A. J. $ T O R F E A
PASSER VERLAG
Der erste Teil des Werkes,
„Von A bis Z“, behandelt Ety¬
mologie und Bedeutungsentwick¬
lung bemerkenswerter Wörter und
Redensarten. Anders als gewöhn¬
liche Nachschlagewerke beschränkt
dieses sich nicht auf trockenes
Aneinanderreihen von Tatsachen
und Hypothesen, sondern nutzt
jeden Anlaß zu kulturgeschichtli¬
chen oder psychologischen Aus¬
blicken. Urgeschichtliches wird
ebenso berührt, wie Verhältnisse
der allerjüngsten Gegenwart be¬
rücksichtigt werden, und die so
sich ergebende Lebensnähe macht
diese Wortkurzgeschichten und
kleinen Wortromane zu einer
spannenden Lektüre. „Warum hat
man uns nicht früher gesagt, daß
Sprachwissenschaft eine so inter¬
essante Sache sein kann?“ schrieb
eine Zeitung zu Storfers früherem
Buch. Der Verfasser beschränkt
sich nicht auf die Schriftsprache,
weitgehend berücksichtigt er die
Mundarten, die Studenten-, die
Soldaten-, die Verbrechersprache,
das Slang der Großstädte.
Der zweite Teil, „Kreuz und
quer“, behandelt eine Reihe inter¬
essanter Sonderfragen. Der eine
Aufsatz beschäftigt sich z. B. mit
dem Hang der deutschen Sprache
zur Wortzusammensetzung, mit
Vorzug und Nachteil dieser Er¬
scheinung. Fesselnd und voll von
humorvollen Beispielen ist der
Abschnitt über Sprachmengerei.
Dem Einfluß des Schweizerischen
auf die neuhochdeutsche Schrift¬
sprache spürt eine andere Ab¬
handlung nach. Die Ausführung
über Tiernamen als Krankheits¬
namen machen uns mit wenig be¬
kannten Gebieten der alten Medi¬
zin und der heutigen Volksmedizin
bekannt. Verblüfft erfährt der
Laie, welche Fülle von Geheim¬
nissen die Sprache birgt, der er
sich täglich bedient, was alles der
Wissende aus ihren Erscheinun¬
gen herausdeuten kann, und auch
der Fachmann findet viel Neues,
Überraschendes. Zudem gewähr¬
leistet schon des Verfassers Dar¬
stellungskunst richtigen Genuß.
Seine Fähigkeit, schwierige Dinge
einfach, gleichsam plaudernd und
scherzend auseinanderzusetzen, ist
mit Recht als meisterhaft gerühmt
worden.
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INTERNATIONAL
PSYCHOANALYTIC
UNIVERSITY
DIE PSYCHOANALYTISCHE HOCHSCHULE IN BERLIN
A. J. STORFER
IM DICKICHT DER SPRACHE
IM DICKICHT
DER SPRACHE
A. J. STORFER
VERLAG DR. ROLF PASSER
WIEN — LEIPZIG — PRAG
Alle Rechte Vorbehalten
Copyright 1937 by Verlag Dr. Rolf Passer, Wien
Schutzumschlag: Maenner, Wien
Druck von Julius Kittls Nachfolger, M.-Ostrau
INHALTSVERZEICHNIS
Von A
Abstecher ......... 9
Ausmerzen .
Backfisch.
Ballast.
Behelligen .
Bismarck.
9
10
11
12
12
Cancan.^
Dattel, Banane. 17
Einen Denkzettel bekommen . 19
Drastisch . .. 2 0
Elend. 2 1
Erpressung, chantage, blackmail 25
Sich ins Fettnäpfchen setzen . 28
Feurige Kohlen .28
Aus dem ff, nach Schema F . 31
Fisimatenten .32
Flanell .36
Keltische Wörter im Deutschen 37
Fratze, Fratz.44
Gamin .47
Deutsche Wörter im Pariser
Argot ..49
Ins Gras beißen .52
Umschreibungen des Sterbens . 57
Halunke. 66
Hand ins Feuer legen ... 67
Die Hosen verlieren .... 67
Pas geht über die Hutschnur . 68
Isabellenfarbe .69
Wörter , die an Belagerungen
erinnern .
Jause .
bis Z
Katzelmacher
Killen
Knickebein
Kur . .
70
77
.79
.88
.88
.89
Lücken büßen.91
Mob .92
Nachahmen.94
Lehnwörter der W einkultur
aus dem Lateinischen .... 95
Nachtigall, rossignol .... 97
Neun.97
Nihilismus .102
Paprika, Pfeffer .104
Paschen, schmuggeln, schwärzen 113
Pistole.H4
Pluzer.H9
Putsch.123
Quintessenz.127
Rabeneltern.127
Räsonnieren.129
Renommieren .131
Schnorren.131
Pseudojüdische Wörter . . . .135
Schwindler , . ..138
Schwul, Schwulität . . . .139
Spitzel.140
Steckbrief.145
Stinken, stänkern.146
Strohwitwe ....... 148
Toast .153
Veronal .154
Zwilling.155
5
Kreuz und quer
Schweizerische Wörter im Hochdeutschen.159
Aus dem Wortschatz des Wieners.167
Tiernamen als Krankheitsnamen.181
Die Namen der fünf Erdteile.199
Über Sprachmengerei.214
Verblaßte Verkleinerungsformen .228
Aristophanische Zusammensetzungen.256
Von einsilbigen Wörtern und deren Überhandnehmen.280
Register ..297
6
I
VON ABIS Z
• .
.
.
'
Abstecher
„Einen Abstecher machen“ (vorzugsweise: einen kleinen Abstecher)
kommt aus der Seemannssprache. In die See „stechen“ bedeutet ursprüng¬
lich : vom Ufer abstoßen, indem man vom Fahrzeug aus eine Stange gegen
einen festen Halt sticht. Abstecher ist eine kleine Fahrt im Boot, das mit dem
Bootshaken vom großen Fahrzeug „absticht“. Dann übertragen auf jeden
einen größeren Weg unterbrechenden Nebenweg. Die Redensart gelangte
aus niederdeutschen Mundarten (een Afsteker maken) um 1770 herum ins
Schriftdeutsche.
In der deutschen Gaunersprache ist „Abstecher“ ein kleines spitziges
Eisen zum Öffnen eines Vorhängschlosses. (In früheren Zeiten wurde dieses
Gerät gewöhnlich am Tabaksbeutel befestigt.)
