Grillparzer begegnen sich einmal 
diese beiden Formen: „Mücken seihen und Kamele schlucken, — Waren stets 
des deutschen Geistes Mucken.“) 

2) Geisteskranke, die sich über Insekten, Spinnen u. dgl. im Kopfe be¬ 
klagen, finden sich auch heute in Irrenanstalten. 

3) Krankheitsbezeichnungen aus dem Bereich der Insektennamen, die sich 
nicht auf geistige und seelische Störungen beziehen, sondern auf körper¬ 
liche Affektionen, sind: französisch teigne (== Motte) für Kopfgrind und ver¬ 
schiedene Tierkrankheiten, deutsch „Raupe“ für Räude. 


191 











wasps, sein Kopf ist voller Wespen, sagt der Engländer. Maggot = Made 
bedeutet auch: Schrulle; maggot-headed, wörtlich madenköpfig, kommt i^ 
Sinne von grillenfängerisch auch bei Shakespeare vor. 

Aus dem Französischen erwähnen wir: il a des grillons dans Ia tete ( er 
hat Grillen im Kopf); papillons noirs (schwarze Schmetterlinge) fü r 
düstere Gedanken (vgl. dazu portugiesisch borbetär = phantasieren, von 
borbeta = Schmetterling) ; la mouche lui monte ä la tete (die Fliege steigt 
ihm zu Kopf). Im Französischen heißt es von einem, bei dem es nicht rich¬ 
tig im Oberstübchen ist, auch, er habe Spinnen oder Maikäfer unter seiner 
Zimmerdecke: il a des araignees (des hannetons) sous le plafond. Auch 
fragt der Franzose: quelle guepe vous a pique le cerveau? welche Wespe 
hat Sie im Hirn gestochen? In der französischen Seemannssprache bedeutet* 
avoir un cancrelat dans la boule (eine Schabe in der Kugel haben) : ein 
wenig übergeschnappt sein. Im Provenzalischen heißt es: a la testo pleno 
de grasules, er hat den Kopf voller Hornissen. Eine andere provenzalische 
Redensart von einem, der zu tollen Streichen aufgelegt ist: a uno toro 
comme un coulounbre, er hat eine Raupe, 1 so groß wie eine Natter. 

Auch der Italiener spricht wie der Deutsche von Grillen im Kopfe: ha il 
capo pieno di grilli (cicale) ; levare i grilli dal capo ad uno = jemandem 
die Grillen vertreiben. Im Spanischen heißt es von jemandem, der schlecht 
gelaunt und leicht reizbar ist, er habe die Fliege, estä con mosca oder va 
con mosca. Auch der Rumäne spricht von Käfern (a aveä gändaci in cap) 
oder von Hornissen im Kopf (are gargauni in cap.) 

Dem Wurm als Krankheitsnamen sind wir bereits oben begegnet. 
Hier ist noch nachzutragen, daß er auch zur Benennung g e i s t i g e r und 
seelischer Störungen herangezogen wird. In Fischarts Gargantua ist zu lesen: 
„Hirn, das euch bringet so seltsame Wurm.“ Aver i bachi, Würmer haben, 
bedeutet im Italienischen: unruhig, unstet, schlechter Laune sein. Tuer le 
ver, den Wurm töten, bedeutet im Pariser Argot: ein Glas Schnaps trinken, 
um ein unangenehmes Allgemeingefühl zu beseitigen. Im Englischen bedeu¬ 
tet das Hauptwort worm auch: Sparren, Marotte, Qual, Kummer. 

Auch dem Fr o s c h und der Maus (s. oben S. 183 ff) sind wir 
schon begegnet. Auch zu diesen Tiernamen ist in diesem — gleichsam psy¬ 
chiatrischen — Kapitel einiges nachzutragen: aus dem Italienischen aver 
delle rane nella testa (Frösche im Kopf haben) = geistig nicht ganz normal 
sein; aus dem Holländischen: muizennestern in dem kopp hebben (Mäuse¬ 
nester im Kopf haben) = von Sorgen geplagt werden. Auch im Deutschen 
ist gebräuchlich: ihm steckt der Kopf voller Mäusenester. Mehr noch als 


192 



. der Maus, 1 wird der Name der Ratte zur Bezeichnung von Sorgen, 
Schrullen, Verrücktheiten, herangezogen. „Wenn dir eine Ratte durch den 
Kopf lauft", heißt es einmal bei Goethe. Der Engländer sagt von einem, 
j er geistig nicht normal ist: he has rats in his garret, er hat Ratten im 
Dachstübchen; der Franzose von einem, der verärgert, launenhaft ist: il a 
ies rats, er hat Ratten oder un rat lui trotte dans la tete, eine Ratte steigt 
ihm im Kopf herum. 2 

Auch Vögel kann nach der Pathologia animata der geistig gestörte 
Mensch im Kopf haben. Einen Vogel haben bedeutet im Deutschen: när¬ 
risch sein, eine Schrulle haben. Daher die ablehnende Frage: hast wohl 
’nen Vogel? Im Berlinischen: dir pickt er wohl (nämlich der Vogel im 
Schädel herum). Früher sprach man auch von Tauben im Kopf. (Vgl. 
oben auf S. 191 das Zitat aus dem Titel der „Katzipori" des Michael Lin- 
dener.) Ein Beleg aus dem 16. Jahrhundert: so ihm dann die Tauben aus¬ 
geflogen (Zimmerische Chronik, 3, 168); aus dem nächsten Jahrhundert: 
wunderseltsame Tauben und kauderwelsche Grillen stiegn mir damals im 
Hirn (Simplicissimus 1, 19.) Auch in den romanischen Sprachen weiß 
man es gewöhnlich genau, was für Vögel die Narren im Schädel haben, 
es sind Spatzen (französisch: avoir des moineaux dans Ia tete), 
Schwalben (im französischen Argot: avoir une hirondelle dans le 
soliveau) oder S t i e g 1 i t z e (rumänisch: a aveä stigleti in cap). Dafür, 
daß ursprünglich nicht bloß ein sprachliches Bild vorlag, sondern daß die 
animistisch-dämonologische Auffassung der Krankheiten an wirkliche Vögel 
dachte, die im Kopf des Menschen nisten, sprechen ähnliche Vorstellungen 
primitiver Völker. Nach Hovorka-Kornfeld wird z. B. auf der Sundainsel 
Timor, in dem Glauben, es sitze ein Geist in Vogelgestalt im Wahnsin¬ 
nigen, zu Heilungszwecken eine künstliche Vogelfigur mit Pfeilen beschossen. 


In die Reihe der Krankheiten, zu deren Bezeichnung der volkstümliche 
Sprachgebrauch Tiernamen heranzieht, gehört auch die akute Alkoholvergif- 


1) Aus der Mundart Hessen-Nassaus führen wir an: Mäuse machen = 
Unsinn reden, Ausflüchte machen. (Auch bei Goethe: Sie macht Mäuse und 
will sich nicht ergeben.) 

2) Das Pariser Argot kennt übrigens auch eine „Ratte im Rüssel“, avoir 
un rat dans la trompe = verärgert sein, erbittert sein. Es scheint hier ein 
ähnliches Bild vorzuliegen wie in der deutschen Redensart: mit einer langen 
Nase abziehen. 


J3 Storfer« Sprache 


193 










tung, der Rausch. In vielen Fällen wird hier die Bedeutungsübertragung 
von ähnlichen Vorstellungen gefördert, wie es jene sind, die der Bezeich¬ 
nung von seelischen Absonderlichkeiten als Grillen, Mucken, Mäusen im 
Kopf zugrunde liegen. Dem Betrunkenen brummt der Schädel, irgend¬ 
welche Lebewesen treiben Unfug in seinem Kopfe. Daher wird der Rausch 
als eigenes Lebewesen aufgefaßt und ein Tiername wird die Bezeichnung 
des Rausches selbst. 

In den romanischen Sprachen wird der Rausch oft mit einem Vogel- 
namen belegt. Der Rausch ist eine Elster oder ein Hänfling im Französi¬ 
schen (pie, 1 linotte 2 ) und im Provenzalischen (agassa, ügnoto), eine 
Eule im Italienischen (civetta) und im Provenzalischen (machola), eine 
Lerche im Rumänischen (riocirlan) und im Provinzahschen (calandra), ein 
Turmfalke im Spanischen (cernicalo), eine Nachtigall im Provenzalischen 
(rosinhol), eine Wachtel im Rumänischen (prepelita) und sogar ein Trut¬ 
hahn 3 im Portugiesischen (perna). Im Spanischen und Provenzalischen 
wird der Rausch auch als cigalo (Zikade) bezeichnet. Schuchardt sieht für 
die Verwendung von Vogelnamen als Rauschbezeichung in der stimm¬ 
lichen Betätigung der Vögel die Vergleichsgrundlage; dem Betrunkenen 
„singe" es im Kopf. Ganz abzulehnen ist jene Deutung, die vom Gedan¬ 
ken ausgeht, die Betrunkenheit lasse einen wie einen Vogel singen; diese 
rationalistische Deutung vertritt z. B. Mistral für die angeführten proven¬ 
zalischen Ausdrücke. 

Auch mit Namen von Säugetieren bezeichnet man mitunter den 
Rausch, bezw. gewisse Rauscharten, Trunkenheitsgrade. Im Spanischen be¬ 
zeichnet man den Rausch als Fuchs, zorra 4 (auch englisch foxed = be¬ 
trunken, to catch a fox, einen Fuchs erwischen = sehr betrunken sein), als 
Wolf, lobo (vgl. französisch louper = saufen), als Hund, perra, 


1) Bei der Bezeichnung des Rausches als einer Elster dürften noch 
zwei volkstümliche Vorstellungen mitspielen: daß die Elster ein besonders 
durstiges Tier sei (vgl. in „Wörter und ihre Schicksale“ im Anschluß an 
das Stichwort „Anger 46 die Ausführungen über das Brüssler Gasthaus „zur 
hinkenden Elster“) und daß sie besonders schwatzhaft sei (vgl. in 
„Wörter und ihre Schicksale“ das Wort „Gazette 46 , seine falsche Ableitung von 
der „gazza“, der schwatzhaften Elster). 

2) Auch redensartlich: französisch siffler la linotte, dem Hänfling etwas 
vorpfeifen == über den Durst trinken; entsprechend provenzalisch carga la 
lignoto, dauphinesisch soufler la linota. 

3) Beim Vergleich des Betrunkenen mit einem Truthahn wird wohl an 
die lärmende Gereiztheit des Vogels gedacht. 

4) Daher desollar la zorra, den Fuchs häuten = den Rausch ausschläfen. 




dv’cha 1 Der Italiener bezeichnet den Rausch als Bären, orso oder als 
Katze, gatta. Die Katze dient zur Bezeichnung der Trunkenheit auch im 
Katalanischen, gat und im Portugiesischen. Auch im Baskischen von Biskaya 
und Guipuzkoa bedeutet katu = Katze auch Rausch, daher katutu = sich 
{^trinken. Ob auch der deutsche Ausdruck Kater zur Bezeichnung der 
Machwirkung des Rausches 2 hierher gehört, d. h. ob er ein übertragener 
Tiername ist, gilt als strittig. Wohl kommen gelegentlich Vergleiche vor, 
w ie etwa „besoffen wie ein Kater'" (bei Magister Laukhard), und auch 
Forscher vom Range eines Hildebrand, eines Schuchardt vertreten die Auf¬ 
fassung, Kater im Sinne von Katzenjammer sei gleichsam eine Steigerung 
von Katze = Rausch 3 ; man muß aber doch jener Deutung den Vor¬ 
rang geben, nach welcher Kater eine volkstümliche Eindeutschung des grie¬ 
chischen Wortes Katarrh (katärrhus = Herabfluß aus katä = herab, 
rheo = fließe) ist 4 . Der Umstand, daß Kater ein Synonym des älteren 
Ausdrucks Katzenjammer 5 ist, könnte allerdings dazu veranlassen, die 
Möglichkeit eines Zusammenhangs zwischen dem Ausdruck Kater (im Sinne 
von nachalkoholischem Zustand) und der Vorstellung der Felis domestica 
nicht endgültig preiszugeben. 

1) Deutsch Spitz = leichter Rausch, ist aber nicht von Spitzhund 
liergenommen, sondern hängt wohl mit spitz = fein zusammen (ähnlich im 
Französischen pointe = Spitze = leichter Rausch). 

2) H. Schräder führt den Scherz an: „Ich bin ganz Menagerie. Gestern 
abend habe ich Schafskopf gespielt, Schwein gehabt, Bock getrunken, Spitz 
erwischt, Affen nach Hause gebracht, heute scheußlicher Kater!“ 

3) Eine andere Deutung von Kater = Katzenjammer knüpft nach Bor- 
chardt-Wustmann an ein schweres Stader Bier an, das man Kater genannt 
habe, weil es am nächsten Morgen den Menschen wie ein Kater kratze. 

4) Noch mit einem anderen griechischen Worte wird der Name des 
„Katers“ in wortgeschichtliche Beziehung gesetzt, mit griechisch katharos = rein, 
das über den Namen der Sekte der Katharer auch zu den Wörtern „Ketzer“ 
und „Katzelmacher“ führen soll (vgl. S. 84 ff). 

5) Katzenjammer (manchmal scherzhaft zu Lamentatio felium 
übersetzt) taucht zuerst 1768 auf (Wichmann: „Es gibt eine Krankheit des Lei¬ 
bes, die zuweilen unglückliche Menschen mit den Katzen gemein haben und 
die deswegen der Katzenjammer genannt wird.“) An der Verbreitung des 
Ausdruckes dürften besonders Heidelberg und Frankfurt großen Anteil haben. 
Er kommt auch bei Goethe, im Westöstlichen Diwan, vor (Welch ein Zustand! 
Herr, so späte — Schleichst du heut aus deiner Kammer — Perser nennens 
Bidamag buden — Deutsche sagen Katzenjammer). Ein anderer Frankfurter, 
Börne, spricht von Katzenjammer als der Reue des Magens. „Katzenjammer“ 
ist vermutlich eine in studentischen Kreisen erfolgte Parallelbildung zu „Kat¬ 
zenmusik“, worunter man eine mit feindseliger oder verhöhnender Absicht 
veranstaltete lärmende Kundgebung (Charivari, Poltermusik) verstand. 


13 * 


195 









Das Säugetier, das am häufigsten den Alkoholrausch des homo sapiens 
personifiziert, ist der Affe. Bei den Bezeichnungen des Rausches als 
eines Affen, eines Bären, eines Wolfes usw., scheinen andere bedeutungs¬ 
geschichtliche Verhältnisse vorzuliegen, wie bei den Grillen, Vögeln, Mäu¬ 
sen im Kopf. Nicht um böse Elben oder lustige Schmarotzer, die im Schädel 
in Vogel- oder Insektengestalt Unfug treiben, handelt es sich hier anschei¬ 
nend, sondern gleichsam um die Vorstellung von einer Verwandlung des 
ganzen Menschen in ein Tier unter dem Einfluß des Alkohols. (R. Riegler; 
„Diese Tiermetaphern hängen zusammen mit der auf jüdischer Tradition 
beruhenden Vorstellung von der durch den Wein bewirkten Verwandlung 
der Menschen in Tiere.") Auf einem Bilde von Caspar Scheit aus dem 16. 
Jahrhundert, das ein Zechgelage darstellt, finden wir unter den zwölf i m 
Gefolge des Bacchus auftretenden, in Tiere verwandelten Trinkern die 
genannten, den Rausch symbolisierenden Tiere (Affe, Bär usw.) wieder. In 
einem Gedichte auf einem „fliegenden Blatte" des 16. Jahrhunderts, das 
von der verschiedenen Wirkung des Weines auf die vier Temperamente 
handelt, heißt es, der Sanguiniker werde sanft wie ein Lamm, der Choleriker 
grimmig wie ein Bär, der Phlegmatiker unflätig wie ein Schwein, der Melan¬ 
choliker närrisch und ausgelassen wie ein Affe. In manchen Gegenden 
Frankreichs unterscheidet man Weine, je nach ihrer Wirkung, als Esels-, 
Hirsch-, Löwen-, Elster-, Schweine-, Fuchs-, Affenweine (vin dane, de 
cerf, de lion, de pie, de porc, de renard, de singe). Im Englischen bezeich¬ 
nen die Ausdrücke ape drunk, lion drunk, goat drunk, fox drunk (Affen¬ 
rausch, Löwenrausch, Bocksrausch, Fuchsrausch) verschiedene Trunken¬ 
heitsgrade. 

Die Bezeichnung des Rausches als eines Affen tritt auch in mehreren 
deutschen Redensarten in die Erscheinung. Einen Affen sitzen 
haben bedeutet: betrunken sein; sich einen Affen kaufen: sich 
betrinken; einen Affen loslassen („Traugott, laß den Affen los", 
hieß es in einem alten Gassenhauer) oder seinem Affen Zucker 
geben (u. a. bei Holtei und Fritz Reuter belegt): im Rausch lustig, aus¬ 
gelassen sein. Im Englischen bedeutet to suck the monkey (den Affen 
saugen) : sich betrinken, in Matrosenkreisen besonders: sich hinter dem 
Rücken der Vorgesetzten betrinken. 1 Als Affen bezeichnen den Rausch 
auch die Italiener (monna, scimia, bertuccia 2 ), die Spanier und Portugie¬ 
sen (mona), die Tschechen (opice). 

1) Im englischen Slang sagt man von einem, der in Zorn geraten ist: 
his monkey is up, sein Affe ist auf. 

2 ) Ha pigliato la bertuccia, la monna, er hat den Affen gekriegt; l cotto 


196 






Daß es sich bei der Bezeichnung des Rausches mit dem Namen des 
*\ffen nicht einfach darum handelt, auf das im Betrunkenen in die Erschei¬ 
nung tretende Tierische schlechthin (die „Bestie im Menschen”) anzu¬ 
spielen, sondern daß gerade die Vorstellung vom Affen sich zu dieser Meta¬ 
pher gedrängt hat, ist begreiflich. Nicht in dem Sinne allerdings wie ein¬ 
zelne Wortforscher (Sainean u. a.) es meinten, die an die Vorliebe des 
gefangenen Vierhänders für den Alkohol dachten. Maßgebend dürfte viel¬ 
mehr gewesen sein, daß der Betrunkene, wie Riegler ausführt,, durch die 
Lebhaftigkeit seiner Gesten, seine Neigung zu allerhand Possen und nicht 
zuletzt durch gesteigerte Reizbarkeit und daraus sich ergebende Streitlust 
unwillkürlich an den Affen erinnert. 

Im Anschluß^ an die Betrachtung der Tiernamen, die zur Bezeichnung 
von Krankheiten und krankheitsartigen Zuständen verwendet werden, sei 
schließlich noch erwähnt, daß die Sprache mitunter für einzelne pathologi¬ 
sche Erscheinungen zwar nicht gerade Tiernamen, aber Verweisungen auf die 
Tierwelt verwendet, z. B. die betreffenden Erscheinungen am Menschen durch 
Vergleiche mit Körperteilen von Tieren kennzeichnet. Das bekann¬ 
teste Beispiel dieser Kategorie ist Hühnerauge für die auch Leichdorn 
genannte Verdickung der Hornhaut, besonders an den Zehen. Die Deutung, 
Hühnerauge sei eine Volksetymologie aus „hürnen Auge“ (Hornauge) ist ab¬ 
zulehnen, der deutsche Ausdruck ist zweifellos eine Übersetzung des im 
gleichen Sinne verwendeten mittellateinischen oculus pullinus (7. Jahrhun¬ 
dert). Übrigens kommt landschaftlich auch Elsterauge und Krähenauge statt 
Hühnerauge vor. Der Franzose gebraucht neben oeil de poule auch oeil de 
perdrix, Rebhuhnauge, der Spanier pata de gallo, Krähenfuß. 

Die Bezeichnung Hasenscharte für die angeborene Spaltung der 
Oberlippe beim Menschen ist ein Hinweis auf diese Eigenschaft des Hasen. 
Auch das Angelsachsiche hatte haresceard, im Englischen wird von hare-lip, 
Hasenlippe gesprochen; ähnlich italienisch labbro leporino, doch auch voglia 
della lepre, Hasenmal, im Französischen bec du li£vre, Hasenschnabel. 

Für die Spaltung des harten Gaumens, eine angeborene Mißbildung, ist 
im Deutschen der Ausdruck Wolfsrachen üblich (englisch wolf’s jaw, 
italienisch bocca di lupo, französisch gueule-de-loup), vielleicht, weil diese 
Gaumenspaltung den Mund größer, als einen „tiefen Rachen“, erscheinen 
läßt. 

Bei einem schmalbrüstigen Menschen spricht man von einer Hühner¬ 
brust (der Engländer spricht von taubenbrüstigen, pigeon-breasted Men- 


comme una monna, er ist gekocht (berauscht) wie ein Affe (Bezeichnung eines 
besonders starken, eines „Kanonenrausches“). Spanisch: dormir la mona, den 
Affen ausschlafen. 

*97 








1 

sehen) und dünne Waden bezeichnen wir als H ü h n e r w a d e n (franzö¬ 
sisch pattes de coq, Hahnenfüße) oder Spatzenbeine. Andererseits be¬ 
zeichnet man als Elefantenfüße oder Elephantiasis eine Gewebe¬ 
erkrankung, die zur ungeheuren Vergrößerung der Extremitäten führt. 

Die mit zunehmendem Alter stärker werdenden Furchen in der Schlä¬ 
fenhaut, die von den äußeren Augenwinkeln strahlenförmig ausgehen, nennen 
wir auch Krähenfüße. 

Hervorstehende Augen, wie sie besonders die Basedowsche Krankheit 
zeigt, bezeichnet man als Froschaugen (spanisch ojos de sapo = Krö¬ 
tenaugen). Im Pariser Argot nennt man Augen mit geröteten Lidern: yeux 
bordes d’anchois, mit Anchovis (Sardellen) umränderte Augen (scheint sich 
auf das rötliche Fleisch der konservierten Sardellen zu beziehen). 


198 




Die Namen der fünf Erdteile 


I) Europa 

Vom Namen Europa ist mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit anzu¬ 
nehmen, daß er eine asiatische Prägung ist. Für die Ionier Kleinasiens mu߬ 
ten das Ägäische und das Schwarze Meer eine gewisse Trennung innerhalb 
der ihnen bekannten Gebiete bedeuten und daraus erwuchs für sie ein 
Bedürfnis nach einer gemeinsamen Bezeichnung der jenseits dieser Meere 
gelegenen Länder. Nichts ist natürlicher, als anzunehmen, daß sie diese 
Gebiete nach ihrer Lage im Verhältnis zum Sonnenlauf benannten und 
daher zu versuchen, „Europa*' als „A b e n d 1 a n d" zu deuten. Man hat 
daher Europa als eine Abwandlung von e r e b o s auf gefaßt, welches Wort 
im Griechischen ein phönizisch-hebräisches Lehnwort ist mit der Bedeutung: 
das Dunkel, Schattenreich, Unterwelt. Andere leiten „Europa" unmittelbar 
aus semitisch ereb = Abend ab und setzen dabei als wahrscheinlich 
voraus, daß die Vorstellung vom Erdteil Europa überhaupt zuerst von den 
Phöniziern gefaßt worden sei. 

Nach anderen Etymologen ist das erste Element in „Europa" das grie¬ 
chische euros = schwarzer Anlauf, Moder, Rost, Schimmel, schwarze 
Farbe. 

Man hat den Erdteilnamen Europa auch aus einem mythologischen Namen 
deuten wollen, aus dem jener Jungfrau Europa, der Tochter des 
Phönix oder des phönizischen Königs Agenor, die Zeus in Stiergestalt übers 
Meer schwimmend nach Kreta entführt. 1 Aber die entführte Stierbraut hat 
in der Mythologie ihren Namen wohl erst nach der Erdteilbezeichnung 
und ihr z u f o 1 g e bekommen. (Aus guten Gründen, wenn auch ein wenig 


i) Bei Horaz, Oden III, 27, 75 weissagt Venus der entführten Jungfrau 
Europa, daß ihren Namen ein ganzer Erdteil führen wird, tua sectus orbis no- 
mina ducet, und schon bei Herodotos, IV, 45 heißt es: ei me apo tes Tyries 
phesomen Europas labein to ounoma ten choren (wenn wir nicht glauben 
wollen, daß das Land seinen Namen von der Europa aus Tyros erhalten habe). 


199 








auf die Spitze getrieben, schrieb Hugo Schuchardt: Alle Mythologie beruht 
im wesentlichen auf sprachlichen Mißverständnissen.) 

Solmsen deutet das Wort Europa als „B r e i t g e s i c h t" — aus den 
griechischen Wörtern eurys und ops. Der Ausdruck sei besonders in ebenen 
weiten Gegenden gedacht, so auch in Böotien, als Bezeichnung für eine 
Ebene und übertragen für ganz Böotien, 1 aber auch als Name einer 
böotischen Erdgöttin. Das Böotien bezeichnende Wort sei dann der Name 
ganz Mittelgriechenlands und schließlich des ganzen festländischen Grie¬ 
chenlands (im Gegensatz zu den Inseln und zu Kleinasien) geworden. 

Obschon gegen die Ableitung des Namens für den ganzen Erdteil aus 
der Bezeichnung der böotischen Ebene grundsätzlich nichts einzuwenden ist 
(man denke daran, daß die Schweiz nach dem Kantone Schwyz heißt, daß 
Italia ursprünglich nur der Name der äußersten Südwestspitze der Halb¬ 
insel war, daß die Franzosen Deutschland nach den Alemannen, einem 
einzigen seiner Stämme, als Allemagne bezeichnen), so besticht andererseits 
die Ableitung des Namens Europa aus semitisch ereb = Abend (unmittel¬ 
bar oder durch Vermittlung von griechisch erebos) durch ihre Einfachheit. 2 

II) Asien 

Das etymologische Gegenstück dazu wäre der Nachweis, daß der Name 
Asien ebenfalls semitischer Herkunft sei und die ursprüngliche Bedeutung 

1) Ich verweise auch darauf, daß nach der Sage die geraubte Europa die 
Schwester des Phönikers Kadmos war, der über das böotische Theben 
herrschte. 

2) Neuestens (1936) hat allerdings Hans Philipp mehrere Einwände gegen 
die Deutung von Europa aus ereb erhoben. Für die Griechen sei „Europa“ 
nie ein Westland, sondern ein Nordland gewesen. Hekatäus von Milet soll 
als erster Erdteile unterschieden haben, u. zw. soll er, nach der Rekonstruk¬ 
tion seiner nicht erhaltenen Karte (517 v. Chr.) durch Sieglin, die Erdscheibe 
in eine Nord- (Europa) und in eine Südhälfte (Asien) zerlegt haben. Nach 
H. Philipps Gedankengang sei Europa nicht von Anfang an der Name eines 
ganzen Erdteils gewesen, sondern er hafte ursprünglich allein im nördlichen 
Randgebiet der Ägäis und in Nordgriechenland, an den thrakischen oder 
mazedonischen Küstengebieten. Europa sei also — wie das ja nach gewissen 
Deutungen auch für andere alte Erdteile gelte — der Name eines Rand¬ 
gebietes. So will z. B. nach Herodot VII, 8 der Perserkönig sein Heer zur Un¬ 
terwerfung der Griechen „durch Europa (also wohl: Thrakien) nach Hellas 
führen“. Wenn nun Europa wirklich ursprünglich der Name einer thraki¬ 
schen oder mazedonischen Landschaft war, so ist unser Erdteil nach H. Phi¬ 
lipp von dem Makel, einen semitischen Namen zu führen, befreit. Das Wort 
könnte dann der Sprache einer vorindogermanischen Bevölkerungsschichte in 
Griechenland, der der Karer oder der Leleger zugeschrieben werden. 


200 








nland habe. 1 Man hat denn auch Asia mit dem akkadischen 
^ylooischeri) Worte agu = Osten in Verbindung gebracht, aber dies 
' ^- ne Hypothese neben anderen. Andere auf semitischen Ursprung 
1>c . j enc j e Etymologien denken an hebräische Wurzeln, die dem Worte 
Astn die Bedeutung „Mittelland" oder „Glanzland" gäben. 

‘ ‘^ u £ ^j e Feststellung, daß als Asien ursprünglich nur ein Teil von Lydien 
bezeichnet wurde, der zwischen dem Tmolus-Gebirge und dem Kayster- 
floß gelegene, Solmsen Gewicht. Die an der kleinasiatischen Küste 
wohnenden Ionier hätten die Bezeichnung dieses landeinwärts liegenden 
Irischen Gebietes dann auf das Binnenland überhaupt ausgedehnt. 

* Auf Asioi (Arshi), den einheimischen Namen der Tocharer in Osttur- 
kestan (eines indoskythischen Volkes, d. h. eines indogermanischen Volkes 
mit mongolischem Einschlag) führt Sieg den Namen Asien zurück (Sit¬ 
zungsberichte der Preussischen Akademie, 1911). 

Der mythologische Personenname Asia — für die Tochter des Prome¬ 
theus nach Herodot, für eine Tochter des Okeanos und der Tethys nach 
Hesiod — ist wohl erst aus dem Erdteilnamen entwickelt. 


III) Afrika 

Die verschiedenen Deutungen des Erdteilnamens Afrika bewegen sich 
iast ausschließlich auf semitischem Sprachboden. Wir erwähnen 

a) die Ableitung aus dem hebräischen Männernamen Epher; so heißt 
nach 1 Moses 24, 4 einer der Enkel Abrahams aus seiner zweiten Ehe mit 
Keturah; 

b) die Ableitung aus dem hebräischen Männernamen Ophir; so heißt 
einer der Nachkommen Sems nach 1 Moses 10, 29. 

c) die Ableitung aus dem Namen des Landes Ophir, aus dem König 
Salomon zu Schiff Gold und Edelsteine, Pfauen und Affen bezog, das man 
aber heute nicht nur in Afrika (nach Peters und Frobenius in Südafrika), 
sondern auch in Südarabien (Oman), in Ostindien (wo es am Indus ein 
Hirtenvolk namens Abhira gegeben hat) und an verschiedenen anderen 
Stellen Asiens sucht. 

d) Eine andere Deutung denkt an hebräisch afar = trockene Erde, Staub. 


i) Länderbezeichnungen mit der Bedeutung „Land des Sonnenaufgangs“ 
sind nicht selten. Wir nennen z. B. Anatolien (von griechisch anatole = 
Anfang) und Nippon oder Japan (aus chinesisch jih-pen = Sonnen¬ 
ursprung). Man denke auch an die Bezeichnungen Orient (lateinisch oriens 
sol = aufgehende Sonne, zu oriri = sich erheben), L'evante (zu italienisch 
levare = sich erheben) und an den deutschen Ausdruck „Morgenland“. 


201 











e) Als Kuriosum sei die Ableitung von Afrika aus arabisch feriq 
visionsgeneral angeführt. 

f) Eine Etymologie von Afrika, die nicht auf semitische Wortwur*elQ 
zurückgeht, sondern auf indogermanische, aber nur als Wortwitz gewertet 
werden kann, findet sich in der Diderot-d’Alembertschen Enzyklopädie 
wo französisch Afrique in a-phrike zerlegt wird und daher bedeuten soll¬ 
kältelos, Land ohne Kälte. 

Daß im Namen Afrika semitische Sprachelemente stecken, kann als wahr- 
scheinlich gelten, denn das Gebiet, das die Römer zunächst als Afrika be- 
zeichneten, war tatsächlich ein semitisches. Das am Libanon beheimatete 
Seefahrervolk der Phönizier gründete im Altertum an vielen Küsten des 
Mittelmeeres (bis weit nach Spanien) Handelskolonien. In Nordafrika ent¬ 
wickelte sich aus den phönizischen Siedlungen um den Kern von Karthago 
das mächtige punische Reich. Mit diesen Puniern (in Erinnerung an die 
eigentliche phönizische Heimat am Libanon nannten sich die punischen 
Bauern noch zur Zeit des heiligen Augustinus Kanaaniter), deren Herr¬ 
schaft sich auch auf die Inseln Sardinien und Sizilien erstreckte, kamen dann 
vom 5. vorchristlichen Jahrhundert an die Römer in Berührung. Als die aus 
dem Zusammenprall der beiden Großmächte schließlich als Siegel? hervor¬ 
gegangenen Römer die erste Provinz in Nordafrika, nördlich der großen Syrte, 
errichteten, nannten sie diese nach den Afarika oder Awrighas, einem dort 
ansässigen — und wie auch die sonstige Bevölkerung des engeren kartha¬ 
gischen Gebietes wohl semitischen — Volksstamme: Africa. Dann dehnen 
sie diese Bezeichnung auf alle Länder der nördlichen Küste westlich von 
Ägypten aus. Ägypten selbst und Äthiopien zählte noch nicht zu Afrika. 
Die Griechen andererseits, denen Nord o s t afrika näher lag, hatten für 
diesen Teil eine umfassende Bezeichnung L i b y e, nach dem Volke 
der Libu oder Rbu in Cyrene, dem ersten Stamme, den sie dort ken¬ 
nen lernten. Auf dem Gebiete des heutigen Tripolitaniens und der Cyrenaika 
überschnitten sich die Bezeichnungen Africa (der Römer) und Libye 
(der Griechen). Während aber Libyen, die bei den Griechen übliche Be¬ 
zeichnung für den Erdteil Afrika, so weit es ihnen bekannt war, schlie߬ 
lich nur noch in eingeschränkter Bedeutung bestehen blieb, heute nur noch 
als Bezeichnung für den italienischen Kolonialbesitz in Nordafrika (Tripoli- 
tanien und Cyrenaika), hat sich die römische Bezeichnung Africa für den 
ganzen Erdteil durchgesetzt, dessen ganzer Umfang den abendländischen 
Völkern allerdings erst später bekannt geworden ist, als die Portugiesen ihn 
als die ersten umschifften. 


202 





IV) Amerika 

paß die von ihnen nacheinander entdeckten Küstenstriche mit dem vom 
lmeer aus bekannten afrikanischen Kontinente Zusammenhängen und 
1 , dem gleichen Erdteil zuzurechnen waren, konnten die Portugiesen 
l cht und mit Recht annehmen. Weniger leicht hatten es zur gleichen Zeit 
f! span ischen Entdecker, die nach dem fernen Westen segelten. Es ist allge- 
fL bekannt, daß Kolumbus einen Seeweg nach dem asiatischen Indien 
^chte und daß man, als die ersten Inseln in Mittelamerika entdeckt wurden, 
von Westindien" sprach, noch immer in der Voraussetzung eines 
ographischen Zus amm enhangs mit dem längst bekannten asiatischen In¬ 
dien (seither zur Unterscheidung Ostindien genannt). 1 

Per neue Erdteil mußte sozusagen zweimal entdeckt werden. Zunächst 
entdeckte ihn Kolumbus, als er am 12. Oktober 1492 seinen Fuß auf die 
Insel Guanahani setzte. Aber es mußte auch noch der Umstand entdeckt 
werden, daß ein neuer Erdteil entdeckt worden war. Dieses Verdienst wird 
dem Florentiner Amerigo Vespucci zugeschrieben. Vespucci, 1451 geboren, 
war viele Jahre im großen Kaufhaus des Lorenzo di Piero Francesco de Me¬ 
dici eines Vetters des berühmten Lorenzo, tätig. 1492 übersiedelte er nach 
Sevilla, wo das Haus Berardi eine Filiale der großen Florentiner Firma war. 
Im Jahre 1499, also sieben Jahre nach der weltgeschichtlichen ersten Fahrt 
des Genuesen, nahm Vespucci (vielleicht in Vertretung der Handelsinter¬ 
essen des Hauses Berardi) an einer Expedition des Alonzo de Hojeda teil 
und gelangte mit ihm nach Guyana, Venezuela, Nordbrasilien. In einem 
ausführlichen Briefe, den Vespucci im Jahre 1503 an seinen Freund, Gön¬ 
ner und früheren Chef Lorenzo di Medici schrieb, und in einem Reisebericht, 
den er an Soderini, den Gonfalonier von Florenz, schickte, stellt Vespucci 
einige unwahre Behauptungen auf, indem er angibt, daß er an mehreren 
Entdeckungs- und Forschungsreisen teilgenommen habe, insbesondere, daß 
er bereits im Jahre 1497 eine Expedition nach dem fernen Westen unter¬ 
nommen habe. In Wirklichkeit lebte er in jenem Jahre noch als Schiffs¬ 
makler und „Heringverkäufer", wie die strengen Kritiker des Florentiners 
höhnen, in Spanien. In Vespuccis Bericht an den Mediceer stehen aber ge¬ 


il Kolumbus hielt so eigensinnig an dem Gedanken fest, Teile des asia¬ 
tischen Kontinents gefunden zu haben, daß er auf der zweiten Fahrt die 
Mannschaften seiner drei Schiffe am 12. Juni 1494 veranlaßte, eidlich und 
schriftlich zu erklären, das entdeckte Land gehöre zu Asien, damit er dieses 
feierlich beglaubigte Dokument den Zweiflern entgegenhalten könne. Als 
Strafe sollte jedem Mitglied der Besatzung, das jemals das Beschworene in 
Abrede stellte, die lügnerische Zunge auf geschlitzt werden. 


203 












wichtige Worte über die neu entdeckten Gebiete: „es ist angemessen sie 
eine neue Welt zu nennen 1 '. Diesen (italienischen) Brief Heß Fra Gio 
vanni Giocondo, Dominikanermönch, Schiffs- und Brückenbauer, ins Latei 
nische übersetzen und 1504 in Paris veröffentlichen. Die Schrift fand 
große Verbreitung, wurde oft nachgedruckt, und die Bezeichnung M u n d u s 
Novus wurde allgemein. Im Sommer 1505 ließ der elsässische Dichter 
Matthias Ringmann bei dem Straßburger Drucker Matthias Hüpfuff eine 
neue lateinische Ausgabe des „Neue-Welt-Brief es" erscheinen. Im nächsten 
Jahre ließ Ringmann bei demselben Drucker — ohne Angabe von Drucker 
Übersetzer und Verlagsort — eine deutsche Übersetzung erscheinen unter 
dem Titel „Von den nüwe Inseln und landen so yetz kürtzlichen erfunden 
durch den Künig von Portugall." 1 

Das Verdienst des Vespucci besteht darin, durch die erstmalige Ver. 
knüpfung des Begriffes „neu" mit dem Begriffe „Welt" in seiner durch 
Übersetzen und Nachdruck stark verbreiteten Schrift die Grundlage für den 
stehenden Ausdruck „Neue Welt" geschaffen zu haben. Ähnliche Bezeich¬ 
nungen tauchten allerdings schon sofort nach Bekanntwerden der ersten 
Entdeckungen des Kolumbus (z. B. schon 1494 in Sebastian Brants Narren¬ 
schiff) auf (im Deutschen z. B. Newes Land, Nüwe Insulen, Neugefun¬ 
dene Inseln). Die Wirkung des! Vespucci ist im Grunde genommen die eines 
smarten Journalisten, der sich nicht scheut, den Mund möglichst voll zu 
nehmen und von einer neuen „Welt" zu sprechen, und bei der Prägung 
eines solchen Schlagwortes auch das Glück einer großen Publizität hat. 

Dieses Glück ging aber noch weiter. Am Gymnasium zu St. Die, dem 
Hauptort des Herzogtums Lothringen, das damals zum Deutschen Reich ge¬ 
hörte, bestand um jene Jahrhundertwende eine kleine Arbeitsgemeinschaft 
einiger tüchtiger Gelehrten. Von den beiden Elsässern Walter und Johann 
Lud war der erste, Sekretär des Herzogs Rene, ein wohlhabender Mann, 
was ihm ermöglichte, 1494 eine Druckerei zu errichten. Die Mitarbeiter der 
Brüder Lud waren die Kollegen: Matthias Ringmann, der als Übersetzer 
des Vespuccischen Briefes bereits genannte Dichter und Schulmann, der aus 
dem Badischen stammende Martin Waltzemüller, eigentlich Waldseemüller, 
der sich nach Mode der Humanisten auch Martinus Hylacomylus (oder 
Ilacomilus) nannte und der Kanonikus Jean Basin, der einzige Franzose in 
der Gesellschaft. 1507 erschien unter dem Namen von Waldseemüller- 


i) Vespucci stellte nämlich in seinem Briefe auch die unwahre Behaup¬ 
tung auf, er habe zwei Reisen im Dienste der portugiesischen Krone unter¬ 
nommen und daher ist auch im lateinischen Gedichte, das Ringmann dem Ves¬ 
puccischen Briefe hinzufügt, vom König von Lusitanien die Rede. 


204 






. omy ius in der Druckerei zu St. Die eine Cosmographiae Introductio, 
V Einführung in die Kosmographie des Ptolemäus, wohl eine gemeinsame 
A^eit der genannten Männer. Zu dieser Schrift wurde auch noch eine von 
Waldseemüller gezeichnete Weltkarte herausgegeben und diese war die 
erste gedruckte Karte, auf denen die überseeischen Entdeckungen der Spa¬ 
lier und Portugiesen eingezeichnet waren. 

* Auf dieser Karte erschien auch zum ersten Male die Bezeichnung Terra 
America für die neuentdeckten Gebiete. Zweifellos war eine Ehrung des 
Amerigo Vespucci damit beabsichtigt. Es heißt in der Cosmographiae 
Introductio: quam quin Americus invenit Amerigen, quasi Americi terra, 
sive America. (Aus einer Fußnote geht hervor, daß im Akkusativ Amerigen 
die griechische Wurzel ge = Erde gedacht war.) Es erscheint ziemlich son¬ 
derbar daß einige Schulmeister in einem Vogesenstädtchen sich anmaßten, 
einen großen Erdteil nach eigener Willkür zu taufen und noch dazu nach 
einem Manne, der an den Entdeckungen einen ganz geringen Anteil hatte. 
Vielleicht waren dabei irgendwelche Sonderinteressen im Spiel. Ringmann 
hitte sich besonders für die Verbreitung des Vespuccischen Neuweltbriefes 
eingesetzt und vielleicht war es gleichsam ein verlegerisches Interesse, den 
erfolgreichen „Verlagsautor" in der Öffentlichkeit mit allen Mitteln zu för¬ 
dern. Der Deutschamerikaner H. Charles führt in einem von affektiven 
Übertreibungen strotzenden Buche, das die Überschrift „Urdeutsch — All¬ 
deutsch — Made in Germany" trägt, viele Gründe dafür ins Feld, daß es 


Ringmanns Idee gewesen sein muß, den neuen Erdteil nach dem Vornamen 
Vespuccis zu benennen. Als Dichter sei er eben „entzückt vom romantischen 
Vornamen" gewesen 1 . Auch habe Ringmann damit einem urgermanischen 
Namen 2 zur Weltgeltung verhelfen wollen. 

Nach Veröffentlichung seiner „Weltkarte", scheint Waldseemüller doch 
Zweifel darüber bekommen zu haben, ob es berechtigt sei, die neuen Ge¬ 
biete nach Vespucci zu benennen, da ihm mittlerweile bekannt geworden 


1) „Ein gelehrter Pedant“, schreibt Oskar Peschei, „oder ein verknöcher¬ 
ter Bürokrat wäre nie auf so eine Idee gekommen.“ Wenn Vespucci nicht 
den hochtrabenden und zugleich wenig bekannten Namen Amerigo geführt 
hätte, meint Humboldt, oder wenn er in der Taufe, wie mehrere seiner 
Vorfahren Michael oder Romulus oder Blasius Vespucci genannt worden 
wäre, so würde man zu St. Die nicht daran gedacht haben, von diesem Na¬ 
men die Benennung des neuen Erdteiles zu entlehnen. 

2) Im germanischen Namen Amalrich, Amalareik (so hieß der Sohn des 
Gotenkönigs Alarichs II.) ist die letzte Silbe, —rieh, allerdings keltisches 
Sprachgut (vgl. S. 40 f). Eine bekanntere Nebenform von Amalrich (Amerigo) 
ist Emmerich (ungarisch Imre). 


205 











1 

sein dürfte, daß Vespucci den größten Teil der Reisen, deren er sich rühmte 1 
gar nicht unternommen hat. Auf der Karte, die Waldseemüller 1513 fü r * 
die Ptolemäus-Ausgabe zeichnete, und auch auf seiner 1516 veröffentlichten 
Seekarte (Carta Marina) erscheint jedenfalls der Name America nicht 
mehr. 

Aber es war bereits zu spät. Die in 1000 Exemplaren gedruckte Karte 
von 1507 war mittlerweile schon stark verbreitet 1 . 

Der große Anteil der Weltkarte von Waldseemüller an der Verbreitung 
des Namens Amerika blieb lange unbeachtet und so konnte die (von 
Hertslet zu den „Treppenwitzen der Weltgeschichte'' gezählte) Auffassung 
Platz greifen, Vespucci hätte dem von anderen entdeckten Kontinent ab. 
sichtlich durch schlaue Ränke den Namen Amerika verschafft. „Seit- 
sam", schreibt Ralph W. Emerson 1856, „daß das große Amerika den Na¬ 
men eines Diebes tragen muß. Amerigo Vespucci, der Heringhändler 
von Sevilla, der im Jahre 1499 als Untergebener von Hojeda ausfuhr und 
dessen höchster seemännischer Rang der eines Bootsmannmaates 2 in einer 
Expedition war, die niemals segelte, hat es in dieser lügnerischen Welt fer¬ 
tiggebracht, den Kolumbus zu verdrängen und die halbe Welt mit 
seinem unehrlichen Namen zu taufen." Das ist eine Über¬ 
treibung. Vespucci, der, wie es scheint, als erster erkannt hat, daß es sich um 
einen neuen Weltteil handelte, und den Begriff „Neue Welt" prägte, hat 
durch seinen Bericht, in dem er auch Beobachtungen anderer über Land 
und Leute der neuen Gebiete in großsprecherischer Weise als eigene Wahr¬ 
nehmungen ausgab, andere unbeabsichtigt dazu veranlaßt, wegen seines ver- 


1) Zu bemerken ist, daß auf Waldseemüllers Weltkarte 1507 (und auf 
den auf ihr beruhenden späteren Karten, z. B. auf der Weltkarte, die 1510 
von Henricus Glareanus, dem späteren Freiburger Professor, gezeichnet wurde) 
die Bezeichnung Terra America eigentlich nur dem südlichen Teil des 
neuen Erdteiles galt. Die von Kolumbus entdeckten westindischen Inseln und 
die spärlichen, damals schon bekannten Teile der Nordhälfte des Kontinents 
waren im Begriff „Amerika“ noch nicht enthalten, da man eben immer noch 
glaubte, man habe es bei diesen Gebieten mit Asien (Indien) zu tun. Auf der 
Karte von Glareanus ist die Terra Americana von Westindien und den nörd¬ 
lichen Gebieten durch einen Streifen des Ozeans und durch ändere Farben¬ 
gebung geschieden (Solmsen). 

2) Dem ist aber entgegenzuhalten, daß Vespucci — allerdings erst nach 
Verfassung und Veröffentlichung seiner Briefe über die „Neue Welt“ — 1508 
piloto mayor, Großlotse wurde, d. i. etwa Vorsteher eines hydrographischen 
Amtes zur Herausgabe amtlicher Seekarten. In dieser Eigenschaft dürfte er in 
seinen letzten Lebensjahren auch noch einige Reisen an die südamerikanische 
Ostküste unternommen haben. 


206 









• tlichen großen Anteils an den Entdeckungen die neuen Gebiete nach 
. Vornamen zu benennen, er selbst hatte sich aber keineswegs als 
f te j er Neuen Welt auf gedrängt und scheint sogar bis zu seinem 
1512 erfolgten Tode in keiner Weise die damals schon in Verbreitung be¬ 
findliche Benennung des neuen Erdteils gefördert zu haben. Sogar sein 
N T effe J uan Vespucci, der nach ihm das Amt eines Großlotsen bekleidete 
und im Jahre 1523 eine Weltkarte entwarf, hat auf dieser Karte nirgends 
ja, Namen Amerika verwendet. 

Daß der Erdteil zwischen dem Stillen und dem Atlantischen Ozean den 
Namen Amerika wegen eines läppischen Zufalls bekommen habe, weil eben 
einige Geographen und Kartenzeichner in einem kleinen Vogesenstädtchen 
das Verdienst eines große Töne machenden Briefschreibers und „Journali¬ 
sten" höher einschätzten als die heroische Leistung des wirklichen Entdek- 
kers oder weil buchhändlerische Interessen ihnen den Gedanken einer sol¬ 
chen kartographischen „Schiebung" eingaben, daß also Amerika nach dem 
Vornamen des Vespucci seinen Namen trägt, ist aber nicht unbestritten. Es 
gibt noch andere Etymologien des Wortes Amerika, die in ihm eingeborenen 
amerikanischen Sprachstoff, also indianische Sprachwurzeln vermuten. 
Drei solcher Deutungen nennen wir: 

a) Karl Lokotsch gibt eine aus dem Toltekischen an; die Bedeutung von 
Amerika wäre demnach: großes Gebirge (zu merik = Berg, ike = groß). 

b) Im Jahre 1888 gab der Amerikaner Thomas de St. Bris folgende Deu¬ 
tung: Die Augsburger Handelsherren Welser, die von Karl V. das Land 
Venezuela bekamen, fanden dort einen Ortsnamen Ameraca und nannten 
diesen im Bericht an den Kaiser, der dann seinen Kartographen Mercator 
beauftragte, den Namen Amerika über den ganzen Erdteil zu schreiben 
(worunter damals nur Mittel- und Südamerika gemeint war). 

c) Im Jahre 1875 stellte der französische Amerikanist Jules Marcou im 
Bulletin der Geographischen Gesellschaft in Paris folgende Behauptungen 
auf. Als Americ oder Amerrique wurde eine Bergkette östlich vom Nikara¬ 
guasee zwischen Juigalpa und Libertad bezeichnet; wie Thomas Belt 1872 
feststellte, heißt ein goldführendes Gebirge in Nikaragua heute noch Sierra 
de Amerique oder de Amerriques; ebenso nennen sich die dort lebenden 
Indianer Ameriques oder Ammerisques. Das Land wurde von Kolumbus 
auf seiner letzten Fahrt entdeckt, wenn auch weder er, noch irgend ein an¬ 
derer Entdecker und Schriftsteller im 16. und 17. Jahrhundert den Namen 
verwendete. Kolumbus ließ sich von der Mosquitoküste Zu den Ammerisques 
führen, welche Indianer besonders dadurch auffielen, daß sie ganz nackt 
gingen, um den Hals aber goldene Spiegel trugen. Da dieses Land großen 


207 







Eindruck machte auf die Begleiter des Kolumbus, verbreitete sich sein Natu 
Amerique, der in der Sprache der dortigen Indianer die Bedeutung „Gold 
land" hatte, bald unter den Seeleuten über alle Häfen Westindiens und au^ 
Europas. Americus ist nach Marcou nicht der echte Vorname des Vespuccj 
sondern Albericus 1 . Waldseemüller machte aus Versehen oder Mißverständ* 
nis aus Albericus den Vornamen Americus, also hat der Erdteil Amerika 
nicht seinen Namen nach Amerigo Vespucci, sondern umgekehrt, Vespucci 
hat die Abänderung seines ursprünglichen Vornamens zu Amerigo dem 
neuentdeckten Land zu verdanken. 