Ausmerzen
Nicht weniger als fünf Ableitungen stehen zur Wahl:
a) Den stärksten Anklang findet die folgende: im Frühling, vornehmlich
im M ä r z, werden die zur Zucht untauglichen Schafe ausgeschieden. Daher
wird das auszuscheidende Schaf ein Märzschaf genannt 1 . Diese Ableitung
führt dazu, daß manche nicht ausmerzen schreiben, sondern ausmärzen. Zur
Stützung dieser Ableitung wird herangezogen, daß spanisch marzear „die
Schafe (im März) scheren“ bedeutet. Übrigens ist im Deutschen ausmerzen
bis ins 18. Jahrhundert nur von Schafen gesagt worden.
b) Grimms Wörterbuch denkt an lateinisch merx, mercis — Ware und
schreibt vorsichtig: „man würde sich für merz (lateinisch merx) entschei¬
den, wenn es die Kaufleute vom Ausscheiden schlechter Ware gebrauchen“.
c) Auch gotisch marzjan = einen ärgern ist als Vorläufer von ausmerzen
in Betracht gezogen worden.
d) Andere vermuten eine Verwandtschaft mit dem mundartlichen Zeit¬
wort murzen = schneiden, tilgen.
e) Schließlich deuten einzelne Forscher merzen als merksen. Merksen
wäre ein Iterativum, eine die häufige Wiederholung ausdrückende Ableitung,
von merken (so wie blitzen = blickezen von blicken, also häufig auf-
leuchten, oder schmatzen = schmackezen von schmecken, also nachdrücklich,
mit Wohlbehagen schmecken, schluchzen von schlucken, seufzen von saufen,
jauchzen und ächzen von juchhe und ach). Die Schafe ausmerzen, hieße
i) Die Ausmusterung im Spätherbst heißt b r a c k e n, ausbracken (von
brack = minderwertig, einer Nebenform des niederdeutschen wrack = beschä¬
digt, untauglich, auch als Hauptwort, z. B. Schiffswrack).
9
demnach, die auszusondernden Tiere mit einer Marke, einem farbigen Strich
etwa, kennzeichnen. Merzen entspräche also sowohl der Wurzel als der Be¬
deutung nach dem Zeitwort markieren. Für die Ableitung von der Wurzel
merk spricht auch das englische Zeitwort to mark out = ausmerzen.
Von diesen fünf verschiedenen Ableitungen scheinen die erste und letzte
am besten begründet zu sein; beide berühren die Schafzucht und es ist
sprachgeschichtlich nicht ausgeschlossen, daß nicht ein Entweder-oder, son¬
dern ein Sowohl-als vorliegt, d. h. daß beide etymologische Quellen
(sowohl der Monatsname März, als auch die Tätigkeit des Versehens mit
einer Marke) von Einfluß auf die Entstehung des heutigen Zeitwortes aus¬
merzen waren.
Backfisch
als Bezeichnung für halbwüchsige Mädchen erklären
a) die einen mit dem im Deutschen (bis auf einzelne, besonders die
Schiffahrt betreffende niederdeutsche Ausdrücke) ausgestorbenen, im Eng¬
lischen noch erhaltenen germanischen Worte b a c k = Rücken, hinten, zu¬
rück, weil man nämlich die jungen Mädchen mit jenen zu jungen unausge¬
wachsenen Fischen verglichen habe, die der Fischer ins Wasser zurück
(back!) wirft,
b) die andern (z. B. Borchardt-Wustmann) mit backe n, weil die
zarten jungen Fische, die zum Sieden noch nicht taugen, gebacken werden.
c) Wieder eine andere Deutung meint, Backfisch sei aus der bequemen
Aussprache von Bach fisch entstanden, und die halbwüchsigen Mädchen
habe man mit den in Bächen lebenden Fischen verglichen, weil diese — im
Gegensatz zu den Fischen der großen Flüsse und des Meeres — zierlich
und munter seien.
d) H. Schräder faßt den Backfisch als ein Wesen auf, das aus dem klei¬
nen Bach der Pensionssüßwasser oder der Kinderstube in die siebenfach
gesalzene See der Welt hinausgeworfen wird.
e) Auch mit Baccalaureus, der früheren Bezeichnung des Doktoratskan¬
didaten, bringt man wegen des Anklangs den Backfisch in Verbindung und
dafür spricht jedenfalls einigermaßen der Umstand, daß der Ausdruck Back¬
fisch zuerst in der Mitte des 16, Jahrhunderts als Bezeichnung für junge
Studenten (also für männliche Wesen) auftaucht. (Kurz nach diesem
Auftreten des Ausdrucks Backfisch ist auch seine offenbar aus studentischen
Kreisen ausgehende Anwendung auf junge Mädchen belegt.)
f) R. Riegler legt Gewicht auf die Feststellung, daß in Studentenkreisen
früher die jungen Mädchen auch kurz als Fische bezeichnet wurden;
io
hierbei habe in wenig schmeichelhafter Weise die Dummheit als ter-
tium comparationis gegolten; der Metapher liege aber auch die Vorstellung
des K ö d e r n s zugrunde, indem die Studenten den Mädchen in ähnlicher
Weise nachstellten, wie die Angler den Fischen; hingegen beziehe sich der
Ausdruck Back fisch wohl auf das Lockende, A p p e t i 11 i c h e des Aus¬
sehens (welche Erwägung dann zur obigen Deutung b zurückführt).
Holländisch bakvisch und dänisch bakfisk sind dem deutschen Ausdruck
nachgebildet.
Ballast
Levinus Hulsius erklärt 1548: „Pallast, d. i. Sand-Last oder Sand und
Stein, so alle Schiff unden müssen einladen, daß sie nicht umbfallen.“
Das Wort macht zwar gleich den Eindruck eines zusammengesetzten Wor¬
tes, dessen zweiter Teil das zur Sippe des Zeitwortes „laden“ gehörige
Hauptwort „Last“ ist und dieser Eindruck kann wohl auch als richtig gelten,
aber in Bezug auf die Deutung des ersten Teiles der Zusammensetzung be¬
steht Unsicherheit. Es bieten sich nicht weniger als sechs verschiedene Erklä¬
rungen für den ersten Teil des Wortes Ballast.
Nach der einen ist die erste Silbe das holländische b a 1 = schlecht, Ballast
daher: schlechte Last.
Nach anderer Auffassung wäre die ursprüngliche Form barm-last,
wobei im ersten Teil eine Nebenform von nordisch barmr = Rand, angel-
sächsich bearm = Schoß (des Schiffes) vermutet wird.
Nach einer dritten Deutung wäre Ballast zusammengezogen aus bare
Last (nackte Last, bloße Last), wie man den zum Erhalten des Gleichge-
gewichtes des Schiffes mitgenommenen Sand im Gegensatz zur eigentlichen
Fracht bezeichnet haben soll.
Wieder eine andere Vermutung weist auf dänisch bag = hinten hin
(vgl. dazu englisch und niederdeutsch back, deutsch Backbord). Ballast wäre
also die hintere, d. h. die unter der gewöhnlichen liegende Last.
Nach der fünften Hypothese ist Ballast = Bohle- Last, d. h.
die auf den Bohlen (auf dem Boden des Schiffes) liegende Last.
Eine sechste, die einfachste, aber am schwächsten gestützte Erklärung
sieht im Ballast eine alte Form für Bei- Last.
Im Französischen hat le baliast außer der deutschen, auf die Schiff¬
fahrt bezüglichen auch die Bedeutung: Beschüttungsmaterial (im Eisenbahn¬
bau). Dazu die Weiterbildungen: ballaster = eine Strecke schottern oder
zerstoßene Steine befördern, ballastage = „Füttern“ der Schwellen mit Kies.
Von deutsch „Last" kommt übrigens im Französischen auch la laste =
11
Schiffslast (als Gewichtsbezeichnung: 2000 kg) und le lest mit der Bedeu¬
tung Ballast (z. B. aller en lest oder sur son lest, nur mit Ballast beladen
fahren) und der übertragenen Bedeutung Gegengewicht. Im Italieni¬
schen: lasto = Schiffslast.
Im englischen Slang ist bailast auch die Bezeichnung für Geld, ein
reicher Mann ist daher: well-ballasted. Auch sagt man von jemandem, dem
die Urteilskraft fehlt oder dem der Eigendünkel zu Kopf gestiegen ist, er
habe seinen Ballast verloren (lose his bailast). Im Übrigen deckt sich — in
seiner Beziehung auf das Schiff — das englische Wort bailast mit dem deut¬
schen. Nur bei der übertragenen Verwendung des Wortes ergibt sich
ein bemerkenswerter Unterschied. Im Deutschen bedeutet Ballast im über¬
tragenen Sinne: etwas, das eine störende, überflüssige Überladung darstellt
(z. B. der Ballast von Phrasen in einer Rede). Ganz anders bezeichnet eng¬
lisch baliast in übertragenem Sinne das, was Stetigkeit, (sittlichen) Halt usw.
gibt. Ballast in übertragenem Sinne ist also im Deutschen etwas Überflüssi¬
ges, Bedauerliches, im Englischen etwas Erwünschtes, Erstrebenswertes. In
der englischen Bedeutungsübertragung ist also der Vergleich mit dem
Schiffe, das auf Ballast ja angewiesen ist, korrekt geblieben.
Behelligen
Das mittelhochdeutsche hei, hellec = schwach, matt lebt noch in ver¬
schiedenen mundartlichen Wörtern fort, z. B. im hessischen häl = ausge¬
trocknet, mager, saft- und kraftlos. Hälgarten ist eine dürre Wiese, Haigans
eine magere, noch ungemästete Gans, Hälschwein oder Hehlsau ein halb¬
wüchsiges oder mageres Schwein. Im Plattdeutschen: ein haler Wind. Im
Schweizerischen bedeutet heilig: ermattet, leer im Magen, hungrig. Zu die¬
ser Wurzel gehört in der neuhochdeutschen Schriftsprache behelligen = be¬
lästigen, mit der ursprünglichen Bedeutung: jemand beschwerlich werden,
ihn durch Verfolgung ermüden. Als seltenere Nebenform von behelligen be¬
gegnen wir dem Zeitwort „abheiligen“, z. B. in den landwirtschaftlichen
Landtagsberichten Steiermarks aus dem Jahre 1540 („ieren abgeheiligten und
betruebten Landen“).
Bismarck
Die verbreitetsten Formen der Wortstutzung sind die Prokope (auch
Aphairesis genannt), d. h. der Wegfall des Wortanfangs (z. B. Bodega aus
Apotheke, Bus aus Omnibus, Grete aus Margarete, italienisch storia aus la¬
teinisch historia) und die A p o k o p e, d. h. der Wegfall des Wortendes
(Sarg aus Sakophag, Pneu aus Pneumatik, Zoo — in Basel Zolli — aus
12
Zoologischer Garten, Magda aus Magdalene). Weniger häufig ist die dritte
Form der Wortstutzung, die sogenannte Synkope, bei der der Sparsam¬
keitstendenz der Sprache die Mitte eines Wortes zum Opfer fällt, wie z. Q.
in der amerikanischen Umgangssprache Frisco für (San) Francisco, in der
Levante Cospoli für Constantinopel, in der österreichischen militärischen
Sprache Baon für Bataillon. Ein gutes Beispiel der Synkope liefert der Fami¬
lienname Bismarck, den die Namensforschung auf Bischofsmark zu¬
rückführt; die Besitzungen der Familie Bismarck grenzten nachweislich an
das Bistum Verden. (Auch das Wort „Bistum“ ist übrigens synkopisch ent¬
standen aus althochdeutsch biscoftuom, mittelhochdeutsch bischoftuom)i.
Der Familienname Bismarck gehört zu jenen Eigennamen, die Grundlage
zu bestimmten Wortneubildungen lieferten, wenn auch nicht zu dauernden
Neologismen nach der Art der oft angeführten Beispiele „Guillotine“ nach
dem Dr. Guillotin, „Sandwich" nach Lord Sandwich usw. Auch ist es nicht
das deutsche Wörterbuch, das durch Abkömmlinge des Namens Bismarck
bereichert worden ist, sondern — vorübergehend — das französische.
Nach dem preußischen Sieg bei Königgrätz (1866), den übrigens die
Franzosen nach dem Dorf Sadowa bezeichnen, war es in Frankreich üblich,
eine gewisse rotbraune Farbe als „bismarck“ zu bezeichnen. (Ein
Beleg aus dem Jahrgang 1867 von La Vie Parisienne: La baronne est en
bismarck de pied en cap, die Baronin ist vom Scheitel bis zur Sohle in „Bis¬
marck".) Bis dahin bezeichnete man diese Farbe nur als „aventurine" nach
dem Mineral Aventurin (Glimmerstein), einer rötlichbraunen Quarzart.
Offenbar hat der rotbraune Uniformmantel auf einem zeitgenössischen Bis¬
marckbildnis in Frankreich nachhaltigen Eindruck gemacht, denn die neue
Farbe „bismarck" kam stark in Mode. Car, n’oublions pas, bemerkt 1889
der Argot-Lexikograph Larchey, M. de Bismarck eut sous l’Empire ses ad-
mirateurs, vergessen wir nicht, daß Herr von Bismarck im (zweiten) Kaiser¬
reich Verehrer hatte. Der Name Bismarck diente der französischen Umgangs¬
sprache auch zur Bezeichnung folgender Farbennuancen: bismarck en colere
(Bismarck in Zorn) = dunkelbraun und bismarck malade (krankes Bis¬
marck) = hellbraun.
Nach 1870 gab es aber in der französischen Umgangssprache bereits ein
Zeitwort bismarcker oder bismarquer mit der Bedeutung überlisten,
sich etwas mit allen Mitteln aneignen. Das Zeitwort (es ist
i) Man kann Bismarck und Bistum aus Bischofsmark und Bischofstum auch
zu den elliptischen Zusammensetzungen („Klammerformen“)
nach Art von Pappenstiel statt Pappenblumenstiel, Weißbäcker statt Wei߬
brotbäcker, kornblau statt kornblumenblau zählen. Vgl. das Stichwort Pap¬
penstiel in „Wörter und ihre Schicksale“.)
13
noch 1912 bei Villatte als Parisismus verzeichnet) gelangte mit dieser Bedeu¬
tung auch ins Spanische und ins Portugiesische. Villatte gilt als pariserisch
auch an: bismarck = der Hintere. Aus dem Argot sei noch angeführt: envoyer
une depeche ä Bismarck (eine Depesche an Bismarck absenden) = auf den
Abtritt gehen. Vielleicht ist die Entstehung dieser Umschreibung auch durch
die oben erwähnte französische Farbenbezeichnung bismarck, dann vielleicht
auch durch das französische Volkswort prussien = Gesäß mitdeterminiert.
Das Wort bismarck hatte im Argot auch die Bedeutung: Zweimarkstück;
dies ist ein Wortspiel aus „bis" = zweifach und „Mark".
Für England verzeichnete das Slangwörterbuch von Farmer und Henley
ein Zeitwort bismarquer = betrügen, besonders beim Kartenspiel oder
beim Billard unehrlich sein. Das Wörterbuch erklärt: „nach dem Namen
des Fürsten Bismarck, über dessen Politik 1865—66 ein großer Teil der
europäischen Öffentlichkeit sich entrüstete“. Doch konnte sich dieser belei¬
digende Wortgebrauch nicht dauernd im englischen Slang halten, die Ausgabe
1903 des genannten Wörterbuches bezeichnet den Ausdruck bereits als ver¬
altet. — In Amerika trägt eine Stadt noch heute den Namen des großen
deutschen Kanzlers: die 1873 gegründete Hauptstadt von North Dakota
heißt Bismarck.