Dreizehn Jahre später trat Marcou neuerdings für die indianische Her. 
kunft des Namens Amerika ein, diesmal mit einer Modifizierung. Nicht Ko- 
lumbus habe 1502, sondern Vespucci selbst 1497 die Küste von Honduras 
entdeckt und folglich auch den Namen des Goldlandes Americ gehört. 
Vespucci selbst habe nach dieser glänzenden Entdeckung um 1503 sich den 
Namen Amerigo (Americus) beigelegt, ebenso wie römische Feldherren 
sich Germanicus, Africanus oder Asiaticus nannten. 

Marcous Hypothese wurde 1899 von S. Rüge bekämpft 2 . Daß Vespucci 
den Vornamen Amerigo nicht erst nach den überseeischen Entdeckungen 
angenommen habe, sondern bereits in der Wiege trug, wurde auch dadurch 
bestätigt, daß nachgewiesenermaßen sich unter den Vorfahren Vespucds 


1) Richtig ist, daß in einigen Ausgaben des Briefes über die Neue Welt 
Vespucci nicht Americus, sondern Albericus genannt wird. Sogar auf der 
zweiten Seite der von uns erwähnten ersten deutschen Übersetzung (durch 
Ringmann, Straßburg 1506) heißt es: »Von der nüwen Welt Albericus 
Vespotius sagt vil heils und guts laurentie petri de mediciis.“ 

2) Die Hypothese von der nichteuropäischen Herkunft des Namens 
Amerika, d. h. die Hypothese, dieses Wort habe unabhängig von Amerigo 
Vespucci und noch vor der Entdeckung des Kolumbus auf dem Erdteil der 
westlichen Halbkugel bereits bestanden, hat neuerdings von unerwarteter 
Seite Sukkurs erhalten. Wie ich aus Zeitungsberichten ersehe, wurde im Sep¬ 
tember 1936 in der Türkei auf dem Dil Kurultay, dem „Fest der Sprache", von 
verschiedenen wissenschaftlichen Rednern in Gegenwart Atatürks,' des Staats¬ 
oberhauptes, die neue türkische „Sonnen-Sprachtheorie" ver¬ 
fochten. Die Sonne mit ihrer Wärme habe der menschlichen Kehle die ersten 
artikulierten Laute, die ersten Vokale, Konsonanten und Worte entlockt. 
Unter diesen Konsonanten gäbe es einige, die sich nur in der türkischen 
Sprache finden. Die ersten Laute, die sich zu den ersten Wörtern verbanden, 
seien türkisch gewesen, die türkische Sprache sei durch die Türken aus Zen¬ 
tralasien in die benachbarten Länder und schließlich in die ganze Welt ge¬ 
tragen worden. Das Wort Amerika finde sich als „Emerik" im Jakutischen, 
das zu den Türksprachen gehört (P. Holzingers Kongreßbericht im Berliner 
Tageblatt). 


208 










mehrere mit dem Vornamen Amerigo befinden. Im Jahre 1497 habe Ves- 
• ne Entdeckung machen können, da saß er in Sevilla. Wohl hatte 
P dann in seinem Briefe an Soderini angegeben, er habe bereits 1497, also 
früher als Kolumbus Festland gesehen, aber bereits Las Casas, der berühmte 
Apostel der Indianer“, erhob gegen Vespucci die schwere Anklage der be¬ 
sten Fälschung. 


V) Australien 

Schon im Altertum hatte man, wie manche Landkarte bezeugt, die Ver¬ 
mutung, es müsse sich südöstlich von Afrika noch eine „andere Welt“ 
(alter orbis), ein großer Kontinent befinden. Man nannte ihn lateinisch: 
terra a u s t r a 1 i s incognita, unbekanntes Süd land. 

Das Wort australis gehört zweifellos jener indogermanischen Wort¬ 
sippe an, aus der die sprachvergleichende Wissenschaft auf eine Urwurzel 
ausos“ = Morgenröte schließt. Zu dieser Sippe gehören die Morgenröte¬ 
bezeichnungen im Altindischen, usas, im Griechischen, eos, im Lateinischen, 
aurora (frühere Form ausosa 1 ). Da die Morgenröte im Osten erscheint, 
entwickelten sich aus der gleichen Wurzel auch die Bezeichnungen für 
diese Himmelsrichtung. Das althochdeutsche ostan führt zu unserem Osten, 
das angelsächsische east nicht nur zum neuenglischen Wort, sondern 
auch zu französisch est. Wortgeschichtlich wichtig sind auch die germani¬ 
schen Formen für „im Osten“: althochdeutsch ostar, angelsächsisch eastene; 
„nach Osten“: althochdeutsch ostar, angelsächsisch eastan, altnordisch 
austr; „von Osten“: althochdeutsch ostana, angelsächsisch eastan, altnordisch 
austan. Hier ist auch die — allerdings nur bei Beda erwähnte und daher 
umstrittene — angelsächsische Frühjahrsgöttin Ostara zu nennen. Auch 
Ostern, althochdeutsch ostarun (die deutsche Entsprechung für hebräisch 
passah, das zu kirchenlateinisch pasca, gotisch paska führt), der Name 
jenes jüdisch-christlichen Festes, das bei den Germanen einfach nur die Stelle 
eines vorchristlichen Festes einzunehmen brauchte, gehört zur gleichen 
Wortsippe; schon das Wort Ostern selbst spricht dafür, daß es sich 
ursprünglich um den heidnischen Kult der Morgenröte, im Besonderen um 
die Feier der germanischen Tageslichtgöttin bei Frühjahrsanbruch handelte. 

Bei den Italikern hatte aber, wie schon erwähnt, australis nicht die Bedeu¬ 
tung von östlich, sondern die von südlich. Auch bezeichneten die Römer 


i) Uber die Verwandlung des s zu r (ausosa — aurora) s. den Abschnitt 
Rhotazismus in „Wörter und ihre Schicksale" (im Anschluß an das Stichwort 
„Hoffart"). 


14 Btorfer • Sprache 


209 











den S ii d wind als auster. Wie konnte es zu dieser Verwirrung der Himmels- 
richtungen kommen? 

Die Apenninische Halbinsel erstreckt sich von Nordwesten nach Sud- 
osten. Das Unbewußte, das für Wortbildung und Namengebung nicht von 
minderer Wichtigkeit ist als das genaue naturkundliche Wissen, läßt sich 
aber nicht auf die Feinheiten „halber' Himmelsrichtungen ein. So wie wir ) 
wenn wir von Mailand nach Brindisi gefahren sind, nicht etwa sagen, wir 
seien nach dem Südosten gefahren, sondern vereinfacht: nach dem Süden, 
obschon wir uns auf dieser Fahrt erheblich weiter nach Osten, als nach dem 
Süden entfernt haben, so vereinfachte sich der Italiker des Altertums sein Bild 
von der Lage seiner Halbinsel derart, daß er sich schematisch sie von Westen 
nach Osten erstreckt vorstellte. Auch auf den Karten des Altertums ( 2 . B. 
auf jener des Ptolemäus, ungefähr um 150 n. Chr.) erscheint 2ufolge über¬ 
mäßiger Längeerstreckung des Mittelmeeres die Achse Italiens stark nach 
Osten abgelenkt. Andererseits war in anderen Vorstellungen, die unmittel¬ 
bar vom Bild der aufgehenden Sonne ausgingen, die Richtung des Ostens 
unverrückbar, so daß es naturgemäß dazu kommen konnte, daß die Vor¬ 
stellungen Osten und Süden einander näherrückten und daß man auch 
den Wind, der tatsächlich aus dem Süden oder aus dem Südosten kam, 
mit einem Worte bezeichnete, der von einer den Sonnenaufgang, also die 
Richtung des Ostens bezeichnenden Wurzel stammt. 

Aber auch einen zweiten Umstand möchte ich zu bedenken geben. Man 
betrachte eine Karte des alten römischen Reiches. Im Westen reichte das 
Imperium weit nordwärts bis nach Schottland, indes die südlichsten Aus¬ 
läufer des Reiches im Osten (in Südägypten) zu sehen sind. Dieser Expan¬ 
sion Roms nach Nordwesten und nach Südosten entsprechen auch ungefähr 
die damaligen geographischen Kenntnisse. So begrenzte z. B. der Hadrians¬ 
wall die Kolonie Britannia ungefähr in 55 Grad nördlicher Breite, aber was 
weiter ostwärts ungefähr so nördlich lag, z. B. die Gebiete der heutigen 
Hauptstädte Kowno und Moskau, war den Römern völlig unbekannt und 
schon weit draußen über die Grenzen der bekannten Welt. Andererseits 
reichten im Osten die geographischen Kenntnisse verhältnismäßig weit süd¬ 
wärts, nilaufwärts weit über Theba hinausgehend, während im Südwesten 
das Weltbild des Altertums in diesen geographischen Breiten bereits große 
weiße Flecken aufwies. 

Aus diesen Umständen erklärt sich hinreichend die Verlötung der Vor¬ 
stellungen Süd und Ost und damit die Bezeichnung „auster * (eigentlich 
der „Östliche“) für den Südwind und die Bezeichnung terra australis 
incognita für den vermuteten südlichen Erdteil. 


210 









Lange vor der Entdeckung Australiens mußte aber das Wort australis, 
. w mancher seiner Abkömmlinge, vorerst für geographische Bezeichnun¬ 


gen 


innerhalb Europas herhalten. Der Namen Ostarrichi (öster¬ 
lich) taucht urkundlich zwar erst 996 (in einer Urkunde Kaiser Ottos 
HI) auf, aber schon das Fränkische Reich zerfiel seit 561 in einen west- 
Phen Teil, Neuster genannt (oder Neustrien, wahrscheinlich aus niwester 
- niederwestwärts) und in einen östlichen, Auster oder Austrasien. Jenes 
•"imfaßte Nordwestfrankreich und das Land bis zur Schelde, dieses reichte 
von Nordostfrankreich bis über den Rhein. Auch das langobardische Reich 
kannte eine Scheidung von Oberitalien in Neustria und Austria, die Grenze 
b : Uete die Adda. Aus deutschen Geschichtsquellen des 8. Jahrhunderts geht 
hervor, daß damals der Name Austria im Sinne eines Teiles von Ostfran¬ 
ken gebraucht wurde, das ungefähr den jetzigen fränkischen Teilen Bayerns 
entspricht. Es ist eine naheliegende Vermutung, schreibt Oberhummer, daß 
Jie aus jener Gegend stammenden Babenberger nach ihrer Belehnung mit 
der Markgrafschaft 976 den Namen Österreich in die Kanzleisprache ihres 
neuen Landes einführten und ihm so neue Geltung verliehen. Die Bezeich¬ 
nung Österreich war jedenfalls bei der Erhebung der Mark zum Herzog¬ 
tum (1156) bereits vorhanden; „sie ist der Ausfluß eines gehobenen Macht¬ 
bewußtseins und einer neu erworbenen Machtstellung des bisherigen mark¬ 
gräflichen Landesherren" (K. J. Heilig). In lateinischen Geschichtsquellen 
kommen bis ins 16. Jahrhundert die Bezeichnungen terra australis für 
Österreich (oder marchia orientalis, Ostmark), australes für Österreicher vor. 
Auch die lateinische Bezeichnung austrasii für die Bewohner der Ostmark 
ist für das 13., 14. und 15. Jahrhundert mehrfach belegt. In der byzantini¬ 
schen Chronik des Johannes Kinnamos (um 1200) heißt Heinrich Jasomir- 
gott: Errikos doux Ostrichion. Dante spricht vom Lande Ostric. Im Fran¬ 
zösischen wird Austriche zu Autriche. Der ungarische Nachbar nennt den 
Österreicher: oszträk. 


Demnach haben also die Namen Austria, Australia, Austrasia eine 
doppelte Bedeutung: sie dienten der Bezeichnung der östlichen Teile euro¬ 
päischer (merovingischer, karolingischer, Iangobardischer) Reiche, entledig¬ 
ten sich aber dessen ungeachtet auch nicht jener älteren Bedeutung, die sich 
auf den vermuteten unbekannten südlichen Erdteil bezog. 

Mit Beginn der Neuzeit, der Auffassung der Erde als einer Kugel, mit 
dem Einsetzen der großen Entdeckungsreisen nach allen Richtungen, bekam 
das Interesse für die terra australis incognita neuen Antrieb. Es müsse dort, 
meinte man, schon darum noch ein großer Kontinent vorhanden sein, weil 
die schon bekannten Landmassen der südlichen Halbkugel nicht hinreichend 


14* 


211 







seien, den Ländern der nördlichen das Gleichgewicht zu halten (Ober¬ 
hummer). Als Pedro Fernandez de Quiros, der seine Reisen im Dienste 
Philipps III. unternahm, am 3. Mai 1606 eine zu der Gruppe der Neuhebri- 
den gehörende Insel entdeckte, die er für das große unbekannte Südland 
Terra australis hielt, nahm er mit großem Pomp „Besitz von dieser Bai, 
genannt San Felipe y Santiago, und ihrem Hafen Vera Cruz... vmj 
von allen Ländern, welche ich gesehen habe und sehen werde, und von die¬ 
sem großen Teil des Südens bis zum Pol, der von nun an heißen soll 
la Austrialia del Esplritu Santo, mit allem, was dazu gehört." Quitos 
gebraucht bewußt statt Australia: Austrialia, um noch deutlicher an Austria- 
Österreich als die Heimat der habsburgischen Dynastie Spaniens zu erinnern, 
wie auch aus seinen Worten in der 1607 veröffentlichten Denkschrift an 
den König deutlich hervorgeht: por felice memoria de V. M. y por el 
apellido de Austria. Man ist fast geneigt anzunehmen, schreibt Lodewyckx, 
daß Quiros selbst das Wort austrial, anlehnend an Austria, als eine feierliche 
Nebenform von austral geprägt habe. Trotz dieser Anlehnung an Austria 
habe aber auch er bei der Benennung seiner Entdeckung in erster Reihe 
einen Namen finden wollen, der dasselbe besagte, wie der Zu ersetzende 
alte Name Terra australis. Die Form Austrialia setzte sich aber nicht durch 
und selbst Australia blieb zunächst nur eine vage Bezeichnung für neu ent¬ 
deckte Gebiete südöstlich von China. 

Gleichzeitig ungefähr mit den Entdeckungen des Quiros stießen hollän¬ 
dische Seefahrer an verschiedenen Punkten auf die Küste des australischen 
Festlandes, aber es dauerte noch viele Jahrzehnte, bis die Umrisse dieses 
Kontinents in groben Zügen einigermaßen festgelegt waren. Auch hatte 
man die Hoffnung, einen ganz großen — etwa an Größe mit Asien wett¬ 
eifernden — Kontinent in der Südsee zu finden, noch nicht ganz aufgegeben 
und den Namen Australien, der seit dem Altertum darauf wartete, einem 
Erdteil verliehen zu werden, daher offiziell noch nicht verausgabt. Das 
australische Festland hieß zunächst — seit der Entdeckungsreise Abel Tas- 
mans — Neu-Holland. 1772—1775 widerlegte James Cook auf seiner 
zweiten Weltumseglung endgültig die alte Vorstellung von einem die Süd¬ 
halbkugel ausfüllenden Festland. Unter seinen Begleitern befand sich auch 
der deutsche Pfarrer Johann Reinhold Förster, der dann Professor der 
Naturgeschichte in Halle wurde. Förster war es, der besonders nachdrück¬ 
lich dafür eintrat, man müsse die Insel „Neu-Holland" als einen selbstän¬ 
digen Erdteil ansehen, — aber diesmal wiederholte sich nicht der Fall 
Amerigo Vespucci—Amerika, der neue Kontinent bekam weder den Namen 
Johannia, noch den Namen Reinholdia, es setzte sich vielmehr der seit 


212 












n*ehr als anderthalb Jahrtausenden für jene terra incognita bereitgestellte 
Australien schließlich durch, u. zw. ohne jenes zum höheren Ruhme 
^ Hauses Habsburg-Österreich eingeschmuggelte „i". 

Eine Zeitlang blieb Australien die zusammenfassende Bezeichnung für 
Jjs Festland und für die Inseln im Stillen Ozean und in der Südsee, 
neuerlich ist es aber üblich, unter Australien nur das Festland zu ver¬ 
stehen und für die mikronesische, melanesische und polynesische Inselwelt 
jie zusammenfassende Bezeichnung Ozeanien zu gebrauchen. 


213 







1 


Über Sprachmengerei 


I) Makkaroni 


Mit scherzhafter Anlehnung an das Wort Mausoleum erfanden froh- 
mutige Soldaten im Weltkrieg den Namen Lausoleum für jene wohl¬ 
tuenden Anstalten, in denen sie — lauseamus igitur singend — Kleidung 
und Wäsche von den „Bienen", den „stillen Marschierern", reinigen 
ließen. 1 Vor einiger Zeit brachte in Wien eine Fabrik als Ersatz für Lino¬ 
leum einen Bodenbelag in den Handel, den sie Strapazoleum nannte; worauf 
ein Pfarrer aus der Gegend von Efferding in einer entrüsteten Zuschrift an 
eine Zeitschrift forderte, man solle dann in Hinkunft auch Tanzoleum für 
Tanzboden und Wandoleum für Tapete sagen. 

Dieser sprachlichen Methode, deutschen Wörtern griechische oder latei¬ 
nische Endungen anzuhängen, hat sich der Volkswitz stets gerne bedient. 
Vor dem Krieg nannte man in Berlin einen mit Cadiner Kacheln belegten 
Saal bei Kemp inski in der Friedrichstadt Kachilleion. Um den Witz zu 
würdigen, muß man sich dessen erinnern, daß die Cadiner Porzellanfabrik 
Wilhelm II. gehörte und Schloß Achilleion auf Korfu ebenfalls. 2 

Das Versehen von Wörtern einer lebenden Sprache mit griechischen 


1) Eine andere feldgraue Verquatschung von „Mausoleum“ ist das soldati¬ 
sche Scherzwort für den Fernsprecher: Mauscholeum (Synonym von 
Plapperschlange, Meilenzunge, Flüsterholz, Quasselstrippe usw.). 

2) Nebenbei bemerkt, klingt das scherzhafte Kachilleion nicht nur an das 
Schloß Achilleion an, sondern auch an das au? dem Rotwelsch in verschiedene 
deutsche Mundarten gedrungene Zeitwort a c h e 1 n = essen und seine Weiter¬ 
bildungen (z. B. Achill == das Essen, Achillsore = Eßware, achelkess = hung¬ 
rig, Achelputz = Gefängniskost). Acheliniken kommt, sagt man, wie schon 
Zimmermann 1847 notierte, in Berliner Gefängnissen, wenn das Mittagessen 
gebracht wird. Als Max Reinhardt einmal eine größere Gesellschaft Wiener 
Journalisten auf Schloß Leopoldskron bei Salzburg geladen hatte und diese 
durch die lange Besichtigung der baulichen Schönheiten schon ermüdet waren, 
seufzte ein besonders Hungriger halblaut auf: Nun möchte ich aber endlich 
schon das Achilleion sehen. 


214 









oder lateinischen Endungen geht auf einen Renaissancescherz zurück. Die 
Literaturwissenschaft hat für Scherzdichtungen, in denen solche Sprach- 
tnengerei vorherrscht, in denen also Wörter der eigenen Sprache grammati¬ 
kalischen Gesetzen einer fremden unterworfen werden, den alten Fachaus- 
druck „makkaronische Poesie'* beibehalten. Der Erfinder dieser 
Gedichtsgattung ist der 1488 verstorbene paduanische Dichter Tifi degli 
Odasi (Typhis Odaxis). In seinem Carmen Macaronicum 1 erscheinen italie¬ 
nische Wörter lateinisch dekliniert und konjugiert. Bald nachher, in der 
ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts, hat der Benediktiner Teofilo Folengo 
von Mantua, mehr bekannt unter den Decknamen Merlin Cocai und Coc- 
cajo Limerno Pitoco, durch parodistische Ritterepen das Makkaronisieren 
volkstümlich gemacht. Andere italienische Makkaronisten sind Bassano von 
Mantua, Alione von Asti, Fossa von Cremona. Durch die Neigung des 
Cinquecento zur Parodie des Feierlichen und Erhabenen (Burckhardt) wurde 
diese Kunstgattung, die auch poesia pedantesca 2 genannt wurde, jedenfalls 
stark begünstigt. 

Das in Italien gegebene Beispiel der Sprachmischung wurde in Frank- 


1) Wie Tifi degli Odasi dazu kam, seine Kunstform als makkaronisch zu 
bezeichnen, ließ sich bisher nicht aufklären. Es soll im letzten Jahrhundert des 
Mittelalters eine secta maccaronea gegeben haben, eine Gesellschaft von grund¬ 
sätzlich groben Männern, und der Name dieser Gesellschaft, dem ein Ver¬ 
gleich mit der Grobheit jener Nudelart zugrunde liegen soll, mag vielleicht den 
Anlaß zur Benennung der makkaronischen Poesie gegeben haben. Zu beachten 
ist auch, daß viele Völker ihre komische Figur, ihren „Hans wurs t“, nach 
einer Lieblingsspeise benennen. Man denke an die französische Gestalt des Jean 
Potage, die ungarische des Paprika JancsL Auf entlegene Belege weist Fritz 
Mauthner hin: guru paramantar („Lehrer Nudel“) heißt in einer Provinz In¬ 
diens der beliebteste Spaßmacher; Calderon nennt in seinem Drama „El gran 
Principe de Fez“ den Hanswurst „Alkuskus“, nach dem Lieblingsgerichte der 
afrikanischen Araber (al kuskus ist eine makkaroniartige Teigware). Vielleicht 
also darf im Namen der „makkaronischen Poesie“ ein Niederschlag des bei 
verschiedenen Völkern festgestellten Zusammenhangs zwischen der Benennung 
der Spaßmacher und der Spaßmacherei und dem Namen von nationalen Lieb¬ 
lingsspeisen gesehen werden. — In vielen Ländern werden die Italiener als 
„Makkaroniesser“ geneckt. Im Weltkrieg hießen bei den englischen Soldaten 
die Angehörigen der verbündeten italienischen Armee: the macaronies. Früher 
hatte macaroni im Englischen auch die Bedeutung: Stutzer. 

2) P e d a n t ist hier nicht in der heutigen Bedeutung von Kleinigkeitskrä¬ 
mer, Splitterrichter zu verstehen, sondern im älteren italienischen Sinne: Schul¬ 
meister, von griechisch paideuein, Kinder erziehen. Der Übergang von Pedant 
= Pädagoge zu Pedant == Kleinigkeitskrämer wird verständlich, wenn wir 
daran denken, daß auch das deutsche Wort Schulmeister diesen zweifelhaften 
Beigeschmack bekommen hat. 


215 











"1 

reich besonders vom sprachgewaltigen Rabelais auf gegriffen; man sehe sich 
im Gargantua das 19. Kapitel des I. Buches an 1 . (Viele Makkaronismen vo n 
Meister Rabelais — z. B. sorbonicolificabilitudinissement — sind gleich¬ 
zeitig auch Beispiele für jene Wortmonstrosität, die wir im Abschnitt 
„Aristophanische Wortzusammensetzungen'' behandeln.) Im 16. Jahrhun¬ 
dert faßte die Scherzgattung des Makkaroni auch in Deutschland Fuß. Das 
älteste Erzeugnis des Makkaroni in Deutschland ist ein Heinrich Glareanus 
zugeschriebener und aus sieben Verspaaren bestehender protestantischer 
Mahnruf an die Führer des schmalkaldischen Bundes aus dem Jahre 1543 , 

Der Rabelais-Übersetzer Fischart (er schreibt einmal: sic jacet in drecko, 
qui modo reuter erat) verlieh dann dieser Poesieart einen deutschen Namen: 
Nuttelverse (Nudelverse) ; vielleicht hängt das später auftauchende 
Wort Knüttelverse mit dieser Übersetzung von Makkaroni zusammen. 1593 
erschien ein seither oft neu aufgelegtes deutsches makkaronisches Epos, die 
anscheinend von einem Hamburger verfaßte F1 0 i a (Flohiade). Es handelt, 
wie aus dem langen Untertitel ersichtlich, von flois, die die Menschos, Man- 
nos, Weibras, Jungfras behuppere et spitzibus suis schnaflis stekere solent. 
Besonders die deutsche studentische Literatur bediente sich gern makkaro- 
nischer Wendungen. Im Trinkrecht (jus potandi) gibt es Paragraphen wie: 
qui bibit ex neigis, ex frischibus incipit idem, wer zur Neige trinkt, fängt 
von frischem an. 1772 veröffentlichte der Deutsch-Franzose J. Doucement 
eine Lustitudo studentica. Es gibt ganze Balladen und Epen im studenti¬ 
schen Makkaroni. Da kommen Stellen vor wie: sterni leuchtunt, oder monus 
scheinet ab himmlo, oder nachtwaechteri veniunt cum spiessibus atque 
laternis, oder schlaxiut jam zwelfius ura. Auch Börries von Münchhausen 
verschmähte nicht zu dichten: totschlago vos sofortissime, nisi vos benehmi- 
tis bene. 

Aber nicht nur in scherzhafter Gedichtform kommt das deutsche Wort 
mit fremder Endung vor, gelegentlich ist dies auch ein normales 
Wortbildungsprinzip. Die Anwendung ist in der Regel zuerst eine 
scherzhafte, außergewöhnliche, improvisierte, oft verbleibt aber das so gebil¬ 
dete Wort dauernd im Wortschatz der Umgangssprache. Solche schließlich 
in das Bürgerrecht der Sprache auf genommene Makkaroni Wörter sind z. B.: 
amtieren, buchstabieren (bis Mitte des 17. Jahrhunderts hieß es noch buch- 


1) Einige Beispiele aus diesem Gargantuakapitel (wir stellen neben die 
Makkaronismen des französischen Originals die deutschen der Übersetzung 
von Hegaur und Owlglaß): Date nobis clochas nostras (glockas unsras). Vu tis 
etiam pardonos (ablassum)? Per diem, vos habebitis et nihilis payabitis 
(zahlebitis). 


216 

























ben) drangsalieren, grillisieren (seinen Grillen d. h. Launen, Verstim- 
^ aen nachhängen), halbieren, 1 irrlichterieren, hausieren, inhaftieren, 
h ttieren 2 , gastieren 3 , sinnieren, hofieren, stolzieren 4 , Harfenist, Hornist 5 , 
Lieferant, Schlendrian (bei Weber-Demokritos sogar Schlendrianist), Gro- 
brn (schon 1494 bereichert mit ihm Sebastian Brant die Liste der Heiligen: 

nuwer heyling heißt Grobian, den will yetz fyren yedermann). Meistens 
vor es die Studentensprache, die den Übergang in die allgemeine Umgangs¬ 
ache ermöglichte. So entstanden Wörter wie Kneipant, Paukant, Moge- 
lant Prellant, Bummelant, schnabulieren, erlustieren, tollisieren (Sebastian 
Frank: was ist anders dollisieren denn irrgehen im Gemüt), anordnieren 
(hei Fritz Reuter), schulmeisterieren, schlechtissime, sich verdünnisieren 
(sächsisch: sich dünne machen, verschwinden), dorfatim, gassatim (daraus 
mundartlich gassatengehen = nachts durch die Straßen bummeln, Unfug 


1) Halbieren ist nach Kluge-Götze die älteste, schon im Mittelhochdeut¬ 
schen belegte Mischbildung auf -ieren. 

2) Vor einiger Zeit schrieb der „Würzburger Anzeiger 46 , man solle in hei¬ 
ßen Tagen „die Pflanzen schattieren“, was nicht etwa eine Anweisung für 
Zeichner war, sondern der Rat, den Pflanzen Schatten zu verschaffen. Eine 
andere bayrische Zeitung leitartikelt über „Nordisierung“. 

3) Gastieren tritt zuerst 1669 bei Grimmelhausen auf, und zwar im Sinne 
von bewirten; noch bei Goethe wiederholt mit dieser Bedeutung, z. B. „gut 
gastierte sie mich“ im Reineke Fuchs. Gastieren im intransitiven Sinne (als 
Gast auftreten) erscheint zuerst bei Jean Paul, 1795. 

4) Die Endung -ieren wirkt schon ganz deutsch, die fremde Herkunft zeigt 
sich aber auch darin, daß die mit dieser Endung gebildeten Zeitwörter eben 
auf dieser Endung und nicht, wie die echt deutschen, auf dem Stamme betont 
werden. Kieseritzky sieht im Gebrauch von -ieren ein Mittel zur Pflege des 
Satztones. Gelegentlich wird aber das -ieren abgestreift und durch das ein¬ 
fachere -en ersetzt; dieser Vorgang, fordert Th. Matthias, soll anerkannt und 
nachgeahmt werden. „Kein volkstümelnder Darsteller sollte mehr auf einst 
häufigere Formen wie wandelieren, schwänzelieren, dokterieren, schmausieren 
statt wandeln usw. zurückgreifen... Schon Matthison sagt harfen statt har- 
fenieren, die Grimm mit dem Volke drangsalen statt drangsalieren, die Süd¬ 
deutschen (wieder oder noch) buchstaben statt buchstabieren.“ — Die Endung 
-ieren kommt übrigens von der französischen Infinitivendung -ier. „Es muß als 
die roheste Auffassung anständiger Gestalt angesehen werden“, schreibt Grimm, 
„daß der Deutsche in seiner Nachahmung das infinitivische Zeichen aufnahm 
und charakteristisch überall bestehen ließ, sein eigenes Zeichen noch dazu an- 
liängte: außer dem Fleisch des genossenen Apfels ließ er sich auch den Griebs 
dazu wohlschmecken.“ 

5) Anfangs 1937 veröffentlichte ein Bremer Kreis eine besonders freie Ver¬ 
deutschung des Johannesevangeliums. Im Geleitwort von Bischof Weidemann 
heißt es: „Alle Buchstabilisten dürfen sich über uns ärgern.“ 


217 








und (angelehnt an gravitätisch) grobitätisch, Schwulität, Wuppdi^ 
Landratur, schluckzessive und zickzackzive (wie sukzessive), und das alle! 
ist meistens auch „burschikos". 

Wenn Schopenhauer aufwallte,, flössen ihm kräftige Zwitterwörter aus 
der Feder, wie: maulschellieren, Schmierazius, Lumpazität. Franz von Lis*t 
wandelte einmal den Spruch von der Welt, die betrogen werden will wie 
folgt ab: Mundus vult Schundus. Heine makkaronisierte einmal in einem 
Brief: Schnödität. Andere Autoren gelegentlich: Schiefität, Kühlität, Alber 
tät, Filzität. Der Jungdeutsche Orden prägte kurz vor seiner 1933 erfolgten 
Auflösung das Schlagwort Parteiismus, und sein Hochmeister erwiderte auf 
Einsprüche, das Wort solle nur getrost häßlich sein, denn es bezeichne eine 
häßliche Sache. In Fachzeitschriften findet man: kellnerieren, schneiderieren 
(sich vorübergehend unzünftig als Kellner, als Schneider betätigen), gärtne- 
risierte Landwirtschaft, altertümisierende Sprache. Das Hessen-Nassauische 
Volkswörterbuch verzeichnet aus der Gegend von Homburg v. d. H. das 
Sprichwort: Wo nicht ist Mistus, ist auch kein Christus (ohne Dung kein 
Erntesegen). Das Wienerische verfügt über: Lagerist, Spurius (Spürsinn, 
Ahnung, Verdacht) und über Schimpfwörter wie Blödist, Fadist, Schäbian, 
Schmutzian, Fadian. Das niederdeutsche Wort Sammelsur = saures Gericht 
aus Fleischresten wird durch Makkaronisierung zum allgemeineren Begriff 
Sammelsurium erhoben. Ein Wörterbuch des Leipzigischen verzeichnet die 
Zeitwörter schimpfieren, schändieren, schnabelieren; auch die scherzhafte 
Wendung: sofortio berappio. Gelegentlich makkaronisiert auch die Solda¬ 
tensprache. Im Weltkrieg wurde in der Sammlung des Verbands Deutscher 
Vereine für Volkskunde auf gezeichnet: bei Österreichischen Truppen Furzi- 
bus für eine Mischung von gemeinen, übelriechenden Tabaksorten, bei säch¬ 
sischen Drückotismus für Drückebergerei. 

Von makkaronisch gebildeten Scherz Wörtern mit griechischen En¬ 
dungen erwähnen wir die Krankheitsnamen Modernitis 1 und Dichteritis 2 
und die Wissenschaftszweige Klistierspritzologie (Schopenhauer) und Hüh- 


1) Modernitis soll von Adolf Bartels geprägt worden sein, Dichteritis (nach 
dem Nekrolog Mählys) von Johannes Scherr. 

2) Man vgl. das sächsische Schlabberitis = Geschwätzigkeit (zu mundart¬ 
lich schlabbern = schwatzen). 


218 














j e i (Die spanische Umgangssprache kennt die spanisch-griechischen 
^karonismen holgazanitis, von holgazän = Faulpelz, und mundologia = 
isheit; in den Vereinigten Staaten bezeichnet man gelegentlich die 
L fihr liche Erörterung von Mord und Totschlag in der Tagespresse als 
lUS derology.) Das noc ^ von J ust ^ nus Kerner eingeführte Makkaroniwort 
** ksogra phie wird neuestens allen Ernstes auf das vom Schweizer 
K schach geschaffene Verfahren psychologischer Diagnostik angewendet. 

gemeint ist auch die deutsch-griechische Wortschöpfung eines Berliner 
Geschäftes, das eine Sichtothek (gemeint ist eine Sichtkartei, eine rasch 
durchsehbare Kartothek) ankündigt. Übrigens kann auch das Wort Tele¬ 
gen (und solcher moderner griechisch-deutscher Wörter gibt es genug) 
T makkaronische Zusammensetzung gelten. 

Daß in der Umgangssprache Zwitterwörter nicht nur durch das An¬ 
hängen von lateinischen oder griechischen Endungen gebildet, sondern daß 
k französische Endungen nicht verschmäht werden, zeigten uns 
sdion die vielen Zeitwörter auf -ieren. Auch andere französische Endungen 
rweisen sich als ergiebig. Heine schrieb einmal augenscheinlichement. Der 
Mecklenburger bildet nach der Art von justement, doucement Wörter wie 
etrademang, reinemang; bei Fritz Reuter häufig knappemang; in Stindes 
Familie Buchholz natürlichermang. In Thüringen ist schlampsermang (für 
ingsam) verzeichnet worden. Im Vorkriegsösterreich trugen Damen und 
Herren Stiefeletten. Bekannt ist das scherzhafte verstandez-vous. Häufig muß 
die französische Endung -age herhalten; z. B. Schmierage, Kleedasche, 
Bammelage (besonders für das Gehänge an der Uhrkette), Bummelage, 
Schenkage, Fressage (im Sinne von Speise oder von Gesicht). Aus der 
..'eutschen Pennälersprache ist das Wort Schiffoir; makkaronisch sind 
auch dessen Synonyme Schifferade bei Helmstedter, Pinkulative oder 
Pinkulatorium bei hessischen Schülern. Die Hochschüler französein mit 
Jen Fachausdrücken Kneipier, Paukier, Wichsier 1 2 . Im Berlinischen kommt 
Pumpier für Pfandleiher (der Geld pumpt), Kluftier für Kleiderhändler 
und Schlappier für Schlappmacher vor. Mit der französischen Endung -euse 
gebildete Eigenschaftswörter sind schauderös, pechös. Die „Neue Freie 
Presse“ in Wien hat einmal einem englisch-französischen Mischling das Le¬ 
ben geschenkt; sie ließ sich aus London schreiben: „Österreichs Schützen 


1) Diese Wissenschaft beschäftigt sich mit der „Brutalität“ der Hennen. 

2) Im sogenannten „Prager Lied“, einem in der zweiten Hälfte des 1 9 . 
Jahrhunderts vielgesungenen Studentenlied (es beginnt mit den Worten „Hin 
nach Pragien, hin nach Pragien, sollst du Musengaul mich tragien), kommt das 
^ort „Lustwandlör“ vor. 


219 






7 


waren die jüngsten unter allen Matcheuren." Es gibt auch Makkaropj 
Deutsch mit spanischen Endungen. So sagt man z. B. seit Gustav Fr 
tags Verlorener Handschrift (1864) Stinkadores für übelriechende Zigarren* 
gleichbedeutend ist Stinkomingo (im Pariser Argot werden schlechte Zig ar * 
ren infectados genannt). Als wienerische Schimpfnamen für Zigarren 
M. Mayr an: Ludros, Wegwerfos. Paul Lindau schreibt, daß zu seiner Zeit 
spanische Tänzer als Schnorreros bezeichnet wurden. Castelli verzeichnet 
1847 als österreichisches Spottwort für einen sehr mageren Menschen: Don 
Stanglos. Spitzer notiert — anscheinend aus Wien — ein ebenfalls spanisch 
makkaronisierendes Scherzwort für Diarrhöe: Cacarilla. 

Im Osten des deutschen Sprachgebietes kommen auch slawische 
Wortendungen vor, besonders wenn es sich um die Prägung von Schimpf. 
Wörtern handelt. Vielfach belegt sind z. B. Faulak, Liederak, Böhmak, Da- 
melack, Schofelinski; berlinisch ist Mitmachowski 1 , Quatschkowsky; i m 
oberen Erzgebirge heißt ein plumper Mensch Klumpatsch; in Leipzig und 
auch anderwärts in Sachsen sagt man Liederinsky, Schnüffelinsky, sogar 
französisch-polnisch makkaronisierend Poverinsky; ungefähr gleichbedeu* 
tend ist das Wiener Makkaroniwort Armitschkerl (hier wird der slawischen 
Verkleinerungsendung auch noch die bayrisch-österreichische angehängt). 
Castelli verzeichnet als österreichisches Spottwort für einen übelriechenden 
Menschen: Stinkowitz 2 . Im alten k. u. k. Heer schuf sich die Mannschaft 
für die „länger dienenden Unteroffiziere" den respektlosen Ausdruck 
Suppak (d. h. einer, der um der ärarischen Suppe willen freiwillig beim 
Militär verbleibt). Aus dem „Pennälerdeutsch" der deutschen Mittelschüler 
in Prag führen wir an: Schulka für Schularbeit, Hauska für Hausarbeit, 
Füllka für Füllfeder. Bekannt sind die beiden Polen in Heines Gedicht 
„Zwei Ritter" im Romanzero: Waschlapsky und Krapülinsky (letzterer 
Name ist französisch-slawisches Makkaroni, crapule bedeutet Lump). Hier 
sind auch Heines Eselinsky und Schnapphansky und Christian Reuters 
Schelmuffsky 3 zu nennen. Der slawischen Endung -insky bedient sich auch 


1) In Berliner homosexuellen Kreisen heißt es von jenen, die zwar nicht 
a. s. („auch so 44 ) sind, aber andererseits auch nicht t. u. („total unvernünftig“, 
d. h. der homosexuellen Betätigung vollkommen abgeneigt), also von den An¬ 
gehörigen der mittleren Kategorie m. m. („machen mit 44 ), daß sie zur Familie 
Mitmachowski gehören. 

2) Das Argot der Budapester Falschspieler (sipista) makkaronisiert ein 
deutsches Wort mit einer slawischen Endung: nimandovics = jemand, der so 
wenig Geld hat, daß es sich nicht lohnt, ihn im Spiel auszuplündern. 

3) Ein Jahr früher als Reuters Schelmuffsky (1695) erschien Weises „Ver¬ 
folgter Lateiner“, in dem die erlogenen Grafennamen Hahnefussicolpilaminofi- 
cowsky und Ziegenbeinicoelkoribicirkulausimufsky Vorkommen. 


220 













hlechtsnamen Piccolomini; Piccolomini selbst hingegen ist in der Sprache 
ßgfiiners ein Mensch mit unreiner Gesichtshaut.) 

^uch die satirische Kriegslyrik bediente sich nicht selten des Makkaroni- 
ierens als Kunstmittels, und der Parmesan dieser Sprachmischung war nicht 
^hr zart. So zeitigte z. B. der Kriegseintritt Rumäniens bequeme makkaro- 
nische Reime wie „in den kleinsten Winkelescu fiel ein Russentrinkgel- 
descu", „Siebenbürginescu mechten wir erwürginescu", „haite noch auf stol- 
zem Roßcu, murgens eins auf den Poposcu". 

Eine besondere Abart von Makkaronismen gedeiht in gewissen Wiener 
Anekdoten zur (übrigens ungerechtfertigten) Verspottung der Czerno- 
witzer deutschsprachigen Theaterkritiken, in denen der Eifer, im ent¬ 
legnen Osten mit den geistigen Bewegungen des Westens Schritt zu hal¬ 
ten, angeblich kuriose Blüten treibt. In diesen Anekdoten werden Czerno- 
v/itzer Rezensenten Äußerungen angedichtet, wie „der Hauptrollist ist als 
Versteller ein großer Vorzugist, mangelhaft ist nur seine Betonierung", — 
was jedenfalls richtige Makkaronismen sind. Muß man aber in die Buko¬ 
wina schweifen? Vor einiger Zeit schrieb in einer Wiener Zeitung der Mu¬ 
sikkritiker Balduin Bricht allen Ernstes von buffonesker Operistik. Und der 
Theaterrezensent einer Danziger Zeitung verteidigte vor kurzem erstaunten 
Publikumszuschriften gegenüber sein Lieblingswort Spielastik. (Spitzer er¬ 
wähnt übrigens in seiner Rabelais-Studie das „im Schauspieler-Argot ge¬ 
bräuchliche ,Spielastik' = hohl-pathetische Gestikulation, wohl nach ,Gym¬ 
nastik"'.) 


II) Barbaroiexis 


Bei der „makkaronischen Sprache" handelt es sich darum, daß Wörter 
der eigenen Sprache scherzweise fremde Endungen bekommen (wie z. B. in 
Mogelant, sofortissime, schauderös), was übrigens bei Verblassen der Scherz¬ 
färbung auch zu dauernden Wörtern (wie z. B. amtieren, Lieferant, Schlen¬ 
drian) führt. Bei der sogenannten Barbaroiexis handelt es sich aber nicht 
um die Anlötung fremder Wortendungen, sondern um die Aufnahme gan¬ 
zer Wörter oder Wortgruppen fremden Sprachstoffes. Cicero schreibt in 
seinen Tuskulanen, er sei stets darauf bedacht, in seinen lateinischen Schrif- 

i) Der Stichling oder Stachelbarsch (Gasteroteus aculeatus) hat nach 
Brchm auch den deutschen Namen Stachelinski. 


221 







ten kein griechisches, in griechischen Texten kein lateinisches Wort zu g e 
brauchen. Kaiser Tiberius, obwohl ein großer Griechenfreund, entschuldigt 
sich einmal im römischen Senat, als er sich mangels eines rein lateinischen 
des dem Griechischen entlehnten Ausdrucks monopolium bediente, und ver- 
langte ein anderesmal, daß das in einem Senatsbeschluß vorkommende gri e . 
chische Wort emblema übersetzt oder umschrieben werde. Quintilianus be- 
zeichnete es ausdrücklich als barbarisch, das Lateinische mit griechi. 
sehen Wörtern zu spicken. So bekam die ursprünglich verpönte, seit dem 
10. Jahrhundert immer mehr auftretende Sitte lateinisch-deutscher Sprach- 
mengerei den Namen „Barbarolexis". In den französischen Mysterien des 
späten Mittelalters wurde Sprachmengung bewußt als Kunstmittel zur Cha¬ 
rakterisierung der auftretenden Personen verwendet. Es redeten dort ge¬ 
wöhnlich Gott, Jesus, Maria, Engel, Päpste biblisches, Gerichtspersonen 
juristisches Latein, Henker und Diener als Halbgebildete makkaronisches, 
Bauern mundartliches Französisch (Patois) und Diebe französisches Rot¬ 
welsch (Argot). Mit Vorliebe bedienten sich gelehrttuende Quacksalber, 
Magier und sonstige Nutznießer des Aberglaubens der latinisierenden 
Sprachmengerei. (Auf dem Lande herumziehende Zauberkünstler tun es 
wohl auch heute noch beim „Verschwindibus"). Die um die Mitte des 16. 
Jahrhunderts niedergeschriebene Spruchsammlung des Werner Rolefink ent¬ 
hält Sprüche wie: qui semper vult borgen et nunquam sorgen, ille muss ver¬ 
derben et in paupertate sterben; oder, die Ohnmacht dessen lehrend, der 
kein Geld hat, und den Vorteil dessen, der in der Lage ist, zu bestechen: 
qui non habet in numis, dem hilft nicht, dass er frum is, qui dat pecuniam, 
der macht wol recht das krum is. In einer Wolfenbüttler Handschrift des 
17. Jahrhunderts ist der seither oft wiederholte Wahlspruch zu lesen: semper 
lustich, nunquam traurich (immer lustig, nimmer traurig). Auch Andachts¬ 
bücher, z. B. die für die Nonnenklöster in Wöllingerode, Marienburg und 
Steterburg, verschmähten mitunter nicht deutsche Brocken im lateinischen 
Text, um die Berührung mit dem sprachlichen Volksempfinden nicht ganz 
aufzugeben, und es entwickelt sich geradezu eine religiöse Mischprosa. Auch 
kennen wir Liebeslieder in deutsch-lateinischer Mischsprache, besonders auch 
Gedichte zur Verhöhnung der den Priestern und Mönchen zugeschriebenen 
Liebesabenteuer 1 . Eine Sonderform der Barbarolexis besteht darin, daß in 
einem Gedicht lateinische und deutsche Zeilen sich abwechseln. Derartiges 
hat sich in der Studenten- und Pennälerpoesie bis auf den heutigen Tag 

i) Deutsche Scherzgedichte mit eingemengten lateinischen Brocken sind 
mancherorts selbst beim lateinunkundigen Landvolk beliebt; so z. B. bei den 
siebenbürgischen Sachsen („ded ass det fuosnichlateinj“, dies ist das Fast¬ 
nachtlatein). 


222 










erhalten 1 - Beliebt war die Barbaroiexis besonders in solchen Versen, die 
vudenten auf die erste Seite ihrer Bücher schrieben zur Abschreckung von 
ßiieberdieben. Einer diese vielverbreiteten Verse beginnt z. B.: Quis vuit 
hoc Übrum stehlen — Pendebit an der Kehlen — Deinde veniunt die 
Raben — Volunt ei oculos ausgraben 2 . 

Nicht schlechthin als Barbarolexis, die ja bewußtes Darstellungsmittel ist, 
hat die unwillkürliche Sprachmengerei in zweisprachigen Gebie¬ 
ten zu gelten. Von der Sprachmengerei im Elsässerdütsch brauchen wir 
keine Beispiele zu geben, sie ist allgemein bekannt, besonders in der Vor¬ 
kriegszeit wurden wirklich erlauschte oder erfundene Beispiele dieser heiter 
wirkenden Wortmischung häufig in Witzblättern veröffentlicht. Eine 
andere reale Grundlage für Entstehung von Sprachmengerei ist der Heimats¬ 
wechsel zufolge Auswanderung. Das mit englischen Brocken durchsetzte 
Deutsch der Deutsch-Amerikaner, das sogenannte P e n n s y 1 - 
vania-Dutch, treibt mitunter sehr bunte Blüten. „Wenn die Hose 
berstet, wird die Kraut naß" bedeutet: wenn der Spritzenschlauch (hose) 
platzt (to burst), wird die Menschenmenge (crowd) naß. Der Misch- 
sprachler bürstet seinen Kot (coat = Rock), ißt Motten (mutton = Ham¬ 
melbraten), hat eine gute Sellerie (salary = Gehalt). Dabei ist der Binde¬ 
strich-Amerikaner stolz darauf, die Sprache der alten Heimat bewahrt zu 
haben, und fordert dies auch für die Kinder: „Mei Eidie is, daß de Pärents 
auch viel derbei tun könne, daß de Kinner mehr Pragreß im Deitsche 
mache. Vor alle Dinge derf me ihne kee englische Expreschens (Ausdrücke) 
durchgehe lasse." 3 Die deutsch-amerikanischen Zeitungen erzielen viel Hei- 


B Ein Gedicht, das in vielen Varianten in österreichischen Gymnasien be¬ 
kannt ist, beginnt mit der Strophe: Exibat olim logicus — In einen grünen 
Wald — Videbat pulchram virginem — Von reizender Gestalt. Offenbar leitet 
sich dieses Gedicht von jenem Lied ab, das durch die berühmten „Dunkelmän¬ 
nerbriefe“ der Reformationszeit zur Verbreitung gelangte und mit den Zeilen 
begann: Pertransivit clericus — Durch einen grünen Waldt, — Invenit ibi 
stantem — Ein Mägdlein wol gestalt. 