Cancan
Der Cancan, den man in den letzten Jahren einigemal wieder ans Pvam-
penlicht großer Varietebühnen gezogen hat und der auch in einigen Filmen
ein Auferstehen feiert, war eigentlich kein eigener Tanz, sondern eine
Schlußfigur der Quadrille, noch genauer, eine Stilart sie zu tanzen. Zuerst
wurde der Cancan in Paris unter Louis Philippe im Jardin de Mabille ge¬
tanzt 1 . Auch eine andere Bedeutung hatte das Wort Cancan zur Zeit des
Bürgerkönigtums. Die cancans ersetzten damals die Satire der Witzblätter.
1831 ließ Berard eine Reihe von Einzelblättern erscheinen, die „boshafte
1) 1842 schrieb in der „Augsburger“ Heinrich Heine: „Hier höre ich die
Frage, was ist der Cancan? Heiliger Himmel, ich soll für die Allgemeine
Zeitung eine Definition des Cancan geben! Wohlan, der Cancan ist ein Tanz,
der nie in ordentlicher Gesellschaft getanzt wird, sondern nur auf gemeinen
Tanzböden, wo derjenige, der ihn tanzt oder diejenige, die ihn tanzt, unver¬
züglich von einem Polizeibeamten ergriffen und zur Tür hinausgeschleppt
wird. Ich weiß nicht, ob die Definition hinlänglich beiehrsam ist, aber es
ist auch gar nicht nötig, daß man in Deutschland ganz genau erfährt, was der
französische Cancan ist.“ Später schrieb Alphonse Karr: „Wir haben den gra¬
ziösen Cancan, den saint-simonistischen, den Halbcancan, den Anderthalb¬
cancan (le cancan et demi) und den Chahut. Nur dieser letztere Tanz ist
verboten.“
*4
liederartige Verse mit allerlei Formen der Ironie in Prosa mischten" (Karl
d’Ester) Er gab jeder Nummer einen anderen Titel; es gab Cancans popu¬
läres Cancans legitimes, Cancans indomptables usw. 1 Auch als er wegen
seiner unerschrockenen Angriffe ins Gefängnis kam, verstand es Berard,
weitere Cancans an die Öffentlichkeit gelangen zu lassen, wo sie nach be¬
kannten Melodien gesungen wurden.
Seine Glanzzeit erlebte der Cancan-Tanz in der Regierungszeit Napo¬
leons III. Da gelangte dieser sinnenfroh ausgelassene Tanz, der geradezu als
Sinnbild der Vergnügungssucht im zweiten Kaiserreich gelten kann, zu sei¬
ner großen Verbreitung und Berühmtheit. ^J^ie auch in vielen anderen ähn¬
lichen Fällen, war eines Tages die Sache da, ihr Name in aller Mund, aber
niemand konnte verläßlich Rechenschaft darüber geben, wie es zu diesem
Namen kam. Allerdings bewegen sich die verschiedenen Deutungen, die
man dem Worte cancan schließlich gab, auf einem ziemlich engen Gebiete,
auf einem lautmalerischen, u. zw. innerhalb einer geschlossenen semasiolo-
gischen Ellipse, deren beide Brennpunkte die Begriffe der Ente und des
sinnlosen Lärmes sind. Man tut gut, in solchen Fällen die Möglich¬
keit der Überdeterminierung nicht unbeachtet zu lassen und zu bedenken,
daß die eine etymologische Deutung die andere nicht unbedingt ausschließen
muß.
Cancan heißt im Französischen, offenbar lautmalerisch, das Geschnatter
der Ente, und es sei eben, so argumentieren die einfachsten Etymologien, die
Bezeichnung für den wilden, sinnlosen Lärm, den dieser Vogel verursacht,
auf den zügellosen und mit geräuschvollen Lustausbrüchen verbundenen
Tanz übertragen worden. (Man vgl. übrigens auch die Bedeutungsentwick¬
lung von „Ente", „canard" zu Aufschneiderei, Lüge, falsche Zeitungsnach¬
richten unter dem Stichwort „Ente" in „Wörter und Schicksale".) Andere
wollen sogar, ungalanter Weise, in dem Schütteln des Leibes beim Cancan
eine Ähnlichkeit mit dem Watschelgang der Ente erkennen. (Wenn diese
Deutung zurecht bestünde, so hätte die Benennung des Cancans nach dem
Gang eines Tieres eine moderne Analogie: die Bezeichnung eines Gesell¬
schaftstanzes als „Fuchsschritt", foxtrot.)
Bereits Menage buchte 1694 das Wort cancan und identifizierte es mit
lateinisch auamquam. In den französischen Gymnasien mußten
i) Es gab auch cancans in Zwiegesprächsform. So fragte man z. B. wort¬
spielartig (quand = wann); Quand serez-vouz content? Quand j’aurai de
Fargent. Quand aurez-vous de Fargent? Quand il y aura du commerce.
Quand il y aura du commerce? Quand il y aura de la confiance. Quand il y
aura de la confiance? Quand le gouvernement ne fera plus de sottises.
die Schüler ihre öffentlichen Vorträge mit einer lateinischen Ansprache ein¬
leiten. Diese lateinischen Einleitungen begannen meistens, angelehnt an die
klassischen Vorbilder antiker Beredsamkeit, mit gewissen Entschuldigungen
betont bescheidener Art. In Anspielung auf eine berühmte Rede Ciceros, die
mit den Worten „Quamquam mihi semper...“ (Obgleich mir jederzeit...)
beginnt, nannte man diese Einleitungen, im weiteren Sinne aber auch ge¬
schwätzige, überflüssige oder törichte Phrasen überhaupt: quamquams; in
französische Form gegossen: quanquans oder cancans. Faire un grand
quanquan de quelque chose bedeutet: viel Lärm um etwas machen, unver¬
dienter Maßen großes Aufsehen erregen; und allgemeiner auch: schwatzen,
tratschen. (Man vgl. die Redensart „ein großes Tamtam machen cc , wo aber
auch die Vorstellung des Trommelrührens wirksam ist.) 1
Littre (der 1864 für cancan die Definition gibt: „unschicklicher Tanz auf
öffentlichen Bällen, mit übertriebenen Sprüngen und schamlosen Gebär¬
den") weist auf eine Diskussion hin, die in der zweiten Hälfte des 16. Jahr¬
hunderts an der Sorbonne darüber stattgefunden haben soll, ob man den
Anlaut in den lateinischen Wörtern quamquam, quis usw. wie kv oder wie
k aussprechen soll. Die Sorbonnisten blieben bei der letzteren, die Anhänger
des Philosophen und Philologen Pierre Ramus bei der ersterwähnten Aus¬
sprache. Als die Diskussion noch immer nicht erlahmen wollte, habe einer
der Anwesenden ungeduldig gerufen: voilä bien des cancans pour rien.
Richtig belegt ist diese Anekdote aber nicht. Schon lang vor Ramus findet
i) Die Silbenwiederholung, die die Lautform cancan zeigt, scheint kein Zu¬
fall zu sein, wenn das Wort eigentlich Entengeschnatter, sinnlosen Lärm be¬
zeichnen soll. Für den Ausdruck eines solchen Begriffes eignen sich Zwil¬
lingswörter — sowohl „reine“ wie cancan, als auch solche mit Wur¬
zelvariation — in besonderem Maße. Man beachte die vielen Ausdrücke dieser
Art, die Lärm, Tumult, sinnloses Geschwätz, Klatsch, Geschnatter, Unsinn be¬
deuten: Larifari, Tamtam, Gigasgagas, Tärlimärli; englisch bibble-babble,
chit-chat, tittle-tattle, skimble-skamble, griffle-graffle, miff-maff, rimble-
ramble, fiddle-faddle, rip-rap, whim-wham, ran-tan, pow-row, argol-vargol,
talky-talky, französisch charivari, patati-patata, barrabin-barraban, chichi;
tschechisch tlachy-machy; japanisch kamgagamba, samoanisch tabataba,
boiboi auf Neuguiena. Auch der Begriff des Lebhaften, Hastigen, Übereilten,
der in der Bezeichnung cancan Ausdruck findet, ist ein von Zwillingswörtern
bevorzugter; vergl. Schurimuri, Hudriwudri, gigete-gagete, holterpolter; eng¬
lisch catch-match, hurly-burly, harem-scarem, arsy-varsy. Und schließlich
gehört auch das Element des wilden Durcheinanders, der Unordnung, des
Chaos zu jenen, zu deren Ausdruck Zwillingswörter vorzugsweise verwendet
werden; vgl. Wirrwarr, Kuddelmuddel, Krausemause, Tohuwabohu; englisch
mingle-mangle, mizmaze, higgledy-piggledy, hubble-bubble, hab-nab, hoitv-
toity, hurry-scurry; französisch bourri-bourra, pele-mele, aroul-boroul.
1 6
man im französischen Schrifttum den Ausdruck caquehan, etwa mit der Be¬
deutung Tohuwabohu, insbesondere für einen Tumult, eine lärmende Ver¬
sammlung oder einen geräuschvollen Streit.
Jedenfalls galt die Musik, zu der der Cancan zunächst im Vormärz und
dann besonders während des zweiten Kaiserreiches getanzt wurde, zu ihrer
Zeit den ewigen Nörglern als besonders „verrückt" und „ohrenbetäubend",
wie etwa in unserer Zeit die amerikanische Jazzmusik, und die Ableitung des
Namens des Tanzes aus mundartlichen lautnachahmenden Bezeichnungen
des Entengeschnatters im Besonderen oder des gehäuften Lärmes im Allge¬
meinen erscheint daher durchaus annehmbar. Die Möglichkeit des begriff¬
lichen Zuflusses aus der Sphäre studentischer Beredsamkeit braucht aber
damit nicht als ausgeschlossen zu gelten.
Dattel, Banane
Die Frucht der Dattelpalme (Phoenix dactylifera) bezieht ihren deutschen
Namen über italienisch dattilo 1 vom griechischen daktylos = Finger, da
ihre Gestalt, zumal in frischem Zustand, an die des menschlichen Fingers
erinnert. Auch läßt der Wedel der Dattelpalme an eine Hand mit ge¬
spreizten Fingern denken. 2 Übrigens werden auch die allgemeinen Begriffe
„Palme“ und „Hand“ miteinander in Verbindung gebracht: griechisch pa-
lame, lateinisch, italienisch und rumänisch palma, französisch paume, englisch
palm 3 bedeuten: Hand, Handfläche.
Das obengenannte griechische Wort daktylos = Finger ist bekanntlich
auch der Name eines Versfußes. Der Daktylos 4 besteht aus einer langen
1) Als dattilo bezeichnet der Italiener nur den Daktylos, den Versfuß, die
Frucht nennt er dattero.
2) Abweichend ist die Etymologie Viktor Hehns. Der Name der Dattel¬
frucht im klassischen Altertum habe nichts mit dem Finger zu tun. Dakty¬
los = Dattel sei semitischen Ursprungs und komme von arabisch diqla =
Palme. Jedenfalls ist nicht zu bezweifeln, daß die Dattelkultur den Semiten
zu verdanken ist, und zwar — wie auch die griechische Bezeichnung phoinix
= Dattelpalme verrät — den Phöniziern.
3) Palm-oil (wörtlich Palmöl) = Bestechung, Bestechungsgeld in der eng¬
lischen Gaunersprache (mit der gleichen Symbolik wie bei deutsch schmie¬
ren = bestechen) scheint eigentlich ein Wortwitz zu sein, weil wohl gleich¬
zeitig auch an die Bedeutung palm = innere Handfläche (als Empfängerin des
ßestechungsgeldes) gedacht wird.
4) Philipp v. Zesen schlug als deutschen Namen dieses Versfußes 1649 er¬
folglos Rollender oder Hüpfender vor, sang aber auch selbst ein
„Morgenlied von lieblichen Dattel reimen“ und meinte damit ebenfalls
daktylische Verse.
2 Storfer . Sprache
17
und zwei kurzen Silben und heißt so, weil der menschliche Finger aus einem
langen und zwei kurzen Gliedern besteht. (Wenn man sich davon überzeu¬
gen will, schaue man nicht auf die Innenseite des Fingers, der die Gliede¬
rung des Knochens nicht deutlich zeigt, sondern betrachte das Größenver¬
hältnis der Fingerknöchel, wie sie beim gekrümmten Finger auf der Außen¬
seite erkennbar ist.)
Es gibt außer der Dattel noch eine Südfrucht, die ihren Namen dem Ver¬
gleich mit dem menschlichen Finger verdankt: die Banane. Das Wort ba-
nana wird in der Mitte des 16. Jahrhunderts als eine damals im Kongoge¬
biet vorkommende Benennung dieser Frucht in Spanien und Portugal be¬
kannt und gelangt von dort in alle europäischen Sprachen. Das westafrikani¬
sche banana (auch bananda) wird aber auf arabisch banan = F i n g e r zu¬
rückgeführt. 1 Ein verwandtes Gleichnis, nämlich Banane = F u ß liegt wohl
einem Ausdruck der „feldgrauen Sprache“, der deutschen Soldatensprache
im Weltkrieg, zu Grunde: „Bananenbezüge" für Strümpfe. 2 Vielleicht hat
auch der Gedanke an die Art, wie die Schale der Banane abgestreift wird,
die Entstehung dieses feldgrauen Ausdrucks gefördert.
Auch eine Bildungsabweichung bei Orangen und Zitronen wird mit den
Fingern verglichen. Bei kultivierten Citrusarten kommt es vor, daß die
einzelnen Fruchtblätter unverwachsen bleiben und fingerförmige Einzel¬
früchte bilden; sie werden dann Fingerzitronen oder Buddha¬
finger genannt. Dem Vergleich mit Menschenfingern verdanken ferner in
der Pflanzenwelt ihren deutschen Namen: die Moorstaude Sumpffinger^
kraut (Comarum palustre), deren Blätter fingerartig anmuten; die in Afrika
und Asien für die Ernährung überaus wichtige Fingerhirse (Eleusine) mit
fingerförmig am Halm angeordneten Ähren; die Braunalge Fingertang
(Laminaria digitata) mit fingerartig geschlitzten Blättern. Mehrere Pflanzen
mit fünf Blättern auf einem Blattstengel führen den Namen Fünffinger¬
kraut. Wir nennen zwei davon: die auch Kohlröschen benannte Orchideen¬
art Fünffingerkraut mit fünf handförmig gespreizt abstehenden Blütenhüll¬
blättchen (Nigritella nigra oder angustifolia) und die auch Odermennig
(Agrimonia) genannte, früher zur Bereitung der Volksarznei Kaisertee ver¬
wendete Staude Fünffingerkraut, für deren Namen allerdings weniger eine
Fingerähnlichkeit, als die Fünfzahl, die Zahl ihrer Kelchbecher und ihrer
Kelchblätter, bestimmend ist. Beim sogenannten Knäuelgras weist bloß der
1) Das eigentliche Bantu-Wort für diese Frucht ist: bi-tebbi.