2) Ähnlich bei französischen Schülern und Studenten: Qui ce livre derobera 
— Pro suis criminibus — Au gibet pendu sera — Cum aliis latronibus. — 
Quelle honte ce sera — Pro suis parentibus — De le voir en ce Iieu-lä — 
Pedibus pendentibus. 

3) Die Hausfrau ärgert sich über die chambermaid; als diese ins Haus kam, 
war sie grün (sie meint „bescheiden“, nach Art der Greenhorns, der Frischein- 
gewanderten), jetzt ist sie independent (wörtlich unabhängig, gemeint ist aber: 
nicht mehr so arbeitswillig wie früher). Der Gatte ist gut ob (well off, d. i. 
m guten Vermögens Verhältnissen), gut gedreßt (to dress, kleiden), er eignet 
mehrere Häuser (he owns, er besitzt) und belongt (gehört) zur society. 


223 







terkeitserfolg mit Parodien dieser Mischsprache. Auch Gedichte in *l 
werden veröffentlicht; in einem Frühlingslied heißt es u. a.: L a ß t 41 
spazieren walken und dabei sweet von Liebe talken. Ein Auswandere' 
schreibt in die alte Heimat: Mir geht es sehr gut, ich habe zwei Lotten 
eine Liese, ich gehe betteln und habe einen guten Stock in der Hand* * 
meinte, er habe zwei Bauplätze (lots), ein Pachtgut (lease), er gehe hausie¬ 
ren (to peddle) und habe ein gutes Warenlager (stock). Ein anderer 
rühmt sich, seinen Verwandten nach Deutschland am Jahresschluß eio 
schönes Weihnachtsgift und einen Neujahrswisch geschickt zu haben 
(gift = Geschenk, wish = Wunsch). Begreiflicherweise führt die Sprach- 
mengerei am ehesten dann zu solchen Verwechslungen, wenn nahe V er . 
wandtschaft zweier Sprachen vorliegt. Unter den in Dänemark lebenden 
Deutschen hört man z. B. derartige Gespräche: „Wo sind Sie von?" _ 
„Ich bin Sie von Aarhus." Oder: „Fräulein Unschuld, ich bin den ganzen 
Tag auf Ihnen gelaufen/* (Entschuldigen Sie, Fräulein, ich habe Sie den 
ganzen Tag gesucht.) 

Das Paradies der Sprachmengerei war begreiflicherweise die alte k. u. k. 
Monarchie, besonders die österreichische Reichshälfte. Der Orien¬ 
talist Hammer-Purgstall hat 1852 in der Wiener Akademie der Wissen¬ 
schaften die Vielsprachigkeit des Habsburgerreiches in heute ziemlich abge¬ 
schmackt erscheinenden hohen Tönen gepriesen und das vielsprachige Reich 
der zehnblättrigen Lilie der persischen Dichter verglichen. Wenn man auch 
keinen Augenblick lang ernsthaft hatte erwarten können, daß es unter dem 
Doppeladler zu einem Verschmelzen von Sprachen kommen werde, so hat 
es immerhin Zeiten gegeben, in denen bestimmte allgemein-österreichische 
sprachliche Einflüsse sehr wirksam waren und dabei genau bis zu den letzten 
schwarzgelben Pflöcken gingen. Insbesondere schufen Eigenheiten der Amts¬ 
und Heeressprache Merkmale eines besonderen österreichischen Deutsch. 
Mehr als das Schriftdeutsch war die Umgangssprache in Österreich sprach- 
mengerischen Einflüssen ausgesetzt. „Uber der österreichischen Umgangs¬ 
sprache**, schrieb der große Sprachforscher Schuchardt, „schwebt gleichwie 
ein wunderbarer Baldachin, an welchem Welsche und Slawen in lustiger 
Weise gewebt haben, die österreichische Kanzleisprache." Zu den bekann¬ 
testen — in Witzblättern immer wieder abgedroschenen — Mischsprachen 
der alten Monarchie gehörte vor allem jenes Kauderwelsch, das man 
Kucheldeutsch oder Kuchelböhmisch nannte. Seit Ende des 
18. Jahrhunderts erschien auf deutschen Bühnen Prags und Wiens immer 
wieder ein Possenheld namens Hans Klachls von Przelantich, der mit 
deutsch-tschechischer gegenseitiger Sprachverhunzung billige Lacherfolge 


224 























eien durfte. Oft zitiert ist der „deutsche" Satz aus dem Böhmer Walde: 
[libt Ihr nicht gesehen die Prasatken (Schweinchen) über die Potutschken 
gächlein) lafen? Ebenso bekannt ist der „tschechische" Satz: stuben- 
tnadl pucovala fotrlinku na konku slafrok (das Stubenmädchen putzt auf 
dem Gang Väterchens Schlafrock). 

Schließlich seien noch einige schrifttumlose Notbehelfssprachen genannt, 
;: s nach barbaroiexischer Art gebildet, eine gewisse Bedeutung im inter¬ 
nationalen Geschäftsleben erlangt haben. Eine dieser Kompromißsprachen 
.. f d{ e sogenannte Lingua Franca, ein Gemisch aus Französisch, 
Italienisch, Spanisch, Neugriechisch, Arabisch, eine mündliche Hilfssprache 
jn der Süd- und Ostküste des Mittelmeeres. Sie geht bis auf das Mittelalter 
zurück, erfreute sich in früheren Jahrhunderten einer großen Verbreitung, 
jg i n der Levante fast schon zur Gänze verschwunden, beschränkt sich jetzt 
jn der Hauptsache auf die Hafenorte von Algier, Tunis und Tripolis. Sie 
heißt „franca", weil die Mohammedaner alle christlichen Völker West¬ 
europas Franken nannten. In Brasilien gedeiht eine Kreuzung des Portugie¬ 
sischen mit der eingeborenen Tupisprache, und diese Notmischung für den 
Handelsverkehr mit halbzivilisierten Indianern (ebenso die Guaranimischung 
in Paraguay) heißt Iingoa geral (geral = general, allgemein). In 
Nordamerika entstand im Staate Oregon am Oberlauf des Columbiaflusses 
eine englisch-indianische Zwittersprache, das sogenannte T s c h i n u k. Das 
Kru-Englisch ist portugiesisch durchsetzt und wird von Negern an 
der Westküste Afrikas, besonders in Liberia gesprochen. In Indien ist das 
Babu-Englisch zu Hause (babu ist die hindostanische Ansprache 
„Herr") 1 . 

Auf den Südseeinseln dient ein mit Brocken eingeborener Sprachen durch¬ 
setztes vereinfachtes Englisch als Verkehrssprache zwischen Weißen und 
Eingeborenen, es ist das Sandelwood-Englisch (Sandelholzenglisch) oder 
Beach-la-mar. (Der Name hat nichts mit englisch beach = Strand zu 
tun; er kommt von portugiesisch bicho de mar, was wörtlich Seewurm 
bedeutet; es ist der Name des Trepangs, der von den Chinesen als Lecker¬ 
bissen geschätzten Seegurke; die Franzosen verderbten das Wort zu beche 
de mer = Seespaten, woraus dann englisch beach-la-mar wurde.) Einige 
Beispiele aus dem Wortschatz des Beach-la-mar: pisupo = Lebensmittel¬ 
konserve (von englisch pea-soup, Erbsensuppe), bulopenn = Schmuck, 


i) Das Slangwörterbuch von Barrere-Leland nennt das „Baboo“ tbe drohest 
dialect of English, und das von Farmer-Henley bezeichnet als seine Haupt¬ 
eigentümlichkeit „den Schwulst, als Ergebnis des Versuches, eine westliche 
Sprache der Östlichen Vorstellungswelt und Übertreibungssucht anzupassen.“ 


225 


15 Storfer. Sprache 










Zierde (von blue paint, blauer Anstrich), nusipepa = Brief, Schriftstück 
Druckwerk (von newspaper, Zeitung) ; he savee look along nusipepa ( e | 
wissen schauen entlang Zeitung) = er kann lesen. 

Die bekannteste von all diesen Not- und Handelssprachen, ist das sei* 
mehr als einem Jahrhundert blühende Pidgin-Engiisch (frühe- 
auch Pigeon-English, „Tauben-Englisch" genannt). Es ist ein primitives 
Englisch, wie es sich in den ostasiatischen Häfen im Verkehr zwischen Chi. 
nesen und Europäern herausgebildet hat. Zufolge Überflutung der Kolonien 
durch chinesische Kulis und Gewerbetreibende ist es jetzt aber weit über 
den Stillen Ozean verbreitet und durch Zutaten sowohl aus dem Portugiesi. 
sehen und dem Holländischen, als auch aus den eingeborenen Sprachen 
Melanesiens und Polynesiens gewürzt. Der Namen Pidgin dürfte die chine- 
sische Aussprache des englischen Wortes business = Geschäft darstellen. Die 
Abgrenzung zwischen Beach-la-mar und Pidgin ist angesichts der starken 
Verkehrszunahme heute kaum noch durchzuführen und Pidgin-Engiisch ist 
die vorherrschende und allgemeine Bezeichnung für das primitive Misch¬ 
englisch an der Küste Chinas und auf den Inseln des Stillen Ozeans und der 
Südsee geworden. Neuerdings ist besonders der Einfluß der a m e r i k a n i. 
sehen Handelssprache sehr stark, wie Mencken hervorhebt 1 . 

Einige Beispiele aus Pidgin und Beach-la-mar: allo plopa (mit chinesi¬ 
scher Ersetzung des r durch 1 in englisch all proper) = sehr richtig, joss- 
house-man = Priester (joss = Gott, Götze von portugiesisch deos), cow-oil 
= Butter (eigentlich Kuh-Öl, wörtlich übersetzt aus dem Chinesischen), kai 
oder kaikai == essen, Speise (reines Eingeborenenwort), z. B. my betty no 
got kaikai (mein Wanst nicht kriegen Essen) = ich bin hungrig, pickaninny 
= Eingeborenenkind (nach spanisch pequerio, aus der spanischen Koloni¬ 
stenzeit in Amerika). On piecee man no-hop dolla dat man so bad inisy 
as no-ho lifey bedeutet: wer kein Geld hat, ist so schlecht daran, als 
wäre er tot (wörtlich: ein Stück Mann nicht haben Dollar ist so übel 
unangenehm als nichthaben Leben). Jump inside, wörtlich: inwendig sprin¬ 
gen, bedeutet: erschrecken; die Frage you no sawy that fellow white man 
coconet belong him no grass = kennst du nicht jenen kahlköpfigen weißen 
Mann? (Wörtlich: du nicht kennen jener weißer Mann, Kokosnuß gehören 
ihm kein Gras?) Ein Dampfschiff mit drei Masten und zwei Schornsteinen: 


i) 1919 konnte die englische Zeitschrift „English“ schreiben: Nach 8jähri¬ 
ger Besetzung der Philippinen durch die Amerikaner sprachen schon 800.000 
Philippiner, also 10% der Eingeborenen, das Englische (Amerikanische), wäh¬ 
rend nach 150 Jahren britischer Herrschaft in Indien erst 3 Millionen, d. i- 
1 % der Eingeborenen, englisch sprechen. 


226 





































three p iecee t> amt>0 ° **0 piecee puff-puff, walk-along inside, d. h. drei 
Stack Bambus, zwei Stück Pöff-Pöff, Maschine („Geh-vorwärts") inwen¬ 
dig in Neuguinea wurde für Klavier folgender Pidgin-Ausdruck gebucht: 
kiff fellow bokus you fight him he cry, großer Kerl Kiste, du sie schlagen, 
je schreit. Und für Ziehharmonika: little fellow bokus you pull him he 
cr y } kleiner Kerl Kiste, du sie ziehen, sie schreit. Allgemein verbreitet ist 
die Bezeichnung pulumaku für das Rind und besonders für Büchsen¬ 
fleisch (Rindfleischkonserven). Man erklärt das Wort als eine samoanische 
Verderbung von englisch „bull and cow". Der englische Seefahrer, der die 
Zucht des Rindes auf Samoa einführte, indem er einen Stier und eine Kuh 
hingebracht hatte, soll diese Tiere den Eingeborenen mit den Worten „this 
is a bull and a cow" vorgestellt haben. (W. Churchill hält die samoanische 
Entstehung von pulumaku für unwahrscheinlich, denn die Sprache der Sa- 
moaner kennt keinen k-Laut, und bringt den Ausdruck mit der Einführung 
des Rindes durch die Missionäre auf Fidschi in Verbindung.) 

Häufig kommen Pidgindialoge in Jack Londons Südseegeschichten vor. 
Übrigens hat man sich einmal auch amtlich des Pidgin-Englisch bedient. 
Als das bis dahin deutsche Neu-Mecklenburg (jetzt Neu-Irland) im Bis¬ 
marck-Archipel im September 1914 von den Australiern für das Britische 
Reich in Besitz genommen wurde, erließen sie eine Proklamation an die Ein¬ 
geborenen im reinsten Pidgin-Englisch. Den Hoheitswechsel drückte darin 
folgender einprägsamer Satz aus: No moreKaiser (nicht mehr Kaiser). 


*27 







1 


Verblaßte Verkleinerungsformen 


Daß ein Bündel eigentlich ein kleiner Bund, Krügel ein kleiner Krug, 
Knöchel ein kleiner Knochen, daß Märchen die Verkleinerung von Mär ist, 
Zicklein von Ziege, daß die Fremdwörter Ballett, Bankett, Flottille, Kama¬ 
rilla, Lanzette, Mantille, Operette, Stilett Verkleinerungsformen von Ball, 
Bank, Flotte, Kammer, Lanze, Mantel, Oper, Stil sind, bezw. Verkleine¬ 
rungsformen der fremden Vorbilder dieser Fremd- und Lehnwörter, dies 
alles und vieles ähnliche ist auf den ersten Blick erkennbar. Weniger klar 
liegt jedoch zu Tage, daß z. B. Sockel die Verkleinerung von Socke (n) ist, 
Rakete von Rocken, daß Pinsel ein kleiner Penis, Vanille eine kleine Va¬ 
gina ist, daß die eigentliche Bedeutung von Perle „kleine Birne ist, von 
Furunkel „kleiner Dieb", von Kartoffel „kleine Trüffel . Denn so ein¬ 
leuchtend es ist, daß eine Flottille eine Flotte geringeren Umfanges ist, so 
sonderlich erscheint es, daß die Sprache das Gestell, auf dem ein Denkmal, 
eine Büste, ein Gebäude steht, als eine verkleinerte Form eines kurzen 
Strumpfes darstellt. Dennoch ist an der wortgeschichtlichen Gleichung 
Sockel = Socke + Verkleinerungsendung nicht zu zweifeln. Als soccus 
bezeichneten die Römer den niedrigen Schuh, in den man leicht schlüpfen 
kann, im Gegensatz zum hochsohligen Kothurn. Auf dieses soccus geht 
(über französisch socque) das deutsche Socke (althochdeutsch soc) zurück, 
welches Wort ursprünglich nicht eine Strumpfart bezeichnete, sondern eine 
leichte Fußbekleidung ohne derbere Sohle und ohne Absatz. Im Lateinischen 
gehört zu soccus auch die Verkleinerungsform socculus. Daraus wurde ita¬ 
lienisch zoccolo, französisch socle, Fachwörter der Baukunst mit der Bedeu¬ 
tung Fußgestell, Säulenfuß, flacher Untersatz als Grundlage eines Gebäudes. 
(Neben diesem socle aus der lateinischen Verkleinerungsform socculus hat 
das Französische auch das Wort socque aus der lateinischen Grundform 
soccus, an dessen Bedeutung es sich noch eng anlehnt, denn es bedeutet: nie- 
dersohliger Schuh des Komödienspielers, Überschuh). Im Deutsdien ist 
Sockel seit dem 18. Jahrhundert gebräuchlich; an der Einbürgerung ist nach 
Kluge-Götze Goethe führend beteiligt. 


228 







^enn wir sagten, Sockel sei die Verkleinerung von Socke (n), ist dies, 
a us obigen Ausführungen hervorgeht, nicht etwa so zu verstehen, als 
habe sich der Verkleinerungsvorgang im Bereich der deutschen Sprache ab- 
ielt, sondern aufzufassen in dem Sinne, daß wir aus dem Lateinischen 
nicht nur ein Hauptwort, sondern auch seine Verkleinerungsform entlehnt 
haben. Das lateinische Verkleinerungssuffix ist in diesem Falle: -ulus. Noch 
in vielen anderen deutschen Wörtern begegnen uns Überbleibsel der Ver¬ 
kleinerungsendung . u i u s> - u 1 a, -u 1 u m. Wir geben einige Beispiele. 

Pille, mittelhochdeutsch pillule, kommt von lateinisch pilula, Kügel¬ 
chen, Verkleinerung von pila, Ball (eigentlich Haarknäuel, zu pilus, Haar). 

Rolle (mittelhochdeutsch rulle, rolle) ist entlehnt aus italienisch rotolo, 
rullo, französisch röle. Diese romanischen Wörter fußen auf lateinisch ro- 
tulus oder rotula = Rädchen, Verkleinerung von rota = Rad. Zur Bedeu¬ 
tungsentwicklung von Rädchen zu Rolle in übertragenem Sinne sei darauf 
verwiesen, daß beschriebenes Pergament gerollt wurde; ähnlicherweise wurde 
im 17- Jahrhundert der Anteil des einzelnen Schauspielers am Spiel auf 
einen handlichen Streifen geschrieben, von dem man auf den Proben die 
eben gebrauchte Stelle sichtbar hielt, das übrige aufrollte (Kluge-Götze). 
Von lateinisch rotula kommt auch — ohne französische Vermittlung — 
mittelhochdeutsch und teilweise noch mundartlich Rodel = Papierrolle, 
Liste, Urkunde. 

Spatel = kleines (besonders von Malern und Apothekern) verwende¬ 
tes Gerät zum Streichen oder Rühren und seine Nebenform Spachtel 
kommen von lateinisch spatula, der Verkleinerung von spatha = Rührlöffel 
(aus griechisch spathe = hölzernes Blatt, Ruder, Schwert, urverwandt mit 
Spaten). 

Skrofel = Drüsengeschwür ist die Eindeutschung von scrofula, der 
Verkleinerung von scrofa = Zuchtsau. (Bergmann: „die Schweine leiden 
nicht selten an geschwollenen Drüsen”). 

Skrupel (seit 1537 belegt mit der Bedeutung: kleines Gewicht, seit 
1580 mit der Bedeutung: Bedenken) kommt von lateinisch scrupulus, 
Steinchen und scrupulum, kleinster Teil eines Gewichtes. Dies sind Ver¬ 
kleinerungsformen von scrupus (anscheinend urverwandt mit „scharf”) = 
scharfer, spitzer Stein. Skrupel ist also „Genauigkeit, die so ängstlich ist wie 
der Gang über kleine, spitze Steine” (Kluge-Götze) 1 . Es würde mich aber 
nicht wundern, wenn es einmal gelingen sollte, eine andere Vorstellung als 
die der Schmerzhaftigkeit spitziger Steinchen als die Grundlage der Über¬ 
tragung sicherzustellen, z. B. die Vorstellung von Steinchen, die zwar win- 

i) Bergmann: „ängstliche Genauigkeit, die überall ein Steinchen findet/* 


229 






zig sind, dennoch ausreichen, eine empfindliche Waage — eben das Q e 
wissen des Nicht-Skrupellosen — in eine gewisse Richtung zu lenken 

Kalkül ist eigentlich ein „Kalksteinchen"; es kommt über französisch 
calcule aus lateinisch calculus, Steinchen, Rechensteinchen 1 , das die V e - 
kleinerung des Wortes calx ist, des Stammwortes des gleichbedeutenden 
deutschen Wortes Kalk. 

Perle bedeutet eigentlich: kleine Birne. Die Auswüchse gewisser Mu 
schein wurden von Plinius wegen ihrer rundlichen Form der Birne ver 
glichen, die lateinisch pirum heißt. Das althochdeutsche Lehnwort perala 
berla läßt auf ein lateinisches pirula, kleine Birne schließen. Die französische 
Bezeichnung perle en poire (Birnenperle) für eine längere Perlenart ist also 
— etymologisch gesehen — eigentlich eine Tautologie 2 . 

Buckel kommt von lateinisch buccula, der Verkleinerungsform des 
lautmalenden bucca = aufgeblasene Backe, Mund (woher sich u. a. auch 
italienisch bocca, französisch bouche = Mund und boucle = Ring, Öse 
Schnalle, Locke herleiten). 

Kuppel ist aus dem Italienischen (cupola) entlehnt und geht weiter 
zurück auf mittellateinisch cuppula = umgestülpte kleine Tonne, Becher 
die Verkleinerungsform von lateinisch cupa = Tonne, Becher, das nicht 
nur mit englisch cup = Becher, sondern auch mit deutsch „Kopf" ver¬ 
wandt ist. (Nach anderer Deutung geht allerdings Kuppel und cupola auf 
arabisch al-qubba zurück.) Aus der Verkleinerung von lateinisch cupa 
mittels eines anderen Suffixes scheint „Kübel" hervorzugehen (s. S. 238), 

Sichel (althochdeutsch sihhila) kommt vom gleichbedeutenden lateini¬ 
schen secula, Verkleinerung von seca = Messer (zu secare = schneiden, 
woher unsere Fremdwörter sezieren, Sektion, Sektor, Insekt). Verwandt sind 
Sech (— Plugschar) und Säge. 

Vettel beruht auf der Verkleinerungsform eines lateinischen Eigen¬ 
schaftswortes. Vetus = alt (enthalten in Veteran) liefert die Verkleine¬ 
rungsform vetulus, ältlich, daraus ergibt sich das Hauptwort vetula, ältliche 


1) Calculus ist auch in der Medizin gebräuchlich für (Gallen-, Nieren-, 
Blasen-)Stein. Auch französisch calculeux, Steinkranker, englisch calculary, 
die Steinkrankheit betreffend. 

2) Eine andere Ableitung hält allerdings Perle, französisch perle, italienisch 
perla nicht zu lateinisch pirum, Birne, sondern zu lateinisch perna, Muschel. 
Daß die Perle in einzelnen italienischen Mundarten (im Sizilischen und im 
Neapolitanischen) perna heißt, scheint diese Annahme zu stützen. Grimm 
meint Perle mit „Beere“ in Zusammenhang bringen zu dürfen. Auch aus 
lateinisch pilula (s. oben Pille), aus griechisch-lateinisch sphaerula, Kügel¬ 
chen, und sogar aus dem Mineralnamen Beryll versuchte man Perle zu deuten. 


230 











Formel, das wir eben gebraucht haben, gehört auch zu jenen Lehn¬ 
wörtern, in denen sich die lateinische Verkleinerungsendung -ula tarnt. Bis 
Mitte des 16 . Jahrhunderts lautete es noch Formul; zugrunde liegt lateinisch 
formula, Verkleinerung von forma. 

Zettel beruht auf mittellateinisch cedula, lateinisch schedula, Papier- 
hlättchen, Verkleinerung von scheda, scida, das von griechisch schide, abge- 
' : ssenes Stück kommt (zu schizein, spalten, enthalten in unseren Fremdwör¬ 
tern Schisma, schizophren, urverwandt mit scheiden, vgl. das Stichwort 
bescheiden" in „Wörter und ihre Schicksale"). 

Zwiebel (althochdeutsch cibolla und zwibolla) gründet sich (zufolge 
Vermittlung durch italienisch cipollo) auf lateinisch caepula, cepulla, eigent- 
’kh Zwiebelchen, denn der ursprüngliche lateinische Name der Pflanze ist 
aepa. Das „w" im deutschen Wort (schon im Althochdeutschen: zwibolla) 
erklärt sich durch Quereinfluß, durch volksetymologische Anlehnung an 
.zwei" und „Bolle" (gleichsam: zweifache, d. h. mehrhäutige Bolle). 

Zirkel (althochdeutsch zirkil) ist eigentlich ein kleiner Zirkus, denn 
es kommt von lateinisch circulus, Verkleinerung von circus, rundes Gebäude. 
Von circulus kommt auch — mit Umweg über das Französische — unser 
Fremdwort Cercle. 

Fackel (althochdeutsch facchela, faccala) ist die Verdeutschung von 
lateinisch facula, Diminutivum des älteren Wortes fax, das schon selbst die 
Bedeutung Fackel hatte. 

Kachel, das im Althochdeutschen (chachala) noch die Bedeutung 
irdener Topf hatte (auch heute mundartlich: schweizerisch Chachle, schwä¬ 
bisch Kachel = Kochtopf) geht zurück auf lateinisch cacabus = Topf, d. h. 
auf die anzunehmende Verkleinerungsform cacabulus. 

Kapitel aus capitulus, Köpfchen behandeln wir später, im Zusammen¬ 
hang mit Kapitäl (S. 237). 

Daß Nudel von nodulus, Knötchen, Verkleinerung von lateinisch 
nodus kommt, kann bloß als Vermutung gelten, aber es ermangelt einer 
besseren Deutung. 


* 

Nun folgen einige Beispiele von deutschen Wörtern, in denen die 
lateinische Verkleinerungsendung - c u 1 u s oder - n c u I u s fortlebt. 


23 r 






Furunkel kommt von lateinisch furunculus, kleiner Dieb, zu. 
Dieb. Dem Gleichnis liegt die Vorstellung zugrunde, daß diese Blut! 
geschwüre (wie etwa auch die „Mitesser”, comedones) dem Menschen ah 
parasitäre Gäste einen Teil seiner Nahrung wegnehmen, stehlen 1 . (Ebene,, 
ein „kleiner Dieb” ist wörtlich auch das Frettchen, s. S. 250). 

Karbunkel 2 und (das daraus wohl unter Quereinfluß von Funke 
althochdeutsch vunke entstandene) Karfunkel bedeuten sowohl: Granat 
als auch in übertragenem Sinne: rotglänzendes Geschwür, Entzündung des 
Unterhautzellgewebes. Zu Grunde liegt lateinisch carbunculus, Verkleine- 
rung von carbo 3 , Kohle. 

Tuberkel ist die Eindeutschung von tuberculum, Höckerchen, V er . 
kleinerung von tuber = Höcker, Knollen (das auch zu „Trüffel” führt); 
im Wiener Slang wort Tuberer (für Tuberkulotiker) entledigt sich das 
lateinische Grundwort des Verkleinerungszeichens. 

Floskel von lateinisch flosculus, Verkleinerung von flos, floris 4 , bedeu- 
tet eigentlich Blümchen. Floskel kommt seit dem 17. Jahrhundert im deut¬ 
schen Schrifttum im Sinne von Wortblume, zierliche Redensart, Denk- 


1) Andere deuten Furunkel aus fervunculus, von fervere, glühen. 

2) Aitfranzösisch escarboncle und daraus neufranzösisch unter Anlehnung 
an boucle (zu lateinisch bucca, s. oben S. 230 Buckel) escarboucle. 

w 3) Enthalten auch in unseren Fremdwörtern Karbol, Karbid, Kar¬ 
bonpapier, Karbonade (ursprünglich für ein auf Kohlen gebratenes 
Rippenstück gebraucht), Carbonari = Mitglieder einer geheimen poli¬ 
tischen Gesellschaft in Italien, wörtlich „Köhler“, weil sie ihr Ritual den 
Gebräuchen der Kohlenbrenner entnommen hatten. 

4) Von lateinisch flos, floris = Blume leiten sich mehr oder minder mit¬ 
telbar noch einige Fremdwörter ab. Flor ist ein dünnes Gewebe, ursprüng¬ 
lich ein geblümtes Gewebe, wobei allerdings der Gegenstand, der heute vor¬ 
zugsweise Flor genannt wird, der Trauerflor, alles eher denn geblümt ist. 
Flor hat auch die Bedeutung von Blumenkranz, auch metaphorisch (z. B. ein 
Damenflor umgab den gefeierten Meister). Die Pflanzenwelt heißt Flora 
nach der römischen Göttin. Deflorieren heißt wörtlich: der Blüte be¬ 
rauben. (Dazu beachte man in vielen Sprachen die metaphorische Bezeich¬ 
nung der Menstruation als Blume: les fleurs, Monatsrose u. dgl.) Der Sto߬ 
degen heißt Florett (italienisch fioretto) wahrscheinlich wegen des blumen¬ 
förmigen Knopfes auf der Spitze der Klinge. Auch f 1 o r i d (z. B. floride 
Schwindsucht), florieren, Floristik gehören zu unserem Fremdwör¬ 
terbestand. Erwähnt seien auch die Eigennamen Flora, Florian, Flo¬ 
renz (der lateinische Name von Firenze war Florentium), Florida. Der 
achte Monat des französischen Revolutionskalenders, der größtenteils in den 
Mai fiel, hieß F 1 o r e a 1 . Möglicherweise gehört zu dieser Sippe auch das 
um 1890 aus England eingeführte Flirt; wenigstens läßt französisch fleu- 
retter = blumenreich reden, schmeicheln, tändeln, diese Vermutung zu. 

*3* 














rach, Höflichkeitswendung, überflüssige, inhaltsleere Redensart vor, 
euerHings nur noc ^ in dieser letzten, schlechten Bedeutung. 

° Ranunkel ist begründet durch den lateinischen Pflanzennamen ranun- 
fljus wörtlich Fröschchen, Verkleinerung von rana, Frosch 1 . Der eigent¬ 
liche deutsche Volksname vergleicht diese Pflanze nicht mit einem Frösch¬ 
ten sondern mit einem Hahnenfuß. 

Aurikel ist ebenfalls ein Pflanzenname, der das lateinische Suffix 
cu ] a enthält. Auricula, Öhrchen ist die Verkleinerung von auris, das urver¬ 
wandt ist mit unserem gleichbedeutenden „Ohr". Den Namen Aurikel 
(Primula auricula) bekam die Pflanze wegen ihrer tierohrähnlichen Blätter. 
(Hier sei auch erwähnt, daß französisch oreille = Ohr nicht unmittelbar 
von lateinisch auris kommt, sondern von der Verkleinerungsform auricula.) 

Onkel kommt über französisch oncle von lateinisch avunculus, Mutter¬ 
bruder, Verkleinerung von avus = Großvater, älterer Verwandte. 

Tabernakel = Schutzdach über Altäre, Sakramentshäuschen kommt 
von lateinisch tabernaculum, Zelt, Verkleinerung von taberna, Bretterbude, 
Hütte, woher über das Französische unser Taverne = Schenke. 

Artikel ist die Eindeutschung von mittellateinisch articula, das eine 
Verkleinerung von ars, artis = Kunst ist. (Eine andere Verkleinerung des¬ 
selben lateinischen Grundwortes, provenzalisch artilla = Festungswerk und 
dessen Bestückung, führt über das Französische zum internationalen und in 
seiner Bedeutung den ursprünglichen Begriff der Verkleinerung, der Ver¬ 
niedlichung ganz verleugnenden Worte Artillerie.) 

Sowohl die Muscheln als die Muskeln sind eigentlich „kleine 
Mäuse". Beiden Wörtern liegt lateinisch musculus zu Grunde, Verkleine¬ 
rung von mus = Maus. (Vgl. dazu Fußnote 3 auf S. 183 und in „Wörter 
und ihre Schicksale" die Stichwörter „Musselin" und „Porzellan".) 

Faszikel (Aktenbündel) kommt von fasdculus und ist eigentlich ein 
kleines Rutenbündel (fasces = das altrömische Rutenbündel mit dem Beil, 
von den danach benannten Faschisten als Wahrzeichen erwählt). 

Konventikel ist eigentlich eine kleine Zusammenkunft (Verklei¬ 
nerung von conventus, woher der Konvent). 


Mehrere unserer Lehnwörter enthalten — mit verblaßtem Diminutiv¬ 
charakter — die lateinische Verkleinerungsendung - e 11 u s, - e 11 a, 
* e 11 u m. Wir nennen einige Beispiele. 


i) Eine weitere Verkleinerung von rana, die sich im Französischen mit 
einem französischen Suffix vollzieht, s.: Renette - Apfel (S. 245). 


233 











Pegel (Wasserstaad eines Flusses, Kerbe zur Bestimmung des Standes 
einer Flüssigkeit) fußt unmittelbar auf lateinisch pagina, Seite, dessen V er 
kleinerungsform pagella, Spalte im Mittelalter zur Bedeutung Maßstab g e 
langt. Von dieser Bedeutung des Diminutivums gehen aus: altfranzösisch 
paielle (Holzmaß), englisch pail (Eimer), mittelniederländisch peghel 
(Wasserstandsmarke). In Deutschland tritt Pegel zuerst im Mittelnieder¬ 
deutschen auf. Es entwickelt auch ein Zeitwort peilen = Wassertiefe messen 

Kapsel sollte genau genommen die Bedeutung haben: „kleine Kasse" 
Das Wort ist die Eindeutschung von lateinisch capsella, Verkleinerung von 
capsa = Behältnis, das unverkleinert — aber mit Assimilation von -ps- 2u 
-ss- — das Wort „Kassa" liefert, dessen französische Verkleinerung Kassette 
demnach eine Doublette von Kapsel ist. 

Schemel = Fußbank kommt vom spätlateinischen Diminutivum sca- 
mellum; das Primitivum ist scamnum = Bank. Nebenformen sind scabnum 
und scabellum = Stütze, Lehne, woher das in Mittel- und Westdeutschland 
gebräuchliche Schabelle = Fußbank (französisch escabelle, italienisch 
sgabello, holländisch schabel). 

Karamell ist zurückzuverfolgen über romanische Zwischenstufen (spa¬ 
nisch caramelo 1 , französisch caramel, gebrannter Zucker) auf mittellateinisch 
calamellus, Verkleinerung von calamus = Rohr 2 . Das mittellateinische cala- 
mellus, Röhrchen ist aber auf anderem Wege nochmals ins Deutsche gedrun¬ 
gen. Es wurde im Altfranzösischen zu chalemie, das im 13. Jahrhundert ins 
Deutsche entlehnt wurde und mittelhochdeutsch schalemie oder schalmi 
ergibt, woraus dann unser heutiges Wort Schalmei. Also wieder ein 
Beispiel einer sonderbaren Doublette: Karamell und Schalmei, beide eben¬ 
bürtige Abkömmlinge von calamellus. Ja es gibt sogar noch einen dritten 
Sproß. Manchem ist aus der Lektüre von Indianergeschichten vielleicht noch 
erinnerlich das Wort Calumet. Es hat folgende Geschichte. Das oben 
angeführte altfranzösische chalemie ergibt neufranzösisch chalumeau, das 
nicht nur die gleichbedeutende Entsprechung von Schalmei ist, sondern auch 
einen Strohhalm oder ein Schilfrohr bezeichnet, dann die zum Vogelfang 
verwendete Leimrute, ferner in der Musik gewisse tiefe Töne auf der Klari¬ 
nette, in der Technik ein Lötrohr oder einen Schmelzofen. In der Mundart 


1) Caramelo aus calamellus ist eine Dissimilation zur Vermeidung der 
1 -Wiederholung, wie — um im Bedeutungsbereich des Süßen zu bleiben — 
portugiesisch marmelo (woher unser Marmelade) aus griechisch melimelon = 
Honigapfel; vgl. über Dissimilation das Stichwort Hoffart in „Wörter und 
ihre Schicksale“. 

2) Eine andere Deutung führt spanisch caramelo und französisch caramel 
auf lateinisch canna mellis, Zuckerrohr zurück. 


*34 



























r 

j ef Normandie hat chalumeau die Lautform ealumet. Dieses Wort ist von 
französischen Kolonisten nach Nordamerika gebracht und auf die Pfeife 
j e r Rothäute angewendet worden, so daß es von dort durch die Reiseberichte 
unter der Sonderbedeutung „indianische Friedenspfeife" wieder nach 
Europa gelangte. Das französische Wörterbuch führt daher neben chalumeau 
vjch das Wort ealumet = Friedenspfeife. (In gleicher Form und Bedeu¬ 
tung auch im Englischen.) Es ist auch im Deutschen früher als Fremdwort 
verwendet worden; so ist z. B. in der 1689 zu Nürnberg erschienenen deut¬ 
schen Übersetzung von Louis Hennepins „Beschreibung der Landschaft 
Inuisiana" zu lesen, die Indianer „wären itzo gekommen, uns zu besuchen 
und mit uns Calumet zu schmauchen/' 1 

Pinsel (altfranzösisch pincel), wie auch das gleichbedeutende franzö¬ 
sische pinceau, kommt von vulgärlateinisch penicellus, Schwänzchen, Ver¬ 
kleinerung von penis 2 . Bezeichnenderweise heißt das männliche Glied des 
Hirsches in der Weidmannssprache Pinsel 3 . 

Wenn wir schon die drei Abkömmlinge von calamellus — Karamell, 
Schalmei, Calumet — vorgestellt haben, wollen wir nicht versäumen 
zu erwähnen, was alles noch zu dieser indogermanischen Sippe gehört. Aus 
den älteren Sprachen: altindisch kalamo und griechisch kalamos = Ge¬ 
treidehalm, Rohr, Schreibrohr. Vom schon erwähnten lateinischen calamus 
leitet sich calamitos ab, mit der ursprünglichen Bedeutung Halmschaden, 
Mißbildung der Halmfrucht, woraus dann allgemein Kalamität = Mi߬ 
geschick. Da man auf Papyros und Pergament die Farbe mit einem feinge¬ 
spaltenen Rohr (calamus) auftrug (man verkaufte solche Rohre bündelweise, 
fasces calamorum heißen sie bei Martial), nannte man im Mittelalter das 
Schreibzeug calamarium. In Ungarn, wo der Gebrauch des Lateinischen in 
Ämtern und Schulen noch weit ins 19. Jahrhundert hineinragt, ist der Aus¬ 
druck kalamäris für Schreibzeug, bezw. zufolge einer Verschiebung für Tin¬ 
tenfaß, auch heute noch volkstümlich. In diesem Zusammenhang seien auch 
genannt tschechisch kalamär = Tintenfaß, italienisch calamajo = Tinten¬ 
fisch. Von lateinisch calamus kommt ferner italienisch, spanisch und portu¬ 
giesisch calamito, provenzalisch und katalanisch caramido, französisch cala- 
mite, neugriechisch kalameta = Magnetnadel, Magnet, weil die Nadel in 
einen Halm (oder in ein Stückchen Kork) gesteckt und so in ein Gefäß mit 
Wasser gestellt wurde (Diez). Von lateinisch calamus kommt ferner franzö- 
sich chaume = Stoppel und der Pflanzenname Kalmus (Acorus calamus). 
Die germanischen Verwandten von calamus sind das deutsche Halm (schon 
im Althochdeutschen so lautend) und das altnordische halmr = Stroh. Vom 
altslawischen Zweig der Sippe (slama) leiten sich ab altpreußisch salme, let¬ 
tisch salms, russisch soloma, ungarisch szalma, alle mit der Bedeutung Stroh. 

2) Penis hatte ursprünglich die harmlose Bedeutung Schweif, aber schon 
Cicero konnte schreiben: hodie penis est in obscenis. 

3) In der Zusammensetzung Einfaltspinsel ist nach Kluge-GÖtze 
nicht jenes Wort Pinsel zu sehen, mit dem man ein mit Stiel versehenes 

235 










Bordell geht zurück auf mittellateinisch bordellum (italienisch bor 
dello) == kleine Hütte, wobei allerdings die lateinische Verkleinerung e i ner 
germanischen Wurzel, bort (Brett), zu Teil geworden ist. Die Bedeutung* 
Verschiebung von kleiner Hütte zu Hurenhaus (auch englisch bordc-i 
brothel) vollzieht sich erst später. 

Säckel ist in althochdeutscher Zeit (seckil) entlehnt aus lateinisch 
saccellus, Verkleinerungsform von saccus, das mit griechischer Vermittlung 
(sakkos) aus semitischen Sprachen kommt (akkadisch sakku = Sack, Büßert 
gewand, phönizisch und hebräisch sak = Sack, grobes Gewand, Hüften- 
schürz) . * 1 

Mantel beruht auf lateinisch mantellum, Verkleinerung von mantmn 
das selbst keltischer Herkunft ist (s. S. 42). 

Pupille, die Bezeichnung für den „Augenstern", d. h. für das Seh¬ 
loch am Auge, die Öffnung in der Regenbogenhaut, kommt von lateinisch 
pupilla = Mündel, Pflegebefohlene, der Verkleinerungsform von pup a> 
woher auch unser Puppe (französisch poupee usw.). Die eigentliche Bedeu¬ 
tung von Pupille ist also Püppchen, und jener Vorkriegsschlager, der verliebt 
beteuerte: „Püppchen, du bist mein Augenstern", ist wortgeschichtlich 
betrachtet eine selbstverständliche Gleichung. Was den Vergleich des Seh¬ 
lochs mit einem Püppchen anbelangt, so heißt es in etymologischen Werken 
gewöhnlich, er sei wohl erfolgt, weil der Mensch, der hineinschaut, sich 
darin winzig verkleinert erblickt. Richtiger scheint es mir anzunehmen, 
daß das Sehloch, der kleine Kreis, als das Junge des großen Kreises (Iris) 
aufgefaßt wird, in dessen Mitte er sich befindet 2 . (Man vgl. damit im Fran- 


Haar- oder Borstenbüschel bezeichnet. Aus niederdeutsch Pinn = hölzerner 
Schuhnagel und Suhl (althochdeutsch sula) = Schusterahle ist Pinn-Suhl, 
Pinsule geworden, eine Spottbezeichnung für den Schuster (Werkzeugnamen 
als Berufsschelte, wie auch im Falle von Meister Knieriem = Schuster). Das 
Schimpfwort Pinsule ist später von der Vorstellung des Schusters abgelöst, 
verallgemeinert und schließlich mißverständlich zu Pinsel vereinfacht worden. 

1) Warum belehrt niemand jene Fremdwortgegner, die den Kassier zu 
einem Säckelwart umtaufen, daß sie aus dem welschen Regen in die semitische 
Traufe streben? 

2) Die Bezeichnung des Sehlochs in der Iris als „Püppchen“, als Kind ist 
stark verbreitet. In der wetterauischen Mundart heißt die Pupille Kindchen, 
im Sarganserland, in der Ostschweiz, Augenmännli. Besonders in den roma¬ 
nischen Sprachen und ihren Mundarten wird die Pupille gerne als kleines 
Mädchen, Kind u. dgl. bezeichnet. Wir erwähnen: spanisch niha del ojo, 
Kind des Auges, portugiesisch menina, Mädchen, in der Romagna bamben 
d’loc, Kind des Auges, istrianisch pupola, mazedorumänisch umsor, Mensch¬ 
lein. Um auch ein Beispiel aus einer exotischen Sprache zu nennen: im Ma- 
layischen heißt der Augapfel: anak-mata, Kind des Auges. 


236 




























fischen moyeu = Eigelb aus lateinisch mediolus, Verkleinerung von 
flgdius, mittlerer). 

Libelle = Niveauwaage, dann übertragen auf das bekannte Insekt 
en seiner waagrechten Flügel beim Schwirren), kommt von lateinisch 
rLha kleine Waage, Verkleinerung von libra, Wasserwaage. Da franzö- 
• rb niveau aus der (gründlichen) Dissimilation von lateinisch libella her- 
S ' S gegangen ist, muß auch unser Fremdwort N i v e a u zu jenen verblaßten 
Verkleinerungswörtern gezählt werden, in denen das lateinische Suffix -ella 


verborgen ist. 

Li bell = Schmähschrift ist auch ein Diminutivum, doch nicht von 
Ub r a = Waage, sondern von liber = Buch. Libellus, Büchlein hieß bei den 
Römern ursprünglich ein aus einzelnen beschriebenen Papyrusblättern zusam¬ 
mengebundenes Buch, also gleichsam ein Buch im modernen Sinne, im 
Gegensatz zu dem auf einem langen zusammengerollten Papyrusstreifen 
geschriebenen liber. 

Bazillus kommt von bacillum, Stäbchen (wegen der stabartigen Form 
der Tierchen), Verkleinerung von baculum, Stab, woher auch unser deut¬ 
sches Bakel (meist nur noch in besonderen Ausdrücken gebraucht, wie: 
den Bakel schwingen, Schulmeisterbakel). Ein älterer Autor hat sogar die 
Grundform baculus selbst als eine Verkleinerung angesehen: von einem 
Hauptwort bax (Ernout-Meillet: „ohne Zweifel eine Phantasie des Gram¬ 


matikers"). 

Juwel kommt von altfranzösisch joel (jetzt joyau), das mitsamt italie¬ 
nisch giojello auf lateinisch jocellum schließen läßt, auf eine Verkleinerung 
von jocus, Scherz, aus dem die deutsche Studentensprache das später allge¬ 
mein gewordene Wort Jux bildete. 

Kapital oder Kapitell (Säulenknauf) kommt von capitellum, Köpf¬ 
chen, Verkleinerung von caput. Capitellum wird außerdem im Gascogni- 
schen zu capdet = Köpfchen, dann „Jüngerer unter mehreren Geschwi¬ 
stern", woraus dann über französisch cadet unser Kadett (vgl. das Stich¬ 
wort Hagestolz in „Wörter und ihre Schicksale"). Eine andere lateinische 
Verkleinerung von caput (capitulus) liefert unser Kapitel, das über 
„Hauptversammlung einer geistlichen Körperschaft" und „Hauptabschnitt 
einer Schrift“ zur heutigen Bedeutung gelangt. 

Tabelle kommt unmittelbar von lateinisch tabella, das über das Fran¬ 
zösische auch in der Form Tableau in unseren Wortschatz gelangt. 


Beide sind verblaßte Verkleinerungswörter, denn tabella ist die Ver¬ 
kleinerung von tabula, Tisch woher unser Lehnwort Tafel und über das 
Französische, mit dessen Verkleinerungsendung, Tablett. 


2 37 





Brezel kommt von mittellateinisch bracellum, Verkleinerung Vo 
bracchium, Unterarm (enthalten in „Brachialgewalt"); die Form des (> 
bäcks wurde mit der verschlungener Arme verglichen. Siegel kommt 
lateinisch sigillum, Verkleinerung von signum, Zeichen; P a r z e 11 e 
parcella, Teilchen, zu pars, Teil; Pustel von pustella, Verkleinerung von 
pustula; Kastell von castellum, Verkleinerung von castrum = Festuno 
Lager; Kanzel (althochdeutsch kancella) von cancelli, kleine Gitte^ 
kleine Schranken, Mehrzahl von cancellus, der Verkleinerung von cancer* 
Gitter; Schüssel (althochdeutsch scuzzila) von lateinisch scutella, Ve r , 
kleinerung von scutra, flache Schüssel. Kübel dürfte die Eindeutschun 
von mittellateinisch cupellus = Getreidemaß, Trinkgefäß sein, einer Ver 
kleinerung jenes lateinischen Wortes cupa = Faß, Becher, das uns schon 
früher — als Grundwort der verblaßten Verkleinerung Kuppel — begegnet 
ist. 


Wir sind unter den bisher behandelten verblaßten Diminutiven schon 
mehr als vierzig deutschen Hauptwörtern begegnet, deren Endung auf -el sich 
als Überbleibsel einer lateinischen Verkleinerungsendung erwiesen hat (Sockel, 
Rodel, Spatel, Spachtel, Skrofel, Skrupel, Buckel, Kuppel, Sichel, Vettel 
Formel, Zettel, Zwiebel, Zirkel, Fackel, Kachel, Nudel, Furunkel, Karbunkel, 
Karfunkel, Floskel, Ranunkel, Aurikel, Onkel, Tabernakel, Artikel, Muschel, 
Muskel, Faszikel, Konventikel, Pegel, Kapsel, Schemel, Pinsel, Säckel, Mantel, 
Juwel, Kapitel, Brezel, Siegel, Pustel, Kanzel, Schüssel, Kübel) und werden 
später noch ein Viertelhundert auf -el ausgehende Hauptwörter anführen, die 
— wenn auch andere als lateinische Suffixe verschmelzend — ebenfalls ver¬ 
blaßte Verkleinerungsformen sind (Tunnel, Troddel, Knäuel, Klüngel, Kreisel, 
Schaukel, Angel, Kegel, Pickel, Knödel, Gesindel, Gipfel, Kipfel, Stummel, 
Trommel, Rudel, Hügel, Runzel, Eichel, Schenkel, Enkel, Rüpel, Wiesel, 
Ferkel, Ärmel). Zu all diesen gesellen sich ferner jene mit -el endenden Ver¬ 
kleinerungswörter, die wir nicht aufgezählt haben, weil ihr Diminutivcharak¬ 
ter nicht als verblaßt bezeichnet werden kann (wie Bündel, Büschel, Gürtel, 
Knöchel, Krügel, Ringel, Stengel, Tüpfel usw.). Diese Fülle darf aber nicht 
etwa die Vermutung aufkommen lassen, alle deutschen Wörter, die auf -el 
ausgehen, seien ursprünglich Verkleinerungsformen gewesen. 