2) Im Argot des französischen Soldaten im Weltkriege war „la banane“
der Scherzname einer Kriegsauszeichnung (wegen der gelben und hellgrünen
Farben ihres Bandes).
18
wissenschaftliche Name, Dactylis glomerata, auf die fingerartige Anord¬
nung der Ährchen an der Blütenstaude hin. Hingegen gründet sich der la¬
teinische Name der bekannten Heilpflanze Digitalis (zu digitus = Finger)
nicht auf eine Fingerähnlichkeit, sondern auf eine Finger h u t ähnlichkeit.
Mit Dattel = fingerförmige Frucht hängt auch der Ausdruck Dachtel
für Ohrfeige zusammen. Dachtel ist die mittelhochdeutsche Form für Dattel 1 .
Im Übrigen wird nicht nur die Dattel, sondern auch das Fünffingerkraut zur
scherzhaften Umschreibung der Ohrfeige herangezogen 2 . Es gibt mehrere
volkstümliche Redensarten wie: ich will dich mit dem Fünffingerkraut sal¬
ben oder dir Fünffingerkraut auf die Hand reiben. Ein Sprichwort lautet:
Fünffingerkraut speist den Leib (d. h. Schläge sind heilsam). Hierher ge¬
hört auch der Wortscherz: 5 in die 10 (Zähne) dividieren. Der Franzose
„steckt einem eine fünfblättrige Levkoie" (ficher une giroflee ä cinq feuil-
les). Bei diesen Metaphern wird vielleicht auch an die Spur gedacht, die die
Ohrfeige auf dem Gesicht hinterläßt.
Einen Denkzettel bekommen
Phylakterion, Gebetsriemen mit Gesetzessprüchen, den die Juden (nach
4 Mos. 15, 38) bei gewissen Gebeten an Haupt und Arm tragen müssen
(hebräisch Tephillim), übersetzt Luther (Matthias 23, 5) mit „Denkzedel".
Aber er gebraucht das Wort auch schon zur Bezeichnung einer Liste
dessen, was man nicht vergessen soll. Diese Bedeutung hatte auch noch das
frühneuhochdeutsche „Gedenkzettel“. Man gab dem Boten ein „Memoran¬
dum“ mit, einen Zettel, auf dem einzelne Schlagwörter ihn an den erhalte¬
nen Auftrag erinnerten. Auch hatten früher in manchen Lateinschulen, be¬
sonders in denen der Jesuiten, die Schüler, die etwas Tadelnswertes began¬
gen, Denkzettel bekommen, auf denen ihre Vergehen angeführt waren;
diese Zettel mußten sie bei sich tragen, um sich immer daran zu erinnern und
sich zu bessern. Denn gerade das Unangenehme vergißt man bekanntlich am
leichtesten. (Es ist Darwin nachgerühmt worden, daß er die weise Gewohn¬
heit hatte, jede Beobachtung, die seiner Lehre widersprach oder zu wider-
1) Daneben gibt es für Dachtel (niederdeutsch dechting) = Ohrfeige auch
noch drei andere, offenbar falsche Ableitungen: eine von denken (Denk¬
zettel!), eine andere von Dach (einem eins aufs Dach geben) und eine dritte
von mittelhochdeutsch dehsen = schlagen. Mit deutsch Dattel-Dachtel = Ohr¬
feige ist zu vergleichen rumänisch palma (vom Pflanzennamen Palme), das
nicht nur Handfläche bedeutet, sondern auch Ohrfeige.
2) Eine weitere Metapher für „Ohr feigen“ und „Dachteln“ (Dat¬
teln) aus dem Bereiche der Früchte ist: „Kopf n ü s s e“.
2*
19
sprechen schien, sofort aufzuzeichnen und diese „Denkzettel" ständig bei
der Hand zu haben.)
Heute wird unter Denkzettel nicht mehr eine schriftliche Aufzeichnung
verstanden^ der Ausdruck wird nur mehr in übertragenem Sinne gebraucht
Einen Denkzettel davontragen heißt: eine so eindringliche Lehre, eine sc
gründliche Abfuhr, eine so starke Rüge, eine so schmerzliche Züchtigung
empfangen oder sonst eine so schwere Schädigung erleiden, daß man die
niemals wird vergessen können. Andererseits ist im Worte Denkzettel aucl
der Begriff einer gewissen Schonung enthalten; wenn wir sagen, wir habei
jemandem nur einen Denkzettel verabreicht, so drücken wir damit aus, dai
wir ihm nicht das Schlimmste taten, das uns möglich gewesen wäre, sonden
nur so weit gingen, daß der Betreffende in dem Vorfall eine Ermahnun
und Warnung für künftige Fälle sehen muß.
Drastisch
ist verwandt mit den Wörtern Drama, dramatisch, Dramatiker, Dramaturg
Dies alles kommt von griechisch dran = tun, handeln. Das Eigenschaftswoi
drastikos bedeutet tätig, wirksam und dringt über das Lateinische in die mc
dernen Sprachen, zunächst hauptsächlich zur Bezeichnung von kräftig wii
kenden Arzneien. 1 Besonders die Abführmittel nannte man Drastika. Heul
ist beim Wort drastisch im Deutschen der übertragene Sinn im Vordei
grund: derb deutlich, grob handgreiflich, rücksichtslos gewaltsam. Im Engl
sehen hat drastic den ursprünglichen Sinn behalten und wenn man in deul
sehen Zeitungen mitunter Nachrichten englischer Herkunft über irgendwe]
che drastischen Maßnahmen liest, sollte man sich stets fragen, ob im engli
sehen Original nicht erheblich harmloser bloß von drastic measures, also vo
wirksamen, durchgreifenden Maßnahmen die Rede war, die ja durchaus noc
nicht drastisch im deutschen Sinne sein müssen.
Als Merkwürdigkeit sei hier noch festgehalten, daß in Gießen früher de
keiner Verbindung angehörende Student Drastikum hieß. Das sollte wol
mit Anspielung auf die medizinische Bedeutung Abführmittel eine heral
setzende Verspottung sein.
i) Kotzebue bezeichnet sein Stück ,Hyperboreiseber Esel“ (i799) als „ei
drastisches Drama und philosophisches Lustspiel für Jünglinge“. A
die etymologische Beziehung bei „drastisches Drama“ hat Kotzebue wol
nicht gedacht. Nach Campes Wörterbuch (1801) wollte er damit sein Dran
als ein solches kennzeichnen, „welches gleich den drastischen oder heroische
Arzneimitteln auf Leben und Todt geht.“
20
Elend
Eiend“ kommt von althochdeutsch eli-Ienti wörtlich: anderes
Land. Im 9. Jahrhundert äußert der Mönch Otfried von Weißenburg sein
Heimweh mit den Worten: elilenti, thu bist harto vilu swar, fremdes Land,
du bist gar so schwer. Elend ist also eigentlich ein zusammengesetztes Wort,
eine sogenannte verdunkelte Zusammensetzung. Der erste Teil der Zusam¬
mensetzung ist verwandt mit gotisch aljis und lateinisch alius = anderer.
Die Wurzel ist auch enthalten im Worte Elsaß: elisazzo ist der Anderswo¬
wohnende, d. h. der Bewohner des anderen Rheinufers oder der auf frem¬
dem, nämlich römischem Boden Angesiedelte. Aus althochdeutsch elilenti
wurde mittelhochdeutsch eilende und dies bedeutete zunächst auch nur: an¬
deres Land, Ausland, dann weitergehend den Aufenthalt in der Fremde, die
Landesflucht; es folgte dann die Gleichsetzung des Lebens in der Fremde
mit den dort erlittenen Entbehrungen und schließlich wurde „Elend“ gleich¬
bedeutend mit „Not“, ohne Rücksicht darauf, ob sie durch Aufenthalt in
der Fremde bedingt ist oder andere Ursachen hat, so daß man heute — unter
Umkehrung des ursprünglichen Gedankenganges — sogar sagen kann, das
Elend habe jemanden gezwungen, aus der Heimat in die Fremde auszu¬
wandern.
Für die alte Bedeutung Elend ••= Fremde liegen besonders aus dem ober¬
deutschen Gebiet viel Belege vor. Vor allem gilt dies für das B a y r i s c h e.
In einer alten Münchner Handschrift findet sich der Satz: stark ist der,
dem alles erdreich ain Vaterland ist, volkomen ist der, dem alle weit ain
ellent ist. In Ötting bei Ingolstadt werden „drei eilende Hailing“ verehrt,
d. h. Heilige, die nach der Legende Fremde, aus England Verbannte waren.
In manchen Gegenden Bayerns heißen die herrenlosen Äcker eilende Acker,
das Vieh, das sich verlaufen hat, eilendes Vieh. In Augsburg hieß eine
Gasse „im Elend“. (Auch in Wien gab es anfangs des 19. Jahrhunderts noch
eine Gasse, die „Elend“ hieß.) In Bayern bezeichnete man die gerichtliche
Aussage eines Fremden gegen einen Einheimischen als elendes Zeugnis, elen¬
den Eid. Aus Schmellers Bayrischem Wörterbuch geht auch der Gebrauch
von Elend im Sinne von Erbarmen hervor (also eine Übertragung von der
Ursache auf die Wirkung), z. B.: schlag’s Kind nit so, ich kann’s nit sehen
vor Eilend. Zu Radetzkys Zeiten wurde notiert, daß ein alter österreichischer
Bauer, nach der Garnison seines Sohnes befragt, zur Antwort gab: im-Elend,
— was, wortwitzigartig, zugleich auch heißen sollte: in Mailand.
Auch im Schweizerischen ist Elend = Ausland reichlich beleg¬
bar. In einer alten Zürcher Verordnung heißt es, daß man „eilenden wyn
verungelten soll“, worunter nicht die Besteuerung des schlechten, sondern
21
des eingeführten ausländischen Weines zu verstehen war, der mitunter wob
weniger elend war als ein mißratener inländischer von der „Schattenseite'*
Die Kapelle in Dornbach im Solothurnischen zum Andenken an die Schlach
im Jahre 1499, den Sieg der Eidgenossen über den Schwäbischen Bund
heißt „zum elenden Bein“, d. h. zum fremden Gebein, und dies bezieht sid
offenbar auf die Gefallenen des Gegners. Die 1535 aus Solothurn vertriebe
nen Reformierten datieren ihre Schreiben „acta in unser Acht und Elend* 1
Einer i’s Elend lüte bedeutet im Schweizerischen: zur Trauung läuten, d. h
zum Abgang der Braut in die Fremde, in ein fremdes Haus. Aus Appenzel
bucht das Schweizerische Idiotikon noch eine Sonderbedeutung von Elend
weiblicher Geschlechtsteil, besonders der Ziege, und das Gesicht eines Bart
losen wird mit dem „Elend“ der Ziege verglichen. Auch das Grimmsch
Wörterbuch verzeichnet Elend = vulva, praecipue caprae (als kleines, arm
seliges „Ding“).
Im Mittelalter und in der frühen Neuzeit gab es in vielen oberdeutsche)
Städten EIlenden-Heribergen, die nicht etwa für Kranke, sondern für durch
reisende Fremde bestimmt waren. In Straßburg z. B. gab es im 14. Jaht
hundert zwei Eilende Herbergen (duo hospitia exulum et pauperum peregr
norum). Natürlich waren es nicht vornehme, mit Gefolge reisende, von dei
Behörden in Ehren empfangene oder bei angesehenen Rittern und Büi
gern gerne als Gast gesehene Persönlichkeiten, die auf die Fremdenherbei
gen angewiesen waren, und es ist daher begreiflich, daß sich im Wort
Elend der Übergang von „fremd“ zu „arm“ vollziehen konnte. Adelig
Herkunft schützte allerdings niemanden davor, gegebenenfalls als Elende;
d. h. als vermögensloser Reisender erkannt zu werden; dafür zeugt z. I
in der Sprach- und Kulturgeschichte eine alte Mehlspeisebezeichnung: „arm
Ritter in Elendsfett“. (Nicht sehr überzeugend ist die Bemerkung bei Boi
chardt-Wustmann: „Das war einmal ein doppelter Witz mit dem kümmei
iichen Leben der im E 1 e n d fahrenden Ritter und dem knochig-dürrei
Elender, das man früher auch Elend schrieb“.) 1 Im späteren Verlau
i) Arme Ritter als Name eines süßen Gerichts aus übrig gebliebene
Semmeln ist übrigens bereits für das 14. Jahrhundert belegt (im „buch vo
guter spise“ heißt es: snit aht snitten armerittler und backe die in smaltze
Da nach der Überlieferung zu der Mehlspeise „Arme Ritter“ auch Aprikose
verwendet wurden, wird im Namen auch eine Verderbung des lateinische
Namens der Aprikose vermutet. „Armeritter“ käme dann von malum arm«
niacum (= armenischer Apfel, woher auch das Wort „Marille“). Übriger
wurde „arme Ritter“ auch allgemein im Sinne von geringer Kost verwende
— „arme Ritter backen“ für: dürftig leben. — Laut Brockhaus 1933 i
„Arme Ritter“: Mehlspeise aus Einback- oder Semmelscheiben in Milch g<
22
„, urden _ entsprechend der eingeschränkten Bedeutung Elend = körper¬
liche Not Epilepsie — die Elendsherbergen vielfach zu Asylen für Epilep¬
tiker In München gab es eine Brüderschaft der Eilenden oder Eilende
Brüderschaft die sich der Beherbergung kranker Reisender widmete. Als
Elende beze’ichnete man übrigens auch die Aussätzigen, die abgesondert
wohnen mußten.