Vor allem gibt es viele deutsche Wörter, die die (unmittelbare oder auf 
dem Umweg über die französische Endung -cle erfolgte) Eindeutschung solcher 
auf -ulus, -ula, -ulum oder auf -culus, -cula, -culum ausgehender lateinischer 
Wörter sind, bei denen diese Endung entweder überhaupt kein Suffix ist oder 
mindestens kein verkleinerndes. Wir nennen z. B.: 

Büffel (bubalus), Epistel (epistula), Fabel (fabula, zu fari, sprechen), Fistel 
(fistula), Insel (insula), Klausel (clausula), Koppel (copula, vgl. weiter unten 

238 







Couplet)» Lavendel (mittellateinisch lavendula, zu lavare, waschen), Makel 
/macula), Mandel (amandula, Latinisierung von griechisch amygdale), Mirakel 
'miraculum), Monokel (-oculus, über französisch -ocle), Nebel (nebula), Orakel 
(oraculum), Pappel (populus), Pendel (pendulus), Pöbel und Pofel (populus), 
Regel (mittellateinisch regula), Schachtel (mittellateinisch scatula, woher auch 
Schatulle)» Schindel (scandula), Seidel (situla), Spektakel (spectaculum), Spie¬ 
gel (speculum), Stoppel (stipula), Tafel (tabula, vgl. oben Tabelle), Tiegel 
und Ziegel (tegula), Vehikel (vehiculum), Zimbel (cymbalum, griechisch 
kembalon). 

In einigen anderen Fällen sind auf -el ausgehende deutsche Wörter semi¬ 
tischen Sprachen entnommen; sie vertreten gewöhnlich einen Teil des 
semitischen Vorbildes mit jener Endung, der daher jeder Diminutivcharakter 
abgeht. Wir nennen z. B.: Jubel von hebräisch jobel (= Widder, welcher 
Tiername wegen des Widderhorns, mit dem nach altjüdischem Gesetz jedes 
fünfzigste Jahr eingeblasen werden mußte, in der christlichen Kirche des 
Mittelalters die Bedeutung Freudenschall bekam und zum mittellateinischen 
Zeitwort jubilare führte), Kamel über griechisch kamelos von hebräisch 
gamal, Kabel aus arabisch habl, Kittel aus arabisch qutn = Baumwolle 
(woher auch „Kattun“). Semmel (althochdeutsch semela, simila) geht über 
lateinisch simila, griechisch semidalis auf akkadisch (babylonisch) samidu 
=: feines Weizenmehl zurück. Bibel kommt über griechisch-lateinisch biblia 
von griechisch biblion = Buch, und dieses griechische Wort ist abzuleiten 
vom Namen der syrischen Hafenstadt Byblos, was wohl eine „rückschreitende 
Assimilation“ des phönikischen Namens Gebal war; heute heißt jener Hafen¬ 
ort Dschebel, ein semitisches Wort, das die Bedeutung Berg hat und in un¬ 
zähligen geographischen Bezeichnungen (in Asien und in Afrika) vorkommt. 
Fibel ist eine Dissimilation von „Bibel“ (Umwandlung des ersten b in f, 
zur Vermeidung der Wiederholung des b). G a s e 1 (eine für den persischen 
Dichter Hafis typische, in der deutschen Literatur u. a. von Schlegel, Platen, 
Rückert, Leuthold verwendete lyrische Gedichtsform) kommt von arabisch 
ghazal = Liebesgedicht, eigentlich Gespinst, weil der Reim durch viele Zeilen 
weitergesponnen wird. Das von Lenz und Immermann aus dem Studentischen 
in die allgemeine Literatursprache eingeführte Scheltwort Kessel = Dumm¬ 
kopf (das von der S. 82 behandelten Gefäßbezeichnung Kessel aus catinus 
fernzuhalten ist) kommt von hebräisch kesil = fett, dumm. Das Slangwort 
Schlammassel = Unglück (woher auch Schlamastik) ist auch kein 
Diminutivum; es ist zusammengezogen aus deutsch schlimm und hebräisch 
mazol = Stern, Glückstern, Geschick. Uber die möglicherweise hebräische 
Herkunft von Janhagel s. dieses Stichwort in „Wörter und ihre Schick¬ 
sale“. Ein aus dem Semitischen abzuleitendes deutsches Wort auf -el ist ferner 
Kümmel; seine Etymologie führt über lateinisch cuminum, griechisch 
kyminon zu semitischen Formen: hebräisch kammon, arabisch kammun. 

Im letzten Beispiel sehen wir, daß weder in den lateinisch-griechischen, 


239 







noch in den semitischen Vorläufern unseres Wortes Kümmel ein 1 Cnt ^ 
halten ist. Das deutsche 1 steht hier als Ersatz für das n der Vorbilder. Auf 
diesem Wege gelangen auch andere deutsche Hauptwörter zu einer -el-Endung 
die daher in diesen Fällen nichts von einem Diminutivcharakter hat. Wir 
nennen: Kessel (die vom früher behandelten gleichlautenden Scheltwort 
fernzuhaltende Gefäßbezeichnung) aus lateinisch catinus, Igel, verwandt mit 
griechisch echinos, Esel (gotisch asilus) aus lateinisch asinus (wenn es nicht 
doch von asellus, Verkleinerung von asinus kommt), Himmel (man vgl. 
gotisch himins, altnordisch himinn, englisch heaven), Orgel (althochdeutsch 
organa) aus lateinisch organa, Mehrzahl von organum (vgl. deutsch Organist, 
nicht etwa Orgelist). Der Bergmannsausdruck Kumpel entwickelt sich an¬ 
scheinend aus Kumpan, das über altfranzösisch compain auf mittellateinisch 
companio, Brotgenosse zurückgeht. 

Eine große Gruppe unter den auf -el ausgehenden deutschen Hauptwörtern, 
die keine Verkleinerungsformen sind, wird von Gerätenamen gestellt. 
Sie sind vorwiegend aus Zeitwörtern gebildet worden durch Anfügung 
der alten germanischen Endung -i 1 a oder -i 1 o. Wir nennen: 

Bügel zu biegen, Deckel zu decken, Fuchtel zu fechten, Griffel vermut¬ 
lich zwar von griechisch grapheion, Schreibgerät, aber mindestens angelehnt 
an greifen, Hebel zu heben, Henkel zu hängen, Klingel zu klingen, Klöppel 
zu klopfen, Löffel zu einer mit lecken verwandten germanischen Verbal¬ 
wurzel, Nadel zu nähen, Schlegel zu schlagen, Schlüssel zu schließen, Schwen¬ 
gel zu schwingen, Senkel (ältere Bezeichnung für Anker, noch gebräuchlich in 
Schnürsenkel) zu senken, Sessel zu sitzen, Spindel zu spinnen, Sprengel (ur¬ 
sprünglich Gerät zum Sprengen, d. h. Springen lassen des Weihwassers, dann 
erst auf den Amtsbereich einer Pfarrkirche übertragen) zu sprengen, Stachel 
und Stichel zu stechen, Stempel zu stampfen, Windel zu winden, Zügel zu 
ziehen. 

Weitere auf -el ausgehende Gerätenamen, die aber kein Zeitwort 
durchscheinen lassen, sind z. B. Bengel (eigentliche Bedeutung: Knüppel, 
s. S. 173), Deichsel, Flegel (s. S. 173), Gabel, Geissei, Haspel, Hechel, Hobel, 
Knüppel, Knüttel, Kurbel, Meißel, Nagel, Paddel, Prügel, Raspel, Riegel, 
Säbel, Sattel, Striegel. 

Die alte Endung -i 1 o lassen auch erkennen: Büttel, eigentlich der „Ent¬ 
bietende“ und Weibel (woraus Feldwebel), eigentlich der sich „Bewegende“. 
Zu Zeitwörtern zu halten sind ferner: Flügel zu fliegen, der auch als Schelte 
verwendete Vogelname Gimpel zu mittelhochdeutsch und auch heute noch 
mundartlich gumpen = hüpfen, springen, Scheitel zu scheiden, Schlingel zu 
schlingen (= schlenkern, schlendern), Schnabel zu schnappen, Speichel zu 
speien, Wirbel zu werben, Zwickel zu zwecken, zwicken. 

Im Falle von Bettel, Bummel, Dünkel, Handel, Kitzel, Rappel, Rüffel, 
Schmuggel, Taumel, Wandel, Wickel liegen Rückbildungen aus 
Zeitwörtern vor, das -el ist kein hauptwörtliches Suffix, sondern ist 


240 











r 

bereits in den zugrundeliegenden Zeitwörtern (bummeln, denken, handeln 
usW .) enthalten. 

Achsel und Nabel sind zwar verwandt mit Achse und Nabe, doch sind sie 
nicht deren Verkleinerungen. Ebenso sind nicht als Verkleinerungsformen 
anzusehen: Adel, Amsel, Apfel, Apostel, Bakel (s. oben Bazillus), Dackel, 
pattel (von griechisch daktylos s. S. 17), Debakel, Distel, Drossel, Dusel, 
Ekel (Nebenform von heikel?), Engel, Erpel (norddeutsch für Enterich), 
Exempel, Fessel, Fiedel, Frevel, Fusel, Geisel (keltischer Herkunft, s. S. 41), 
Giebel, Gondel, Greuel, Gurgel, Hagel, Hammel, Hummel, Hyperbel, Kalomel 
(von griechisch kalos, schön und melas, schwarz), Klachel (s. S. 173), Kogel, 
Krüppel (verwandt mit kriechen und Kropf), Kugel, Lümmel, Mergel 
( s> S. 42), Mispel, Möbel, Morchel, Mörtel, Mündel, Nessel, Pantoffel, 
Parabel, Paspel (entstellt aus französisch passe-poil), Pudel, Rubel (urverwandt 
m it dem indischen Münzennamen Rupie), Rummel, Rüssel, Schädel, Schen¬ 
kel, Scharmützel, Schimmel, Schmirgel, Schwefel, Segel, Spargel, Spittel, 
Staffel, Stapel, Stiefel (altfranzösisch estival, mittellateinisch aestivale = 
Sommerliches), Strudel, Tadel, Tarantel, Tempel, Teufel (s. dieses Stichwort 
in „Wörter und ihre Schicksale“), Trubel, Trüffel (dessen italienisches Vor¬ 
bild aber selbst Grundwort für eine Verkleinerung ist, s. S. 243 Kartoffel), 
Tümpel, Vogel, Wachtel, Waffel, Wechsel, Wedel, Weichsel, Wimpel, Wipfel, 
Wurzel, Zagei, Zobel, Zweifel. 

Zu den verblaßten Verkleinerungswörtern zurückkehrend, wenden wir 
uns jenen deutschen Hauptwörtern zu, in denen griechische Diminu- 
tiva verborgen sind. 

Basilisk, heute der Name einer amerikanischen Leguangattung, war 
im Altertum (Plinius) und im Mittelalter ein bösartiges Fabelwesen, das 
aus mißgestalteten Eiern des Haushuhns von Schlange und Kröte ausgebrü¬ 
tet worden sei. Basiliskos bedeutet eigentlich: kleiner König (zu basileos, 
König). 

Obelisk = Denksäule kommt von griechisch obeliskos, Verkleinerung 
von obelos = Spieß. 

Idyll kommt über lateinisch idyllium von griechisch eidyllion, Schil¬ 
derung des Ländlichen, das eine Verkleinerung von eidos 1 = Bild ist. 

1) Zur Sippe dieses eidos, aus dem unsere Fremdwörter eidetisch, Eidetik 
unmittelbar gebildet sind, gehören auch die Wörter Idee, Ideal, Idol und dann 
auch das lateinische Zeitwort videre (visum), aus dem sich die Fremdwörter 
Vision, revidieren, visieren, improvisieren, Visum, vis-ä-vis, Visage, Aviso, 
evident, Provision, Revue, Bellevue, Belvedere usw. entwickeln. Urverwandt 
mit eidos und videre ist ferner deutsch „wissen“ und was dazu gehört: wis¬ 
sentlich, gewiß, Gewissen, bewußt, weise, weisen, Verweis, Beweis, weis¬ 
sagen, Witz usw. 


18 Storfer • Sprache 


24 1 













Opium kommt über das Lateinische von griechisch opion, Verklei¬ 
nerung von opos = pflanzlicher Milchsaft, 

Podium, ebenfalls über das Lateinische von griechisch podion, Ver¬ 
kleinerung von pous (pod-) = Fuß, 

Trapez (wegen der Form der geometrischen Figur) von griechisch 
trapezion = Tischlein, Verkleinerung von trapeza = Tisch, das selbst dic- 
Kurzform von tetrapeza = Vierfuß 1 ist. 

* 

Nicht gering ist die Zahl der deutschen Lehn- und Fremdwörter, i n 
denen — mit verblaßtem Verkleinerungscharakter — italienische Di- 
minutivsuffixe enthalten sind. Wir nennen einige: 

S p i n e 11 (in der Musikgeschichte auch Kielklavier genannt) bedeutet 
wörtlich „Dörnchen”. Es hieß italienisch spinetta (französisch epinette) und 
das ist die Verkleinerung von lateinisch spina, Dorn. Dieser Name des 
Instruments kommt vom Dorn (Federkiel), der die Saiten anreißt 2 . 

Boilette bedeutet wörtlich kleine Bulle; italienisch bolletta, Berechti¬ 
gungsschein ist die Verkleinerung von mittellateinisch bulla, Urkunde. (Aus 
einer zu lateinisch bulla gehörenden französischen Verkleinerung gelangen 
wir auch zu unseren Fremdwörtern Billett und Bulletin.) 

Palette hat die wörtliche Bedeutung Schaufelchen; das Grundwort ist 
lateinisch und italienisch pala = Schaufel, Spaten. 

Klarinette (italienisch clarinetto), der Name des 1690 erfundenen 
Holzblasinstrumentes, ist die Verkleinerung von clarino (auch deutsch 
„Klarin”) = hohe Solotrompete (aus der Sippe von lateinisch clarus = 
klar, hell). 

Rakete kommt von gleichbedeutendem italienischem rocchetta, das in 
der Mitte des 16. Jahrhunderts zuerst in der Form Rogeten ins Deutsche 
gelangt. Italienisch rocchetta ist die Verkleinerung von rocca = Spinnrocken 
und dieses italienische Grundwort ist deutscher Herkunft. Die althoch¬ 
deutsche Spinngerätbezeichnung rocko ergab italienisch rocca, spanisch rueca. 

1) Während das deutsche „Tisch“ (von griechisch diskos, Wurfscheibe) eine 
auf dem Begriffselement des Runden aufgebaute Bezeichnung ist, fußt also 
die griechische Benennung des Tisches wörtlich auf vier Füßen. Demnach ist 
für das Griechische ein dreibeiniger Tisch eigentlich ebenso ein Widerspruch 
in sich, wie für das Deutsche ein viereckiger Tisch. 

2) Von lateinisch spina leitet sich auch der anatomische Fachausdruck 
spinal = zum Rückenmark gehörig ab. Hingegen ist Spinat fälschlicher¬ 
weise zu spinatus = mit Spitzen versehen gehalten worden, der aus persisch 
äspänah, arabisch isfinag entlehnte Pflanzenname hat sich an das lateinische 
spinatus höchstens angelehnt. 

242 









Den Feuerwerkskörper bezeichnten die Italiener wegen der äußeren Ähn¬ 
lichkeit als „kleinen Rocken" (man beachte auch im Französischen fusee = 
Rakete zu fuseau = Spindel). Aus italienisch rocchetto wird im Deutschen 
in der Mitte des 16. Jahrhunderts zuerst Rogeten, dann wurde daraus 
Racketlein 1 und schließlich — unter Verzicht auf die deutsche Verklei¬ 
nerungsendung, die zum Überfluß auf die romanische noch aufgepfropft 
worden war — Rakete. 

Kamisol = kurze Jacke, Unterjacke kommt über französisch camisole 
aus italienisch camisciula, Verkleinerung zu mittellateinisch camisia (das 
auch zu französisch chemise und anderen romanischen Wörtern führt und 
vermutlich auch mit unserem „Hemd" urverwandt ist). 

Kartell (ursprünglich die Kampf Ordnung beim Ritterturnier, jetzt 
hauptsächlich als Bezeichnung gewisser Vereinbarungen mehrerer Geschäfts¬ 
firmen) kommt über französisch cartel vom italienischen Diminutivum car- 
tello, dessen lateinisches Grundwort Charta, Urkunde, beschriebenes Papier 
ist. 

Pistole, die Münzenbezeichnung, die fernzuhalten ist vom Namen der 
Handwaffe (s. S. 118 f), kommt von italienisch piastola, Verkleinerung von 
piastra (mittellateinisch plastrum) = Metallplatte. 

Banderole, von dessen verschiedenen Bedeutungen (darunter in 
Malerei und Plastik: Spruchband) heute in Deutschland dank der sogenann¬ 
ten Banderolensteuer jene die bekannteste ist, die den um die Zigaretten¬ 
schachtel geklebten Steuerstreifen betrifft, kommt über das Französische von 
italienisch banderuola, Verkleinerung von bandiera = Banner. 

Kartoffel heißt die bald nach der Entdeckung Amerikas nach 
Europa gebrachte Pflanze erst seit dem 18. Jahrhundert. Bis dahin lautete 
der deutsche Name: Tartuffeln oder Tartüffeln, entlehnt von den Italienern, 
die die Erdäpfelknollen nach ihrer Ähnlichkeit mit den Trüffeln tartufoli, 
kleine Trüffeln nannten; das Grundwort ist tartufo = Trüffel (aus lateinisch 
tuber terrae = Erdknollen, s. S. 232 Tuberkel). 

* 

Spanische Verkleinerungsendungen sind enthalten in folgenden 
Wörtern : 

Kar ave Ile (im Deutschen zuerst 1496: karuele, die Bezeichnung einer 
bestimmten Segelschiffart) kommt, ebenso wie französisch caravalle, eng- 

. x ) Vortoniges a für fremdes o wie in den Fällen von Gardine aus latei¬ 
nisch cortina, Halunke aus tschechisch holomek, lavieren aus niederländisch 
loveren usw. (Kluge-Götze). 


lfl* 


^43 







lisch caravel, carvel von spanisch carabela, Verkleinerungsform von arabisch 
qarib = Barke. 

Vanille kommt von spanisch vainilla, Verkleinerung von vaina = 
Schote (aus lateinisch vagina = Scheide, Hülse). 

Platin hat eigentlich die wörtliche Bedeutung Silberchen, denn es 
kommt von spanisch platina, Verkleinerung von plata = Silber (Rio de la 
Plata = Silberstrom). Man hielt nämlich das von Antonio de Ulloa 1736 
im Goldsande des Flusses Pinto in Peru entdeckte Platin zuerst für eine 
Silberart. (Zur Bedeutung „Silber“ gelangt spanisch plata durch Übertra¬ 
gung vom ursprünglichen Sinn „Metallplatte ; das "Wort gehört zur gleichen 
Sippe wie griechisch platys = flach und deutsch platt.) 

Die aus dem Spanischen herrührenden Fremdwörter Flottille, Kamarilla, 
Mantille, Guerilla kann man nicht zu den verblaßten Verkleinerungen 
zählen, da sowohl die Grundformen, als die zu ihnen führenden Bedeu¬ 
tungsbeziehungen leicht erkennbar sind. 

* 

Von den deutschen Fremdwörtern, die französische Verkleinerungs¬ 
endungen enthalten, ohne daß sie sofort als solche erkennbar wären oder 
ohne daß es zufolge des Bedeutungsabstandes ohne weiteres erkennbar wäre, 
welches Grundwortes Verkleinerung sie darstellen, erwähnen wir: 

Parkett kommt von französisch parquet, das im engeren Sinne eine 
Abteilung in einer Pferdeweide oder in einem Park bezeichnet und die Ver¬ 
kleinerung von parc = Gehege, öffentliche Anlage ist. Dieses französische 
parc selbst kommt von deutsch Pferch (althochdeutsch pfarrih), das mit 
Pfarre, Pfarrer verwandt ist. 

Vignette, Druckverzierung kommt vom gleichlautenden französischen 
Wort, mit der eigentlichen Bedeutung Weinranke, Verkleinerung von vigne, 
Rebe, aus lateinisch vinea, Weinstock (aus der Sippe vinum Wein). 

Etikette enthält eine germanische Wurzel; niederdeutsch sticke (ver¬ 
wandt mit Stecken) = Stiftchen ergibt nordfranzösisch verkleinert estiquete, 
französisch etiquette, das sich kaufmännisch über „Stift zum Anheften eines 
Zettels“ zu „Bezeichnungszettel“ entwickelt (Kluge-Götze). Am französi¬ 
schen Hof gab es Zettel mit der Hofrangordnung, was zur zweiten Bedeu¬ 
tung von Etikette führte: Inbegriff der höfischen Förmlichkeiten. Deutsch 
so zuerst 1708 in Wien. 

Kastagnette kommt vom gleichlautenden französischen Worte. Es 
enthält den Namen der Kastanie. Zwar wi rd lateinisch castanea 1 im Fran- 

i) Lateinisch castanea und griechisch kastanon beruhen auf der armeni¬ 
schen Benennung dieser Frucht: kaskeni. Andere leiten den Namen der Ca- 



244 













zösischen zu chätaigne, aber da das! Spanische die Tanzklapper mit einer 
Kastanie vergleicht und sie als kleine Kastanie bezeichnet (castaneta zu 
castana), ahmt das Französische den spanischen Vorgang in der Weise nach, 
daß es der lateinisch-spanischen Grundform die französische Verkleinerungs¬ 
endung -ette anfügt. 

Toilette ist die Verkleinerung von französisch toile == Schleier, das 
zu lateinisch texere, weben gehört (woher unser Fremdwort textil). 

Manschette ist eigentlich Ärmelchen; das Grundwort des Diminuti- 
vums manchette ist manche = Ärmel (lateinisch manica). 

Taburett, niederer Sessel ohne Lehne, kommt von französisch tabou- 
ret, der Verkleinerungsform von altfranzösisch tabour= Handtrommel, das 
auf das gleichbedeutende arabische tabl zurückgeht. Aus der gleichen semiti¬ 
schen Quelle kommt auch Tambur, dessen Verkleinerung Tamburin. 

Kotelett (französisch cötelette) ist die Verkleinerung von cöte, Rippe, 
aus lateinisch costa. 

Feuilleton ist die Verkleinerung von französisch feuille (lateinisch 
folium) = Blatt. Diese Bezeichnung des Unterhaltungsteiles einer Zeitung 
als Blättchen geht darauf zurück, daß er ursprünglich wirklich eine „Bei¬ 
lage" des Hauptblattes bildete. (Man vgl. noch jetzt die im Halbformat 
erscheinende Literaturbeilage zum Berner Bund: „Der kleine Bund" und 
ebenfalls in Halbformat die Jugendbeilage der Basler National-Zeitung: 
„Der kleine Nazi"). 

Couplet, heute im Deutschen angesichts der Vorherrschaft des „Schla¬ 
gers" nicht mehr häufig gebraucht, in der Vorkriegszeit jedoch als Bezeich¬ 
nung (selbständiger oder in Operetten eingebauter) aktueller satirischerKehr- 
reimlieder sehr geläufig, geht auf das gleichlautende französische Wort 
zurück, das die Verkleinerung von couple = Paar ist (aus lateinisch copula, 
woher auch unser Koppel und kuppeln). 

Billett und Bulletin haben wir als französische Verkleinerungen, 
die zu lateinisch bulla, Urkunde gehören, schon neben Boilette erwähnt 
(s. S. 242). 

Der Name der Renette-Äpfel (sie bilden die 7. bis 12. Klasse des 
Diel-Lucasschen Apfelsystems) kommt von französisch rainette, Laubfrosch, 
an dessen grüne Farbe die Apfelgattung ihren unbekannten Taufpaten 
anscheinend erinnerte. Rainette ist die Verkleinerung des veralteten Wortes 


stania sativa von einer Stadt Kastana am Schwarzen Meere im Altertum ab, 
doch empfiehlt es sich eher anzunehmen, daß die Stadt selbst nach den Ka¬ 
stanienbäumen jener Gegend benannt worden sei. 


*4S 





1 


raine (zu lateinisch rana) = Frosch. Vgl. auch oben (S. 233) das Wort 
Ranunkel. 

Über Flanell, das eine Verkleinerung von altfranzösisch flaine = 
Wolle ist und von dort auf keltischen Ursprung zurückzuführen ist, s. das 
Stichwort „Flanell" (S. 36); vgl. auch unter den dort anschließend 
behandelten Wörtern keltischen Ursprungs das Wort Tunnel, das eben¬ 
falls eine verblaßte französische Verkleinerungsform ist und eigentlich die 
Bedeutung „kleine Tonne" hat. 

Über Epaulette, Korsett, Culotte wird später (S. 252) noch die Rede sein, 
im Zusammenhang der Kleidungsstückbezeichnungen, die Verkleinerungen 
von Körperteilbezeichnungen sind. 

»(. 

In allen bisher als verblaßte Verkleinerungsformen behandelten Haupt¬ 
wörtern hat es sich um f rem de Suffixe gehandelt, deren Verkleinerungs¬ 
charakter in den betreffenden Wörtern mehr oder weniger unkenntlich 
geworden ist. Aber auch unter jenen deutschen Wörtern, die deutsche 
Verkleinerungsendungen enthalten, findet sich das eine oder andere, bei 
dem es nicht ohne weiteres klar ist, ob eine Verkleinerung vorliegt, bezw. 
welches das Grundwort ist, dem die Verkleinerung zuteil geworden ist. 
In vielen Fällen ist das Grundwort bereits abgestorben. Troddel = 
Quaste ist z. B. die Verkleinerung eines Grundwortes, das sich im Neuhoch¬ 
deutschen nicht mehr vorfindet: mittelhochdeutsch trade, althochdeutsch 
trado = Saum, Fransen am Saum. Ähnliches gilt für Knäuel (mittel¬ 
hochdeutsch kniuwel, kniuel, kliuwelin, althochdeutsch kliuwilin), Verklei¬ 
nerung von mittelhochdeutsch kliuwe, althochdeutsch kliuwa, chliwa = 
Kugel 1 . Die Bedeutung Knäuel hatte ursprünglich auch das Wort Klün¬ 
gel. Die Verkleinerung vollzog sich im Althochdeutschen: klungilin aus 
klunga = Knäuel. Der Bedeutungsübergang von „Garnknäuel" zu „Clique, 
Parteiwirtschaft" hat sich am Niederrhein vollzogen 2 . Auch Kreisel 
(oder Kräusel) ist die Verkleinerungsform eines abgestorbenen Wortes 

1) Daß der Diminutivcharakter von Knäuel nicht mehr empfunden wird, 
bestätigt auch der Umstand, daß dieses Diminutivum noch weiter diminutiv 
behandelt werden kann. In Wien wird das Doppeldiminutivum K n ä u 1 e r 1 
schon darum nicht selten gebraucht, weil es gleichsam ein Schiboleth ist: eine 
alte Scherzregel besagt, wenn andersmal nicht, bei der Aussprache dieses 
Wortes müsse sich der nicht echte 'Viener unfehlbar als solcher verraten. 

2) In Köln bedeutet Klüngel: Knäuel, Garnknäuel, ferner ein vom 
Kleide herabhängender Fetzen, nachlässige Behandlung von Aufträgen, Mi߬ 
stände im öffentlichen Leben, dadurch, daß maßgebende Personen einander 
durch die Finger sehen oder sich beeinflussen lassesn (E. Müllenbach). Die 


2 46 







(und nicht etwa die Verkleinerung von „Kreis"', obschon diese Ableitung 
angesichts des sich im Kreise drehenden Kreisels sehr verlockend erscheint). 
Kreisel bedeutet eigentlich: kleiner Krug. Die Grundform ist mittelhoch¬ 
deutsch krus = Krug. Entsprechend dem Vergleich dieses Kinderspielzeugs 
Aut einem Krug hat der Kreisel auch den mundartlichen Namen Topf 
(niederdeutsch dop). 

Schaukel (bei Luther Schuckei) ist wohl die Verkleinerung von mit¬ 
telniederdeutsch schucke, welches Hauptwort bereits die Bedeutung Schaukel 
hatte. Angel, althochdeutsch angul, ist die Verkleinerung von althoch¬ 
deutsch ango = Stachel, Türangel (vgl. das Stichwort „Angel, Anker" in 
^Wörter und ihre Schicksale"). Kegel (althochdeutsch kegil = Pfahl, 
Pflock) weist nach Kluge-Götze auf ein westgermanisches Diminutivum 
kagila, das erschlossen wird aus schwäbisch-bayrisch Kag = Strunk, Kohl¬ 
stengel, englisch mundartlich cag = Stumpf, norwegisch mundartlich kage 
= niedriger Busch. Pickel = Eiterpustel (fernzuhalten von Pickel in 
Pickelhaube, das mit „Becken" verwandt ist) ist die Verkleinerung von 
mittelhochdeutsch pic = Stück. Knödel bedeutet eigentlich einen kleinen 
Knoten, denn es ist die Verkleinerung jenes mittelhochdeutschen Wortes 
(knote, knode), dessen neuhochdeutsche Fortsetzung „Knoten" ist. 

Gesindel bedeutet eigentlich „kleines Gesinde" und hat bei Luther 
noch keinen verächtlichen Sinn. (Als ältesten Beleg für den Scheltencharak¬ 
ter des Diminutivums wird bei Kluge-Götze aus dem Jahre 1618 angeführt: 
„Joseph hat nichts gemein mit dem übrigen Gesinde, das man eher Gesind- 
lein nennen sollte.") Gipfel ist die Verkleinerungsform von mittelhoch- 

Bedeutungsbrücke von Garn zu Clique bildet anscheinend die Vorstellung 
„Anhang“ (was dem Kleide anhängt). Heine, der Rheinländer, gebrauchte 
Klüngel öfters im Sinne von Clique. Im Elsaß hat Klüngel, Klüngel neben 
Knäuel auch die Bedeutung: dicke Weibsperson. Ebenso Chlunge im Schwei¬ 
zerischen. Vielleicht sind „Klüngel“ und „Knäuel“ (d. h. die althochdeutschen 
Grundformen klunga und kliuwa) untereinander auch etymologisch ver¬ 
wandt. Es ist auch hingewiesen worden auf englisch cling (aus angelsächsisch 
clingan) = sich anklammern. Zwischen Klüngel und Clique dürfte hin¬ 
gegen trotz der Synonymität und der Übereinstimmung im Anlaut keine 
Verwandtschaft bestehen. Unser dem Französischen entnommenes Fremdwort 
Clique beruht auf lautmalerischen Zeitwörtern. (Cliquer ist die ältere Form 
von claquer = klatschen, schnalzen; cliqueter = klirren, rasseln; clicher = 
abklatschen, daraus unser Fremdwort C 1 i c h e, wegen des Geräusches beim 
Abformen, beim Matrizieren; man vgl. das deutsche Hauptwort „Abklatsch“. 
Die im Falle Clique zu Tage tretende Bedeutungsbeziehung zwischen den 
Vorstellungen „Geräusch verursachen“ und „Klüngel“ dürfte ähnlich beschaf¬ 
fen sein, wie jene im Falle von englisch racket, das von der Bedeutung Tu¬ 
mult, Getöse zu der von Verbrecherbande gelangt.) 

247 








deutsch gupf (Nebenform von kupfe, neuhochdeutsch Kuppe) = höchste 
Spitze, das zur Sippe cupa—Kopf—Kübel—Kufe—Giebel gehört, aus der 
wir unter den verblaßten Verkleinerungsformen bereits das Hauptwort Kup¬ 
pel (S. 230) kennen gelernt haben. K i p f e 1, die österreichische und schwei¬ 
zerische Bezeichnung für das in Deutschland meistens Hörnchen heißende 
Gebäck, ist die Verkleinerung von mittelhochdeutsch kipfe, althochdeutsch 
kipfa, aus lateinisch cippus = Pfahl, woher auch das Wort Kippe = Spitze 
(z. B. in der Wendung „auf der Kippe stehen"). Stummel scheint die 
Verkleinerung von Stump (Stumpf) zu sein. Schon im Althochdeutschen 
bestand neben dem Primitivum stumpf das Diminutivum stumbal. Anglei¬ 
chung von -mb- zu -mm- wie bei dumm, Lamm, Zimmer aus tumb, lamb, 
zimbar. Der gleiche Assimilationsvorgang zeigt sich bei Trommel, dessen 
spätmittelhochdeutscher Vorläufer trumbel = Trommel, Trompete, Posaune 
anscheinend die Verkleinerung von althochdeutsch trumba ist, das auf dem 
Umweg romanischer Verkleinerung auch zu unserem Trompete führt. 
Rudel ist vielleicht die Verkleinerung von „Rotte"; erweisen läßt es sich 
nicht. 1 

Daß Nelke eigentlich die Verkleinerung von Nagel ist, bestätigen auch 
die mundartlichen Formen niederdeutsch Negelken, oberdeutsch Nägelein. 
Die Bedeutungsbeziehung zwischen dem eisernen oder hölzernen Stift und 
der Blume erscheint sonderbar, klärt sich aber einfach auf. Es wurden zuerst 
die als Gewürz verwendeten getrockneten Blütenknospen des auf den Mo¬ 
lukken heimischen Baumes Eugenia caryophyllata (Caryophyllus aromaticus) 
als „kleine Nägel" bezeichnet; weil sie an die Gestalt der alten handge¬ 
schmiedeten Nägel erinnerten. Als nun der Name des Gewürzes feststand 
(negelkin, nelichen usw.), wurde er — ungeachtet des Umstandes, daß 
der Name eigentlich etwas über die äußere Form aussagt — auf die Garten¬ 
blume übertragen und bei dieser zweiten Übertragung war der Duft die 
Ubertragungsgrundlage 2 . (Zur Not könnte allerdings auch von einer Form¬ 
ähnlichkeit zwischen der Blume und dem Nagel gesprochen werden.) 

Hügel bedeutet eigentlich „kleine Höhe"; es ist die Verkleinerung von 
althochdeutsch houg, mittelhochdeutsch houc, womit eine Anhöhe bezeich- 

1) Im Falle von Achsel und von Nabel ist wohl eine etymologische 
Beziehung dieser Körperteilnamen zu den Wagenteilnamen Achse und Nabe 
einleuchtend, doch scheint nicht eine Verkleinerung vorzuliegen. 

2) Man kann in solchen Fällen von Metaphern zweiter Potenz sprechen. 
Man vgl. einen ähnlichen Übertragungsvorgang S. 186 f: Wolf (lupus, reißendes 
Tier) — Lupus (reißend um sich greifendes Geschwür, das nebstbei linsen¬ 
förmig ist) — Lupe (Vergrößerungslinse) und auch das Stichwort Porzellan 
in „Wörter und ihre Schicksale“ (Schwein — weiblicher Geschlechtsteil — 
Muschel — Porzellan). 


248 






net wurde (aus der Sippe von „hoch", englisch high) .Runzel gehört auch 
zu jenen deutschen Wörtern, die neuhochdeutsch nur in Verkleinerungsform 
Vorkommen, deren mittel- und althochdeutschen Vorläufer aber die Grund¬ 
form noch nicht verdrängt hatten: althochdeutsch runza und runzala, mittel¬ 
hochdeutsch runze und runzel. Eichel (althochdeutsch eihhila) ist die 
Verkleinerung von Eiche (eih); die Frucht wird als das Kind, als das Junge 
des Baumes angesehen. Schenkel (verwandt mit Schinken) scheint die 
Verkleinerung eines westgermanischen skanka zu sein, das aus den gleich¬ 
bedeutenden Wörtern shank (englisch), schank (flämisch), skonk (norwe¬ 
gisch mundartlich) erschlossen wird. Nichte führt zurück über mittel¬ 
hochdeutsch niftel 1 zu althochdeutsch niftila, Verkleinerung von nift, dessen 
Bedeutung Enkelin oder Stieftochter war. Enkel bedeutet eigentlich Ahn¬ 
dien, denn althochdeutsch eninchili ist die Verkleinerung von ano. Da die 
Verkleinerung von Ahne als Bezeichnung des Großvaters verwendet wird 
(z. B. Ahnerl im Bayrischen), so mutet es sonderbar an, daß derselbe Aus¬ 
druck auch die Bedeutung Enkel hat. Bei Kluge-Götze heißt es: „Der Gro߬ 
vater gibt dem Enkel die Anrede ,Großvater' freundlich zurück." Anders F. 
Harder (W. Schulze und J. v. Müller folgend): „Die Griechen benannten 
die Söhne oft nach dem Namen des Großvaters, und man macht oft die Be¬ 
obachtung, daß sich die Eigenschaften der Großeltern mehr auf den Enkel 
als auf die Kinder vererben." 

Mannequin = Probierfräulein hat eigentlich die Bedeutung „Männ¬ 
chen". Diese Geschlechtsumkehrung erklärt sich daraus, daß das Wort im 
Französischen, woher wir es haben, die allgemeine Bedeutung Puppe, Ma¬ 
rionette, Hampelmann (auch im übertragenen Sinne: Schwächling), Puppe 
für den Fechtunterricht, den Zeichenunterricht, Probierpuppe des Schneiders 
usw. hat, indes im Deutschen dieses Fremdwort hauptsächlich zur Bezeich¬ 
nung der „Probiermamsell" dient. Das Wort enthält eine niederdeutsche, ge¬ 
nauer gesprochen eine flämische Verkleinerungsendung: das ins Französi¬ 
sche entlehnte flämische Wort lautet mannekin = Männchen, niederdeutsch 
Männeken. (Wir erinnern an das berühmte Brüsseler Brunnenbüblein Man- 
neken-Pis.) 

Von deutschen Personennamen, die in ihrer Verkleinerungsform (Kurz¬ 
form, Koseform) zu Gattungsnamen geworden sind, nennen wir: Rüpel 
= Rohling, Verkleinerung von Ruprecht und Metze = Dirne, Verklei¬ 
nerung von Mechtild, Mathilde. 


i) Analogien für die Umwandlung von -ft- in -cht-: Gerücht aus mittel¬ 
hochdeutsch geruofte zu rufen; sacht, das mit sanft eng verwandt ist; Schacht, 
das die niederdeutsche Entsprechung von Schaft ist. 


249 











Zu den verblaßten Verkleinerungswörtern sind auch solche Wörter zu 
zählen, die zwar unverkennbare Diminutivendungen haben, aber kein ge¬ 
läufiges Wort als Grundform erkennen lassen. Das Wort Scherflein, 
von Luther 1 in die Schriftsprache eingeführt, das wir eigentlich nur in den 
Wendungen „sein Scherflein beitragen" und „das Scherflein der Witwe" 
gebrauchen, erklärt sich als Verkleinerung eines älteren Wortes Scherf (alt¬ 
hochdeutsch scerf, mittelhochdeutsch scherpf), das eine kleine Münze des 
Mittelalters bezeichnete. Ebenso ungeläufig ist heute das seit dem 18. Jahr¬ 
hundert ganz abgestorbene Wort Veil, die Grundform von Veilchen. 
Veil kam von lateinisch viola, das aber schon selbst eine Verkleinerung war, 
u. zw. von ion, der griechischen Bezeichnung dieser Blume. Veilchen ist 
also eine verkleinerte Verkleinerung, eine Verkleinerung der zweiten Po¬ 
tenz. Dasselbe gilt auch für Frettchen, den Namen einer Iltisart. Die 
Grundform Frett kommt von italienisch furetto, Diebchen, der Verkleine¬ 
rung von lateinisch für. (Eine andere Verkleinerung von für ist der schon 
behandelte Furunkel.) Das Frettchen wird als „Dieb" bezeichnet, weil es 
schon von den Römern, wie es auch heute geschieht, zum Fangen („Steh¬ 
len") von Wildkaninchen 2 und anderen Schädlingen der Landwirtschaft 
verwendet wurde. 

Weniger als beim Frettchen verrät sich der Diminutivcharakter im Namen 
eines anderen, naheverwandten kleinen Raubtieres. Hermelin kennt das 
Neuhochdeutsche nur in dieser Form, während im Mittelhochdeutschen her- 
melin und im Althochdeutschen harmili noch als Diminutiva empfunden 
worden sind, da die Grundformen harme, harmo = Wiesel daneben noch 
lebendig waren 3 . Aus dem Verblassen des Verkleinerungscharakters ergibt 

1) Mark. 12,42, wo die arme Witwe allerdings zwei Scherflein in die 
Büchse legt. Luther kannte die Münze Scherf aus seiner Erfurter Zeit. Seinen 
oberdeutschen Zeitgenossen mußte das Wort verdeutscht werden: in Ingol¬ 
stadt mit „Haller“, „Ortlin“, in Basel mit „halber Heller“, „örtlin“, in Zü¬ 
rich mit „Örtly“ (Trübners Wörterbuch). 

2) Unklar sind die Verhältnisse im Falle von Kaninchen. Ich möchte 
es am liebsten — im Gegensatz zu den verblaßten Verkleinerungsformen — 
als vorgetäuschte Verkleinerungsform bezeichnen. Mittelhochdeutsch küniklin 
ist die Eindeutschung von lateinisch cuniculus, das jedoch kaum als Verklei¬ 
nerungsform gelten kann, sondern vermutlich die latinisierte Form eines 
iberischen (oder baskischen oder semitischen) Wortes ist, das die Römer in 
Spanien, vielleicht auf den Balearischen Inseln, in ihren Sprachschatz auf¬ 
genommen haben. Das Wort Kanin, mit dem man jetzt im Kürschnerge¬ 
werbe das Kaninchenfell bezeichnet, ist nicht etwa die Grundform zu Kanin¬ 
chen, sondern ist erst nachträglich aus diesem Worte gebildet. 

3) Unbegründeterweise hat man „Hermelin“ mit „armenisch“ in Verbin¬ 
dung zu bringen versucht. 


250 







■ 


sich die merkwürdige Betonung des Wortes Hermelin. Die etymologisch be¬ 
gründete Betonung wäre nicht die auf der letzten Silbe (wie bei den Fremd- 
und Lehnwörtern Anilin, Kamin, Pinguin usw.), sondern die auf der ersten 
Silbe (wie auch bei anderen rein deutschen Verkleinerungswörtern: Mägde¬ 
lein, Vögelein usw.) 1 . Wiesel geht zurück auf althochdeutsch wisula, Ver¬ 
kleinerung von wiessa (verwandt mit englisch fitch = Iltis). Heimchen 
= Grille ist die Verkleinerung von mittelhochdeutsch heime = Hausbewoh¬ 
nerin. Ferkel (althochdeutsch farhilo, mittelhochdeutsch ferhelin) ist die 
Verkleinerung von althochdeutsch farah (in oberdeutschen Mundarten heute 
noch Farch), das die germanische Verwandte von lateinisch porcus = 
Schwein ist. Forelle ist assimiliert aus dem älteren Forenle, das die ober¬ 
deutsche Verkleinerungsendung -le noch gut erkennen läßt. Im Mittelhoch¬ 
deutschen hieß es noch unverkleinert forhe oder forhen (althochdeutsch 
forhana). Auch mundartlich werden unverkleinerte Formen noch bezeugt: 
schwäbisch Forhen, schweizerisch Forene, bayrisch Fehrne. Eule ist die 
Verkleinerungsform eines nicht mehr feststehenden alten Namens des Uhus, 
der größten Eulenart. Der althochdeutsche Vorläufer von Eule, uwila, läßt 
den Diminutivcharakter noch erkennen. Den Tiernamen Libelle haben 
wir bereits bei den verblaßten Verkleinerungen lateinischer Herkunft be¬ 
handelt. 

Als Tiernamen mit verblaßtem Diminutivcharakter haben auch solche 
Tiernamen zu gelten, die ursprünglich nur das kleine Tier, das Junge vom 
Tier bezeichneten, jetzt aber für das betreffende Tier überhaupt verwendet 
werden. So bedeutet Stier, althochdeutsch stior, eigentlich: Stierkalb, Jung¬ 
stier. (Englisch steer = junger Ochse). Auch Schwein bezeichnet eigent¬ 
lich nur das Junge dieses Tieres, Man nimmt eine indogermanische Wurzel 
su an (zu der unser Sau gehört). So wie griechisch hyinos, lateinisch suinus, 
altslawisch svinu hat daher ein erschlossenes germanisches swina die Bedeu¬ 
tung: vom Schwein kommendes. Die deutsche Form Schwein (althoch¬ 
deutsch swin) bedeutet also eigentlich: das Junge von der Sau. Sperling 
ist: das Junge vom „sparo". (Die Koseform dieser althochdeutschen Grund¬ 
form sparo ist „Spatz", wie Ratz zu Ratte, Matz zu Matthias u. dgl.) 

Einen besonderen Typus von verblaßten Verkleinerungen stellen gewisse 
Kleidungsstückbezeichnungen dar, die eigentlich Verkleinerungen von ent¬ 
sprechenden Körperteilbezeichnungen sind. Ärmel (althochdeutsch armilo, 


i) Den Maler B ö c k 1 i n ärgerte es stets, wenn man seinen Namen, wie 
wenn es kein sinnvolles deutsches Wort („kleiner Bock 44 ) wäre, fremdartig 
auf der Endsilbe betonte; einer Dame, die es hartnäckig tat, drohte er rei¬ 
mend, das Unterröcklin, das doch auch kein betontes -lin habe, auszuklopfen. 


251 







ermilo) ist die Verkleinerung von „Arm". Epaulette = Achselstück 
kommt vom gleichlautenden französischen Worte, das die Verkleinerung von 
epaule = Schulter ist. Ähnlich steht es mit Korsett; französisch corset 
bedeutet eigentlich Körperchen, zu corps (altfranzösisch cors) = Körper. 
Dasselbe Verhältnis besteht zwischen Leibchen und Leib. Französisch 
c u 1 o 11 e = Kniehose (uns durch das Fremdwort Sansculotte vertraut) ist 
die Verkleinerung von cul = Gesäß. 


-J; 

Die zuletzt behandelte Gruppe von Verkleinerungsformen sei zum Aus¬ 
gangspunkt einiger grundsätzlicher Erörterungen genommen. Schon bei man¬ 
chem der früher angeführten verblaßten Diminutiva mutete die Bedeutungs¬ 
beziehung zwischen dem Verkleinerungswort und dem aufgedeckten Grund¬ 
wort sonderbar an, denn z. B. an welches schrecklichen Riesen Spieß müssen 
die Griechen gedacht haben, als sie die Gedenksäule, zu deren Spitze wir 
hinaufschauen müssen, als einen kleinen obelos, als ein Spießchen bezeich- 
neten. Im Falle der zuletzt behandelten Verkleinerungen (Arm-Ärmel usw.) 
ist es aber sogar so, daß das, was mit dem Verkleinerungswort bezeichnet 
wird, in Wirklichkeit nicht nur größer ist, sondern unbedingt größer sein 
muß, als das, was das Grundwort bezeichnet; kann doch der Ärmel, in den 
der Arm hineingeht, nicht kleiner sein als dieser, das Leibchen nicht kleiner 
als der Leib, das Korsett nicht kleiner als der corps. Sichtlich kann also die 
Bedeutungsbeziehung zwischen dem Grundwort und dem daraus gebildeten 
Verkleinerungswort nicht rein geometrisch aufgefaßt werden, etwa 
wie die zwischen einem breitkrämpigen Damenhut und einem Hütchen, das 
mit Hilfe einer Schere aus jenem hergestellt werden kann. 

Vor allem ist die Verkleinerung oft nicht räumlich, sondern zeitlich 
wirksam, so daß wir in solchen Fällen eigentlich nicht von einer Verkleine- 
rungs-, sondern von einer Verjüngungsendung sprechen sollten. Die¬ 
ses Ubergehen der räumlichen Verminderung in eine zeitliche erklärt sich 
daraus, daß gewöhnlich das Jüngere — z. B. das „Junge" des Tieres — zu¬ 
nächst auch das Kleinere ist. „Jünger" ist aber auch, was später zu unserer 
Kenntnis gelangt. Es ist also von zwei zusammenhängenden Begriffen der¬ 
jenige, der später entstanden ist und nur bei Vorhandensein des ersteren 
entstehen konnte, ein „Junges" des ersten Begriffes. Es mußte erst die Be¬ 
griffe Arm, Leib geben, damit später die Begriffe der dazugehörigen Klei¬ 
dungsstücke Ärmel, Leibchen „zur Welt kommen" konnten. Das Diminutiv¬ 
wort dient also gleichsam zur Bezeichnung einer Neuheit, eines E r- 
gänzungsbegriffes : was zum Begriff „Arm" später neu hinzu- 






kommt, ist ein „kleiner Arm", ein Ärmel. Man könnte sich ein Volk vor¬ 
stellen, das zuerst das Streichholz kennen lernt, ihm einen bestimmten Na¬ 
men gibt und das dann später, als es auch mit dem Feuerzeug bekannt wird, 
dieses mit einer Verkleinerungsform jener ersten Bezeichnung belegt, und 
andererseits ein anderes Volk, in dessen Blickfeld die beiden genannten 
Dinge in umgekehrter Reihenfolge treten und das daher das Streichholz als 
Feuerzeuglein bezeichnet. 

Aber auch durch das Heranziehen der Möglichkeit, den Verkleinerungs¬ 
vorgang nicht immer nur räumlich, sondern mitunter auch zeitlich aufzu¬ 
fassen, sind wir der großen Spannweite der Bedeutungsvorgänge, die sich auf 
dem Wege vom Grundwort zum Verkleinerungswort abspielen, noch nicht 
ganz gerecht geworden. Die Bedeutungsveränderung kann nicht nur in einer 
räumlichen oder zeitlichen Begriffsverminderung bestehen, häufig sind es 
G e f ü h 1 s Vorgänge, die die Bildung des neuen Wortes erzwingen. Ver¬ 
kleinerungsformen sind oft zugleich Koseformen 1 . Wenn der Franzose 
von seiner petite amie spricht, stellt er sie weder als klein, noch als jung 
hin, sondern läßt eine gewisse Gefühlseinstellung erkennen. In der gegen¬ 
seitigen Ansprache der Liebenden sind Verkleinerungswörter heimisch. Die 
Liebenden verhätscheln sich gleichsam gegenseitig, wie wenn jeder und 
jede etwas Kleines, Kindliches, Niedliches zur Partnerin, zum Partner hätte. 
Aber nicht nur Zärtlichkeit, Schätzung kann das Versehen des Grundwortes 
mit der Verkleinerungsendung ausdrücken, sondern auch das Gegenteil: 
Geringschätzung, Tadel, Hohn. Brugmann hebt hervor, daß beson¬ 
ders die Römer das Diminutivum oft in dieser Weise verwendeten (furun- 
culus, Diebchen, im Sinne von elender Dieb, homunculus, Menschlein, im 
Sinne von kläglicher Wicht). 

Jacob Grimm versuchte die Vielartigkeit des Verkleinerungsvorganges auf 
einen Nenner zu bringen: Verkleinerung finde statt, wenn durch eine in 
dem Wort selbst vorgehende Veränderung dem Begriff an seiner vollen 
Kraft etwas benommen wird; es solle gleichsam nur ein Stück davon aus¬ 
gesagt werden. Dem gegenüber findet Wrede, daß das Diminutivum eher 
eine Begriffssteigerung zu enthalten scheint, eine Isolierung 
des Begriffes auf den einzelnen Fall, die im Affekte des Redenden begrün- 


i) Dementsprechend dient die Vergrößerungsform oft zum Ausdruck des 
Tadels, des Schimpfes; dies gilt z. B. von Wörtern mit der lateinischen 
augmentativen (amplifikativen) Endung -aster (enthalten z. B. im heutzutage 
sehr beliebten deutschen Scheltwort Kritikaster). Im Lateinischen bedeutet 
z. B. parasitaster: elender Parasit. (Man vgl. italienisch filosofastro, poetastro, 
medicastro.) 


*53 








det sei: „mein Dörfchen*' soll dem Begriff Dorf ganz und gar nichts von 
seiner ursprünglichen Kraft und seinem Bedeutungsinhalt nehmen, es soll 
vielmehr so etwas andeuten wie „mein Dorf kat* exochen**. Wir reden das 
Ding gleichsam als etwas Personifiziertes an, wir treten mit einer persönli¬ 
chen Ansprache an das Ding heran, indem wir seinen Namen mit einer 
Verkleinerungsendung versehen. Jetzt begreifen wir auch, schreibt Wrede, 
weshalb der Schweizer selbst den großen Berg ein Bergli und das kräftigste 
Donnerwetter ein Wetterli nennt; nichts vom Nachspuk eines spätlateini¬ 
schen monticulus, nichts vom euphemistischen Zug des Sprachlebens (Por¬ 
zin), es sind von Hause aus lediglich Personifikationen, mit denen der 
Mensch auch gewaltigen Naturerscheinungen vertraulich näher rückt, und 
die schließlich von dem Vorstellungskreise einer primitiven Mythologie nicht 
allzuweit entfernt sind. 

Zu den schweizerischen Verkleinerungswörtern für Naturerscheinungen 
gehört auch Sünnli = Sonne. Vielleicht — bemerkt dazu L. Spitzer — fällt 
jetzt auch Licht auf soleil = Sonne. Dieses französische Wort geht nämlich 
auf eine Verkleinerungsform von lateinisch sol = Sonne zurück. Wie über¬ 
haupt viele französische (und auch sonstige romanische) Wörter sich von 
Verkleinerungsformen herleiten, ohne die Bedeutung eines eigentlichen 
Verkleinerungswortes zu haben (z. B. oreille, Ohr von auricula, Verklei¬ 
nerung von auris; oiseau, Vogel, von avicellus zu avis; taureau, Stier, von 
taurellus zu taurus; cheville, Pflock, von clavicula zu clavis; vaisseau, Gefäß, 
von vascellum zu vas). Vielfach haben die Verkleinerungen schon im La¬ 
teinischen die diminutive Bedeutung aufgegeben und sind ganz an die Stelle 
der Primitiva getreten (Meyer-Lübke). Jedenfalls war die lateinische Vul¬ 
gär spräche, die doch die eigentliche Mutter der romanischen Sprachen ist, 
viel reicher an Verkleinerungsformen als die klassische Schriftsprache der 
Römer. Übrigens ist ja der Hang zur Verkleinerung auch auf dem Gebiet 
der deutschen Umgangssprache und der deutschen Mundarten unverkennbar. 
Die Vorliebe des Schweizers für die Verkleinerungsendung -li haben wir 
bereits gestreift. Der Wiener fährt auf Brettln (Ski) oder auf dem Radi 
(Fahrrad), wirft den Brief ins Kastl und wenn er im Gasthaus Ganserl 
oder Kalbszüngerl bestellt und dazu ein Vierterl Wein, will er weder, daß 
er vom Braten eine kleine Portion bekomme, noch daß es ein kleines Vier¬ 
telliter sein soll. 

Der seelische Vorgang bei der Schöpfung eines Verkleinerungswortes 
kann jedenfalls von so mannigfaltiger Art sein, daß die Bezeichnung einer 
bestimmten Endung als Verkleinerungsendung nur als bequeme Verein¬ 
fachung gelten kann. Selbst zwischen Verkleinerungs- und V e r g r ö - 


254 






ß e r u n g s Vorgang ist die Grenze nicht scharf zu ziehen. Die Geschichte 
der romanischen Sprachen zeigt uns ein bemerkenswertes Beispiel im Falle 
der sich nach zwei entgegengesetzten Richtungen entwickelnden Endung -on 
(-one). Während sie im Französischen eine Verkleinerungsendung ist, hat 
sie vergrößernde (augmentative, amplifikative) Wirkung im Spanischen 
und im Italienischen. L. Spitzer weist darauf hin, daß das Nebeneinander 
von vergrößernder und verkleinernder Bedeutung einer Endung von den 
slawischen Sprachen sogar beim selben Wort anstandslos geduldet wird. 
So hat tschechisch tellcko (von telo, Körper) sowohl die Bedeutung „klei¬ 
ner Körper'", als auch die Bedeutung „sehr großer Körper". 


*55 







Aristophanische Zusammensetzungen 


I 

Wer im Geschmack der Achtzigerjahre eingerichtete Wohnungen noch 
erlebt hat, erinnert sich jener Bündel aus getrockneten Pflanzen, Eicheln, 
Schilfstengeln, Heidegraswedeln, Pfauenfedern, die fächerartig in die 
Ecken der guten Stuben komponiert wurden, um dort Staub und bewun¬ 
dernde Blicke aufzufangen. Makartbuketts nannte man diese Prunkstücke 
nach dem Wiener Maler, dessen üppige Dekorationskunst eine passende 
Folie zum Getue der Gründerzeit schuf. Man empfand damals diese Makart¬ 
buketts als überaus schön und sinnenfroh, und wären sie nicht aus rasch 
vergänglicher, heute längst zerfallener Materie gewesen, sondern etwa aus 
Stein wie die Lanzen, Helme und Schellenbäume, Fahnen, Standarten und 
Prunktücher, die sich erstarrt über den Barockportalen bauschen, gewiß wür¬ 
den auch sie noch einmal die Wiederaufnahme in die Gunst des Geschmacks 
erleben. 

Auch der Sprachstil hat seine Makartmoden. Als das klassische Vorbild 
für das Staatmachen mit Wortbuketts ist Aristophanes anzusehen. 
Seinen Stil nannte Aischylos kompophakelorremon, prunkbündelartig. Eines 
der Wortungetüme des Aristophanes bringt es auf nicht weniger als 75 Sil¬ 
ben 1 . In der römischen Literatur finden sich bescheidene Ansätze zur Nach- 


i) Die deutschen Übersetzer des Aristophanes haben mitunter versucht, das 
griechische Wortfeuerwerk deutsch nachzuprasseln. In der Übertragung Lud¬ 
wig Seegers liest man z. B. in den Wolken von bettdeckenumwälzendem 
Grübeln und wagenradzertrümmerndem Geschick, vom blitzschlängelndver- 
heerenden Sturmschritt des Gewölks, von brillantringfingrigen Stutzern und 
sternschnuppenbeguckenden Gauklern, in den W e s p e n von Pfefferkornund- 
kümmelspaltern und dem MorgenschlafverstÖrungsrechtsverhunzerleben eines 
Richters. Lysistrata, in der gleichnamigen Komödie, die anderen wider¬ 
spenstigen Weiber alarmierend, ruft: hallo, ihr Rübenkohlgemüsebutterweiber, 
ihr Zwiebelkäsebäckerkneipenfrauen; im Frieden ist von leckerbissenver¬ 
schlingenden Forellenschnappern, bocksduftigen Fischmarktumwühlern und 


256 





ahmung des athenischen Komödiendichters nur bei Plautus (z. B. quodse- 
melarripides, tedigniloquides, nunquamposteareddides). 

Weit hinter dem 75silbigen Rekord des Aristophanes bleibt der Berliner 
Humorist Glaßbrenner 2 urück, wenn er — bloßdreißigsilbiglitaneiend 
— von treuhundsmurrknurrgutrufsboßigzahnloskeifigknochenleiberklapprig- 
abgebuhltebetfrommhofquatschkaffeeklatschgen Weibern spricht. Man kann 
viele solche Fettaugen aus der Glaßbrennerschen Brühe herausfischen. Zwei 
weitere Beispiele sollen genügen: katzenpfotweichschleichgeheimvogelgiere 
Polizisten und pudelwinselschwan2kriechmuckerspeichelleckig. Weniger 
durch die Länge als durch den virtuosen Aufbau zeichnen sich die Wort- 
zusammenziehungen N e s t r 0 y s, des Wiener Aristophanes, aus. Bei ihm 
ist zu lesen: NichtbisfünfzählenkÖnner, Konvenienzüberhüpfer, Voneigenen- 
mittelnleberer, Untervieraugenspassettein (Spassettel = Späßchen), Mitmir- 
wasvorhaber, momentane Michhinwerfung, herrschaftsbusengenährte Schlan- 
gin, venividivizisch gedacht. Mehr ins Quantitative geht das Nestroysche 
WortKünstlerstolzbeleidigendeselbsteigeneidealschöpfungsverschandelungszu- 
mutung. Den Amtsstil nachahmend gebraucht er Berücksichtigungswerdungs- 
ansprüche und Hochverratsvorschubsleistungsteilnahme. Ganz nestroyisch 
schreibt Karl Kraus von zwei Triebfedern des Stillstandes im Wiener 
Volkscharakter: „der Schiebidenneteean-Wille paart sich mit der Stehtee- 
nettafür-Skepsis" (schieb' ich denn nicht eh* an, steht eh' nicht dafür). 

Bei Nestroy findet sich auch die Farbenbezeichnung vergißmeinnicht¬ 
katzenazurblau. Diese scherzhaft übertrieben verstärkende Zusammensetzung 
ist einer alltäglichen Erscheinung der deutschen Volks- und Umgangssprache 
und besonders der Mundarten nachgebildet. Wir sagen mutterseelen¬ 
allein oder mundartlich muttergottesseligallein * 1 , oder wie es in Bechstei ns 


lenzluftdurchwogendsüßmelodischen Floskeln die Rede, in den Fröschen 
von Blitzhageldonnerwetterkerls und Steineichenstämmenentwurzlern. In den 
„Fröschen“ kommt auch die Szene vor, in der die Tragödiendichter Aischylos 
und Euripides um den Dichterthron streiten. Euripides bezeichnet den Rivalen 
als wortgebälkumklammerungskundigen Schöpfer der Ungeheuer, und Aischy¬ 
los erwidert mit den Schimpfwörtern Bühnenlumpensammler und Bettelbrut- 
aushecker. Im Finale der Weibervolksversammlung fordert die 
Chorführerin ihre schlanken Gespielinnen zum Tanze auf: „rüttelt den leeren 
Bauch, denn es winken euch austernschneckenlachsmuränen-essighonigrahm- 
gekröse - butterdrosselhasenbraten - hahnenkammfasanenkälber - hirnfeldtauben- 
siruphering-larchentrüffelgefüllte Pasteten.“ 

1) Auch mutterallein (schwedisch moderallena), seelenallein, muttermensch- 
allein usw. Alle diese Nebenformen widersetzen sich der Fabel von der Volks¬ 
etymologie mutterseelenallein aus moi-tout-seul. 


257 


17 Storfer • Sprache 






Märchen pinmal heißt, mausmuttersternallein, wir sagen schneeblütenweiß 
oder in Tirol schneeblührieselweiß, oder in Leipzig schneeschlohengelweiß, 
und wir sagen brandkohlkesselschwarz oder pechrabenhöllenschwarz, wenn 
wir „weiß" oder „schwarz" oder „allein" steigern wollen. Denn wir haben 
es nicht so leicht, Superlative und Supersuperlative zu bilden, wie z. B. 
die italienische Umgangssprache, die sogar Esel, Jesuiten, Neapolitaner 
steigern kann (asinissimo, jesuitissimo, napolitanissimo) . Auch das Steige¬ 
rungsbedürfnis vieler Flüche befriedigt sich vielfach in ^Vortbündelungen; 
z. B. Himmelkreuzdonnerwetter, Himmeltausendschockschwerenot. Dabei 
haben die aristophanelnden Bildungen der deutschen Mundarten meist einen 
scherzhaften Beigeschmack. Bei Fritz Reuter heißen die Festtagskleider „de 
Sünndagsnahmiddagschen". Ähnlich im Leipzigischen: die Sonntagsnach¬ 
mittagsausgehweste. Der Leipziger Lexikograph, der dies in den achtziger 
Jahren buchte, notiert u. a. auch die Whartkcttcn: saubohnenstrohgrob und 
anvettermicheln (= sich einschmeicheln); man vgl. dazu bei Theodor Vi- 
scher: Vettermichelgemütlichkeit. (Bei Vischer, im „Faust, III. Teil", fin¬ 
den wir auch: hetzkaplankläfflich, Höllenkochherdfeuer.) 

Im Gegensatz zu dem scherzhaften Charakter der gelegentlichen Wort- 
bündelung in der Umgangssprache und in den Mundarten war es den 
Sprachreinigern, die um jeden Preis Ersatz für die Fremdwörter 
schaffen wollten, bitter ernst, wenn sie mitunter für ein kurzes Fremdwort 
ein wahrhaft aristophanisches Wortgebilde auf die Beine stellen mußten. 
Kein Wunder, daß das geradezu kriechende Wort Lichtstrahleneigenschafts¬ 
wissenschaft für das aufrecht stehende Optik, oder das Starkschwachtastcn- 
rührbrett für Fortepiano sich nicht einbürgern konnte. Bescheidener war 
Beethovens Verdeutschungsvorschlag (1816) für Pianoforte: Hammerkla¬ 
vier. 1825 aber empfahl Beethoven für Konzert Tonstreitwerkversammlung, 
für Trompeter Schmettermessingwerker, für Dilettant Kunstzeitvertreiblie¬ 
bender. (Beethoven dürfte dabei von der „Allgemeinen Musikalischen Zeit¬ 
schrift" beeinflußt gewesen sein, in der damals für Tenor Dünnsang, für 
Bassist Grundsangwerker, für Fagottist Tiefholzwerker, für Flötenspieler 
Sanftrohrwerker, für Instrumentalmusik Klangmachwerkerei vorgeschlagen 
wurde; übrigens behauptet Schindler, die im Nachlaß Vorgefundenen Ver¬ 
deutschungen seien gar nicht vom Meister selbst; der Neffe Karl hätte sie 
zur Unterhaltung des Onkels erfunden.) Gegner der Sprachreiniger haben 


i) Bei großen Anlässen muß man den Superlativ noch übersteigern, sagt 
Stendhal über die Italiener in seiner Geschichte der Malerei. — Die Steigerung 
von Hauptwörtern kommt gelegentlich auch im Deutschen vor; z. B. in einer 
alten "Wiener Operette: „Sie ist das Allerfraueste, was es gibt. 


258 










sich, um sie Zu verhöhnen, den Trick der Aristophanisterei jedenfalls nicht 
entgehen lassen. Hoffmann von Fallersleben, der Dichter des Deutschland¬ 
liedes, sagte einmal statt Reaktionär: Freiheitsniedersdhmetterling * 1 . Und für 
Jalousie schlug 1842 eine Zeitschrift vor: Fensterherabfalldunkelmachsonn- 
abwehrleinwandslappen. Auf die Fremdwortscheu als Fördererin überwu¬ 
chernder Zusammensetzungen wies schon Jacob Grimm hin: „Deutschland 
pflegt einen Schwarm von Puristen zu erzeugen, die sich gleich Fliegen an 
den Rand unserer Sprache setzen und mit dünnen Fühlhörnern sie betasten. 
Ginge es ihnen nach, die nichts von der Sprache gelernt haben und am we¬ 
nigsten die Kraft und Keuschheit ihrer alten Ableitung kennen, so würde 
unsere Rede bald von schauderhaften Zusammensetzungen 
für einfache und natürliche fremde Wörter wimmeln." 

Eine vortreffliche Brutstätte für Wortkolosse war von jeher die Amts¬ 
sprache. Carl Julius Weber, der deutsche Demokritos, belustigte sich oft 
über die „Wörterzusammenziehungsunausstehlichkeit" der deutschen Juri¬ 
sten. Und Jean Paul, der eine gelehrte Abhandlung in zwölf Briefen und 
zwölf Postskripten über die deutschen Wortzusammensetzungen verfaßt hat 
(hauptsächlich zur Bekämpfung des Binde-„s", in der ihm dann Maximilian 
Harden gefolgt ist 2 ), gedenkt darin besonders der „Samwörter" der Wiener 
Kanzlei- und Finanzsprache. Gegen diese Krankheit fordert er ein Wort¬ 
bandwurmabtreibmittellehrbuch. Ähnliche Gedanken vertritt ein 1899 
erschienenes, anonymes Pamphlet („zusammengesetzt in seeschlangenartiger 
Wehmut durch Pipin den Kurzen, Feind aller Langworte") unter dem Titel 
„Zu Hülfe gegen den Wortzusammenziehungsbestrebungsbazillus". Die 
Zeit der Jahrhundertwende war übrigens die Glanzzeit dieser Makartfestzüge 
der Wörter in der Literatur sowie im Amtsstil. In einer amtlichen Bekannt¬ 
machung der Wiener Zeitung aus dem Jahre 1899 ist zu lesen: „Kaiser 
Franz Josefs des Ersten fünfzigjähriges Regierungsjubiläums-Schüler-Stipen- 
dien-Stiftung-Effekten-Lotterie-Unternehmen." (Bei diesem Wortungetüm 
ist nebenbei auch nett, daß dieses offenbar zum 2. Dezember 1898 geschaf- 


i) Bei Hoffmann v. Fallersleben kommt auch (im Gedichte „Allerhöchste 
Kultur“, innerhalb der „Unpolitischen Lieder“) die Strophe vor: So werden 
wir denn noch erleben / Ein Kleideranpassungsbureau / Und ganz gewiß 
auch noch daneben / Ein Fußbedeckungsstück-Depot. 

i) Der Kampf gegen das Binde-„s“ (Achtungerfolg statt Achtungserfolg!) 

flackert auch seit Harden immer wieder auf. Hauptsächlich in Norddeutsch¬ 
land hält sich mancher an den gereimten Grundsatz: „Wo das s ist zweifei- / 
Haft, da wirf’s zum Deifel.“ Indes im Süden die Parole vorherrscht: „Das 
Bmde-s, das Binde-s / Ist etwas Hochzuschätzendes, / Es klebt, leimt, kittet 
Jegliches, / Drum, wo du kannst, verwende es!“ 


17 * 


259 









fene Unternehmen 1899 als bereits fünfzigjährig hingestellt wird.) 1896 
wird im Preußischen Abgeordnetenhaus eine Zentralgenossenschaftskassen¬ 
gesetzesnovelle behandelt und im Jahre 1910 brachte die preußische Regie¬ 
rung einen Abgeordnetenhauswahlvorschriftenabänderungsentwurf ein. Auch 
die Amtstitel im k. k. Österreich ließen nichts zu wünschen übrig, wir er¬ 
wähnen bloß den Statthaltereikonzeptspraktikanten, den Hilfsämterdirek¬ 
tionsadjunkten und den Einreichungsprotokolldirektorialassistenten. 1905 
nagelte der Deutsche Sprachverein u. a. folgendes in gedruckten amtlichen 
Äußerungen fest: Pflegschaftsübernahmbereitwilligkeitserklärung, Mündel- 
geldversicherungsnachweisungsangelegenheit, Weiterverpfändungsbenachrich¬ 
tigungsberechtigter. Ganz harmlos erscheinen daneben die Ausdrücke Zivil- 
versorgungsberechtigungsschein, Lederverarbeitungsgewerbe, Rübensamenstop¬ 
pelauslesemaschine. Aus dem österreichischen Militäramtsstil, in dem beson¬ 
ders das Rechnungswesen glänzte: Rücküberrechnungszustimmung, Pferde¬ 
beköstigungsdurchschnittspreis. Das Schöffengericht der mecklenburgischen 
StadtMirow verhandelte im Jahre 1911 gegen einen Geschäftsreisenden wegen 
„Wandergewerbescheinsteuerdefraude". Eine Zeitschrift, die die Vorladung 
zu Gesicht bekam, entdeckte in jenem Hauptwort einen daktylischen Tonfall 
und baute es in einen Hexameter ein: „Strafe, o/Schöffe, die/Wanderge/ 
werbeschein/steuerde/fraude!" So üppig dieses Wort übrigens ist, macht es 
sich doch einer Knauserei schuldig, indem es durch Benützung eines unbe¬ 
kannten Wortes „Defraude" die Endsilben des Wortes Defraudation unter¬ 
schlägt. Eine andere Zeitschrift erließ 1910 ein Preisausschreiben für die 
Bildung von „Uberriesenbandwurmwortgebildepyramidenausdruckszusam- 
menstellungen". 

Die Angst vor der spöttischen Kritik der Tagespresse hat übrigens in den 
letzten Jahren vor dem Krieg vielerorts auch Gesetzgeber und Behörden ver- 
anlaßt, endlose Wortzusammensetzungen zu vermeiden, aber im Welt¬ 
krieg fühlte sich Sankt Bürokraz frisch gestärkt; Kritik an seinem Stil 
wäre unvaterländisch gewesen, und so wimmelte es in den Verordnungen 
und Erlässen von kreiseingesessenen kaffeeersatzbezugsberechtigten Personen 
und Fleischbrühersatzwürfeln, von Herbstkartoffelanbauflächenerhebungen 
und Zuckerrübenverfütterungsverboten. Im Sommer 1919 schrieb ein öster¬ 
reichischer Erlaß vor, daß Personen, die sich auf Sommerfrische begeben, 
vorher bei ihrer zuständigen Brotkartenausgabestelle den Lebensmittelkarten¬ 
abmeldeschein zu beheben haben. Übrigens läßt sich auch die Nachkriegszeit 
nicht lumpen; man führt Nichtangriffspaktverhandlungen, bezieht Haus¬ 
zinssteuerneubauwohnungen, genehmigt die Bevorschussung der bepfand- 
briefungsfähigen Landgüter, fördert Stadtrandsiedelungsbestrebungen, prüft 




Überstundenentlohnungsansprüche, erläßt Zündwarensteuerausführungsbe¬ 
stimmungen, stellt Notarbeitsbeschaffungsprogramme auf, das Berliner Po¬ 
lizeipräsidium zahlte 1928 Bekleidungsabnutzungsentschädigungen (dreimal 
-ung). In der Bierwürzekontrollmeßapparateverordnung (13 Silben, 39 
Buchstaben) des österreichischen Bundesministeriums für Finanzen vom 21. 
November 1928 heißt es: „Die Schließung des Bierwürzeablaufhahnes und 
das Herabschließen des Drehschieberiegels darf nicht unterlassen werden." 
Im Sommer 1936 fand in Österreich ein Gendarmeriealpinersommerkurs 
statt und wurden in einzelnen Tiroler Gemeinden für die Zeit des Fremden¬ 
verkehrs Interessentensaisonpostämter errichtet. Ganz jungen Datums ist 
auch Gaubetriebsgemeinschaftsjugendwalter und aus Österreich: Kreisobst¬ 
bauwanderlehrer, Heimatschutzbezirksführerstellvertreter, Tapferkeitsmedail¬ 
lenbesitzervereinsmitglied. In der Stadt Wörgl waltet ein Arbeitsbestäti¬ 
gungsscheinausgabetreuhänderkomitee 1 . 

Ein besonderer Typus der aristophanischen Wortungetüme ist jener, der 
aus der Verwandlung eines Zeitwortes in ein auf -ung endendes Haupt¬ 
wort unter Mitraffung des redensartlich zum Zeitwort gehörigen Satzteiles 
entsteht 2 . Besonders in Parlamenten, Gerichtsakten, Berichten der Gendar¬ 
men wütet die „Hauptwörterseuche" und zeitigt Krankheitsmerkmale wie 
Habhaftwerdung, Außerachtlassung, Zuranzeigebringung, Inanklagezustand¬ 
versetzung, Zurabstimmungbringung, Zurverfügungstellung, Wiederinkraft¬ 
setzung. Selbst beim Sprachmeister Grimm findet sich gelegentlich ein 
Hauptwort wie Wortuntereinanderwerfung. Bei Liliencron begegnen wir 


1) Nicht selten sind Kongresse die Opfer des journalistischen Dranges nach 
aristophanischer Wortraffung. So berichtet im Juni 1935 eine Zeitung über 
eine in Homburg (Saar) stattgefundene „Gehirn- und Rückenmarkstagung“ 
und eine Zeitung in Glatz berichtet über eine „Edelmisttagung.“ 

2) Aber das -ung hat neuestens in Otto Briegleb einen überzeugten Ver¬ 
teidiger bekommen. In einer eigenen Schrift über „Das Recht der Endsilbe 
-ung“ behauptet er u. a., die frevelhafte Ersetzung des -ung sei ganz jungen 
Ursprungs. Aber schon Jean Paul trat für „Regiergewalt“, „Vergrößerglas“ 
ein. Schopenhauer poltert bereits lebhaft in den Parerga gegen die Zer¬ 
störungswut der Wortkürzer, die sich vorzüglich auf die Endsilben -keit und 
-ung (z. B. Nachweis statt Nachweisung) richte. Behaghel weist darauf hin, 
daß für den Vorgang des -ung-Schwundes zum Teil schon das 18. Jahrhundert 
verantwortlich sei. Schon bei Goethe erscheint Zunahme für das ältere Zuneh- 
mung; er hat auch nebeneinander Besitznehmung und Besitznahme. — Der 
fakultativen Abschleifung des -ung verdankt der Sprachgebrauch in manchen 
Fallen die Möglichkeit besonderer begrifflicher Unterscheidungen: für den 
Unterhalt von Frau und Kindern zu sorgen ist etwas anderes als für ihre 
Unterhaltung zu sorgen. 


261 








einer Ungdoppelung: Inordnunghaltung der Bibliothek. Ein Reichsgerichts¬ 
urteil vom 16. November 1934 spricht von der „Verbeiständung des Ange¬ 
klagten durch einen Verteidiger”; im gleichen Jahre die Barmer Kranken¬ 
kasse von der Leistungszurverfügungsstellung. Viermal kommt -ung in 
einem Worte vor, das 1931 in der Juristischen Wochenschrift zu lesen 
war: Berufungsbegründungsfristverlängerungsverfügung 1 . Bei derVerhaupt- 
wortung des Zeitwortes „nehmen” wird wenigstens die -nehmung vermieden 
und -nähme bevorzugt; z. B. Wiederinbetriebnahme, Inanspruchnahme, 
Inempfangnahme, Inaugenscheinnahme. (Der 13silbige Satz „die Inan¬ 
griffnahme der Arbeit erfolgt heute” ist anscheinend vornehmer als der 
7silbige „die Arbeit beginnt heute”.) 

Ein erfolgreicher zeitgenössischer Autor schreibt: „Durch das Vertreten 
der Meinung, daß man auf dem Wege einer durch demokratische Einrich¬ 
tungen erfolgten Zubilligung verfassungsmäßig größerer Rechte Menschen 
befähigen kann..Statt dessen könnte es heißen: „Wer meint, daß man 
Menschen, indem man ihnen durch demokratische Einrichtungen verfas¬ 
sungsmäßig größere Rechte zubilligt, befähigen kann...' Aber anschei¬ 
nend ist es wirksamer statt 17 Wörter 22 Wörter, statt 38 Silben 50 Silben, 
statt 3 Hauptwörter 7 Hauptwörter zu gebrauchen. Es ist daher, mit spöt¬ 
tischer Übertreibung auch vorgeschlagen worden, der Bibel eine zeitgemäße 
Fassung zu geben, in der dann der erste Vers („Am Anfang schuf Gott 
Himmel und Erde”) wie folgt zu lauten habe: „Die Inangriffnahme der 
Weltordnung nahm mit dem Umstand ihren Anfang, daß seitens Gottes die 
Indiewegeleitung des Himmels, bezw. der Erde erfolgte”. Börries v. Münch¬ 
hausen ist der Meinung, daß die „Hauptwörterseuche” hauptsächlich durch 
Rainer Maria Rilke in die deutsche Schriftsprache gedrungen sei, wobei er 
jedenfalls das Alter dieser Ausdrucksweise unterschätzt und die Wirkung 
Rilkes überschätzt. 2 


1) Eine Wiener Tageszeitung schreibt 1936 über eine ungarische Regierungs¬ 
verordnung, die die deutschen Minderheiten betrifft: „Es wird nicht nur 
keine Förder ung der deutschungarischen Bestreb u n g e n, sondern im Gegen¬ 
teil Duld ung ihrer Hemm u n g e n geübt.“ 

2) Ein Beispiel des zeitwortarmen und hauptwörterhäufenden Stils aus 
Rilkes „Briefen aus Muzot“: „Da der Anschluß seines Herzens gestat¬ 
tet erscheint, wird das Maß aller seiner Beziehungen ein so besonderes 
und persönliches sein, daß er im Augenblicke unbeschreiblichen E i n g e zö¬ 
ge n s e i n s etwas vor denen voraus haben wird, die aus leichteren 
Bedingungen heraus ihre Anteilnehmung leistete n.“ 
Den Nebensatz „die aus leichteren Bedingungen heraus ihre Anteilnehmung 
leisten“ übersetzt Münchhausen wie folgt ins Deutsche: „die leicht Anteil 
nehmen.“ 





In anderen Fällen wird das -ung in der Weise vermieden, daß bei der 
Verwandlung des Zeitwortes zum gespreizten Hauptwort die Infinitiv- 
form erhalten bleibt. In gewissen Romanen und schöngeistigen Schriften 
wimmelt es von Hauptwörtern, wie das Sich-vor-nichts-abschrecken-lassen, 
das Sichnichtgenugtunkönnen. Zu den neueren Klassikern dieses Stils 
des Infinitive-als-Hauptwörter-Gebrauchens gehören u. a. Rudolf Herzog 
(die Kraft des Nimmerzugrundegehenkönnens, das Übernachtvomhim- 
melfallen) und Richard Schaukal (das Insichselbstschönsein, das Vonder- 
wahrheitüberzeugtsein). Übrigens finden sich solche Infinitivhauptwörter 
auch bei Fontane (das Auch-draußen-zuhause-Sein, das Hutabziehen- und 
Geradestehenmüssen), bei Heyse (das geschäftige Sich-den-Himmel-verdie- 
nen-wollen, das Sich-dann-ohne-weiteres-zurückziehen), bei Hofmannsthal 
(das Wieder-aus-der-Hand-legen der Bücher, das Miteinander-auf-der-Welt- 
sein). Anzengruber versuchte es im Mundartlichen: weg'n m Miteinge- 
sperrtg'westsein, das Besser-haben-Kinna. Im Frankfurterischen: das Ewig- 
darnewedappe (danebentappen). Hier und da kommen solche Zeitwörter, 
die dazu verurteilt sind, als Hauptwörter vermummt einen Rattenschwanz 
von Wörtern nach sich herzuschleppen, auch bei Wilhelm Raabe vor: 
er spricht vom So-nach-drei-Uhr-morgens-nachhause-kommen, vom seligen 
Nichtmehrvonsichwissen, von einem mühseligen Wieder-auf-sich-besinnen, 
von einem Fest-auf-die-vier-Füße-stellen, von der Annehmlichkeit des 
Endlich-einmal-unter-sich-seins, von einem Den-Eierschalen-anderer-nach- 
gehen, von einem Jahrhunderte langen Als-feuriger-Mann-herumgehen. Beim 
Philosophen Heidegger (bei dem sich auch ein Hauptwort „das Un-zu- 
Hause" findet) lesen wir vom Nicht-bei-sich-sein-können, vom Sich-vorweg- 
Sein. Th. Matthias behandelt in seinem bekannten und geschätzten Buche 
über Sprachschäden in einem eigenen Paragraphen den „substantivierten 
Infinitiv als Quelle unschöner Zusammensetzungen". Der Fachsprache der 
Wissenschaft könne man aber Bildungen wie das Nichtaufkommenlassen, 
das Anundfürsichsein (Hegel) 1 zugestehen. Auch ein Humorist oder Spott¬ 
vogel dürfe manchmal versuchen, mit solchen Bildungen eben durch ihr 
Absonderliches eine eigentümliche Wirkung zu erzielen (z. B. wenn Heine 
über das Nebeneinandergehenktwerden spottet). 


i) Wie weit es aber kommen kann, wenn Philosophen ihrem Drang nach 
Aristophanismen die Zügel lockern, zeigen z. B. die Neuschöpfungen, von 
denen es in den Schriften von K. Chr. Fr. Krause wimmelt, wie Seinheitur- 
einheit, Vereinselbstganzweseninnesein, oder neuestens bei Stoltenberg, dem 
Verdeutscher philosophischer Fachausdrücke, die Wörter Entsprechniskeit, 
Vervollkommenbartum, Verstehsamnis. 


26} 








II 


Die Neigung der deutschen Sprache zu langen Zusammensetzungen ist 
einmal vom amerikanischen Humoristen Mark Twain verhöhnt worden. In 
einem satirischen Bericht über eine Europareise erzählt er, daß bei einem 
Patienten in der Nahe von Hamburg ein Wort von 13 Silben operativ ent¬ 
fernt werden mußte. Freundschaftsbezeugungen, Stadtverordnetenversamm¬ 
lungen seien keine Wörter, sondern Festzüge des Alphabetes; wer Phantasie 
habe, könne die Musik hören und die Fahnen sehen. Mark Twains Spott 
fand viel Widerhall in Deutschland. Ein Autor stellte öffentlich die For¬ 
derung auf, kein deutsches zusammengesetztes Wort dürfe mehr als fünf 
Silben haben. F. Böckelmann verlangte, man solle statt Achtuhrladenschluß, 
Offiziersgenesungsheim, Wiederherstellungsbestreben sagen: Ladenschluß 
um acht Uhr, Genesungsheim für Offiziere, Bestrebungen, dies oder jenes 
wiederherzustellen. Warnend trat diesem Auflösungsbestreben („Bestreben 
zur Auflösung") W. Gensei entgegen; es sei leicht, häßliche Wörter an 
den Pranger zu stellen, aber oft schwer, ja fast unmöglich, stichhaltigen 
Ersatz zu schaffen. In der Tat, sollen wir statt Augenheilkunde, Strafgesetz¬ 
buch, Großmachtdünkel, Siebenmeilenstiefel schwerfällig sagen: Kunde der 
Augenheilung (oder Heilkunde für Augen), Gesetzbuch über Strafen, 
Dünkel, eine Großmacht zu sein, Stiefel für Schritte von sieben Meilen? 
Der Satz „vom Fußballwettstreit fuhr der Männergesangverein mit der 
Drahtseilbahn in die Kaltwasserheilanstalt" (11 Wörter = 26 Silben), 
müßte dann wie folgt aufgelöst werden: „Vom Wettstreit im Spiel mit dem 
Fußball fuhr der Verein für Männergesang mit der Bahn an dem Drahtseil 
in die Anstalt für Heilung mit kaltem Wasser" (26 Wörter = 37 Silben). 
Die Zahl der Silben ist also fast veranderthalbfacht, die der Wörter fast 
Zweieinhalbmal so groß geworden. 

Gegen die rücksichtslose Verurteilung aller zusammengesetzten Wörter 
von mehr als fünf Silben hatte sich auch Böckelmann ausgesprochen. Wir 
empfinden ja sechssilbige Wörter, wie Verfassungsurkunde, Sittlichkeitsver¬ 
brechen, Sicherheitsmaßnahme, Befähigungsnachweis, durchaus nicht als 
schwerfällige Ungetüme, die man durch verzögernde Umschreibung ersetzen 
müßte. Auch gegen die sieben Silben von Waffenstillstandsverhandlung, 
Verbrechensbegünstigung und Meistbegünstigungsvertrag und die acht Silben 
von Angestelltenversicherung, Arbeitslosenunterstützung oder Untersuchungs¬ 
gefangene ist nichts einzuwenden. Auch außerhalb des Verwaltungs- und 
Rechtswesens verletzen uns nicht mit ihren sieben Silben die Wörter Unter¬ 
scheidungsmöglichkeit, Entwässerungsanlage usw. Die Fähigkeit zu Zusam¬ 
mensetzungen muß geradezu als ein Vorteil der deutschen Sprache angesehen 


264 




r~ 


werden; wir können z. B. mit einem Wort ausdrücken Handschlag, 
Mondschein, wo der Franzose vierwörtig sagen muß: coup de la main, 
clair de la lune. Auch im Auslande trat den deutschen Zusammensetzungen 
ein Helfer auf. R. A. Williams hob hervor, daß der Spott gegen die 
deutschen Zusammensetzungen oft auf falschen Grundlagen beruhe. Nur 
der Fremde, der die Bestandteile nicht auseinanderhalten kann, komme 
schwer zurecht, für das Gefühl des Deutschen ist das Wort instandsetzen 
um gar nichts schwerer zu erfassen als die drei Wörter in Stand setzen 1 . 

Mit der Frage, ob die besondere Fähigkeit zur Wortzusammensetzung 
als Vorteil anzusehen sei, hat sich schon Jacob Grimm beschäftigt. Unser 
himmelblau oder engelrein, schreibt er in seiner Schrift „Uber das Pedan¬ 
tische“, sei allerdings schöner als das französische bleu comme le ciel, pur 
comme un ange, „aber ich stehe ebensowenig an, dem lateinischen malus, 
pomus, dem französischen pommier den Vorzug vor unserem Apfelbaum zu 

— - 

' —- 

i) Auch der Ungar, dem man Wörter wie legeslegmegengesztelhetetleneb- 
beknek (= den Allerunversöhnlichsten) vorhält, findet sich in den Gliedern 
dieses Defiliermarsches der e-Silben ohne weiteres zurecht. Agglutinierende 
Sprachen, zu denen ja das Ungarische gehört, können überhaupt mit einem 
Worte viel ausdrücken. Man sehe sich einen ungarischen Satz aus 2 Wörtern 
an: holtomig (bis zu meinem Tode) vdrathatnälak (könnte ich dich warten 
lassen). Also 9 deutsche Wörter entsprechen den 2 ungarischen. Dabei muß 
diese ungarische Wortknappheit nicht etwa durch ein Mehr an Silben oder 
Lauten erkauft werden, denn im angeführten Beispiel besteht die deutsche 
Übersetzung aus 14 Silben = 38 Buchstaben (ch als 1 gerechnet) gegenüber 
von nur 8 Silben =21 Buchstaben im Ungarischen. Fritz Mauthner führt ein 
Prachtbeispiel der Agglutination aus dem Türkischen an: sev-isch-dir-il-e-me- 
mek, „es ist ein Infinitiv von so reicher Nüancenfülle, daß wir mit all unseren 
Sprechkünsten kaum heranreichen können, wir müßten es ungefähr übersetzen: 
nicht genötigt werden können einander zu lieben“ (also 14 deutsche für 7 
türkische Silben). Die Möglichkeit knapper Ausdrucksweise verdanken die 
agglutinierenden Sprachen u. a. dem Umstande, daß sie neben dem Zeitwort 
eines eigenen persönlichen Fürwortes entbehren können, z. B. ungarisch verlek 
*= ich schlage dich, veretsz = du läßt mich schlagen. Es gibt über solche Für- 
wortlosigkeit eine nette Bemerkung von Lord Byron (in seinen Gesprächen 
mit Medwin): Alfieri habe vier Worte geschrieben, die mehr sagen als ganze 
Bücher. Sie stehen im „Don Carlos“. Der König und sein Minister belauschen 
eine Zusammenkunft des Infanten mit der Königin, worauf folgender Dialog 
zwischen König und Minister die Szene abschließt: Vedesti? — Vedi — 
Udisti? — Udi! In einer Übersetzung, sagt Byron, würde alle dramatische 
Schönheit verlorengehen, — die Pronomina würden sie töten. Deutsch würde 
der Dialog lauten: Hast du es gesehen? — Ich habe es gesehen! — Hast du 
es gehört? — Ich habe es gehört. Aber ungarisch: Lättad? — Lättam. —• 
Hallottad? — Hallo ttam. 


265 








geben" 1 . Die Leichtigkeit des Zusammensetzens im Deutschen, meint Grimm, 
habe man ohne hinreichenden Grund zu der Fülle der griechischen Zusam¬ 
mensetzungen gehalten. „Schlechte ungebärdige Zusammensetzungen leimen 
ist keine besondere Kunst" 2 . Grimm empfiehlt daher „Enthaltsamkeit im 
Anwenden der Zusammensetzungen und Eifer für den erneuten Gebrauch 
guter alter und neuer Derivative" 3 . Ableitungen sind, wie Oppermann aus¬ 
einandersetzt, kürzer als Zusammensetzungen, bieten also den Begriffsinhalt 
bestimmter und schärfer als diese und entsprechen der vorwiegend ver¬ 
standesmäßigen Auffassung der Romanen, zusammengesetzte Wörter 
hingegen geben den Begriff sinnenfälliger und anschaulicher 
als einfache, abgeleitete Ausdrücke, entsprechen also der gemütvolleren 
Art des deutschen Volkes. Daher seien „die Franzosen Meister der Prosa, 
die Deutschen aber Führer auf dem Gebiete der Dichtung ; man versuche 
nur Ausdrücke wie Muttersprache, Vaterhaus, Heimweh, Herzeleid, traum¬ 
verloren, Waldeinsamkeit in fremde Sprachen zu übersetzen 4 . Mit seinem 

1) Man beachte auch die französischen, italienischen, englischen Simplizia 
gant, guanto, glove gegen die deutsche Zusammensetzung Handschuh, oreiller, 
origliere, pillow gegen Kopfkissen, d 4 , ditale, thimble, gegen Fingerhut, bücher, 
rogo, stäke, gegen Scheiterhaufen, cr£dule, credulo, credulous gegen leicht¬ 
gläubig, patiner, patinare, scating gegen Schlittschuhlaufen usw. 

2) Moszkowski weist im besonderen auch darauf hin, zu welchen Konso¬ 
nantenbegegnungen deutsche Wortzusammensetzungen führen können: Post¬ 
protestfrist, Geschwulstschwund, Wirkstrumpfknüpfung. Ich vermehre seine 
Beispiele und verweise auf die Gruppe -ngstschw- in Angstschweiß (wo Fran¬ 
zosen und Engländer sich je zweier Wörter bedienen: sueur froide, cold sweat 
— „kalter Schweiß“), auf -mpfpfl- in Sumpfpflanze (plante des marais), auf 
-pfspr- in Kopfsprung (plongeon, header). Auf eine andere Beeinträchtigung 
des Wohlklanges durch zu lange Zusammensetzungen lenkt uns Th. Matthias. 
Die häßliche Wirkung beruhe zum größten Teil darauf, daß von einer stark 
betonten Silbe am Anfang der Ton bis zum Ende sinkt. „Doppelt muß dies zu 
fühlen sein, wenn das Grundwort gegenüber dem oder den Bestimmungswör¬ 
tern zu kurz und unbedeutend ist, als es jene durch einen oder mehrere 
Nebentöne aufwiegen könnte.“ Man spreche sich nur solche unrhythmische Ge¬ 
bilde vor: Lebensatemzug, todesangstvoll, Sensationsnachrichtenbringer, Pen¬ 
sionsvorsteherinnenmoral. 

3) Es ist besonders eine Überlegenheit der Mundarten, daß sie oft mit kur¬ 
zen Nachsilben neue Bezeichnungen bilden, wo sich die Schriftsprache umständ¬ 
licher Zusammensetzungen glaubt bedienen .zu müssen. Für das Bernerdeutsch 
hat W. O. F. Hodler diese starke Fähigkeit zur Derivationsbildung erörtert; 
z. B. Stündeler = Pietist, der viel in die Andachtsstunden läuft (die Schrift¬ 
sprache wäre da versucht, Andachtsstundenstammgast oder ähnliches zu sagen). 

4) Der Franzose muß sich sehr über die im Deutschen jetzt so beliebten 
Zusammensetzungen von Eigen- und Gattungsnamen wundern (Lutherworte, 
Ibsencharaktere, Hamsunstimmungen, Italienreise, Wolgaschlepper, Russenaut- 


2 66 






Reichtum an zusammengesetzten Wörtern überflügelt das Deutsche selbst 
das Sanskrit und das Griechische. Das von den Brüdern Grimm begonnene 
Deutsche Wörterbuch weist z. B. 510 Verbindungen mit „Geist", 600 mit 
Hand, 730 mit Land auf. Da bleibt das Griechische mit 305 Zusammen¬ 
setzungen, in denen das Wort theos enthalten ist, im Hintertreffen. 

Zu erwähnen ist noch ein gelegentlich in Frage kommendes besonderes 
stilistisches Motiv für längere zusammengesetzte Hauptwörter: man kann 
durch die Zusammensetzung mitunter die bekannten peinlichen Bildungen 
nach dem Schema der reitenden Artilleriekaserne, des kalten 
Wasserdoktors, des roten Weintrinkers, des ausgestopften Tierhändlers, des 
geräuschlosen Rolladenfabrikanten, des geriebenen Ölfarbenhändlers, der 
verschmitzten Frauensrollen (Lessing), der ungeborenen Lämmerfelle 
(Grimm) vermeiden. Es ist erfreulich, daß man Gelegenheit hat, statt „wil¬ 
der Schweinskopf" (so bei Goethe) Wildschweinskopf zu sagen, wenn 
man auch dabei die Konsonantenhäufung — ldschw — in den Kauf neh¬ 
men muß, statt kleinem Gewehrfeuer (wie früher üblich war) Kleinge- 


träge). Wustmann versäumte nicht, Shakespearedramen und Goethedenkmale 
zu den Sprachdummheiten zu zählen. Solche Zusammensetzungen wurden in 
der Schweiz immer besonders häufig gebraucht (Schweizergeschichte, Schwei¬ 
zerreise, Bernbiet, Baseldeutsch, Zürichputsch, Genfersee), und R. M. Meyer 
bezeichnete sie daher als Schweizerkomposita. — Auf einen beson¬ 
deren Umstand, der bei der Beurteilung von Wert oder Unwert der Neigung 
zu Zusammensetzungen zu beachten ist, macht mich W. E. S ü s k i n d, der 
Herausgeber der „Literatur“, aufmerksam: die Wortzusammensetzung sei 
besonders dort vom Übel, wo sie den im Deutschen überhandnehmen¬ 
den Schwund des Nebensatzes fördert. („Wegen meiner gebirgs- 
luftbenötigenden Kinder bin ich zur Mietsvertragskündigung gezwungen“ oder: 
„Da meine Kinder Gebirgsluft benötigen, bin ich gezwungen, den Mietsvertrag 
zu kündigen“?) — Hier möchte ich darauf hinweisen, daß die u r a 1 a 1 1 a i - 
sehen Sprachen, „wo irgend die uralaltaische Grundlage festgehalten ist“ 
(H. Winkler), keine Nebensätze, d. h. keine relative oder konjunk- 
tionale Bindung haben. Den Gedanken „der Saum des Kleides, das mein 
Bruder anzieht, geht nicht auf“ drückt z. B. der Japaner ungefähr so aus: 
„das Nichtaufgehen des Saumes des Angezogenwerdens der Kleider des Bru¬ 
ders meiner Person“ (wa-ga seko-ga ki-seru koromo-no farime otsizu). Daß 
die grammatikalische Struktur der uralaltaischen Sprachen einen günstigen 
Boden für Riesenwörter abgibt, zeigten uns schon (Fußnote auf S. 265) 
ungarische und türkische Beispiele. Auch wenn man auf einen finnischen 
Text einen Blick wirft, fällt einem sofort die große Anzahl umfangreicher 
Wörter auf. In einer Abhandlung des bekannten finnischen Sprachforschers 
E. N. Setälä sieht man z. B. fast in jeder Zeile Wörter des Umfanges wie 
murteentutkinnusmatkalla, oiteakielisysskanoissa, tartoituksenmukaisuuskan- 
nassa. 


267 








wehrfeuer (denn es kann auch ein großes Kleingewehrfeuer geben). Eben¬ 
so ist Seidenstrumpffabrikant und Roheisenhändler, Armensünderglocke 
und Kleinkinderbewahranstalt, Jungmädchenlektüre und Altweibergeschwätz 
erfreulicher als der seidene Strumpffabrikant und der rohe Eisenhändler, 
die arme Sünderglocke und die kleine Kinderbewahranstalt, die junge 
Mädchenlektüre und das alte Weibergeschwätz. 

Ferner ist auch festzustellen, daß die deutsche Eigenart, zusammengesetzte 
Hauptwörter zu bilden dort, wo das Englische oder das Französische die 
Hauptwörter durch Präpositionen oder durch das Genitiwerhältnis ver¬ 
knüpft, die Bildung eindeutig prägnanter Begriffe fördert. Wir zeigen dies 
an zwei deutschen Lehnübersetzungen aus dem Englischen: Thronrede, 
seit 1815 im Deutschen gebraucht, ist die unter bestimmten Verhältnissen 
(z. B. vor der Volksvertretung) gehaltene oder verlesene Rede des Mo¬ 
narchen, indes das englische Vorbild des Wortes, Speech from the throne, 
im wörtlichen Sinne auch eine unter anderen Voraussetzungen vom Throne 
aus gehaltene Rede bezeichnen kann; das Englische hat sich daher auch die 
prägnantere Bezeichnung King's (oder Queen's) Speech schaffen müssen. 
Ebenso bedeutet Arbeitsteilung (deutsche Lehnübersetzung nach der 
Überschrift des ersten Kapitels von Adam Smiths 1776 erschienenem 
Hauptwerk) etwas Engeres, Besondereres als das allgemeine „Einteilung der 
Arbeit'' (division of labour). 

Die Betrachtung der Lehnübersetzungen im Deutschen ist über¬ 
haupt besonders geeignet, das Verständnis für die auffällige Bereitschaft der 
deutschen Sprache zur Zusammensetzung und für die innerhalb gewisser 
Grenzen zweifellos bestehenden stilistischen Vorteile dieser Bereitschaft zu 
fördern. Groß ist die Zahl solcher deutschen Lehnübersetzungen, wo einem 
zweiwörtigen lateinischen Ausdruck im Deutschen eine Zusammen¬ 
setzung entspricht. Wir nennen einige Beispiele. Für den Ausdruck malum 
discordiae oder pomum Eridis, der auf den Apfel der Eris und das Urteil 
des Paris anspielt, sagen wir seit 1570 Zankapfel. Für das ebenfalls my¬ 
thologisch begründete cornu copiae führte Christian Günther 1723 Füll¬ 
horn ein. Für libitinariorum vota (Seneca) haben wir seit 1591 Schaden¬ 
freude. Seit dem 15. Jahrhundert Ehrenmann für vir honestus. Aus 
medium aevum wird Mittelalter, das zunächst allerdings erst ein be¬ 
stimmtes Alter des einzelnen Menschen bezeichnet und erst seit dem 18. Jahr¬ 
hundert eine weltgeschichtliche Epoche. Im 18. Jahrhundert entsteht auch die 
Bezeichnung Völkerwanderung für migratio gentium. Erbsünde 
und Schutzengel sind Lehnübersetzungen aus dem Kirchenlatein (pecca- 
tum hereditarium, angelus tutelaris). Libertas conscientiae, die Prägung des 
Boethius, vielgebraucht zur Zeit der Reformation und Gegenreformation, 


268 






führt über französische Vermittlung in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhun¬ 
derts zur deutschen Lehnübersetzung Gewissensfreiheit. Kepler be¬ 
reichert die deutsche Sprache mit Fixstern (1598) und Kegelschnitt 
(1616), den Lehnübersetzungen von fixa stella und sectio conica. Gesichts¬ 
punkt für punctum visus verdanken wir Leibniz; dem Philosophen Chri¬ 
stian Wolf Schwerpunkt (1734) für centrum gravitatis. Aus der Fach¬ 
sprache der Grammatik erwähnen wir Fragezeichen, 1641 von Schottel 
für signum interrogationis eingeführt, aus der der Medizin Kaiser¬ 
schnitt, seit 1777 für sectio caesarea. Die Sprache, die all diese Lehnüber¬ 
setzungen führen, durchaus Zusammensetzungen als Ersatz analytischer Aus¬ 
drücke im Lateinischen, wird noch deutlicher, wenn wir unsere Aufmerksam¬ 
keit auch auf die französischen und englischen Entsprechungen erstrecken. 
Die Entsprechungen der eben angeführten fünfzehn deutschen Zusammenset¬ 
zungen in den beiden Sprachen weisen in keinem einzigen Falle eine Zusam¬ 
mensetzung auf, wir finden durchwegs analytische Wiedergaben des lateini¬ 
schen Vorbilds (pomme de discorde, apple of discord; corne d’abondance, 
horn of plenty; joie maligne, malicious joy; homme d’honneur, man of ho- 
nour; moyen age, middle age; migration des peuples, migration of people; p£- 
ch£ original, original sin; ange gardien, guardian angel; liberte de conscience, 
freedom of mind; etoile fixe, fixed star; section conique, conic section; point 
de vue, point of view; centre de gravite, centre of gravity; point d’interroga- 
tion, sign of interrogation; Operation c^sarienne, cesarian section). 

Anderen deutschen zusammengesetzten Lehnübersetzungen aus dem Latei¬ 
nischen stehen als französische und englische Entsprechungen einfache 
Hauptwörter gegenüber. Fegefeuer für ignis purgatorius haben wir 
bereits seit dem Mittelhochdeutschen; französisch und englisch purgatoire und 
purgatory. Während bei diesen beiden Völkern patine und patina unbestrit¬ 
ten ist, wetteifert bei uns mit dem Fremdwort Patina seit Paul Heyse die 
Zusammensetzung Edelrost, die Lehnübersetzung von aerugo nobilis. 
Brennpunkt gilt seit 1636 für punctum ustionis (französisch foyer, 
englisch focus), Wendekreis seit etwa 1700 für circulus tropicus (tro- 
pique, tropic). Unserer Zusammensetzung Veitstanz nach mittellateinisch 
chorea sancti Viti entsprechen die analytischen Bezeichnungen danse de 
Saint-Guy und St. Vitus’ dance oder die einfachen Hauptwörter choree 
und chorea. Im Falle von Eigenname und Stammbaum (seit 
dem 17. Jahrhundert für nomen proprium und arbor generationis) hat nur 
der Engländer die Wahl zwischen einer einfachen und einer analytischen 
Bezeichnung (noun oder proper name, pedigree oder genealogical tree), dem 
Franzosen stehen nur analytische Lehnübersetzungen zur Verfügung (nom 
propre, arbre genealogique). 

Schließlich nennen wir einige lateinische analytische Ausdrücke, deren 
Lehnübersetzung nicht nur im Deutschen, sondern auch im Englischen durch 
zusammengesetzte Wörter gebildet wird. Für lateinisch materna lingua (das 


269 







an Stelle des älteren patrius sermo tritt), dies caniculares, antlia pneumatica 
(1654 von Otto von Guericke, dem berühmten Magdeburger Bürgermeister 
für seine Erfindung geprägt), macula hepatica, dens sapientiae (selbst eine 
Lehnübersetzung aus dem Griechischen, nach sophronister bei Hippokrates) 
und locus communis ergeben sich die deutschen Lehnübersetzungen Mut¬ 
tersprache und Hundstage bereits seit dem 15. Jahrhundert, Luft¬ 
pumpe seit 1719, Leberfleck, 1657 durch eine Comenius-Ubersetzung 
eingeführt, Weisheitszahn seit 1717 und Gemeinplatz, zuerst 
bei Wieland 1770. In diesen Fällen sind auch die englischen Entsprechungen 
zusammengesetzte Wörter: mother-tongue, dogdays (daneben allerdings auch 
native language, canicular days), air-pump, liver-spot, wisdom-tooth, 
commonplace. Das Französische verharrt auch in diesen Fällen in Treue zur 
analytischen Ausdrucksweise: langue maternelle, jours caniculaires, pompe 
ä air, ephelides h£patiques, dent de sagesse, lieux communs. 

Nicht nur bei den Lehnübersetzungen aus dem Lateinischen, auch bei 
denen aus dem Französischen widersteht die deutsche Sprache 
meistens der Verlockung, das analytische Beispiel des Vorbildes zu befolgen 
und schafft sich lieber Zusammensetzungen. Sie übersetzt haute trahison seit 
Anfang des 18. Jahrhunderts mit Hochverrat, meurtre juridique (1770 
von Voltaire geprägt) seit 1782 (Schlözer) mit Justizmord, presence 
d’esprit seit J791 (Herder) mit Geistesgegenwart, theatre de la 
guerre seit 1793 (Goethe: Belagerung von Mainz) mit Kriegsschau¬ 
platz. Die englischen Entsprechungen sind analytisch: high treason, judi- 
cial murder, presence of mind, seat (oder theatre) of war. Weitere Beispiele 
deutscher zusammengesetzter Lehnübersetzungen nach analytischen französi¬ 
schen Originalen sind: Schäferstunde, seit 1711 für heure du berger, 
Spiegeleier seit etwa 1780 für oeufs ä miroir, Freudenmädchen 
seit 1788 für fille de joie, Treppenwitz seit 1827 für esprit d’escalier. 
In diesen Fällen hat das Englische keine genauen Entsprechungen, es behilft 
sich mit Umschreibungen (happy hour spent by lovers), synonymen Ausdrük- 
ken (gay woman, prostitute usw., poached eggs) oder mit dem unveränder¬ 
ten Zitat des Französischen (esprit d’escalier), gebraucht aber in keinem Falle 
Zusammensetzungen. Im Falle von Siebenmeilenstiefel (Lehnüber¬ 
setzung seit 1770 aus französisch bottes de sept lieues) liegt auch im Engli¬ 
schen eine Zusammensetzung vor: seven-leaguers. 

Schließlich seien einige deutsche Lehnübersetzungen aus dem Engli¬ 
schen angeführt, die ebenfalls das Verhältnis „analytischer Originalausdruck 
— zusammengesetztes Wort als deutsche Lehnübersetzung 46 aufweisen: Ar¬ 
beitsteilung (nach division of labour) haben wir schon früher erwähnt, 
ebenso Thronrede (nach speech from the throne) aus der parlamenta¬ 
rischen Sphäre (s. S. 268). Auch ein weiteres Fachwort des parlamentarischen 
Lebens, Tagesordnung (seit 1773), ist Lehnübersetzung nach dem engli¬ 
schen Order of the day. Die drastischere Färbung der amerikanischen Politik 


270 




zeigt unser Stimmvieh (seit den Sechzigerjahren), die Lehnübersetzung 
von voting cattle, mit welchem Schlagwort man in den Vereinigten Staaten 
den nur bei den Wahlen wirklich bemerkbar werdenden und nur geringen 
Anteil gewisser Schichten von eingewanderten Iren und Deutschen am politi¬ 
schen Leben kennzeichnen wollte. Auch Volkslied, 1773 von Herder 
eingeführt, ist eine Lehnübersetzung aus dem Englischen (populär song). 
Nach all den früheren Gegenüberstellungen ist es nicht überraschend, daß 
der Franzose bei der Wiedergabe auch dieser Begriffe sich niemals, wie im 
Deutschen, eines zusammengesetzten Wortes bedient, sondern division du 
travail, discours du tröne, betail electoral, chanson populaire gebraucht. 

Zu all diesen deutschen Zusammensetzungen, die Lehnübersetzungen aus 
dem Lateinischen, Französischen oder Englischen sind, — die Beispiele ließen 
sich beliebig vermehren, — gesellen sich noch viele geflügelte Wörter 
im Deutschen, die wörtlich oder anspielungsweise auf Bibel stellen, also 
auf hebräischem oder judengriechischem Sprachgut fußen und 
zusammengesetzte Wörter sind, ohne daß die französischen oder englischen 
Entsprechungen es wären. Auf Stellen des Alten Testaments beruhen u. a. 
die Ausdrücke: Linsengericht (1 Mos 4, 49, potage aux lentilles, 
pottage of lentils), Todsünde (5 Mos 22, 26, übrigens auch 1 Joh 5, 16. 
17, pech£ mortel, deadly sin), Uriasbrief (2 Sam 11, 14. 13, lettre 
d’Urie, treacherous letter), Jugendsünde (Psalm 25, 7, peche de jeunesse, 
sin of one’s youth), Jammertal (84, 7, vallee des larmes, vale of tears), 
Blutgeld (Arnos 55, 12, prix de la trahison, price of blood), Krämer¬ 
volk (Zeph 1, 11, nation d’epiciers, nation of shopkeepers). Auf Stellen des 
Neuen Testaments beruhen u. a.: Judaskuß (Matth 2 6, 48. 49, baiser de 
Judas, traitor’s kiss), Dornenkrone (27, 29, couronne d’epines, crown 
of thoms), Weltklugheit (Luk 16, 8, prudence mondaine, wordly 
wisdom), Donnerstimme (Apok 6, 1, voix tonnante, thundering voice). 
In vereinzelten Fällen weist auch das Englische für solche biblische Begriffe 
wie das Deutsche Zusammensetzungen auf, wie z. B. fig-leaf (Feigen¬ 
blatt, 1 Mos 3, 7), scape-goat (Sündenbock, 3 Mos 1 6, 21. 22), fire- 
baptism (Feuertaufe, Matth 3, 10), aber das Französische vermeidet 
auch in diesen Fällen die Zusammensetzung und hat: feuille de figuier, bouc 
4 missaire, bapteme du feu. 

Die Möglichkeit, daß der Geist einer Sprache dazu verführt wird, dem 
einer anderen Konzessionen zu machen, ist nirgends größer als bei der Über¬ 
setzung. Im Kampf gegen das Fremdwort übersieht man leicht, daß man 
fremde Art zu denken und zu fühlen mehr als mit dem Fremdwort im Wege 
der Lehnübersetzung, also einer „Verdeutschung“ übernimmt. Wenn wir die 
Erfindung des Deutschen Reis und des Engländers Bell mit griechischem 
Wortstoff als Telefon bezeichnen, so bequemen wir uns in einem äußerlichen 
Belang dem internationalen Sprachgebrauch an. Wenn wir aber die Juden 
ein „Krämervolk“ heißen, so haben wir uns Gedankengang und affektives 


27 1 







Urteil vom Propheten Zephanja, also just von einem jüdischen Sitteneiferer 
angeeignet, ebenso wie wir die Erinnerung an ein Ritual der Juden in der 
Wüste heraufbeschwören, wenn wir von einem „Sündenbock“ reden. Und die 
durchaus deutschen Bestandteile der zusammengesetzten Wörter Geistesgegen¬ 
wart und Treppenwitz (für presence d’esprit und esprit d’escalier) können die 
Tatsache nicht verbergen, daß diese beiden Wörter eigentlich Denkmäler für 
die französische Hochschätzung des „esprit“ darstellen: in dem einen Worte 
schafft sich ein Gefühl der Befriedigung Ausdruck, durch das andere zittert 
Bedauern und blinzelt Spott über verpaßte Gelegenheit. 

Der Widerstand gegen das Fremde erweist sich im Formalen oft stärker 
als im Inhaltlichen. Mehrere Dutzend deutscher Lehnübersetzungen haben 
wir hier angeführt, die sich unangefochten von den Verlockungen des analy¬ 
tischen Vorbildes, dessen gedanklichen Inhalt sie doch leicht übernehmen, der 
Ausdrucksform des zusammengesetzten Wortes bedienen, und dabei ist der 
übernommene Gedankengang mitunter sogar stärker verankert im deutschen 
Sprachgebrauch als in der ursprünglichen Sprache selbst. Der Umstand, daß 
der Deutsche Begriffe wie Geistesgegenwart, Arbeitsteilung mit einem einzi¬ 
gen Worte ausdrücken kann, führt dazu, daß diese Ausdrücke ihm schließlich 
fast geläufiger, lebensnäher sind, als dem Franzosen presence d’esprit oder dem 
Engländer division of labour. 

Es darf bei all dem freilich nicht übersehen werden, daß mancher analy¬ 
tische Ausdruck — und dies gilt namentlich für das Französische — sich fast 
nur durch den äußerlichen Umstand, daß die ihn bildenden Wörter getrennt 
geschrieben werden, von unseren Zusammensetzungen unterscheidet. Ch. Bally 
weist z. B. darauf hin, daß im Falle von chaleur solaire (wörtlich: sonnliche 
Wärme) — Sonnenwärme weder die Reihenfolge geändert, noch dem Eigen¬ 
schaftswort ein Umstandswort beigefügt werden kann, noch das Eigenschafts¬ 
wort zum Prädikat werden kann; solaire chaleur ist ebenso unmöglich, wie 
chaleur tres solaire oder cette chaleur est solaire, während z. B. der Ausdruck 
histoire romaine die Abwandlungen la romaine histoire, histoire vraiment 
romaine, cette histoire est romaine ohne weiteres gestattet. 

Auch ist, wenn man analytische Ausdrücke des Französischen und Eng¬ 
lischen den deutschen Zusammensetzungen gegenüberstellt, nicht zu vergessen, 
daß nur von einer stärkeren Neigung der deutschen Sprache für Zusammen¬ 
setzungen gesprochen werden kann. Daß diese Neigung sich aber auch im 
Deutschen nicht immer ausleben kann, zeigen unzählige deutsche stereotype 
Wendungen, deren Einzelteile der Zusammensetzung widerstreben. Unsere Wör¬ 
terbücher lassen die Zusammensetzungen Objektstücke, Seligengefilde, Gerech¬ 
tenschlaf, Anstoßstein statt Tücke des Objekts usw. erfreulicherweise vermissen, 
obschon die Analogie von Löwenanteil, Schulweisheit usw. solche rechtferti¬ 
gen könnte. Trotz Hiobsgeduld, Achillesferse, Pyrrhussieg sind wir vor 
Homergelächter, Drakostrenge, Platoliebe, Catilinaexistenzen bewahrt geblie¬ 
ben. Das Beispiel Zweiparteiensystem ist noch kein Freibrief für ein Zwei- 




Schneidenschwert. Trotz Faultier kein Faulbauch, trotz Nacktkultur keine 
Nacktwahrheit, trotz Glanzleistung kein Glanzelend, trotz Lachtaube keine 
Lacherben, trotz Falschmeldung keine Falschpropheten. Wir haben Gold¬ 
krone, Weißwurst, Schwarzbrot, Blaubeeren, Rotwein, Gelbscheibe und doch 
nicht: Goldkalb, Weißtod, Schwarzhand, Blaubohnen, Rothahn, Gelbgefahr. 
In vielen Fällen besteht analytische Form und Zusammensetzung nebenein¬ 
ander, wie z. B. Tagesgespräch und Gespräch des Tages. In 
solchen Fällen ist es nicht bloß eine Sache des guten Stils, jeweilen zwischen 
beiden Formen zu wählen, sondern es entwickelt sich gewöhnlich auch eine 
gewisse Abweichung der Bedeutungen. Unter Töchter des Landes 
(nach i Mos 34, 1) verstehen wir entweder die Töchter eines gewissen 
Landes im Gegensatz zu jenen anderer Länder oder die Töchter eines 
Landes, hervorgehoben gegenüber anderen Schätzen oder anderen Bewohnern 
des betreffenden Landes, die Bezeichnung Landestochter gebrauchen 
wir aber gleichsam in Gegenüberstellung zum Landesvater. Die Stimme 
der Natur ist ein übertragener Begriff, wir sagen z. B. von ihr, sie lasse 
sich nicht übertönen, man müsse ihr schließlich gehorchen, seine Natur¬ 
stimme läßt uns hingegen ein unausgebildeter Sänger hören. Beim 
Kampf ums Dasein denkt man vor allem an Darwins natürliche Zucht¬ 
wahl, indes einen Daseinskampf auch der Einzelne im bürgerlichen 
Sinne bestehen kann. 

Daß es wirklich ein besonderer Charakterzug der deutschen Wortbildung 
ist, der sich in den vielen zusammengesetzten Lehnübersetzungen nach ana¬ 
lytischen Originalen bekundet, bestätigt auch ein besonderer wortgeschicht¬ 
licher Umstand. Die Lehnübersetzung tritt nämlich nicht immer vom ersten 
Tage an in der Fassung eines zusammengesetzten Wortes auf. In vielen Fällen 
versucht der deutsche Sprachgebrauch zunächst, die analytische Ausdrucks¬ 
weise der Vorlage nachzubilden und erst, wenn das fremde Gedankengut 
gleichsam schon seelisch verdaut ist, drängt der deutsche Sprachgeist zu der 
ihm genehmeren Form der Zusammensetzung. Bei manchem der obigen Beispiele, 
bei denen wir den Zeitpunkt für das erstmalige Auftreten der deutschen 
Lehnübersetzung in Form eines zusammengesetzten Wortes vermerkt haben, 
ging der Zusammensetzung ein zunächst noch analytisch übersetzender Aus¬ 
druck voraus. Für dies caniculares hieß es im Mittelhochdeutschen noch hunt- 
lich tage. Für sectio conica und punctum visus gebrauchte Dürer vor Keplers 
Kegelschnitt und Leibnizens Gesichtspunkt noch: des Gesichts Punct und 
Schnydt durch ein Kegel. Nomina propria waren vor 1642 nicht Eigennamen, 
sondern eygene Namen (1530) und eygentliche Namen (Opitz 1635). Für 
centrum gravitatis schrieb Christian Wolf, bevor er selbst Schwerpunkt 
prägte, 1716 noch Mittelpunkt der Schwere. Lessing schrieb noch „die mitt¬ 
lere Zeit“, Wieland noch „das mittlere Zeitalter“ für medium aevum, Mittel- 
alter. Cornu copiae wurde im 17. Jahrhundert noch mit Horn der Fülle wie- 
dergegeben. Die sectio caesarea bezeichnet der Chirurg Heister 1739 noch 


18 Storfer • Sprache 


273 









nicht als Kaiserschnitt, sondern als kaiserlichen Schnitt. Bevor Herder das 
Wort Geistesgegenwart, Goethe das Wort Kriegsschauplatz geprägt hatte, 
waren die Übersetzungen „Gegenwart des Geistes“ und „Schauplatz des 
Krieges“ für presence d’esprit und theätre de la guerre üblich. Der Lehnüber¬ 
setzung Freudenmädchen (1788) für fille de joie ging der Versuch Schillers 
voraus, „Töchter der Freude“ einzuführen (1783). Vor Paul Heyses Edelrost 
für aerugo nobilis schreiben Wieland und Börne noch: edler Rost. 

Der Neigung und Fähigkeit der deutschen Sprache zu Zusammensetzungen 
verdanken übrigens die Fremdwortbekämpfer ihre besten Prägungen. Wir er¬ 
wähnen z. B. von den Verdeutschungen Philipp v. Zesens (f 1681) Mundart 
für Dialekt, Idiom, Trauerspiel für Tragödie, von denen Joachim Heinrich 
Campes (t 1818) Stromschnelle für Katarakt, Bittsteller für Supplikant, von 
denen Otto Sarazins (| 1921) Bahnsteig, Fahrkarte, Fahrgast, Fahrrad für 
Perron, Billet, Passagier, Velociped. Daneben gibt es aber zahlreiche Verdeut¬ 
schungen in Form von zusammengesetzten Wörtern, deren Umständlichkeit 
der Lächerlichkeit verfallen ist, wie Krautbeschreiber (Botaniker), Mordgru¬ 
benkeller (Kasematten), Gipfeltüpfel (Zenith), Meuchelpuffer (Revolver) bei 
Zesen, Ordnungsaufsicht (Polizei), Nordweiserstein (Magnet), Zauberstreichel¬ 
kunst (Magnetismus), Gleichmutsweiser (Stoiker), Hundevernünftler (Zyniker) 
bei Campe und — um auch zeitgenössische Verdeutschungsvorschläge zu nen¬ 
nen — Zukunftspinsler für Futurist bei Engel, Grünfleck für Oase bei 
Rickmers. (Vgl. auch die auf S. 258 gegebenen Beispiele). 

Bei dieser Abschweifung von den monströsen, den sogenannten aristopha¬ 
nischen Zusammensetzungen zu der Frage des allgemeinen, besonders auch 
bei den Lehnübersetzungen zu Tage tretenden Hanges der deutschen Sprache 
zu Zusammensetzungen verhehle ich mir nicht, daß es eine Unterlassungssünde 
ist, stets nur allgemein von Zusammensetzungen zu sprechen, diese gleichsam 
nur vom quantitativen Gesichtspunkt aus zu betrachten, eine Unterlassungs¬ 
sünde, die Arten der Zusammensetzungen je nach Verhältnis 
der Bestandteile zu einander und die Unterscheidung von eigentlichen 
Zusammensetzungen und uneigentlichen, die man genauer nur als Zu¬ 
sammen rückungen bezeichnen kann, durchwegs zu vernachlässigen. Aber 
vielleicht ist es auch einigermaßen von Vorteil, wenn dem Leser nicht zuviel 
zugemutet wird, wenn er, durch das „Dickicht der Sprache“ geführt, nicht 
auf sämtliche Probleme aufmerksam gemacht wird, die rechts und links vom 
ohnedies genug mühseligen Pfade im Gestrüpp noch lauern. 

III 

Aristophanische Zusammensetzungen entstehen nicht nur aus dem Be¬ 
dürfnis der behördlichen Sprache, verwickelte Tatbestände um jeden Preis 
in ein einziges Hauptwort zusammenzuraffen oder aus dem Bedürfnis der 
Wissenschaft nach Abstraktion und Detailfixierung, nicht nur als das Ergeb- 




174 



nis von Schwerfälligkeit und stolzierender Kramwut, es gibt nicht wenig 
Fälle, wo sie als Schöpfungen des Sprachtempos und des Sprachtempera- 
ments, jedenfalls als dichterische Ausdrucksmittel anzusehen sind. Selbst 
Goethe baute Wörter wie Teufelsküchenjungenschar (im Gedicht „Der 
Püsterich") oder Geschmäcklerpfaffenwesen (in „Dichtung und Wahr¬ 
heit") ; bei ihm finden sich auch die Wörter Brandschandmalgeburt, Bür¬ 
gernahrungsgraus (Meringer: „mutet mich senil an"), Knabenmorgenblü¬ 
tenträume, Pappelzitterzweig, Fettbauchkrummbeinschelme, fernabdonnernd, 
Flügelflatterschlagen; in einem Briefe an Kestner, offenbar scherzhaft 
gebildet: Nichtbriefschreibegesinnungen 1 . Besonders viele Neologismen 
aristophanischer Art finden sich bei Bürger, z. B. Donnergaloppschlag, 
enthalskrausen, entstaatsperückt, erdebewandelnd, Erzgeneraldummheit, 
gründlichtiefstrudelnd, schenkelgeharnischt, Siebenbogenspanner, Tausend¬ 
tränenguß, windschnellfüßig. Beim schwäbischen Dichter Christian Schu¬ 
bartist zu lesen : Beinahvirtuose, benaserümpfen, blutausschauernd, Schlan¬ 
gengeschmeidigkeit, Sturmwindkarosse, Totenbeingeklüft, Wasserflutge¬ 
richt. Rückert war bei der Übersetzung der indischen Dichtung Nal 
und Damajanti bestrebt, die langatmigen Zusammensetzungen der Vorlage 
nachzubilden, und gelangt so zu Wörtern wie sanftlächelredewogig, glieder¬ 
zartwuchsrichtig, vollmondsangesichtig. Rückert bildet auch nach indischem 
Muster: Gattensehnsucht-tränen-umflossen. (Dazu bemerkt Tassilo Schult¬ 
heiß, daß es die echt arische Freude an der sprachlichen Beseelung der 
Natur ist, die in solchen poetischen Wortzusammensetzungen ihren Aus¬ 
druck findet.) Bei G r a b b e schilt der Teufel einen Schulmeister Kinder¬ 
ohrfeigenverfertiger. Bei Platen lesen wir: Demagogenriechernashorns¬ 
angesicht, Depeschenmordbrandehebruchtirolerin, Obertollhausüberschnap- 
pungsnarrenschiff. Bei Mörike ist von Erstlingsparadieseswonnen die 
Rede, bei Gutzkow von Nachneunuhrzubettgehen, von der Nuraufgott- 
bezogenheit. ° 

Hauptsächlich das griechisdie Beispiel war in der Dichtkunst verführend. 
Die 1781 erschienene Übersetzung der Odyssee von Voß hat die Verwen¬ 
dung von Partizipien, die mit Umstandswörtern und Hauptwörtern zu¬ 
sammengezogen wurden, in Mode gebracht. So finden wir bei Sc hi 11 er: 


i) Behaghel weist darauf hin, wie gewaltig die Fülle der Zusammensetzun¬ 
gen bei Goethe und Schiller überhaupt ist. In Schillers Versdramen beträgt 
die Zahl der Zusammensetzungen etwa ein Viertel bis ein Drittel von der 
Zahl der einfachen Hauptwörter. In Goethes Faust kommen sogar etwa 1200 
Zusammensetzungen auf 2200 einfache Wörter, d. h. mehr als ein Drittel 
aller Hauptwörter sind zusammengesetzt. 


18 * 


27 S 











himmelumwandelnde Sonne. Ähnliche Partizipia sind z. B. deckeentträu- 
fend (Scheffel), dunkelpurpurprangend (K. F. Meyer), goldkorn¬ 
gartenüberdacht, unrastentbürdet, mittagsonnenüberglüht (Bierbaum), 
raumundzeitwegraffend, menschenlärmdurchwogt (D e h m e 1). Besonders 
häufig sind solche aristophanische Partizipia bei Spitteier: strahlen- 
kranzumzuckt, farbentraumdurchmalt, siegessonnenlichtdurchglänzt. (Übri¬ 
gens kommen bei Spitteier auch nichtpartizipiale 'Wortzusammensetzungen 
vor, wie Gießbachdonnerstampf, Ratsherrenschwatzgeplapper, Teufelstu¬ 
gendfrommgesichter, Quellenwirbelwalzer, Tugendheuchelseelen, Welten¬ 
scherbenküste, dämmerschattenschwarz, ziegelzimtzinnoberrot, das Tal 
Warumdennicht, der Gipfel Könntichmöchtich.) Ein anderer Meister der 
partizipialen Aristophanismen ist Arno Holz: schwülbrastgewitterdon- 
nerdämonendruckbrüllgrülltobte Wolkenbruchszeit, eissteinhagelüberpeitscht, 
tropenflackerheißlichtüberstrahlt 1 . (Auch bei Arno Holz beschränkt sich das 
Aristophanisieren nicht auf Partizipia; wir finden bei ihm auch Höllen¬ 
pfuhlmarterqualenverdammnisnacht, Baumriesenwipfelblütengigantenschmet- 
lerling, walroßwulstplumptannenhalsig, schmatzschlürfschnalzen, belechzgier- 
trachten.) 

Die Zeit um 1900 herum, das sogenannte fin du siede, war die Haupt¬ 
blütezeit der Aristophanerei in der Lyrik. Es wimmelte in den affektiert 
ausg estat teten Gedichtbänden dieser Zeit von Wörtern, wie: schattenlöterig- 
bizarr, dunkelheitsnächtiges Wettergewölk, stillgeheimes Granitkornzer- 
lecken. Zu den Wortkopplern gehörten auch Dichter vom Range eines Deh¬ 
rn e 1 (Moosundkienharzschwelicht, sturmschwalbenscharendicht, Menschen¬ 
sehnsuchtsqual, Frühlingsknospenglut, Sturmpfeifengeschrill), eines Lilien- 
cron (er nennt Amor den Herzenintrabbringer und spricht von Säbel- 
schnittgesaus, Sechsuhrnachmittagssonnenschein und schornsteinrauchfried¬ 
licher Landschaft). Viel üppiger trieb es Otto Julius Bi er bäum, von 
dem wir schon oben Proben geraffter Partipizia sahen; er ist auch mit 
Hauptwörtern im goldenen Buche der Aristophanerei vertreten; wir erwäh¬ 
nen nur Schnurrbartesisterreichtigkeit, Spinnräderrockentanz, Rockentanzge- 
schrammel. Von Hans von Gumppenberg wurde Bierbaum in einem 
Gedicht parodiert, das „Sommermädchenküssetauschelächelbeichte" heißt. 
Die ersten vier Zeilen dieser Nachdichtung lauten: „An der Murmelriesel- 
plauderplätscherquelle / Saß ich sehnsuchtstränentröpfeltrauerbang / Trat 
herzu ein Augenblinzeljunggeselle / In verwegnem Hüfteschwingeschlen- 

i) Aus dem zeitgenössischen Schrifttum ist als „Partizipialaristophanist 
der Romanschriftsteller Hans Heyck anzuführen (gartengebettet, geruten- 
bündelt, würdegebändigt, eichengeblockt u. dgl.), 


Ij6 






dergang.” (Wirklich ein „Schmiegeschwatzeschwelgehochgenuß”, um ein 
anderes Wort derselben Parodie zu gebrauchen!) Gumppenberg parodiert 
übrigens mit üppigen Wortkuppelungen auch Paul Scheerbart (schlitz- 
durchfächertes Sprühsprungspreizegerüst, Zipfelzapfelgezause, Kuppeltrau¬ 
bengeträne, Zickzackgetakel) und Theodor Däubler (Techtelmechtel¬ 
nächte, Feuerfauchgewalten, vernunftverdumpfter Wichte Knacksgeknaster, 
aus Schmerzschleimschleiern wabbt Brunstdunstgewitter). Däubler selbst 
dichtet von angeträumten Schlummerebbungsschleimen, und die Äste beträu¬ 
men bei ihm ein Taudiamantangebot. Christian Morgenstern spielt 
auf eine Reihe beliebter Schlagwörter der Jahrhundertwende mit einem 
Schlage an, wenn er von der Weltauffasseraumwortkindundkunstanschauung 
spricht. Sein Gedicht „Die Fledermaus” hat den Untertitel: Kurhauskon¬ 
zertbierterrassenereignis. 

In diesem Zusammenhang sei noch ein zeitgenössischer Autor angeführt, 
für den die Verwendung aristophanischer Wortbildungen besonders kenn¬ 
zeichnend ist. Der eigenbrötlerische Basler Satiriker und Dialektdichter D o- 
minik Müller sang nicht nur einmal „Des Nationalratswahlplakatsan- 
klebers Lied”, wir treffen bei ihm auch sonst auf Schritt und Tritt Wen¬ 
dungen wie schwerhinschreitende abendschoppenlüsterne Bürger oder Wör¬ 
ter wie Straßenstaubaufwirbler, Tramschienenstöhnen, schulzwanggeknetet. 

Es wäre ein Irrtum, zu glauben, daß solche Aristophanismen unter allen 
Umständen als (beabsichtigte oder unbeabsichtigte) komische Übertreibun¬ 
gen gelten müssen. Was ein Künstler der Sprache vermag, zeigt am besten 
das Beispiel Nietzsches, bei dem sich mitunter ganze Sätze zu einem 
Wort versteifen. Man denke an nietzschische Schöpfungen wie: das Sich- 
nicht-rächen-wollen, das Nicht-wieder-los-können, die Schlechtweggekom¬ 
menen, in-den-Tag-hinein-leberisch, Bausch-und-Bogen-Seelen. Trotz des 
damals noch geringen Widerhalls seiner Philosophie folgten bereits einzelne 
Zeitgenossen in ihrer Prosa dem Beispiele dieser Stilart. Johannes S c h e r r 
schrieb z. B. in einer Satire auf die Goethe-Philologie, „das Kind” Bettina 
habe den alternden Goethe „mittels Umdenhalsfallen und Aufdiekniesitzun- 
gen” behelligt. Der genialische Oskar Panizza ruft einmal aus, hier 
helfe nur das Selbstdiefederindiehandnehmen, und erwähnt ein andermal 
das Sich-in-sein-Schwert-stürzen und das Von-einem-vornehmen-Senatsmit- 
glied-mit-dem-Stuhlbein-Erschlagenwerden der beiden Gracchen; die Me¬ 
lancholie nennt er die RösIein-Röslein-rot-Krankheit oder die BÜtzblaue- 
Äuglein-Krankheit. Eugen D ü h r i n g poltert über die Hundertundmehr- 
uniformspieler. Selbst der sprachlich konservative und vorsichtige Wiener 
Humorist Eduard P ö t z 1 spricht von KuItur-nach-Osten-Trägern. 


277 






IV 

Diese im deutschen Schrifttum am kennzeichnendsten durch Nestroy und 
Nietzsche geübte dynamische Zusammenfassung von ganzen Sätzen oder Satz¬ 
teilen in ein Wort, die sich von den Wortketten rein nebenordnender Art 
deutlich unterscheidet, ist besonders im Englischen häufig anzutreffen. 
Bei Dickens z. B. ist der Satz zu lesen: a little man with a puffy Say- 
nothing-to-me-or-Hl-contradict-you sort of countenance, ein kleiner Mann 
mit einer Art von aufgeblasenem Sagmirnichtsoderichwidersprechedir-Ge- 
sichtsausdruck. William James schreibt in seinen Prinzipien der Psycho¬ 
logie, für das Huhn sei das Ei einfach ein never-to-be-too-much-sat-upon 
object, ein Gegenstand des Niegenugdaraufgesessenhabens. Bernard Shaw 
spricht von der life-or-death-intensity, der Auflebenodertodanstrengung, 
von the not-quite-at-ease-manners, der nicht ganz unbefangenen Art, von 
turn-the-other-cheek gentlemen, den die-andere-Wange-hin-hälterischen 
Herren. Im Krieg sprach man von the peace-at-allprice apostles, den Frie- 
denumj edenpreis-Aposteln, die bekämpft wurden von the fight-to-a-finish 
statesmanship, der Politik des Biszumendkämpfens (französisch jusqu au- 
boutisme). The at-my-time-of-life mood, wörtlich die Zumeinerzeitstim¬ 
mung, ist die Stimmung des rückschauenden Alters, a flash-in-the-pan re- 
partee, eine Blitzindiepulverpfanne-Erwiderung ist ein ebenso bildhafter 
Ausdruck für eine schlagfertige Antwort wie für einen Automaten the 
penny-in-the-slot-machine, die Pennyindenschlitzmaschine. In der Blüte¬ 
zeit des englischen Puritanismus kam es vor, daß ganze Sätze zusammen¬ 
gerafft und als Vornamen verwendet wurden. Pimpleton, einer der Offi¬ 
ziere Cromwells, hieß Whatever-may-contrive-those-which-are-you-contra- 
rious-praise-God Pimpleton („Was-auch-deine-Widersacher-gegen-dich-er- 
sinnen-mögen-preise-Gott Pimpleton"). Nicht viel kürzer hieß sein Kame¬ 
rad If-Jesus-Christ-had-not-died-for-thee-thou-hadst-been-dasmned Barbone 
(„Wenn-J esus-Christ- nicht-für-dich-gestorben-wäre-wärest-du-verdammt Bar¬ 
bone"). Großbritannien darf auch den Ruhm für sich in Anspruch nehmen, 
den längsten Ortsnamen aufzuweisen: das Dorf Llanfair-pwllgwyn-gylloge- 
rychwyrndrobwll-Llandisiliogogogoch liegt in Wales und sein Name be¬ 
deutet in der keltischen Landessprache: „die Kirche der heiligen Maria in 
einer Vertiefung der weißen Haselnuß in der Nähe des reißenden Wirbel¬ 
stroms und des heiligen Disilio in der Nähe der roten Höhle. (Aber zur 
Beruhigung diene: die Post befördert auch solche Briefe in jenen Ort, de¬ 
ren Anschrift nur kurz Llanfair angibt.) 

In der französischen Literatur finden sich vor allem bei Rabe¬ 
lais aristophanische Monsterbildungen. Es bedarf aber jeweilen eines lan- 


272 




gen Kommentars, um darzulegen, was der sprachgewaltige Schöpfer von 
Gargantua und Pantagruel mit Zusammensetzungen, wie supercoquelincan- 
tique (aus lateinisch super = über, französisch coquin = Schuft, und einem 
Teil des Namens der durch ihren Wein berühmten spanischen Stadt Ali¬ 
cante) , grignelignocopapopondrille oder tocpignemampenilleorifrizononfre- 
sure ausdrücken wollte, um nicht noch längere und verzwicktere Beispiele 
anzuführen. Das moderne Französisch hat wenig Neigung zu solchen Un¬ 
geheuerlichkeiten. Anzuführen wären hier höchtsens gewisse „Satzwörter", 
d. h. Hauptwörter, die aus der Erstarrung eines Satzes hervorgehen, grö߬ 
tenteils nur ein kurzes Dasein führen, mitunter aber doch zu einer derart 
allgemeinen Geltung gelangen, daß sie sich über die Nichtaufnahme in das 
Wörterbuch der Akademie leicht trösten dürfen. Wir nennen z. B. die 
Satzwörter je-m’en-foutisme, und je-m’en-fichisme für die Lebensphilosophie 
der Wurstigkeit und die Argotausdrücke Marie-je-m embete für eine Frau, 
die sich viel ziert, und Marie-mange-mon-pret (Marie-verzehr-meinen-Sold) 
für ein leichtfertiges Mädchen, das sich bei den Kasernen herumtreibt. Vor 
einiger Zeit schrieb Clement Vautel im Paris-Soir von der großen Partei der 
fautquegachangistes (der Partei der Dasmußanderswerdenisten). 


279 










Von einsilbigen Wörtern 

und deren Überhandnehmen 


Der Sprachforscher hat nicht nur zu untersuchen, 
woher die Wörter kommen, sondern auch, wohin 
sie gehen. 

Hugo Schuchardt 


I 

Einzelne Erscheinungen in der Wortgeschichte zeugen von einer Ver¬ 
schwendungssucht der Sprache. So zeigen sich verschwenderische Züge bei 
gewissen Zusammensetzungen: bei den sogenannten verstärkenden Zusam¬ 
mensetzungen nach Art von pechrabenhöllenschwarz; bei den verdeutlichen¬ 
den, wie Auerochs, Maultier, Elentier, Eidergans, Turteltaube, Walfisch, 
wo eigentlich schon der erste Teil allein das betreffende Tier bezeichnet; 
und bei den tautologischen, wie Vorbedingung, Rückvergütung, Zwischen¬ 
pause, Selbstüberhebung, Schutzpatron. Unvergleichlich häufiger stoßen 
wir jedoch auf Erscheinungen, die deutlich ein Streben nach Kürze als trei¬ 
bende Kraft im Leben der Wörter erkennen lassen. Eines der auffälligsten 
Ergebnisse dieser Sparsamkeitstendenz ist das Uberhandnehmen 
einsilbiger Wörter. 

Oft führt die allgemeine Neigung zum Ausstößen unbetonter Endvokale 
zur Einsilbigkeit. Viele französische Wörter, die sich dem Auge zweisilbig 
darbieten, sind eigentlich einsilbig; nur in der gebundenen Sprache verhilft 
das Versmaß dem „stummen e" zum bescheidenen akustischen Dasein. Dem 
deutschen Dichter steht es frei, zu sehn und flehn, oder zu sehen und fle¬ 
hen. Auch daß bei der Biegung des deutschen Hauptwortes ein „e" oft 
ausfallen kann, führt vielfach zur Einsilbigkeit. Selbst dort, wo die Beibe¬ 
haltung des e die Norm ist, regt sich der Kürzungsdrang. Man soll zwar 
„Mannes' 1 und „Triebes" sagen, aber man ist „Manns genug", und bei 
Goethe heißt es: „du bist dir nur des einen Triebs bewußt." 

In althochdeutschen Texten fällt es auf, wie viele Hauptwörter 
auf Vokale ausgehen. Anfangs unseres Jahrtausends lautete es noch herza, 


zSo 



hona, strala, zala, wo wir einsilbig Herz, Hohn, Strahl, Zahl sagen, 
bäro, sterno und lenzo ist jetzt einsilbig Bär, Stern und Lenz, statt 
giri, hirti, milzi, stilli, turi, wildi gilt jetzt Gier, Hirt, Milz, still, Tür, 
wild und statt filu und sigu viel und Sieg, Vielfach schuf das Mittel¬ 
hochdeutsche den Übergang. Zwar hat es oft noch einen Endvokal 
aber das a, o oder i ist zum neutraleren e verblaßt und bereitet so die 
vollkommene Abstumpfung vor. So wird aus althochdeutsch herro und 
frauwa mittelhochdeutsch herre und frouwe, was zu unseren Einsilbern 
Herr und Frau führt. Ähnliche Schrumpfreihen sind z. B. finco—vinke— 
Fink, hirni—hirne—Hirn, kerno—kerne—Kern, narro—narre—Narr, 
netzi—netze—Netz, ora—ore—Ohr, salmo—salme—Salm, smerzo— 
smerze—Schmerz, stucki—stücki—Stück 1 . 

Nicht nur Abschleifung des Endvokals, auch Ausstoßung des tonlosen 
Vokals aus der Mitte führt zur Einsilbigkeit. So wird althochdeutsch angust 
zu Angst, hanaf zu Hanf, houbit zu Haupt, hengist zu Hengst, girob zu 
grob, gilid zu Glied, stahal zu Stahl, weralt zu Welt usw. Hier sind 
auch jene Einsilber zu erwähnen, deren „u" auf althochdeutsch „uo" zu¬ 
rückweist, wie Blut, Bug, Flut, Fuß, Gruß, Huf, Hut, Krug, Mus, Pflug, 
Ruf, Ruhm, Ruhr, Schuh, Stuhl, Wut usw., deren Vorläufer bluot, buog, 
fluot usw. lauteten. Manchem unserer einsilbigen Hauptwörter entsprechen 
sogar Drei silber im Althochdeutschen, z. B. Amt aus ambahti, Bild aus 
bilothi, Erz aus erizzi, Hemd aus hemidi, Krebs aus chrebazo, Mensch aus 
mennisco. Glück war noch im Mittelhochdeutschen dreisilbig: gelücke. Aus 
mittelniederdeutsch unlucke hat sich nicht nur Unglück, sondern auch der 
Einsilber Ulk entwickelt 2 . 

Merkwürdige Beispiele für Zusammenschrumpfung eines Mehrsilbers 
zum Einsilber finden sich unter jenen Fällen, die man verdunkelte 
Zusammensetzungen nennt. Hier verschmelzen nicht mehrere 
Silben eines Wortes zu einer einzigen, vielmehr sind es zwei selbständige 
Wörter, die sich so innig vereinigen, daß sie unkenntlich werden. Solche 
verdichtete Einsilber, die die Etymologie als Zusammensetzungen enthüllt, 


1) Beachtenswert ist, daß manches ungarische Wort, das dem Deut¬ 
schen entlehnt ist, das deutsche Vorbild zu einem Einsilber vereinfacht hat; 
ich nenne z. B. csür aus Scheuer, p£k aus Bäcker, ceh (== Zunft) aus Zeche, 
frigy (= Friedensbund) aus Friede. 

2) Nach anderen Auffassungen kommt Ulk von Ulrich (vom Scheltwort 
„dummer Ulerch“) oder von althochdeutsch urliugi (altnordisch orlog) = 
Krieg, Schicksal (dazu vielleicht elsässisch Ulk = Feuerbrunst) oder von Uleke 
= Ulenspiegel, Eulenspiegel. Für alle Fälle ist aber der Einsilber Ulk aus 
einem längeren Wort entstanden. 


281 









sind z. B.: zwar aus ze wäre (zu Wahrheit), nur aus niwari, d. h. (wenn 
es) nicht wäre, Nest zu altindisch ni-sad (Niedersetzung), Arzt aus grie¬ 
chisch arch-iatros (Erzheiler). Ein scharf ausgeprägtes Beispiel von Ver¬ 
dichtung bietet das Wort Pferd, das aus der griechisch-spätlateinischen Zu¬ 
sammensetzung paraveredus (Neben-Postpferd) hervorgegangen ist. Der 
Drang zum Silbensparen ist deutlich zu verfolgen: mittellateinisch parave¬ 
redus hat 5 Silben, daraus althochdeutsch pfarifrit mit 3, mittelhochdeutsch 
phärit mit 2 und schließlich unser Pferd, das mit seinen Synonymen Roß 
und Gaul die Einsilbigkeit teilt. 

Der Schrumpfprozeß, bei dem meist wesentliche Bestandteile der Wurzel 
geopfert werden, ist um so weniger gehemmt, je ungeläufiger die ursprüng¬ 
lichen Bestandteile dem sprechenden Volke geworden sind. Daher kommt 
solche Verdichtung besonders bei der Entlehnung fremden Wort¬ 
stoffes häufig vor. So sind die Einsilber Zoll, Forst, Halm, Wams, 
Föhn, Sold, Vogt, Pelz, Pfalz, Propst, Zimt, Pilz, Pult, Schrein, um nur 
einige dieser Art zu nennen, Abkömmlinge von drei- oder viersilbigen 
lateinischen Wörtern (toloneum, forestis, calamus, wambasius, favonius, 
solidus, vocatus, pellicia, palatium, propositus, cinnamomum 1 , boletus, pul- 
pitum, scrinium 2 ). Die griechischen Viersilber sarkophagos, hexamiton wer¬ 
den im Deutschen einsilbig: Sarg, Samt. Das Wort Mönch muß mit einem 
nur dreisilbigen griechischen Vorfahren (monachos) vorlieb nehmen. Aus 
einem vermuteten griechischen genomos (Erdbewohner) entsteht wahr¬ 
scheinlich der Einsilber Gnom. Der italienische (mittelbar ebenfalls griechi¬ 
sche) Viersilber astrologo verdichtet sich zum kraftvollen deutschen Ein¬ 
silber Strolch 3 . Hier sei auch erwähnt, daß mehrere einsilbige deutsche 
Ortsnamen auf vielsilbige lateinisch-keltische Namen zurückgehen, so ent¬ 
wickelt sich z. B. Mainz, Metz, Worms aus Magontiacum, Mediomatricum, 
Borbetomagus. Selbst bei der Entlehnung aus slawischen Sprachen, 
für die doch Konsonantenhäufung und Vokalarmut überaus bezeichnend 
ist, bringt die deutsche Sprache noch eine Entvokalisierung bis zur Einsil- 

1) Das lateinische Wort selbst geht über Griechisch auf das Semitische 
zurück (Herodotos III, in: „Dünne Späne, die wir von den Phöniziern 
kinnamomon zu nennen gelernt haben“); hebräisch: qinnamon. Dem semitischen 
Wort liegt angeblich malayisch kayumanu zu Grunde (kayu = Holz, manu 
= süß). 

2) Auch im Französischen entsprechen oft einsilbige Wörter lateinischen 
Mehrsilbern: z. B. doigt = Finger und de = Fingerhut, oeil = Auge, vingt 
= zwanzig, ble = Getreide, sou (Kupfermünze) aus digitus, oculus, viginti, 
ablata, solidus. 

3) Vgl. das Stichwort „Strolch“ in „Wörter und ihre Schicksale“. 


282 






bigkeit fertig, wie die Beispiele Dolch aus polnisch tulich, Schöps aus 
tschechisch skopec, Quark aus russisch tvarog, Nerz aus kleinrussisch noryza 
zeigen. 

Eine weitere Gruppe einsilbig gewordener Wörter bilden jene Eigen¬ 
schaftswörter, die aus Partizipien der Vergangenheit derart entstanden sind, 
daß eine lautliche Zusammenziehung sie grammatikalisch vom Zeitwort los¬ 
gelöst hat. Solche Einsilber sind z. B. blind aus geblendet, dick aus gedie¬ 
hen, dünn aus gedehnt, voll aus gefüllt. 

II 

Alle bisher angeführten Typen der Entwicklung zur Einsilbigkeit könnte 
man unter dem gemeinsamen Namen eines organischen Schrumpf¬ 
vorganges zusammenfassen. Abweichend sind jene Fälle, wo ein Teil des 
Wortes, gewöhnlich der Anfang oder das Ende, als Opfer des Strebens 
nach Bequemlichkeit so spurlos verschwindet, daß man von einer mecha¬ 
nischen Kürzung des Wortes, gleichsam von seiner Beschneidung spre¬ 
chen möchte. Wissenschaftlich spricht man von einer Aphairesis, wenn 
der Anfang des Wortes abfällt (z. B. Butike und Bodega aus Apotheke, 
Orange und italienisch arancia aus arabisch narandsch, spanisch naranja, 
Gurke aus tschechisch okurka, italienisch storia und englisch story aus grie¬ 
chisch-lateinisch historia, der Ortsname Saloniki aus Thessalonike 1 ), von 
einer A p o k o p e, wenn das Ende abgestoßen wird (wie Sarg aus Sarko¬ 
phag, Pneu aus Pneumatik, Zepp aus Zeppelin, Proporz aus Proportional¬ 
wahlrecht). Beide Vorgänge, die nicht selten zu einsilbigen Wörtern füh¬ 
ren, sind in der Hauptsache moderne Erscheinungen, vornehmlich das 
Sprachtempo der Neuzeit fördert diese Verstümmelungsarten. Die Ent¬ 
rüstung eines Voltaire, c’est le propre des barbares d’abreger les mots, es 
sei Barbarenart, die Wörter zu kürzen, findet zwar bis in unsere Tage 
immer wieder Erneuerung 2 , vermag aber in Wirklichkeit der fortschreiten- 

1) Zur Aphairesis, zur echoartigen Wiedergabe des Wortendes neigt beson¬ 
der das kleine Kind. Daher finden wir auch viele Einsilber in der Kinder¬ 
sprache. Clara und William Stern verzeichneten bei ihren Kindern u. a. Pot 
für Kompott, lein für allein, put für kaputt, Hant für Elefant, Ssell für 
Karussell. 

2) Besonders oft bei S c h o p e n h a u e r, z. B. „Es ist, als ob jeder Schrift¬ 
steller, mit einer Schere in der Hand, hinter der Sprache herlaufe, um ihr 
einen Buchstaben abzuknapsen 44 — „Silben wegschneiden erfordert gerade so 
viel Verstand, wie der Dümmste hat“ — „Eine fixe Idee hat sich aller deut¬ 
schen Schriftsteller bemächtigt: sie wollen die Sprache zusammenziehen, sie 
kompakter, konziser machen 44 — „Der schmutzigste Buchstabengeiz beherrscht 
sie; sie beschneiden die Worte, wie die Gauner die Münzen.“ 


283 









den Wortstutzung nicht Einhalt Zu gebieten. Die Entwicklung gibt jeden¬ 
falls Jespersen recht, der dem Voltaireschen Ausspruch gegenüber betont, 
eher seien doch lange, schwerfällige Wörter als Zeichen von Barbarei anzu¬ 
sehen, kurze, flinke dagegen als Kennzeichen fortgeschrittener Kultur. Auch 
im Französischen, zumal im lebendigen Sprachgebrauch jenseits der 
wohlbehüteten Gehege der Akademiesprache und gar im Argot, zeigt sich 
deutlich die moderne „unanständige Hast'*, der Zug zum Silbensparen. 
Aus dem Pariserischen erwähnen wir z. B. Boul Mich für Boulevard Saint- 
Michel und Maub für Place Maubert, aus der Soldatensprache Batt Daff 
für bataillon d’Afrique, perm für permission (Erlaubnisschein), aus der 
Schülersprache chi (mit obszönem Anklang) für chimie (Chemie), aus 
der Buchdruckersprache grat für gratification, aus der Gaunersprache mac 
für maquereau (Zuhälter), nap für napoleon d’or (Goldstück), — lauter 
einsilbige Volkswörter. 

Das Englische, das uns unzählige Beispiele gelungener organischer 
Verdichtung zeigt (z. B. die Einsilber Lord aus hlaford = Brotwart, 
clown aus colonus, crown aus couronne, alms aus 6silbig griechisch eleemo- 
syne == 3silbig deutsch Almosen) liefert uns auch am reichlichsten Beispiele 
von Wörtern, die durch Anfangs- oder Endstutzung zu Einsilbern gewor¬ 
den sind. Einige einsilbige englische Rumpfwörter, die international bekannt 
sind: brig, cab, bus, mob, gin, gent, rum aus brigantine, cabriolet, omnibus, 
mobile, geneva (Wacholder), gentleman, rumbullion 1 . Von den neuesten 
Weltmarktschöpfungen amerikanischer Vereinsilbigung nennen wir: Champ 
aus Champion, Vamp (im Sinne eines Frauentypus der Filmdramatik) aus 
Vampir 2 . Bemerkenswert sind solche englische Einsilber, bei denen sowohl 

1) In vielen Fällen besteht im Englischen die volle Form und die durch 
Aphairesis auf Einsilbigkeit gekürzte Form nebeneinander, oft mit Bedeutungs¬ 
unterschieden, z. B. mend = ausbessern neben amend (meist nur in juristi¬ 
schem oder politischem Sinne), fend = abweisen, fernhalten neben defend 
= verteidigen, spy neben espy, beide bedeuten erspähen, espy aber auch: 
spionieren. 

2) Dazu kommen noch solche amerikanische Einsilber, die den Weg in 
andere Sprachen nicht gefunden haben, z. B, in der Studentenspracne, dem 
College-Slang (vielfach übereinstimmend mit der Schülersprache Englands): 
prof, lab, dorm, trig, rep, prep, prom für professor, laboratory, dormitory, 
trigonometry, repetition, preparation, promenade. Aus dem Slangwörterbuch 
von Barr&re und Leland 1897 führe ich an: biz = business, cri = Criterion 
(ein bestimmtes Londoner Restaurant), pav = pavillon, pops = populär 
concerts, pug = pugilist. Aus dem amerikanischen Slang (nach Mutschmann, 
Dorpat): bach = bachelor, cit = citizen, sis = sister, sal = Salvation Army. 
To prog (z. B. to prog the winner of the Derby) bedeutet im Slang Voraus¬ 
sagen (prognosticate). The props sind im Theaterslang die Requisiten (pro - 


284 





vorne als hinten etwas weggefallen ist, z. B. van (= Vorhut) aus avant- 
garde, oder in der Umgangssprache flu aus influenza. (Den Eindruck 
eines zweiseitigen Stutzwortes macht übrigens auch der bekannte albanische 
Einsilber mbret = König, ein Abkömmling von Imperator.) 

Wenn wir von den an sich einsilbigen Sprachen absehen — wir lassen 
hier das Chinesische absichtlich ganz außer acht —, so ist überhaupt das 
Englische jene Sprache, die den größten Bestand an einsilbigen Wörtern 
aufweist. Wir erinnern nur daran, daß es unter den vielen englischen Wör¬ 
tern internationaler Verbreitung geradezu wimmelt von Einsilbern. Wir 
nennen Bar, Bluff, Boss, Boy, Cant, Clan, Club, Dock, Farm, Flirt, Girl, 
Goal, Golf, Grill, Grog, Groom, Jazz, Lunch, Match, Mob, Plaid, Sketch, 
Slang, Slum, smart, Snob, Spleen, Sport, Spurt, Star, Start, Stop, Team, 
Tip, Tramp, Trick, Trust, Turf, — und es kann niemand schwer fallen, 
diese Reihe zu verlängern. Bekannt sind auch die zu Einsilbern verkürzten 
englischen männlichen Vornamen Jim, Jack, Tom, Bill, Bob, Dick, 
Ned, Noll, Pat, Ted, Dan, Al, Fred usw., sowie die weniger zahlreichen 
weiblichen, wie Bess (Queen Bess war die Königin Elisabeth), Nell, Nan, 
Betts, Griggs, Cat, Maud, Meg, Vic usw. Einsilbige Nebenformen der Vor¬ 
namen kennt auch das Deutsche seit langem: Hinz, Kunz, Götz, Lutz, Fritz, 
Hans, Bernd, Rolf, Sepp von Heinrich, Konrad, Gotthard, Ludwig, Fried¬ 
rich, Johann, Bernhard, Rudolf, Josef sind nicht erst moderne Erscheinun¬ 
gen. Die heiligen Könige Melchior und Balthasar heißen im Schweizer 
Volksmund Melk und Balz * 1 . Auch viele einsilbige Familien namen 
sind eigentlich Kurzformen von Vornamen: z. B. Drews von Andreas, 
Löns von Apollonius, Arndt von Arnhardt, Niels von Kornelius, Dirks, 
Dietz und Tietz von Dietrich, Jahn und Jentsch von Johannes, Manz von 
Mannhard, Menz von Meinhard, Benz von Bernhard, Pietsch von Peter, 
Seitz von Siebert oder Siegfried, Uhl von Ulrich, Johst von Jodocus, Bartsch 
von Bartholomäus. 

Das Uberhandnehmen der einsilbigen Wörter im; Englischen ist darum 


perties). Aus dem Slang der englischen Buchdrucker: mos statt animosity 
(also gleichzeitig Aphairesis und Apokope), z. B. to shout no mos = keinen 
Groll hegen. Ich erwähne noch das familiäre pub für public-house (Wirtshaus). 

i) Sehr gebräuchlich sind zu Einsilbern gekürzte Knabennamen in Hol¬ 
land, wie z. B. Bram (Abraham), Dolf (Adolf), Ad (Adriaan), Bert, Ab 
(Albert), Lex (Alexander), Ton (Antonius), Nol, Arnd (Arnold), Gust 
(Augustus), Bart (Barthelomeno), Chris, Kris (Christian), Cor (Cornelius), 
Henk (Hendrik), Jaap, Jack (Jacobus), Jas (Jasper), Jan, Jo, Joop, John, 
Han (Johannes), Kas (Kaspar), Mau (Maurits), Rein (Reinhart), Ru, Dolf, 
Rud (Rudolf), (Sebastian), Wim (Willem), 


285 








von allgemeinem Interesse, weil man gewohnt ist, die englische Sprache 
als die höchstentwickelte anzusehen und daher aus ihren Eigenheiten Fol¬ 
gerungen für das Schicksal der anderen Kultursprachen ziehen zu dürfen 
glaubt. Die englische Einsilbigkeit ist zwar ganz besonders ein Kennzeichen 
der Umgangs- und der Vulgärsprache, aber — um vom anderen Extrem 
zu reden — selbst die Sprache der englischen Dichter und der besten Pro¬ 
saisten ist noch überaus reich an Einsilbern. Philipp Aronstein hat in einer 
150 Wörter umfassenden Stelle aus Macaulays Geschichte Englands 75 
Prozent einsilbige Wörter gezählt, in einer Dickensstelle (Christmas Carol, 
174 Wörter) 72,5 Prozent; fünf Strophen eines Shelleyschen Gedichtes 
weisen 76 Prozent und ein 248 Wörter umfassendes Stück aus Tennysons 1 
Königsidyllen sogar 82,4 Prozent einsilbige Wörter auf 2 . Es ist vornehm- 

1) Auf die Vorherrschaft der Einsilber in Tennysons Idyll „The 
Princess“ weist L. Magnus hin; die Vorteile dieser Stileigenheit seien: die 
Bedeutung ist von durchsichtiger Klarheit, der Ton nicht unmittelbar auf 
dem Gefühl, wie reine Musik, die nicht in Sprache umgesetzt ist, und die Seele 
fühlt sich durch heimliche und vertraute Worte geschmeichelt. Es ist auch 
wiederholt hervorgehoben worden, daß die englischen Einsilber zumeist ger¬ 
manischen, die Mehrsilber romanischen Ursprungs sind. Daraus ergibt sich 
wie Heinrich Spies ausführt, das Überwiegen der Einsilber bei der wurzel¬ 
haft-englischen Dichtkunst gegenüber der von ausländischen Vorbildern 
beeinflußten (so haben z. B., im wesentlichen Unterschied von Tennyson, 
Dryden und Pope ein Vorliebe für Vielsilber griechischen und lateinischen 
Ursprungs). 

2) Ich habe dieses Experiment auch auf Byron ausgedehnt; um nicht in 
Versuchung zu geraten, Stellen auszusuchen, wo der Anteil der Einsilber über¬ 
durchschnittlich ist, habe ich mich genau an die ersten 100 Wörter von Byrons 
bekanntesten Dichtungen (Korsar, Parisina, Manfred, Cain, Don Juan, Childe 
Harold, Der Gefangene von Chillon) gehalten: an jeder dieser sieben Stellen 
zählte ich unter 100 Wörtern 70—80 Einsilber. Während diese Berechnung des 
Einsilberanteils im Englischen sich nur auf einzelne Textstellen bezieht, liegt 
eine umfassende Angabe über den deutschen Sprachgebrauch vor. Nach 
Kaedings 1897 erschienenen Häufigkeitswörterbuch beträgt die Häufigkeit der 
Einsilber in der deutschen Schriftsprache 49,8 Prozent. Das heißt, daß 
die in deutscher Sprache gedruckten Texte zur Hälfte aus Einsilbern bestehen. 
Da aber nur ungefähr ein Zehntel der Wörter des deutschen Wortschatzes 
Einsilber sind, so bedeutet das, daß ein einsilbiges deutsches Wort in der 
Schriftsprache durchschnittlich neunmal so häufig gebraucht wird wie ein 
mehrsilbiges. Jugendpsychologen haben diese Feststellung des Einsilberanteils 
im Sprachgebrauch im besonderen auch zur Untersuchung der k i n d 1 i c h e n 
Entwicklungsrhythmik herangezogen. In der frühen Kindheit sind 
es die Lebensjahre der „Trotzphasen", in denen der Einsilberanteil am höch¬ 
sten ist. Eine Untersuchung an einer großen Anzahl von Schulaufsätzen in 
einer Mädchenschule in Oldesloe (bei Hamburg) zeigte bei 12jährigen Mäd¬ 
chen einen 60,5%-igen Einsilberanteil. 


286 















lieh Otto Jespersen, dem genialen Kopenhagener Linguisten, der Nachweis 
gelungen, daß die allgemeine Neigung sämtlicher Sprachen, sich immer 
kürzeren Formen zuzuwenden, im Englischen am wirksamsten und am 
weitesten vorgeschritten ist 1 . Bezeichnend ist, daß das Matthäus-Evange¬ 
lium, das im Griechischen ungefähr 39.000 Silben umfaßt, in der schwedi¬ 
schen Übersetzung etwa 35.000, in der deutschen 33.000, in der dänischen 
32.500, in der englischen nur 29.000 Silben aufweist 2 . (Das Chinesische 
findet allerdings schon mit 17.000 Silben sein Auslangen.) Bei einer niedri¬ 
geren Gesamtsilbenzahl muß wohl der Anteil der einsilbigen Wörter höher 
sein 3 . 

Das Feld der Einsilber in der Sprache erweitert sich in jüngster Zeit 
manchmal auch durch die bekannte Tendenz, aus Anfangsbuchsta¬ 
ben einer Wortfolge ein neues Wort zu bilden. Wir erwähnen z. B. die 
englischen Handelswörter cif (= cost, insurance, freight, d. h. Preise ein¬ 
schließlich Spesen, Versicherung und Fracht) und fob (= free on board, 
frei an Bord) und die österreichischen Wörter Wust (Warenumsatzsteuer) 


i) Jespersen weist z. B. darauf hin, daß der englischen Hilfszeitwortform 
had im Gotischen nicht allein habaidedeima, sondern auch andere Biegungs¬ 
formen, wie habaidedu, habaidedjan, habaidedeits entsprechen. 

z) Zu dieser Gegenüberstellung der Silbenlänge des griechischen und des 
englischen Evangeliums bemerkt H. Spies mit Recht, daß das Ergebnis ganz 
anders wäre, legte man nicht die vorwiegend in „Saxon“ abgefaßte „Autho* 
rized Version“ der Zählung zugrunde, sondern eine Bibelübersetzung des 20. 
Jahrhunderts. 

3) In der französischen Sprache ist der Anteil der einsilbigen Wör¬ 
ter nicht so groß wie im Englischen, immerhin war es Rabelais möglich, 
im Pantagruel (V. Buch, 28. u. 29. Kap.) ein aus 128 Fragen und Antworten 
bestehendes Zwiegespräch derart führen zu lassen, daß ein Mönch auf die 
Fragen Panurgs jedesmal, d. h. I28mal nur mit einem einsilbigen Worte ant¬ 
wortet. Rabelais will dort die Wortkargheit scheinheiliger Mönche verspotten: 
nur „mit Menschern sprechen sie aus einem andern Ton, da äußern sie sich 
polysyllabisch“, sonst sprechen sie mit den Laien nur einsilbig. Auch die 
deutschen Übersetzer haben versucht, die Antworten des Mönches einsilbig 
wiederzugeben. Wo sind denn die Menscher? fragt Panurg, der neugierige 
Besucher. Da, antwortet der Mönch (in der Übersetzung von Gelbcke). — 
Habt Ihr viele hier? — Nein — Wieviel denn? — Zwölf. — Aber wieviel 
mochtet Ihr haben? — Mehr... usw. Selbst die obszöne Beschreibung der 
einzelnen Reize der „Menscher“ erfolgt durch einsilbige Antworten: gros, 
frais, creux, chauld, poil, roux (dick, frisch, hohl, heiß, Haar, rot). Auch die 
Großsprecherei des Mönches über seine erotischen Leistungen erfolgt durchaus 
durch Antworten von je einem einsilbigen Worte. Über die ästhetische 
Seite der Frage der Häufung von Einsilbern im Französischen s. weiter unten 
die Fußnote 2 auf S. 293. 


287 







und Wök (Wiener öffentliche Küchen). Aus dem Weltkrieg sind künst¬ 
liche Einsilber nach Art von Flak (Flugzeugabwehrkanone) und Kofi 
(Kommandeur der Fliegertruppe) noch in Erinnerung. 

Die Sprachentwicklung zeigt nach Jespersen eine fortschreitende Nei¬ 
gung, von untrennbaren unregelmäßigen Zusammenhäufungen weg- und 
zu kurzen Bestandteilen hinzustreben, die ungezwungen und regelmäßig 
verbunden werden können. Wenn es wahr ist, daß das Englische, als die 
entwickelteste Sprache, die Entwicklungslinie aller Sprachen erkennen läßt, 
so kann kein Zweifel darüber bestehen, daß wir auf dem besten Wege zur 
Vorherrschaft der Einsilber sind. Prof. Edward L. Thorndike 
hat in mühevoller Arbeit eine Liste der 500 gebräuchlichsten englischen 
Wörter zusammengestellt und es zeigte sich, daß etwa 400 von diesen ein¬ 
silbig sind. Auch Charles Bally stellt fest, daß das Englische entschieden 
auf eine Einsilbigkeit nach Art des Chinesischen lossteuert, sieht allerdings 
in den ständigen Wellen von Entlehnungen aus dem Romanischen eine 
genug wirksame Ablenkung von jenem Kurs. 

Man hat übrigens gelegentlich den Einwand erhoben, es könne von einer 
Vereinsilbigung der Sprache gar nicht die Rede sein, weil für die große 
Anzahl der Begriffe, die zu bezeichnen sind, verschiedene Einsilber aus den 
üblichen Lauten in ausreichender Anzahl nicht möglich wären. Herbert Spen¬ 
cer hat aber in seiner Selbstbiographie berechnet, wieviel „gute (d. h. 
leicht unterscheidbare) Einsilber zu bilden sind durch den erschöpfenden 
Gebrauch der guten Konsonanten und guten Vokale'* (nämlich: für eine 
gedachte künstliche Weltsprache) und kam zu einer Anzahl von 108,264 
möglichen „guten Einsilbern". Dabei hat er angenommen, daß das Wort 
nur mit einem Konsonanten oder einer gut aussprechbaren Konsonanten¬ 
gruppe (wie bl, dr, tj, spr) beginne, einen Vokal enthalte und mit einem 
Konsonanten oder einer guten Konsonantengruppe wie -pt } -dz, -kst, -nz 
usw.) ende. Jespersen hat diese Berechnung verbessert und gelangt zu einer 
Zahl von etwa 158.000 möglichen guten Einsilbern. Das würde ausreichen. 

III 

Es obliegt uns noch die Frage nach der ästhetischen Wertung der 
fortschreitenden Vereinsilbigung. In der Poetik bezeichnet man Reime, wie 
Wald — bald, Dach — Bach als männlich, im Gegensatz zu weiblichen 
Reimen wie Walde — balde, Dache — Bache. (Bezeichnenderweise wider¬ 
fährt auch die schon erwähnte Kürzung der Vornamen zu einsilbigen 
Nebenformen überwiegend männlichen Vornamen.) Der Antithese 
männlich—weiblich einigermaßen analog heißt auch die kürzere Formen 


288 












ergebende Biegung des Zeitwortes die starke Biegung. Bismarck erzählte 
von seinem Vater: „Wenn er von der Jagd kam und es dabei gemächlich 
zugegangen war, sagte er, ich jagte, ging es aber toll her, so pflegte er 
zu sagen, ich ) u g. Die Grammatik wird diese Bildung mißbilligen, aber ich 
selbst habe meinem Vater recht gegeben." 1 Der berühmte Ausspruch des 
Jesuitengenerals Ricci, mit dem er des Papstes Aufforderung zur Reform 
des Ordens zurückwies: sint ut sunt, aut non sint (sie seien, wie sie sind, 
oder sie sollen nicht sein) schöpft gewiß einen Teil seiner selbstbewußten 
Kraftfülle aus der lapidaren Art seiner Einsilber. Max Meyerfeld weist 
darauf hin, wie vom größeren oder kleineren Anteil der Einsilber der 
inhaltliche Charakter eines Satzes abhängen kann. Einer berühmten Hamlet¬ 
stelle (doubt thou the stars are fire, doubt that the sun doth move, doubt 

trudi to be a liar, but never doubt I love) stellt er die Schlegelsche Über¬ 

setzung gegenüber: Zweifle an der Sonne Klarheit, zweifle an der Sterne 
Licht, zweifl’, ob lügen kann die Wahrheit, nur an meiner Liebe nicht. 
„Bei Shakespeare fahren die einsilbigen Worte wie Messerspitzen nieder, 
sie sind zerhackt wie das Geständnis eines Fieberkranken; bei seinem Dol¬ 
metsch schlingen sie sich zu einem anmutigen Vierzeiler zusammen." Aus 
dem Englischen führe ich noch zwei Beispiele für die Ausdruckskraft der 
gehäuften Einsilber an aus zwei verschiedenen Gefühlsgebieten; aus der 
Bibel: in the sweat of thy face shalt thou eat bread; aus der „Internatio¬ 
nale": Work and pray — Live on hay; — You'll get pie — When you 

die. Hier zitiere ich auch die ersten zwei Zeilen der deutschen Übersetzung 
(Therese Robinson) eines berühmten Gedichtes von Baudelaire (Le Vin de 
l'Assassin, „Der Wein des Mörders", aus „Les Fleurs du Mal") : „Mein 
Weib ist tot, und ich bin frei! Nun trink' ich, bis ich nicht mehr kann." Mit 
Recht ist bemerkt worden, daß diese Zeilen schon klanglich die dumpfe 
Grausamkeit ausdrücken. 

Es ist darauf hingewiesen worden, daß die abstrakten Begriffe Haß, 
Groll, Zorn, Trotz, Grimm, Neid (alle männlichen Geschlechts) einen 
kräftigeren Eindruck machen als die zwei- oder mehrsilbigen Feminina 
Liebe, Treue, Gnade, Freude. Und es ist wohl kein Zufall, daß z. B. von 
den 21 Synonymen für Hiebe, die F. Stroh für die nassauische Dorfmund¬ 
art anführt, etwa die Flälfte (Fäng, Fett, Flamm, Flabch, Flimms, Bimch 
usw.) einsilbig ist. In einer Erzählung von Ganghofer sagt ein alter Kut¬ 
scher: „Alles was ein Wert hat im Leben, das spricht sich kurz: Tag, 
Nacht, Weib, Mann, Geld, Fleisch, Brot, Haus, Gott. Da schauen S' an- 

i) Den Feldmarschall Moltke nannte Bismarck in engerm Kreis stets Molk; 
zweifellos lag eine Anerkennung in dieser Vereinsilbigung. 


19 Storfer . Sprache 


289 







dere Wörter dagegen an: Grundsteueraufschlagsquittung, Staatsschulden¬ 
tilgungsfeiertag. Da wird man gleich gar nimmer fertig damit. Die kurzen 
Wörtchen lassen einem Zeit zu leben." Bemerkenswert ist auch, daß ein¬ 
zelne Sprachen zweierlei Imperativformen nebeneinander be¬ 
sitzen: eine längere, die höflicher wirkt, und eine kürzere, oft einsilbige, 
die strenger, energischer, gleichsam männlicher ist. So ist im Lateinischen 
esto und vade (sei, gehe) weniger schroff als es und i. Im Ungarischen hat 
irj = schreibe eindeutig den Charakter eines Befehls, indes der längere (bei 
gewissen Zeitwörtern allerdings ungrammatikalische) Imperativ irjäl auch 
als Ersuchen wirken kann. Für den Wohlklang der starken Befehlsform im 
Deutschen setzt sich in einem Aufsatz der schwäbische Dichter O. Briegleb 
ein: man müsse den Leuten einhämmern, daß es nicht nehme! esse! usw. 
heißt, sondern nimm! iß! sprich! hilf! denk! 1 

Auch in der Experimentalpsychologie (Marbe, Unser, Kullmann, Buse¬ 
mann) ist man dazu gelangt, den Anteil der Einsilber im Sprachgebrauch 
als psychologisches Problem zu betrachten. 2 Kullmann wies nach, daß ge¬ 
fühlsbetonte Texte eine gesteigerte Häufigkeit von Einsilbern aufweisen. 
Er hatte verschiedene Abschnitte aus Goethes Schriften je nach Stärke des 
beim Leser hervorgerufenen Gefühlstons in verschiedene Klassen geordnet 
und fand an den Stellen mit indifferentem Gefühlston eine mittlere Häu¬ 
figkeit von 45.2 Einsilbern unter 100 Wörtern, an den Stellen mit schwachem 
Gefühlston waren 49.9 Prozent, an solchen mit mittelstarkem 53.7 Prozent 
und an solchen mit starkem Gefühlston 64 Prozent der Anteil der Einsil¬ 
ber. Daraus läßt sich schließen, bemerkt Busemann, daß ein Text mit 
viel Einsilbern einer relativ g ef ühls leb e n d i g en 
Stunde seines Autors entsprungen sei. Busemann, der 240 
auf die Zeit von anderthalb Jahren verteilte Briefe eines jungen Mädchens 
untersucht hat, will auch einen Zusammenhang zwischen Einsilberhäufig¬ 
keit und Menstruationsperioden erkennen. 

Der Gebrauch des kraftvollen, „männlichen" Einsilbers — selbst wenn 
er gegen die Grammatik steht, wie das Bismarcksche „jug" statt „jagte" — 
kann zweifellos als wirksames stilistisches Ausdrucksmittel dienen. Wie 


1) Als Gegner einsilbiger Imperative zeigte sich im 17. Jahrhundert Fürst 
Ludwig von Anhalt-Köthen (der Gründer der sprachreinigende Zwecke ver¬ 
folgenden „Fruchtbringenden Gesellschaft“ zu Weimar) in seiner Polemik ge¬ 
gen den berühmten Grammatiker Justus Georg Schottel. 

2) Unter anderen sind die Tagebücher und Briefe Otto Brauns — aus dem 
9. bis 20. Lebensjahr dieses „Frühvollendeten" — auf den Einsilberanteil ge¬ 
prüft worden. Dieser erwies sich am höchsten im 12. Lebensjahr (vgl. die An¬ 
gabe über Oldesloer Schulmädchen, Fußnote 2 auf S. 28 6). 


290 











empfinden wir aber stilistisch die starke Häufung einsilbiger Wörter 
oder gar ganze lange Sätze, die nur aus Einsilbern bestehen? Oft fällt es 
dem deutschen Ohr schwer, sich mit solch gestauter „Männlichkeit" abzu¬ 
finden. Stellen wie in Webers Freischütz, „täuscht das Licht des Monds 
mich nicht?", oder in der Götterdämmerung, „wie liebt* ich dich, ließ ich 
dich nicht (zu neuen Taten)", oder bei Johannes Schlaf, „nun zwar wohl 
schon nur mehr noch Freude" haben Bezeichnungen wie Hackstil oder 
Lallstil auf den Plan gerufen, und solche Asthmatikersätze finden fast so 
viele Spötter wie die langatmigen Perioden aus berüchtigten Mammutwör¬ 
tern. Die Gerechtigkeit erheischt aber die Feststellung, daß in den ange¬ 
führten drei Beispielen nicht allein das Übermaß an Einsilbern störend 
wirken mag, vielmehr ist in jedem Fall auch noch ein zweiter stilistischer 
Umstand für das erzeugte Unbehagen mitverantwortlich. Im Satze aus dem 
Freischütz stoßen Dentallaute aneinander (täuscht—das, Licht—des), die 
Wagnersche Zeile ist ganz auf den Selbstlaut i eingestellt, und im Schlaf- 
sehen Beispiel muß den Leser die absonderliche Häufung von Umstands¬ 
wörtern schon dem Sinne nach arg beunruhigen. Eduard Engel, der übrigens 
in Nietzsches Zarathustra ein Stück mit 41 einsilbigen Wörter nebeneinander 
aufgestöbert hat 1 , zeigt an einem Goethischen Beispiel, daß eine längere Folge 
von Einsilbern nicht unbedingt unser Ohr beleidigen muß. „Wohl hast du 
recht, ich bin nicht mehr ich selbst — Und bin's doch noch so gut, als wie 
ich's war", heißt es im Tasso. „Der auf- und niederwogende Atem der 
Verse, dazu der Wortgruppen bildende Sinn des Satzes lassen uns die 20 
aufeinanderfolgenden Einsilber kaum als solche empfinden." Bei Grabbe 
(im „Herzog von Gothland") unterstützt einmal das Staccato einer Einsü- 
berfolge eine zugespitzte Antithese: „Das Weib sieht tief, der Mann sieht 
weit. Euch ist die Welt das Herz, uns ist das Herz die Welt." 

Wenn wir auf die stilistische Wirkung lauschen, die der Häufung einsil¬ 
biger Wörter eigen ist, dürfen wir natürlich nicht nur auf die Stellen achten, 
die ausschließlich Einsilber aufweisen. Man beachte z. B. in einem Ge¬ 
dichte von Dr. Owlglaß, welche Ausdrucksmöglichkeit das zweisilbige Wort 
erlangt, wenn es inmitten vieler Einsilber steht: „Starr schlief der Bach, tot lag 
der Grund, / nun taut der Schnee, nun schwitzt das Eis. / Nun tut sich auf des 
Lebens Mund / und atmet tief und lächelt leis.“ (Die Sperrungen 
weist natürlich das Original nicht auf). Wie milde wirken die Zweisilber 
Leben, atmet und lächelt nach den düsteren Einsilbern starr, tot, Schnee, Eis. 

i) Im Abschnitt „Das andere Tanzlied“: „(Und lieben) wir uns nicht von 
Grund aus —, muß man sich denn gram sein, wenn man sich nicht von Grund 
aus liebt? Und daß ich dir gut bin und oft zu gut, das weißt du: und der 
Grund ist, daß ich auf (Deine Weisheit eifersüchtig bin).“ 


19 * 


291 










Häufig finden sich in der erregten Sprache Friedrich v. Schillers Verszeilen, i n 
denen sich nur je e i n mehrsilbiges Wort unter Einsilbern befindet, z. ß. 
Schlank und leicht, wie aus dem Nichts gesprungen, steht das Bild vor dem 
entzückten Blick. Einzelne Mehrsilber unter vielen Einsilbern finden sich oft 
in den Schlußreimen des Angelus Silesius, z. B. „Ich weiß, daß ohne mich 
Gott nicht ein Nu kann leben j Werd* ich zu nichts, er muß von Not den 
Geist a u f g e b e n.“ — Ich bin so groß als Gott, er ist als ich so klein / Er 
kann nicht über mich, ich unter ihm nicht sein / So ist Gott nicht mehr 
Gott und fällt der Himmel ein. 

Eine Strophe aus Stefan Georges „Stern des Bundes“ (Ein leib der 
schön ist wirkt in meinem Blut / Geist der ich bin umfängt ihn mit ent¬ 
zücken: / So wird er neu im werk von geist und blut / So wird er mein und 
dauernd ein entzücken) weist unter 35 Wörtern 30 einsilbige auf, eine Stelle 
bei Beer-Hoffmann, sieben Zeilen aus seinem „Vorspiel auf dem 
Theater zu König David“ (Euch dient mein Tun — und mehr, als ihr es 
faßt / Euch dient es — doch verwehrt ward mir zu fragen, / Ob es euch 
so gefällt, ob es euch recht! j Herr bin ich, der als Herr dient — nicht als 
Knecht! / Mein Wort ist nichts, als meines Herzens Schlagen j Und euer 
Herz zu gleichem Puls zu zwingen / Ist Amt — ist Dienst —, doch nie von 
euch mir aufgetragen) unter 6 4 Wörtern 54 einsilbige. Ich führe auch ein 
Gedicht von Karl Kraus an, in dem es eine Reihe von Zeilen gibt, in de¬ 
nen jeweilen nur ein einziges mehrsilbiges Wort vorkommt oder keines: Du 
bist sie, die ich nie gekannt, — die ich nicht nahm, die ich nicht hatte... 
Du bist ein Wahn und bist ein Wille.. . Du rufst und rings um dich ist Stille. 
— Du schweigst und rund um dich ist Sturm... Du bist das Tier in seiner 
Kraft... In jedem Traum bist du mir nah ... So steigst du wieder auf als 
Mond .. . Du schwebst und fällst in Lust und Qual. 

Beispiele vereinzelter Mehrsilber unter vielen Einsilbern finden sich auch 
häufig unter den Sprichwörtern des Volkes z. B.: Auch der Wurm 
krümmt sich, wenn er getreten wird — Man lebt nur einmal in der 
Welt — Was nicht ist, das kann noch werden — Das Glück ist rund, dem 
einen läuft es in den Arsch, dem anderen in den Mund — Wer ein¬ 
mal lügt, dem glaubt man nicht, und wenn er auch die Wahrheit 


spricht. 


Eigentlich hat in der Frage, ob im Deutschen größere Folgen einsilbiger 
Wörter mit den Ansprüchen des Wohllautes vereinbar sind, der Ge¬ 
nius der Sprache bereits sein Urteil gefällt. Daß solche Stellen bei Goethe 
und anderen Klassikern Vorkommen, müßte allein noch nicht ausschlag¬ 
gebend sein. Aber daß solche Einsilbersätze geflügelte Worte wer¬ 
den konnten, daß viele volkstümliche Sprüche und Redensarten 
offenkundig gerade aus der gehäuften Einsilbigkeit ihre besondere Prägung 
empfangen, muß den Einwand vom undeutschen Staccato-Stil ganz ent- 


29z 




p 


kräften. „Ihr seid das Licht der Welt", heißt es in der Bergpredigt, und 
aus dem Johannesevangelium wird zitiert: „was mein ist, ist dein und was 
dein ist, ist mein." In den „Sinn- und Schlußreimen" des katholischen My¬ 
stikers Angelus Silesius (Johannes Scheffler) kommen immer wieder Ein¬ 
silberzeilen vor, wie „Gott ist mir Gott und Mensch, ich bin ihm Mensch 
und Gott" oder „Was Gott ist weiß man nicht, er ist nicht Licht nicht 
Geist". „Da pfeift es und geigt es und klingt es und klirrt", lautet eine 
schöne Zeile in Goethes „Hochzeitslied". Und die Goethische Zeile 
„Half ihm doch kein Weh und Ach" (Heidenröslein) verstößt nicht gegen 
den Wohllaut und war gewiß wert, vertont zu werden. „Du weißt wohl 
nicht, mein Freund, wie grob du bist" — „es irrt der Mensch, so lang er 
strebt" — „hier bin ich Mensch, hier darf ich's sein" — „die Müh ist 
klein, der Spaß ist groß" — „die Zeit ist kurz, die Kunst ist lang" — diese 
oft heraufbeschworenen Einsilberzeilen aus dem Faust 1 sind wuchtig und 
schmiegsam zugleich. 2 Nicht anderes gilt von Lessings Satz „Die Kunst 
geht nach Brot" oder von den Schillerstellen: „spät kommt Ihr, doch Ihr 
kommt" — „was rennt das Volk, was wälzt sich dort" — „der Wahn ist 
kurz, die Reu ist lang" — „kühn war das Wort, weil es die Tat nicht 
war"; oder von Heines „was schert mich Weib, was schert mich Kind". 
Auch in der bekannten Zeile eines modernen Liedes „Du bist zu schön, um 
treu zu sein" paart sich Wohllaut mit Volksmäßigkeit. Als Kronzeugen für 
die volkseigene Art der Einsilberhäufung können wir auch Abraham a 
Santa Clara anführen. Es wimmelt geradezu beim sprachlich urwüchsigen 
„Pater Fabelhans" von Sätzen wie: Wers Glück hat, führt die Braut heim. 3 

1) Auf eine Fauststelle bezieht sich auch die Bemerkung Leo Spitzers, 
Schubert habe in Gretchens Lied am Spinnrad die Stelle „und ach sein 
Kuß“, die die Spitze einer Klimax bildet, zu einem „Knalleffekt“ ausgenützt, 
den allerdings das deutsche einsilbige Wort besonders ermöglichte. 

2) Was die Häufung von Einsilbern im französischen Vers anbe¬ 
langt, so ist schon Louis Racine (1772 in den Bemerkungen zu den Tragö¬ 
dien Jean Racines) dem alten Vorurteil, das solche Häufung verdammt, ent¬ 
gegengetreten. Er führt u. a. folgende Verszeilen von Jean Racine ins 
Treffen: Quand je fais tout pour lui, s’il ne fait tout pour moi (Bajazet 
I, 3) — Le jour n’est pas plus pur que le fond de mon coeur (Phedre IV, 2). 
Der letzte Vers sei „besonders süß für das Ohr.“ 

3) Der Spruch „wer’s Glück hat, führt die Braut nach Haus“ wird im 
Volke auch mit dem (ebenfalls aus Einsilbern bestehenden) Zusatz gebraucht: 

.. und wer’s kann, schläft bei ihr.“ Ein Lied aus einer Hanswurstkomödie 
um 1740, das das Vorbild zum berühmten Hobellied in Raimunds Verschwen¬ 
der wurde, setzt die Zeile „wer das Glück hat, führt die Braut heim“ mit 
folgenden Einsilbern fort: „doch daß ich mich zum Tod drum kränk, da 
wär ich wohl ein Narr.“ 


293 









— Was mich nicht brennt, das blas ich nicht — Spreizt sich wie die Katz 
im Sack — Wasch mir den Pelz und mach mir ihn nicht naß — Lach 
mich an und gib mich hin, das ist jetzt der Welt ihr Sinn. Zwei Bücher des 
Pater Abraham haben Titel, die seine Vorliebe für Einsilber bezeugen: 
Reimb dich oder ich liß dich — Huy und Pfuy der Welt. Nicht zuletzt 
sei auch Martin Luther angeführt unter den Meistern der Sprache, 
die Einsilber häufen können, ohne den Eindruck eines zerhackten Stils zu 
erwecken. Er schreibt z. B. „Wer sehr schilt, der lobt und wer sehr lobt, 
der schilt.” Oder: „Ach Herr, dein Grimm ist groß, wir sind fast nicht 
mehr dein Volk, du stößt uns von dir und willst nicht mehr der Herr sein 
der da hilft.” (28 Einsilber!) 

Auf dem Gebiete der Volkssprichwörter und der volkstümlichen Redens¬ 
arten ist die Einsilberhäufung besonders heimisch. Man beachte die formel¬ 
haften Wendungen: in Acht und Bann, mit Fug und Recht, auf Jahr 
und Tag, Schall und Rauch, schwarz auf weiß, Schuß auf Schuß, Schlag auf 
Schlag, Zug um Zug, Zahn um Zahn, Hand in Hand, von Mund zu Mund; 
viele unter ihnen weisen Alliterationen auf: durch dick und dünn, mit Herz 
und Hand, mit Stumpf und Stiel, klipp und klar, frank und frei, Wohl und 
Weh, Stock und Stein, mit Haut und Haar, mit Mann und Maus, auf Feld 
und Flur, der Zahn der Zeit; andere gehorchen dem Endreim: mit Rat und 
Tat, auf Knall und Fall, schlecht und recht, Lug und Trug, in Saus und 
Braus, mit Ach und Krach, mit Sack und Pack, auf Schritt und Tritt. 

Aus der langen Reihe der einsilberhäufenden Sprichwörter führen wir 
an: Trau, schau wem — Selbst ist der Mann — Ein Mann, ein Wort — Der 
Mensch denkt, Gott lenkt — Wie der Herr, so der Knecht — Wie der Koch, 
so der Brei — Wie du mir, so ich dir — Was ich nicht weiß, macht mich 
nicht heiß — Wer sich warnt, der wehrt sich — Kommt Zeit, kommt Rat — 
Spar in der Zeit, so hast du in der Not — Wenn das Schwein satt ist, stößt 
es den Trog um — Wer Glück hat, dem kalbt der Ochs im Stall — Glück 
und Glas, wie leicht bricht das — Wer die Wahl hat, hat die Qual — Rast 
ich, so rost ich — Wer lügt, der stiehlt — Aus nichts wird nichts — Wo 
nichts ist, da fällt nichts ab — Wer zu viel spricht, irrt oft — Geld, das 
stumm ist, macht grad, was krumm ist — Paßt, wie die Faust aufs Aug — 
Ein Freund in der Not ist ein Freund in der Tat — Der Mann in den Rat, 
die Frau in das Bad — Hilf dir selbst, so hilft dir Gott — Ein Schuft, der 
mehr gibt, als er hat — Auf der Alm da gibts ka Sünd — Was sich liebt, das 
neckt sich — Macht geht vor Recht — Wes Brot ich eß, des Lied ich sing — 
In der Welt geht’s auf und ab — Dem die Kuh ist, der nimmt sie beim 
Schwanz — Katz aus dem Haus, rührt sich die Maus — Wer viel kann, muß 
viel tun — Was bald reif wird, wird bald faul — Wie der Baum, so die 
Frucht — Der Gast ist wie der Tisch — Wie das Weib ist, so kocht sie den 
Kohl — Geld im Sack duzt den Wirt — Hast du Geld, so spiel, hast du 


294 








keins, so stiehl — Ist leer der Bauch, taugt nichts der Gauch — Auf Freud 
folgt Leid — Wer viel schwätzt, der lügt viel — Ein Wort ist kein Pfeil — 
Hab ich was klingt, so krieg ich was singt — Arm ist die Maus, die nur ein 
Loch hat. 

Die Fülle solcher nur Einsilber aufweisenden volkstümlichen Sprich¬ 
wörter, von denen man Hunderte anführen könnte, zeigt jedenfalls, daß 
der allgemeinen Entwicklungstendenz zur Wortkürze und zur Bevorzugung 
der Einsilber von Seiten des volkstümlichen Sprachgebrauchs keine Hem¬ 
mungen entgegengesetzt werden. 


295 




















REGISTER 


Abbetteln 167 
Abbild 1 66 

Abendmahl nehmen auf 
etwas 67 

abgehen zur großen Ar¬ 
mee 60 
Abglanz 162 
Abhang 166 
abhelligen 12 
Abklatsch 247 
ableugnen 95 
abpaschen 113 
abschätzig 162 
Abstecher 9 
abstieren 180 
abstinken 147 
Abwasser 162 
acheln 214 
Achse, -1 241, 248 
acht 100 
ächzen 9 
Adrattär 1 76 
Affen, einen sitzen ha¬ 
ben, einen sich kau¬ 
fen I9^f 
Afrika 20lf 
Ahm, ahmen, Ahming 
95 

Ahnerl 249 
Ahorn, Ähre 99 
Akkord 90 
akkurat 91 
Akme 99 
Akribie 98 

Akrobat, -polis, -sti- 
chon usw. 99 
Akustik 100 
Alarich, Alberich 41 
Alkuskus 215 
Alm 161 

Almosen, alms 284 
Altbüsser 92 


Amalrik 205 
ambassade 41 
Amboß 123 
Ambuschurl 176 
amend 284 

Amt 41, 281, amtieren 
216, 221, Amtsschim¬ 
mel 281 
Anatolien 201 
andrinople 77 
Angel 247 
Angst 281 
anheimeln 162 
anordnieren 217 
anstellig 162 
Apfel 44, -bäum 265 
Arbeitsteilung 265, 

270, 272 

Armee, abgehen zur 
großen 60 
Ärmel 251, 252f 
arme Ritter 22 
Armitschkerl 220 
Arndt 285 
Arras, Artois 44 
Arthur 39 

Artikel, Artillerie 233 
Arzt 282 
Asien 20of 
asticoter 51 f 
Attila 108 
Auerochs 280 
auf bäumen sich 166, 
-begehren 163, -put¬ 
schen 125, -wiegeln 
166 

Augenschein 166 
Augur 90 
Augustus 78 
Auktion 78 
Aurikel 233 
Aurora 209 


aus dem ff 31 
auserkoren 90 
ausdrücken 25 
ausleeren 95 
Ausmaß 166 
ausmerzen 9f 
äußerin 167 
auster 210 
Australien 209ff 
Austria 211 
Autor, -ität 78 
Autriche 211 
Auxiliär- 78 
avaler sa langue; sa 
cartouche usw. 63, 64 
Aviso 241 

Back 10, 11, -fisch nf 
Bafel 135 
Bahöll 168 
Bajonett 117 
Bakel 237 
Balaclava-day 77 
Ballast nf 
Ballett 228 
Balz 285 
Banane 18 
Banderole 243 
Bankert 151 
Bankett 228 
Baon 13 
Bär 281 
Bartsch 285 
Basilisk 241 
bass 91 
Bastard 151 
Batt Daff 284 
baver dans le paprika 
109 

Bazillus 237 
Beach-Ia-mar 225 
Becher 96 


297 





behelligen nf 
beißen 55, 71, ins Gras 
S 2ff 

Bengel 173, 240 
Benz 285 
Beograd 91 
bergopzoom 71 
Bericht 41 
Bernd 285 
bescheiden 231 
besser 91 
Bettel 240 
Betyar 108 
Bibel 239 
Biez i7of 
biftecks 81 
Bijou 38 

Bild 281, bildsam 166 
Billett 241, 245 
Bise 161 

Bismarck, bismarquer 
I2ff 

bissig 171 
Bistum 13 
bite the dust 57 
bitter 171 
Bitzl i7of 
blaazen i68f 
blackmail i6i 
blad 169, 180 
blau 40 
bl£ 282 
Blei 40 
Blendling 123 
blind 283 
blitzen 9, 137 
blöd 169 
bluchers 72 
Blut 281, -geld 271 
boche 122 
Bock 123, 186 
Bockerlfraas 170 
Böcklin 251 
Bodega 12, 183 
Bollette 241 
Bordell 23 6 
bouche, boucle 230 
bougre 86 
Boul Mich 284 
bosseln 123 
Boston 7of 

bottes, graisser ses 59, 64 
Bowel 135 

298 


bracken 9 
bransqueter 49 
braquemart 117 
Brennpunkt 274 
Brezel 238f 
Brig 283 

Brüder, warme 139^ 
brüler la paillasse 151 f 
buchstabieren 217 
Buckel 230, -insky, 
-omini usw. 221 
bücket, to kick the 65 f 
Budget 37 
Büffel 238 
Bug 281 
Bügel 240 
Bulletin 241, 245 
Bummel 240 
Bündel 228, 238 
Bus 12, 283 
Büschel 238 
Buserant 87 
Buße, büßen 9if 
Butike 283 
Büttel 240 

Butzen 123, 171, -schei¬ 
be 123 

Cab 284 
Cacarilla 220 
Calumet 234f 
canard 15 
Cancan I4ff 
cancer, cancre 18 2 f 
caquehan 17 
Carbonari 232 
cargo 43 

casse-gueule, -pattes 89 
casser son crachoire, sa 
pipe usw. 63 
cattivo 23 
Cercle 231 
chaleur solaire 272 
chalumeau 234 
Champ 284 
chancre 183 
chantage, chanter 2jf 
Charge, charger 43 
charivari 16, 126 
chätaigne 244, poele 
& ch-s 170 
Chauken 42 
chelinguer 51 


chemise 243 
chetif 23 
Chetzer 86 
cheval, -eresk 43 
cheville 254 
chiben 172 
chibis 51 

chique, poser sa 63 
choisir, choose 90 
chopine 51 
choubersky 63 
chouflick 51 
chtourbe 50 
cif 287 
cingler 51 
circus 231 
Clan 37 

Cliche, Clique 247 
cloche, clock 40 
clown 284 
coeur 90 
cohors 91 
Cortes 91 
Cospoli 13 
Couplet 245 
courage 90 
cour, -toisie 91 
cracher son äme, ses 
embouchures usw. 63 
crown 284 
crim£enne 76 
Csardas io8f 
culotte 252 
cup 121, 230 
Curriculum 89 
Custor, Custos 91 
cut the painter 65 

Dachtel 19 

dagger, dague 40 

Dagmar 39 

Daktylos 17 

dasticoter ^2 

Dattel I7ff 

Davy Jones" locker 65 

de 282 

Deckel 240 

defend 284 

Defilee 102 

deflorieren 232 

Degen 40 

Degout 90 

Deichsel 240 




Denkzettel 19 
Devise 148 
Diabetes 99 
Dichteritis 218 
dick 169 , 180, 283 
didones 84 

Dietrich 41, Dietz 285 
Digitalis 1 9 
dindon 107 
Dirks 285 
Diskurs 89 
Dividende, Division 
148 

doigt 282 
Dolch 283 
domini canes 143 
Dorf 44 

Dornenkrone 271 
drall 1 69, 180 
Drama 20 

drastisch, Drastikum 20 
Drews 285 
Drückotismus 218 
dumm 248 
Dünkel 240 
dünn 169, 180, 283 
dust, to bite the 57, 6 5 

east 209 
Ebbe 162 
Ecke 99 
krevisse 181 
Edelrost 269, 274 
eff eff 31 
Egge 99 

Ehrenmann 166, 268 
Eichel 249 
Eid 41 

Eidergans 280 
Eidetik 241 
Eigenname 2 69, 273 
eight 100 
Einfaltspinsel 235 
Eisen 40 
-el 23 8ff 

Elefantenbeine 198 
Elend 21 ff, glänzendes 
23f, graues 24f 
Elentier 280 
Elle 98 
6mail 49 
Emmerich 205 
emporheben 95 


endokard 90 
Enkel 249 
Ente 13, 77 
entsprechen 163 
Epaulette 252 
Epistel 238 

Erbe 42, Erbsünde 268 
erkoren 90 
Erpressung 2jf 
erschweren 1 66 
erstaunen i^f 
erstunken 147 
Erz 281 
Esel 82, 240 
espy 284 
Essig 96, 99 
essentia 127 
est 209 

eternuer dans le son 6 3 
Etikette 244 
etonner 165 
Eule 251 
Europa i99f 
Exkurs 89 

Fabel 238 
Fackel 231 
Fagune 115 

faire chanter 2jf, les 
kneipes 51, sa malle 
6 4, le gaffe 50, chi- 
bis, les schladros 51 
Falkaune, Falkonett 
n 5 

fasces, Faszikel 233 
Fatzke 47 

faul 147, Faulpelz 1 66 
Faxen 47, 175 
Fegefeuer 209 
Fehde 166 
Feigenblatt 271 
Feldmatratze 152 
fend 284 
Ferkel 251 

fermer son parapluie, 
son vasistas 6 3 
Fettnäpfchen, ins — 
treten 28 

Feuer, Hand ins — le¬ 
gen, für jemd. durch’s 
— gehen 6y , Feuer¬ 
probe, -taufe 67, 271 


feurige Kohlen auf je¬ 
mandes Haupt sam¬ 
meln 28ff 
Feuilleton 243 
ff, aus dem 31 
Fibel 239 

Filet 102, ä la Welling¬ 
ton 72 
Filigran 102 
Fingerhirse, -tang, -zi- 
trone 18, -wurm 189, 
-hut 2 66 
Fink 281 
Firn 161 
Fisel 33 
Fisigunkes 33 
Fisikapaperln 32 
fisima 34 
Fisimatenten 32ff 
Fisipatenten 3 6 
Fisperementli 32f 
Fistel 238 
Fixstern 2 69 
Flagge 162 
Flak 288 
Flammeri 37 
Flanell 3 6, 24 6 
Flegel 173, 240 
Flirt 232 

Flor, -ett, -ida usw. 
232 

Floskel 232 

Flotte 162, Flottille 228, 
244 

flu 283 
Flut 281 
fob 287 
Föhn 161, 282 
Forelle 231 
Formel 231 
Forst 282 

foxed 194, foxtrot 231 

Fraas 170 

Fragezeichen 269 

Fratz, -e 44ff 

Frau 281 

frichti 30 

Frisco 13 

Fritz 283 

froggy 184 

Frosch 183^ 192^ -au- 
gen 198 
F, Schema 31 f 


299 









Fuchtel 240 
Füllhorn 268, 272 
fünf, Fünftelsaft 127, 
Fünffingerkraut 18 
Furunkel 228, 232 
Furzibus 218 
fuseau, fusee 243 
Fuß 281 

Gabel 40, 240, -früh¬ 
stück 78 

gafe, gaffe, gafre 50 
Gaides 6z 
Galopp 44 
Gamin 47ff 
Gangrän 183 
Gardine 243 
Garibaldi 73f 
Garten 91 
Gaspard 185 
gassatim 217 
Gassenhauer 48 
gastieren 217 
Gatzen, Gatzl 82f 
Gauch 185 
Gaul 42, 282 
Gazette 194 
Geisel, -her 41 
Geiß 171 

geistvoll 1 66, Geistesge¬ 
genwart 270, 272, 274 
gellen 97 
Geliert 41 
Gemeinplatz 270 
Gent 283 

Ger, -hart, -trud 40 
Geraball 126 
Germanen 37, 39 
Gerücht 249 
geschwind 139 
Gesichtspunkt 269, 273 
Gesindel 247 
Gespräch des Tages 
273 

Gessler 41 
Geweih 155 
gewiß 241, Gewissens¬ 
freiheit 269, -wurm 
190 

geflickt 169 
g’haut 179 
Gidi 170 
Giebel 31, 248 


Gier 281 
Giesebrecht 41 
Gift nehmen auf et¬ 
was 67 
Gigolo 48 
Gilbert 41 
Gin 284 
Gimpel 240 
Gipfel 247f 

giroflee ä cinq feuilles 
19 

Gisela 41 
Gizzi i7of 

glänzendes Elend 23f 
Gletscher 161 
Glied 281 
Glocke 40 
Glück 281 
Gneisterer 141 
Gnom 282 
goddam 84 

going aloft, west 6 5, to 
grass 5 6 
Golf 37 
Götz 285 
goüt 90 
Gradiska 91 
graisser ses bottes 59, 

64 

Gras, ins — beißen 5 2ff 
grass, to go to 5 6 
grass-widow 149 
Graswitwe 1 $off 
graues Elend 24f 
Graz 91 
Grete 12 
Griffel 240 

Grillen 191, grillisie- 
ren 217 

grob 281, Grobian 217 
große Armee, abgehen 
zur 60 
Gruß 281 
gesteppt 169 
Guerilla 244 
Gulden 38 
Guillotine 13 
Gurke 283 
Gürtel 238 
gusto 90 

Hadumar 39 
häl 12 


Halberabendmahl 7g 
halbieren 2x7 
Hallawachl 173 
Halm 235, 282 
Halunke 66 , 243 
Hand ins Feuer legen 
67, Handschuh 2 66 
Handel 240 
Hanf 281 

Hans 285, -wurst 197 
hare-lip 197 
Harnisch 40 
Hasard 70, 

Hase im Pfeffer mf 
Hasenscharte 197 
Haubitze 118 
Haupt 281 
Havelock 73 
Hebel, Hechel 240 
Hegel 174 

Heimchen 251, heimeln 
162, Heimweh 166 
Heinrich 41 
Held 41 
Helferich 41 
heilig 12 
Helvetier 39 
Hemd 243, 280 
Hengst 281 
Henkel 240 
Hephep 171 
herabsenken 95 
Hermelin 250 
Herr, Herz 281 
hier liegt der Hase im 
Pfeffer in 
high 249 
Himmel 82, 240 
hinscheiden 57 
Hinz 285 
Hirn 281 

hirondelle, avoir une 
— dans le soliveau 193 
Hirt 281 
Hobel 240 

hoch 249, Hochverrat 
273 

Hohn 281 
homunculus 233 
hongre 43 

hop off, hop the twig 
65 

Hosen verlieren 67 


300 






Huf 281 
Hügel 281 

Hühnerauge, -brust 197, 
-waden 198 
Hühnerologie 2i8f 
huit 100 

Hundstage 270, 273 
Husar 89, 108, 118 
Hut 281, Hutschnur, 
das geht über die 68 

Idee, Ideal, Idol 241 
Idyll 241 
-ieren 217 
Igel 82, 240 
Illing 155 

immensikoff 76 
impfen 97 
inaugurieren 90 
Indianer 107 
Individuum 148 
Insekt 230 
Insel 238 
Isabellenfarbe 69f 

Jahn 285 
Jammertal 271 
Janhagel 52, 84, 239 
Japan 201 
jardin 91 
Jauche 78 
jauchzen 9 

Jauchwind, Jaugwetter 
Jauk 79 
Jause 77f 
Jean Po tage 21 j 
je-m’en-foutisme 279 
Jentsch 285 
jodeln 161 
Johst 28f 
Jubel 237 
Judaskuß 271 
Jugendsünde 271 
Jugoslawien 78 
juice 78 
Justizmord 270 
Juwel 237 
Jux 237 

Kabbes, Kabis 137 
Kabel 239 
Kabriolett 171 
Kachel 231 


Kachilleion 214 
Kadett 237 
Kai 42 

Kaiserschnitt 269, 274 
Kalamität 233 
Kalk, Kalkül 230 
Kalmus 235 
Kalomel 241 
Kamarilla 228, 244 
Kamel 239 
Kamisol 243 
Kamm 161 
Kanal 118 
Kaninchen 250 
Kanker 183 
Kanon, -e 118 
Kanzel 238 
Kapital, -eil 237 
Kapitel 231, 237 
Kaprizen, Kapriolen 

171 

Kapsel 231 
Kapsizin 107 
Karamell 234f 
Karavelle 243 
Karbol, -id, -onade 
usw. 232 

Karbunkel, -funkel 232 
Karenz 89f 
Karikatur 43 
Karosse 42 
Karren, Karrete 42 
Kartaune 116 
Kartell 243 
Kartoffel 228, 243 
Kassa, Kassette 234 
Kassier 236 
Kastanie, Kastagnette 
2 44 { 

Kastell 238 
Katarrh 85, 195 
Kater 85, 195 
Katharer 84# 
katharos 85, 86, 19 f 
Katze 195, Katzenbei¬ 
ßer 80, -jammer 195, 
-musik 195 
Katzelmacher 79ff 
Katzipori 83, 191 
Kauderwelsch 43 
kauen 172 
Kavallerie 42 
Kegel 248, -schnitt 269, 
273 


keifen 172 
Kelch 96 
Kelter 96 
keppeln 172 
Kern 281, kernhaft 166 
Kessel 81, 82, 239, 240 
Kesselbüßer 92 
Kessler 8r 
Ketzer 84ff 
Keule 88 
kickeraboo 66 
kick the bücket 6 5 f 
Kieberer, Kiebitz 141 
kiesen 90, Kiesewetter 
9 l 

Kiewerer, Kiewisch 141 
kifeln 172 
Kille, killen 88 
Kipfel 248 
Kippe 248 
Kirschkuchengesicht 
169 

Kittel 239 
Kitzel 240 
Klachel i72f 
Klafter 98 
Klarinette 242 
Klausel 238 
Klecksographie 219 
Klingel 240 
Klippe 162 
Klöppel 240 
Klüngel 246f 
Knäuel 246f 
Knauf 50 

kneipes, faire les 51 
Kneipier 219 
Knickebein 88f 
Knöchel 228, 238 
Knödel 247 
Knopf 50 
Knüppel 240 
Knüttel 240, -vers 216 
Kohlen, feurige sam¬ 
meln auf jemandes 
Haupt 28ff, aufK. 
sitzen 29, 67 
kollern 88 
Kommiß 71 
Konkordat 90 
Konkurs, Konkurrenz 
89 

Konvent, -ikel 233 


301 











Kopf 31, 51, 96, 121 
230, 248, -nüsse 19. 
-kissen 2 66 
Koppel 238, 245 
kordial 90 
kornblau 13 
Korsar 89, 108 
Korsett 252 
Korso 89 
Kortege 91 
kosten 91 
Kotelett 245 
Krabbe 181 
Krähenfüße 198 
Krämervolk 271 
Krapülinsky 220 
Krätze 185 
Krawall 126 
Krebs 181, 281, krebsen 
mit etwas 182 
Kreisel 246f 
kriechen 241 
Kriegsschauplatz 274 
Krimstecher 77 
Kritikaster 253 
Kropf 241 
Krot, Kröte i84f 
Krug 281, Krügel 228, 
238 

Krüppel 241 
Kübel 31, 121, 230, 
238, 248 

Kuddelmuddel 16 
Kufe 31, 96, 248 
Kugel 88 
Kümmel 82, 239f 
Kumpan, Kumpel 240 
Kunz 285 
Kupfer 114 
Kuppe 31, 248 
Kuppel 31, 230, 238, 
248 

kuppeln 245 
Kur 89ff, -arzt, -haus, 
-ieren, -ios usw. 91 
Kür, -lauf 90 
kurant 88 
kuranzen 89f 
Kurat, -or, -el usw. 91 
Kürbis i2of 
Kuren, Kurland 89 
küren 90 

Kurfürst, -kind, -mark 
usw. 90 


Kurie 91 
Kurier 91 
Kurrende 89 
Kurs, kursiv 89 
Kurtisane 91 

Lamm 248 
Lampen 141 
Land 38, Landestoch¬ 
ter 273 
Landauer 71 
Lanzette 228 
Larifari 16 
Last iof 
Latte 44 
Lauer 96 
Lausoleum 214 
Lavendel 239 
lavieren 243 
Lawine 161 
lawn 38 
lazziloff 52 
Leberfleck 273 
Leibchen 252 
leichtgläubig 260 
lentil, lentille 187 
Lenz 281 
letzte Züge 59 
Levante 201 
Libell 237 
Libelle 237, 251 
Lieferant 217, 221 
linotte, siffler la 194 
Linse 187, -ngericht 
271 

Litewka 118 
Loch 91 

Lockspitzel I44f 
Löffel 240, wegwerfen 
55, 65 
Löns 285 
Lord 284 
Lot 40 
louche 97 
loupe i86f, -r 194 
Lücke 91, -n büßen 91 f 
Luftpumpe 270 
lungern 67 
Lungenbraten 102 
lupa 186, Lupe i86f, 
248, Lupus 188, 248 
Lust büßen 92 
Lutz 285 


mac 284 
macaronies 215 
Machenschaft 164 
maffick 74 
Magda 13 
Magentarot 73 
maggot, -headed 192 
Magnet, Magnesium 114 
Maharadscha 41 
Mähre 43 
mail, maille 26f 
Mainz 282 
Mais 10 6 

maitre-chanteur 2 6 
majority, join the 6 5 
Makel 2 6, 239 
Makkaroni 215 
Malakoff, -torte 75 
malle 2 6, faire sa 64 
manger la salade 5 6, 
l’herbe par la racine 
56, 

Mandel 239 
Männeken, Mannequin 
2 45 i 

Manschette 245 
Mantel 42, 236, Man- 
tille 228, 244 
Manz 285 
maquereau 49 
Märchen 228 
Marder 187 
marechal 49, M. Niel 
73 

Märend 77f 
Marengo 72 
Marie-mange-mon-pret, 
Marie-je-m’embete 
279 

Marille 22 
Marmelade 234 
marode 133 
Marschall 43 
Masse, massiv 176 
Matcheur 220 
Matz 251 
Maultier 280 
Maus 184, 233, Mäuse 
machen 193 
Mauscholeum 214 
Mautze 185 
Mayonnaise 7if 
Mazagran 73 
mbret 285 


302 






Medaille 27 
mediocris 99 
Meißel 240 
Melk 285 
mend 283 
Menegatta 80 
Mensch 281 
Menschikoff 75 f 
Menz 285 
Mergel 42 
Metall 27 
Metz 282 
Metze 249 
Milz 281 
Mine, minieren, 

Mineral 40 
Mirakel 239 
Mistelbacher 141 
Mitesser 232 
Mitmachowski 220 
Mittelalter 268, 273 
Mittelmum 218 
Mob 92ff, 284 
mobility 92ff 
mock-widow 149 
Modernitis 218 
Mönch 282 
monkey, to suck the 
196 

Monokel 239 
mordre le poudre, la 
poussiere 57 
Most 96 

mouche 143, 192, mou- 
chard 143 
moyeu 237 

Mucken, Mücken i9of 
Mus 281 

Muschel, Muskel 184^ 
2 33 

Muskete, Musketier 116 
mutterseelenallein 33, 
257 

Muttersprache 273 

Nabe, -1 241, 248 
nachahmen, -ohmen 94 f 
Nachjausen 78 
Nacht 97 

Nachtigall 48, 97, 116 
Nadel 240 

Nagel 240, Nägelein 
248 

nap 137, 284 


Napfezer, nappezen 137 

Narr 281 

Naturstimme 273 

Nebel 239 

Nelke 248 

Nerz 283 

Nest 282 

Netz 281 

neu, neun 97ff 

Neue Welt 204ff 

neuf, new 98 

Nichte 249 

Niels 285 

nightingale 75, 97 

nihil, Nihilismus i02ff 

nine 97 

Nippon 201 

Niveau 237 

nobiüty 93 

Nowgorod 91 

Nudel 231 

nur 282 

Obelisk 241, 251 
oeil 282, de poule 197 
Ohr 233, 281, -feige 19 
Ohm, ohmen 95 
oiseau 251 
Onkel 233 
Operette 228 
Opium 242 
Orakel 239 
Orange 283 
Ordalien 67 
oreille 233, 254 
Organist, Orgel 240 
orgelet 186 
Orient 201 

Ostara, Osten, Ostern 
209 

Österreich 211 
ours 182 

Pachöll 168 
Paddel 240 
Pafel 135 

paillasse, paillasson 
usw. 15 if 

painter, to cut the 6 5 
Palette 242 
Pallasch 118 
Palme 17, 19, palm-oil 
17 


Pampf, pampig, pam- 
stig 174 

Pappel 239, -stiel 13 
Paprika i04ff 
parc, Parkett 249 
Parteiismus 218 
Partiten 136 
Parzelle 239 
paschen 113 
Paspel 241 
Patsch^ 113, 123 
Pedant 215 
Pegel 234 

pegrenne, etre en 6 4 
peilen 234 
Pekesche 118 
pele-mele 16 
Pelz 282 
Pendel 239 
Penis 235 
pepper, -box 110 
perdre son bäton, le 
goüt au pain 6 3 
perdreau 2 6 
Pergament 114 
perikard 90 
Perle 228, 230 
Petiten 136 
petroleur 74 
Pfalz 282 
Pfarre, -r 244 
Pfeffer i04ff, Hase im 
mf, hinwünschen, 
wo der Pf. wachst 

II2f 

Pfeffersack i04ff 
Pferch 244 
Pferd 43, 282 
Pflanz 175, sich pflän- 
zeln 175 
Pflaster 118 
pflücken 96 
Pflug 281 
pfropfen 96 
Pfütze 148 
Piccolomini 231 
pickaninny 22 6 
Pidgin 226 
pinceau 235 
Plaid 37 
Plan, Planet 98 
Platin, platt 244 
Plombe 38 
Pluzer ii9ff 


303 





Pneu 12, 283 
Pöbel 135, 239 
Podium 242 
Pofel, pofeln 135, 239 
pointe 144, 195 
poivre 110 
Polente 183 
Polyp 183 
Portefeuille 37 
poudre, mordre la 57 
poupee 236 
pousser 123 

poussiere, mordre la 57 
Preiskurant 89 
Profil 102 
Prokura, -tor 91 
propagieren 96 
Proporz 1 66, 283 
Propst 282 
Prügel 240 

Prussian, prussien 14, 
72 

psora 188 
Pult 282 
pulumaku 227 
Puppe, Pupille 236 
Puritaner 83 
Purzelbock 123 
Pustel 238 
Puszta 108 

Putsch i23f, -ist, -is- 
mus 125 

Quai 42 
Quark 283 
quendpe 50 
quetschen 87 
quinque 127 
Quintessenz 127 

Rabeneltern, -söhne 

USW. I27ff 

Rackermichdichtig 89 
racket 39, 247 
Radscha 41 
Raglan 75 
Ragout 90 
raisonner 129t 
Rakete 228, 242f 
Ramasuri 176 
Ramp 177 
Rams, Ramsch i76f 
ranula 183 
Ranunkel 233 


Rappel 240 
raquette 39 
räsonnieren 1 29 ff 
Raspel 240 

rat dans la tete, he has 
rats in his garret 193 
Rationalist 130 
Ratz 251 
Raupe 191 
Rebell, rebellen 126 
Recke 23 
Recht, rechts 41 
Regel 240 
Reich, reich 4of 
reiche Ritter 23 
Rekord 90 
Rekurs 89 

Remasuri, Remisori 176 
Renette-Apfel 233, 245 
renommieren 131 
rex 41 

-rieh 41, 205 
Richard 41 

richten, Richter, Rich¬ 
tung 41 
Riegel 240 
Ringel 240 

Ritter, arme, reiche 22f 

Rodel 229 

rodeln 161 

Rolf 285 

Rolle, role 229 

roquets de l’Helicon 142 

rossignol 97, i8if, 194 

Roß 282 

Rotwelsch 43 

rouge andrinople 77 

roule-par-terre 89 

Rubel 241 

Rückvergütung 280 

Rudel 248 

Ruf 281 

Rüffel 240 

Ruhm, Ruhr 281 

Rum 283 

Runzel 249 

Rüpel 249 

Rupie 241 

Säbel 117, 118, 240 
sacht 249 
Sack 23 6 
Säckel, -wart 236 
Säge 230 


salade, manger la 59 
Salm 42, 281 
Saloniki 283 
Sammelsurium 218 
Samt 282 
Sandwich 13 
sanft 249 
Sansculotte 232 
sapin, sentir le 6 4 
Sarg 12, 283 
Sattel 240 
Sau 231 
saumon 42 
Schabbesdeckel i36f 
Schabelle 234 
Schacht 249 
Schachtel, Schatulle 
239 

Schädel 31, 121 
Schadenfreude 268 
Schäferstunde 270 
Schaft 249 
Schale 31, 121 
Schalmei 234 
scharf 229 
schattieren 217 
Schaukel 243 
scheiden 231 
Scheitel 240 
Scheiterhaufen 2 66 
Schelmuffsky 220 
Schema F 31 f 
Schemel 234 
Schenkel 249 
scheppern 176 
Scherflein 230 
schicksaler 31 
schieben 31 
Schiffoir 219 
Schimmel 32 
Schindel 239 
Schisma, schizophren 
2 3 I 

Schlabberitis 218 
schladros, faire les 31 
Schlammassel, Schla- 
mastik 239 
Schlampampe 33 
Schlange 189 
Schlegel 240 
Schlendrian 217, 221 
Schlingel 240 
schlingoter, schlinguer 
5i 


3°4 











Schlittschuhlaufen 266 
schluchzen 9, 137 
Schlüssel 240 
schmafu 176 
schmatzen 9 
Schmeh 175 
Schmerz 281 
Schmetterling 188 
schmieren 17 
Schmiere stehen 141 
schmuggeln 114, 
Schmuggel 240 
Schnabel 132, 240, 
schnabulieren 217 
schnalzen, schnappen, 
schnarchen, schnar¬ 
ren, schnattern, 
schnauben, schnau¬ 
fen 132 

Schnapphansky 220 
Schnaps 89 
Schnauze 132 
schnesse 51 
schneuzen 132 
Schnorre, -r, schnor¬ 
ren 13iff. Schnorre¬ 
ros 135, 220 
schnoutse ji 
schnüffeln, schnupfen 
132 

Schnur, hauen über die 
69 

Schnurr, -e, -er, -bart 
-pfeifereien I32ff 
Schnute 132 
Schokolade 106 
Schöps 283 
Schorlemorle 33 
Schrein 282 
Schuh 281 
Schurimuri 16 
Schüssel 238 
Schutzengel 268, -pa- 
tron 280 
schwärzen 114 
schwarzhören, -fahren 
usw. 27, 114 
Schwein 251 
schwelen 139 
Schwengel 240 
Schwerpunkt 273 
Schwindler, schwinden 
138 


schwul iß9f, -en 140, 
Schwulität 140, 218 
schwül 139 
Sech 230 

secure, securite 91 
Seidel 239 
Seitz 285 

Sektion, Sektor 230 
Selbstüberhebung 280 
Semmel 239 
Senkel 240 
Senne 16 1 
sentir le sapin 6 4 
Sepp 285 
Sessel 239 

setzen, ins Fettnäpf¬ 
chen sich 28 
seufzen 9, 137 
sezieren 229 
Sichel 230 
sicher 91 
Sichtothek 219 
Siebenmeilenstiefel 270 
Sieben 285 
Sieg 281 
Siegel 238 
Sigmar, -ingen 39 
Sinekure 91 
Skrofel 229 
Skrupel 229 
Slogan 37 
Smitum 89 

Sockel, Socken, socle, 
socque 228 
Sold 282 
soleil 254 
Solferinorot 73 
sou 282 

souffler sa veilleuse 6 3 
Spachtel 229 
Span, über den 64 
Spanner, Spannjunge 
141 

Spaten, Spatel 229 
Spatz 251, -enbeine 198 
Speichel 240 
Spektakel 239 
Sperenzchen 32 
Sperling 251 
Spiegel 239, -eier 270 
Spielastik 221 
Spieß 14 if, -bürger, 
-geselle 142 
spinal, Spinett 242 


Spinat 242 
Spindel 240 
Spion 144 

spitz, -en i42ff, 195, 
Spitz, -bube, -name 
usw. 142, Spitzel 
i4off 

Sprengel 240 
Spund 96 
spy 284 

Stachel 240, -inski 221 
Stahl 281 
Stammbaum 274 
stänkern i47f 
Star 186 
Stargard 91 

starr, -en 165, 179, 180, 
186 

staunen i^4f 
stechen 9, i4^f 
Steckbrief 145, stecken 
jemandem etwas 146 
Stecken 244 
Stempel 240 
Stengel 238 
Stereos 179 
Stern 281 
St. Gallen 39 
Stichel 240 
Stichentscheid 166 
Stiefel 96, 241 
stier 50, i78ff, stieren, 
stierin 147, ^f 
Stier 251, -Nüw 179 
Stilett 238 
still 281 
Stimmvieh 271 
stinken 51, i46ff, Stin- 
kadores 220 
Stock 145 
Stoppel 239 
stören 179 
storia, story 12, 283 
Strahl 281 
Strapazoleum 214 
Streifen 44 
Striegel 240 
Stroh, auf dem 151 f 
Strohmann 149 
Strohwitwe i48ff 
Strolch 282 
Stück 281 
Stuhl 281 

Stummel, Stumpf 248 


3 o$ 


20 Storfer . Sprache 






Stündeler 266 
Sukkurs 89 
Sündenbock 27if 
Sünnli 254 
Supercargo 43 
Suppak 220 
sure, sür, -ete 91 

Tabelle 237 
Tabernakel 232 
Tableau, Tablett 237 
Taburett 245 
Tafel 237, 239 
tagen 164 

Tagesordnung 270, -ge- 
spräch 273 
Tambur, -in 245 
Tamtam 16 
Tartuffel 243^ 
Tatarennachricht 77 
Taube 116, 193 
Taumel 240 
taureau 254 
Taverne 232 
Teer 162 
teigne 191 
Telefon 272 
Telefunken 219 
Tenten 33 
Terzerol 116 
testa, tete 30, 121 
textil 245 
Theodorich 41 
Thomas 155 
Thronrede 268, 270 
Tiegel 239 
Tietz 285 
Tisch 242 
Titschkerl, -n 117 
Toast 153f 

Töchter des Landes 273 
Töchterschule 1 66 
Todsünde 270 
Tohuwabohu 16 
Toilette 245 
tollisieren 217 
Tonne 42 
Tornister 118 
Tory 37 
tosten 153 
town 42 
Trabant 118 
Trajekt 96 
Tran 162 


Trapez 242 
Treppenwitz 270, 272 
treten, ins Fettnäpfchen 
28 

Trichter 96 
trinquer 49 
Trocadero 73 
Troddel 246 
Trommel, Trompete 
248 

Trottel 112 
Trüffel 241 

Tuberkel, Tuberer 232 
tuer le ver 192 
Tunnel 42, 246 
Tüpfel 238 
Tür 281 
turkey 107 
türkischer Pfeffer, 
Weizen 107 
Turteltaube 280 
twig, to hop the 6 5 

Uhl 285 
Ulk 281 
Ulrich 41, 281 
Umal 78 
Unbill 1 6s 
umwenden 95 
unentwegt 165 
-ung 26if 
Unglück 281 
Uriasbrief 271 
Urteil 67 

vache 49 
vaisseau 255 
Valet 4if 
Vamp 285 
van 285 

Vanille 228, 244 
Vasall 4if 

vasistas 49, fermer son 

63 

Vehikel 239 
Veilchen 250 
veilleuse, souffler sa 63 
vendre le calebasse 121 
Vercingetorix 41 
Veronal 154f 
verpetzen 141 
verpfeffert in 
ver rongeur 190, tuer 
le ver 192 


versammelt werden zu 
seinem Volke, seinen 
Vätern 5 8 
verscheiden 57 
verschwenden 138 
Verschwindibus 218 
vertagen 164 
verzetteln 166 
Veteran 230 
Vettel 230 
veuve 148 
viel 281 
Vignette 244 
vin d’äne, de cerf, de 
lion usw. 196 
vingt 282 
Visament 35 
Visegrad 91 
Visipatenten 33 
Visum, Vision, Visage 
usw. 241 
Vogt 282 

Völkerwanderung 268 
Volkslied 271 
voll 283 
vorahmen 95 
Vorbedingung 280 
Vorspiegelung 166 

Wächter 166 
Waise 148 

Walachen, Wallach 43 
Walfisch 280 
Walnuß 43 
Walstatt 90 
Wams 282 
Wandel 240 
warme Brüder 139f 
Waschlapsky 220 
Waterloo, -day 72 
Weg alles Fleisches 58 
wegpaschen 113 
Weibel 240 
Wein 95, 244 
weise, -n 241 
Weisheitszahn 270 
Weißbäcker 13 
Wellington, filet ä la 
72 

welsch 43 

Welt 281, -klugheit 271 
Wendekreis 269 
Wert 44 
Whisky 37 


30 6 





Wickel 240 
widerspiegeln 95 
widow 148 
Wiesel 251 

wife in water colours 
149 

wild 281 
Willkür 90 
Windel 240 
Winzer 95 
Wirbel 240 
Wirrwarr 16 
wissen, Witz 241 
Witwe 148, 151 
wo der Pfeffer wächst 
112 

Wolf i86ff, 248 
Wolfsrachen 197 
Wolle 36 

worm of conscience 
190 

Worms 282 
Wrack 9 
wretch 23 


Wuppdich 89 
Wurm 18 8 ff, wurmen 
190, Würmer aus der 
Nase ziehen 189 
Wut 281 

yard 91 

Zahl 280 
Zankapfel 268 
Zaun 42 
Zehnerjause 72 
Zerwürfnis 166 
Zettel 231 
Zickzack 71 
Ziege, -npeter 171, 
-nglöckl 59 
Ziegel 239 
Zimbel 239 
Zimmer 248 
Zimt 282 
Zirkel 231 
Z’nüni 77 
Zoll 98, 282 


Zoo, Zolli 12 
Zuber 155 
Zügel 240 

Zügen, in den letzten 

5 ? 

Züriputsch 124 
Z’vieri 77 
zwanzig 155 
zwar 282 
Zwecken, Zweifel, 
Zweig, Zwi 155 
Zwickel 240 
Zwieback 155 
Zwiebel 231 
Zwielicht, -spalt, -sei, 
-tracht 155 
Zwilch, Zwilling, 
Zwirn, Zwist, Zwit¬ 
ter 155 
Zwingli 155 
zwischen 155, Zwi¬ 
schenpause 280 
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Pressestimmen über das 1935 erschienene Buch 
von Storfer, „Wörter und ihre Schicksale“ 


N.-S.-Erzieher: Man muß diesen fruchtbaren Versuch als restlos gelungen 
als eine Höchstleistung bezeichnen ... Jedes Kapitel liest sich wie ein Ro¬ 
man . . . Eine solche im Geiste Rudolf Hildebrands geübte Betrachtungsweise 
gibt dem Deutschlehrer neben der eigenen Wissensbereicherung ein methodisch 
wertvolles Hilfsmittel an die Hand, schenkt darüber hinaus insbesondere den 
Schülern die Freude eigenen Forschens. 

Nat. Soz. B. Z. Es ist eines der lebendigsten Sprachbücher, das wir hier 
erhalten haben. So muß Sprache gelehrt werden. 

Frankfurter Zeitung: Der Verfasser ist nicht nur gelehrt, er ist auch unter¬ 
haltend; er zielt weit und deutet spannend. (Rudolf Geck.) 

Berliner Tageblatt: Storfer hat mit Geschick solche Wörter ausgewählt, die 
Appetit machen sollen und können, sprachliche Dinge überhaupt zu genießen. 
Sozusagen philologische Hors-d’Oeuvres. (K. Korn.) 

Münchner Neueste Nachrichten : Daß auch einmal psychologische Erkennt¬ 
nisse zur Erklärung und Deutung sprachlicher Vorgänge zu Hilfe genommen 
werden, gibt Storfers Buch unter ähnlichen einen Vorzug. 

Magdeburgische Zeitung: Eines der prachtvollsten Bücher über Wortge¬ 
schichte, die es je gab. . . Umfassende Kenntnis der Sprachgeschichte und 
glänzende Darstellungskunst. .. Dieses so vergnügliche wie belehrende Buch 
entkleidet Wissenschaft jeden Bartes und bleibt doch wissenschaftlich genau 
bis in den letzten Satz. 

Hamburger Anzeiger: Aus dem schlichten Titel des Buches läßt sich kaum 
darauf schließen, welche erregende Schätze es vor dem Leser ausbreitet. Wer 
einmal darin blättert, wird nicht eher zur Ruhe kommen, als bis er den treff¬ 
lichen Band auf dem eigenen Tisch vor sich liegen hat. 

Neues Tagblatt, Stuttgart: Das Buch gehört zu jener bei uns seltenen Art, 
die Wissenschaftliches in unterhaltender Form darzubieten versteht. Die 
erfreulichste Wirkung wird das Buch dort entfalten, wo ein beschaulicher 
Leser es zu dauerndem Umgang erwählt. (Herbert Nette.) 

Neue Zürcher Zeitung: Es ist ein Vergnügen mit Storfer den Weg zu den 
Quellen zu tun ... Es fällt dem Referenten schwer, nicht aus jeder Seite von 
Storfers Buch eine Sprachrosine herauszupicken, aber diese angenehme Arbeit 
mag der Leser besorgen. 

Nadonal-Zeitung, Basel: . .. Über all das gibt Storfer Auskunft in stets 
unterhaltsamen, zuweilen gepfefferten, aber gründlich fundierten und klar 
entwickelten Artikeln. 

Basler Nachrichten: Jeder der einzelnen Artikel ist eine kleine sprach- 
und kulturgeschichtliche Monographie, wie wir sie amüsanter und bunter 
nicht sobald gesehen und gelesen haben. 

Express, Biel: Keine Mittelschule, keine zehn Semester deutschen Sprach¬ 
studiums auf der Universität haben uns soviel Erkenntnisse beizubringen ver¬ 
mocht, wie dieses ausgezeichnte Buch. 




Pressestimmen über das 1935 erschienene Buch 
von Storfer, „Wörter und ihre Schicksale“ 

Die Literatur: In Storfers Buch sind Gelehrsamkeit, Witz und Laune den 
vorzüglichsten Bund eingegangen, und wir können versichern, daß wir ein¬ 
schließlich der sogenannten „schonen“ Literatur seit langem von keinem Buch 
solch köstliche Stunden einer zugleich freimütigen und nachdenklichen Unter¬ 
haltung empfangen haben. (W. E. Süskind.) 

Deutsche Rundschau: Der Verfasser versteht es meisterhaft, den philologi¬ 
schen Stoff lebensnah und lebendig zu machen. 

Die Muttersprache: Ein glücklicher Gedanke . .. Umfassende Gelehrsam¬ 
keit .. . Lebendige Darstellungskunst. (Karl Scheffler.) 

Monatsblätter des Deutschen Buch-Clubs Hamburg: Eine Lawine von Witz, 
Wissen und Vermutung... So treibt das Buch allerorts den Teufel der wis¬ 
senschaftlichen Trockenheit aus... mit dem Erzengelsschwert einer lebendigen, 
fröhlichen und freimütigen Bildung. 

Imago: Immer wieder ist der Leitgedanke zu merken, die Brücke von der 
Sprache zum Menschen zu schlagen, der sie schafft und spricht. 

Nation und Schrifttum: Ich wüßte kein Werk auf diesem Gebiet, das uns 
so tief in die Geheimniswelt unserer Muttersprache hineinführt... Allen denen, 
die zu Hütern unseres deutschen Sprachgutes bestellt sind, sei dieses seltene 
Werk angelegentlich empfohlen . . . (K. Burkert.) 

Jüdische Rundschau (Berlin): In einer polyhistorischen Form, die im Gali- 
schen so gut Bescheid weiß wie im Berliner Dialekt oder im Pariser Argot, 
gibt er die Lebensgeschichte einer großen Anzahl von Worten, die dem Leser 
eine Ahnung von der organischen Verflechtung allen Weltgeschehens vermit¬ 
telt. 

Wiener Bildungsbriefe (Volksbildungsreferat der Stadt Wien): Ein ernstes 
wissenschaftliches Werk, das zudem in einem derartig witzig-unterhaltlichem 
Ton und in einer einfachen, aber wirklich edlen Sprache geschrieben ist, das 
es geradezu als ein Muster eines volksbildnerischen, eines volkswissenschaft¬ 
lichen Werkes bezeichnet werden muß. 

Neues Wiener Tagblatt: So flott und unterhaltlich erzählt, daß wir die 
400 Seiten in vier Portionen rasch nacheinander verspeist haben. (Prof. R. 

F. Arnold.) 

Prager Presse: Die fesselndsten kultur- und zeitgeschichtlichen Essays... 
Die glückliche Anlage und Ausführung macht aus Storfers Buch einen richtigen 
Büchmann des Sprachlebens, für jedermann wertvoll. 

Reichssender Köln: Wissenschaftlich zuverlässig und doch unbeschwert in 
der Form.. . Ein erstaunlich vielseitiges anekdotisches und geschichtliches 
Material ist mit Geschick verwertet. Der Leser dieses Buches wird sich wahr¬ 
lich sagen: warum habe ich mich nicht schon lange mit dieser kurzweiligen 
Sache befaßt, die sich Wortgeschichte nennt. 







E I N 


STANDARD BUCH 


O. Kurt — Schaab 

MUSIKGESCHICHTE 

von der Antike bis zur Gegenwart 
in 600 Fragen 
bearbeitet von Hans Gal 
In Leinen RM 4.50, hart. RM j.jo 

„Ein richtiges Volksbuch, dessen Wert auf den ersten Blick zu erkennen ist. 
Auf die besondere Verwendbarkeit dieser originellen Musikgeschichte, die 
auch ohne die Fragenbeilage zusammenhängend gelesen werden kann, sei 
ganz besonders hingewiesen." Volkszeitung , Wien. 

„Die Verfasserin wendet geschickt die Methode der Längsschnitte an, also 
die gesonderte Behandlung der einzelnen Hauptzweige der Musik/' 

Schweizer musikpädagogische Blätter. 

„Ein für alle Kreise brauchbares Kompendium der Musikgeschichte liegt 
hier vor/' Wiener Neueste Nachrichten. 

„Sehr wertvoll ist, daß das Buch nicht zeitliche Querschnitte gibt, sondern 
nach Gattungen auf gebaut ist/* Neues Wiener Abendblatt. 

„Die Musikgeschichte kommt dem Bedürfnis nach knapper, fest umrissener 
und möglichst erschöpfender Orientierung über musikhistorische Einzelfragen 
entgegen/* Frankfurter Zeitung. 

„Eine besonders glückliche Lösung der Vermittlung musikgeschichtlicher 
Kenntnisse. Gegliedert in die Gebiete: Altertum, Mittelalter, Oper, Kirchen¬ 
musik, Lied, Klavier, Violine, Orchester, Nationale Schulen, wird von jedem 
Abschnitt ein völlig zusammenhängendes Bild gegeben; denn die Fragen 
sind nicht in die Darstellung einbezogen, sondern in einer Beigabe vereinigt, 
die mit korrespondierenden Textzahlen versehen ist. Und darin liegt das 
Besondere des Werkes, da es die Vorzüge einer ausgezeichneten Geschichts¬ 
darstellung mit dem eines gründlichen Lehrbuches vereinigt/* 

Das Konzert, Hamburg. 

„In großen Zügen werden die Wandlungen des Formideals der verschie¬ 
denen Gattungen und ihre Völker- und einzelpsychologischen Grundlagen 
umrissen und trotz der Knappheit der Darstellung nie schief, sondern mit 
einer unverkennbaren, das Buch hochqualifizierenden Tendenz zur Objekti¬ 
vität charakterisiert.** Allgemeine Musikzeitung, Leipzig. 


VERLAG DR. ROLF PASSER, WIEN —LEIPZIG 








DIE UNEINIGEN SCHWESTERN. 

Zwei Schwestern kenne ich, — kannst du es fassen? 
Die ganz zusammen passen, 

Jed’ Werk gemeinsam tun 
Und nachts mitsammen ruhn: 

Doch, gilt’s in kleinsten Fragen 
Ja oder nein zu sagen, 

Wirst jedesmal du sehn, 

Daß die zwei Schwestern auseinander gehn. 

usddiq; 

LOGISCHES MALHEUR. 

Was ohne mich, steht so schon fest. 

Was mit mir, sich erschließen läßt, 

Doch keine Hoffnung fern und nah, 

Gilt von mir der Satz: A ist A. 


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HOMOIONYM. 

Säumt die Gefallenen nicht vereint, 

Eh es am Himmel getrennt erscheint. 

U3qT2J§nZUl3 

CHARADOID. 

Ein Schmerz, ein Ausruf und ein ewig Nein 
Wird stets der Grund von aller Freundschaft sein. 

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CHARADOID. 

Kleinste Zeit in kleinster Zeit 
Genügt das zur Unsterblichkeit? 

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VERLAG DR. ROLF PASSER, WIEN —LEIPZIG 













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OLGA KURT-SCHAAB 
MUSIKGESCHICHTE 


von der Antike bis zur Gegenwart 
in 600 Fragen 

In Halbl. RM 4.5 o, hart. RM j.jo 

„Eine besonders glückliche Lö¬ 
sung der Vermittlung musikge¬ 
schichtlicher Kenntnisse. Geglie¬ 
dert in die musikgeschichtlichen 
Gebiete: Altertum, Mittelalter, 

Oper, Kirchenmusik, Lied, Kla¬ 
vier, Violine, Orchester, Natio¬ 
nale Schulen, wird von jedem Ab¬ 
schnitt ein völlig zusammenhän¬ 
gendes Bild gegeben; denn die 
Fragen sind nicht in die Darstel¬ 
lung einbezogen, sondern in einer 
Beigabe vereinigt, die mit korres¬ 
pondierenden Textzahlen versehen 
ist. Und darin liegt das Besondere 
des Werkes, daß es die Vorzüge 
einer ausgezeichneten Geschichts¬ 
darstellung mit dem eines gründ¬ 
lichen Lehrbuches vereinigt.“ 

Das Konzert, Hamburg \ 

STEFAN — SOUREK 
DVORAK 
Leben und Werk 
ln Lein . RM 6 , hart. RM 4.50 

„Das lang entbehrte, ebenso fes¬ 
selnde wie wahrheitsgetreue Le¬ 
bensbild des großen tschechischen 
Tondichters und eine lückenlose 
Einführung in sein Schaffen. Das 
Buch ist und bleibt ein Standard¬ 
werk. Nichts kommt ihm gleich 
an Gründlichkeit der Darstellung. 
Ein unendlich reiches Bild entrol¬ 
len die kunstgewandten Verfasser, ; 
voller Klarheit und Wärme, ein 
Bild, das der Leser gerne mit¬ 
schauen wird.“ 

Westfälische Zeitung 3 

KARL KOBALD 
JOSEPH HAYDN 
Bild seines Lebens und seiner Zeit : 
ln Leinen RM 

„Das Buch schildert Leben und 
Schaffen des Meisters der klassi¬ 
schen Tonkunst und verlebendigt 
gleichzeitig die Kunst und Kultur 
der Maria Theresianischen und 
Josephinischen Zeit. Einzigartig 
ist die Schilderung des Musik- 
und Theaterlebens zur Zeit 
Haydns.“ Berliner Tageblatt 

VERLAG DR. ROLF PASSER 
Leipzig — Wien 








OLGA KURT-SCHAAB 

MUSIKGESCHICHTE 

von der Antike bis zur Gegenwart I 
in 600 Fragen 

In Halbl. RM 4.50, kart. RM j.jo 

„Eine besonders glückliche Lö- J 
sung der Vermittlung musikge- | 
schichtlicher Kenntnisse. Geglie- | 
dert in die musikgeschichtlichen | 
Gebiete: Altertum, Mittelalter, | 

Oper, Kirchenmusik, Lied, Kla- I 
vier, Violine, Orchester, Natio- I 
nale Schulen, wird von jedem Ab* I 
schnitt ein völlig zusammenhän- I 
gendes Bild gegeben; denn die J 
Fragen sind nicht in die Darstel* J 
lung einbezogen, sondern in einer I 
Beigabe vereinigt, die mit korres- 1 
pondierenden Textzahlen versehen § 
ist. Und darin liegt das Besondere | 
des Werkes, daß es die Vorzüge I; 
einer ausgezeichneten Geschichts- * 
darstellung mit dem eines gründ- l 
liehen Lehrbuches vereinigt.“ 

Das Konzert , Hamburg J 

STEFAN — SOUREK 
DVORAK 
Leben und Werk 
ln Lein. RM 6 .—, kart . RM 4.^0 \ 

„Das lang entbehrte, ebenso fcs- ; 
selnde wie wahrheitsgetreue Le- 1 \:i 
bensbild des großen tschechischen 
Tondichters und eine lückenlose ! 
Einführung in sein Schaffen. Das h 
Buch ist und bleibt ein Standard- I 
werk. Nichts kommt ihm gleich 
an Gründlichkeit der Darstellung. 
Ein unendlich reiches Bild entrol¬ 
len die kunstgewandten Verfasser, 
voller Klarheit und Wärme, ein 
Bild, das der Leser gerne mit¬ 
schauen wird.“ 

Westfälische Zeitung 

KARL KOBALD 
JOSEPH HAYDN 
Bild seines Lebens und seiner Zeit 
In Leinen RM 

„Das Buch schildert Leben und 
Schaffen des Meisters der klassi¬ 
schen Tonkunst und verlebendigt 
gleichzeitig die Kunst und Kultur 
der Maria Theresianischen und 
Josephinischen Zeit. Einzigartig 
ist die Schilderung des Musik- 
und Theaterlebens zur Zeit 
Haydns.“ Berliner Tageblatt 

VERLAG DR. ROLF PASSER 
Leipzig — Wien 




T 

A.J. STORFER 



PASSER 

VERLAG 


A. J. STORFER 



Ir 


PASSER VERLAG 


Der erste Teil des Werkes, 
„Von A bis Z“, behandelt Ety¬ 
mologie und Bedeutungsentwick¬ 
lung bemerkenswerter Wörter und 
Redensarten. Anders als gewöhn¬ 
liche Nachschlagewerke beschränkt 
dieses sich nicht auf trockenes 
Aneinanderreihen von Tatsachen 
und Hypothesen, sondern nutzt 
jeden Anlaß zu kulturgeschichtli¬ 
chen oder psychologischen Aus¬ 
blicken. Urgeschichtliches wird 
ebenso berührt, wie Verhältnisse 
der allerjüngsten Gegenwart be¬ 
rücksichtigt werden, und die so 
sich ergebende Lebensnähe macht 
diese Wortkurzgeschichten und 
kleinen Wortromane zu einer 
spannenden Lektüre. „Warum hat 
man uns nicht früher gesagt, daß 
Sprachwissenschaft eine so inter¬ 
essante Sache sein kann?“ schrieb 
eine Zeitung zu Storfers früherem 
Buch. Der Verfasser beschränkt 
sich nicht auf die Schriftsprache, 
weitgehend berücksichtigt er die 
Mundarten, die Studenten-, die 
Soldaten-, die Verbrechersprache, 
das Slang der Großstädte. 

Der zweite Teil, „Kreuz und 
quer“, behandelt eine Reihe inter¬ 
essanter Sonderfragen. Der eine 
Aufsatz beschäftigt sich z. B. mit 
dem Hang der deutschen Sprache 
zur Wortzusammensetzung, mit 
Vorzug und Nachteil dieser Er¬ 
scheinung. Fesselnd und voll von 
humorvollen Beispielen ist der 
Abschnitt über Sprachmengerei. 
Dem Einfluß des Schweizerischen 
auf die neuhochdeutsche Schrift¬ 
sprache spürt eine andere Ab¬ 
handlung nach. Die Ausführung 
über Tiernamen als Krankheits¬ 
namen machen uns mit wenig be¬ 
kannten Gebieten der alten Medi¬ 
zin und der heutigen Volksmedizin 
bekannt. Verblüfft erfährt der 
Laie, welche Fülle von Geheim¬ 
nissen die Sprache birgt, der er 
sich täglich bedient, was alles der 
Wissende aus ihren Erscheinun¬ 
gen herausdeuten kann, und auch 
der Fachmann findet viel Neues, 
Überraschendes. Zudem gewähr¬ 
leistet schon des Verfassers Dar¬ 
stellungskunst richtigen Genuß. 
Seine Fähigkeit, schwierige Dinge 
einfach, gleichsam plaudernd und 
scherzend auseinanderzusetzen, ist 
mit Recht als meisterhaft gerühmt 
worden.