Auch bei den Klassikern begegnen wir mitunter der Verwendung des
Wortes Elend im älteren Sinne, im Sinne von Fremde: Streifen nicht herr-
liehe Männer von hoher Geburt nun im Elend? (Goethe, Hermann und
Dorothea) — Jedem ist das Elend finster, jedem glänzt sein Vaterland
(Uhland, Bidassaobrücke). Im Wortspiel der Kapuzinerpredigt in „Wallen¬
steins Lager“, „alle die gesegneten deutschen Länder sind verkehrt worden
in Elender“, bricht der Bestandteil „Land“ der verdunkelten Zusammen¬
setzung „Elend“ wieder durch.
Auch viele Orts- und Flurnamen zeugen für die alte Bedeutung Elend =
anderes Land. Es gibt u. a. den Ort Elend am Brocken, auch einen bei
Kastelruth in Südtirol; in Niederösterreich kommen die Ortsnamen Alland
und Maria Eilend vor. Elen, Ellen, Alilant usw. dürften Bezeichnungen
von solchen Flurteilen gewesen sein, die an der Markungsgrenze lagen,
also die bereits den Beginn des „anderen Landes“ anzeigen.
Ähnliche Bedeutungsverschlechterung wie bei elend von fremd zu arm,
kläglich liegen vor:
bei englisch wretch (verwandt mit deutsch Recke) = Wicht, Lump, das
von angelsächsisch vraeca = Fremdling, landesflüchtiger Held, Verbannter,
Abenteurer kommt, und
bei italienisch cattivo, spanisch cativo, französisch chetif = elend, schlecht
aus lateinisch captivus = Gefangener.
Dadurch, daß das Wort Elend die anfängliche Bedeutung „Fremde“ zu¬
gunsten der Bedeutung „Not“ allmählich ganz aufgegeben hat, ist es in ein
Gegensatzverhältnis zu den Begriffen Glück und Glanz getreten (man
denke an die Gegenüberstellung von splendeur und misere in Balzacs Ro¬
mantitel „Glanz und Elend der Kurtisanen“) und dieser Begriffsgegensatz
hat zum widersprüchigen Ausdruck „glänzendes E1 e n d" geführt.
Er ist dem eigentlichen Sinne nach aus zwei sich auf hebenden Wörtern
gebildet, stellt also jene Stilfigur dar, die man (wie „beredtes Schweigen“,
„geschäftiger Müßiggang“) als Oxymoron (wörtlich „spitzige Torheit“)
bezeichnet. Unter glänzendem Elend verstand man früher oft die von
quollen und in Butter geröstet, mit Fruchtsaft u. a. als Tunke. Mit Marme¬
lade bestrichene arme Ritter werden auch „reiche Ritter“ genannt.
23
höherer, etwa religiöser Warte aus verächtliche Nichtigkeit eitler irdischer
Güter und Erfolge, aber dann meistens die durch äußere Ehren oder prunk¬
volle Kleidung verdeckte Armut, also einen bereits in der irdischen Wer¬
tung sich auswirkenden Gegensatz. Man spricht z. B. vom glänzenden
Elend dürftig besoldeter Schauspieler, Artisten, Offiziere. Ein Sprichwort
der siebenbürger Sachsen reimt: Soldatestand as (ist) e glänzän Elant.
Ein geflügeltes Wort ist die Wendung „glänzendes Elend“ erst gewor¬
den, seitdem Goethe im Jungen Werther (1774) vom glänzenden Elend
der von hohler, langweiliger Rangsucht und erbärmlichen Leidenschaften er¬
füllten Wetzlarer Gesellschaft sprach. Als Goethes Freund Karl Philipp Mo¬
ritz 1786 in seinem Roman „Anton Reiser“ den Ausdruck „glänzendes
Elend“ gebrauchte, war es schon ein geflügeltes Wort. Vier Jahre später
schreibt Kant in der „Kritik der Urteilskraft", von Kultur und Luxus spre¬
chend: „Das glänzende Elend ist doch mit der Entwicklung der Naturanla¬
gen in der Menschengattung verbunden.'“ Wenn auch das „glänzende Elend“
erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zum geflügelten Worte
wurde, die zugrundeliegende gegensätzliche Gedankenverbindung war schon
längst, bereits im Altertum, vorgebildet. Schon Seneca spricht von den
honestae miseriae und meint damit, daß Macht, Ruhm und äußerliche Ehren
(des Augustus und anderer Römer) nur scheinbare Glücksgüter seien, da viel
Kummer mit ihnen verknüpft sei. 1575 schreibt der Dichter Paul Schede
(Melissus) in einem lateinischen Epigramm, daß an prächtigen Höfen splen-
dida paupertas herrsche. 1729 ist in einem Gedichte von Gerhard Tersteegen
davon die Rede, daß „auf dem Staats- und Ehr’n Gerüste man nur glänzend
Elend find’t“. Es handelt sich in jenem Gedichte um die christliche Verach¬
tung des Irdischen und das Gleiche gilt von einem anderen Beleg aus der¬
selben Zeit, von einer Stelle im Gesangbuch der Herrenhuter Brüdergemeinde
vom Grafen Zinzendorf: „ein prächtigs Elend“. Ein Jahrzehnt vor Goethes
Werther datiert ein englischer Beleg: im Traveller (1764) spricht Goldsmith,
der Verfasser des Vicar of Wakefield, von those splendours with which
numbers are wretched, von jenem Glanz, bei dem so viele elend sind.
H. Lessmann, der in allen Redensarten um jeden Preis mythologischen
Niederschlag erkennen will, bezieht das „glänzende Elend“ auf das in einem
mittelhochdeutschen Gedichte des Konrad von Würzburg behandelte Motiv
vom schönen und vorne herrlich gekleideten Weibe, auf dessen Rücken grä߬
liches Ungeziefer wimmelt. Auf Goldsmith, Goethe, Balzac hätte — was das
Chronologische anbelangt — diese Vorstellung durch mehrere Vermittlungen
vielleicht wirken können. Aber auf Seneca?
Schließlich erwähnen wir noch die Redensart vom grauen Elend zur
Bezeichnung des „Katzenjammers“. Es hieß auch: besoffenes Elend (in der
Zimmerischen Chronik, 1 6 . Jahrhundert, auch.: trunkenes Elend). Besonders
auch für den sogenannten moralischen Kater wird „graues Elend“ gebraucht,
für jenen sentimentalen Zustand, in dem der Trunkene mit sich selbst Mit¬
leid empfindet und, in einer späteren Phase, alles nur grau sieht, statt rosig,
wie es im beginnenden Rausch zunächst war. Vielleicht hat auch eine lockere
Gedankenverknüpfung mit der Vorstellung von der Asche als Sinnbild der
Reue bei der Entstehung der Bezeichnung „graues Elend“ für Katzenjammer
mitgewirkt.
Erpressung — chantage — blackmail
Für den internationalen strafrechtlichen Begriff der Erpressung stehen der
deutschen, der französischen und der englischen Sprache ganz verschieden¬
artige Ausdrücke zur Verfügung.
Das deutsche erpressen scheint eine Lehnübersetzung von lateinisch
extorquere = foltern zu sein. Aber Fritz Mauthner weist darauf hin, daß die
Vorsilbe ex sich hier mehr auf die körperlichen Gliedmaßen des Gefolterten
(die Glieder aus strecken, aus drehen) bezieht, als auf das, was man ihm
heraus ziehen will (das Geständnis) und er denkt bei dem strafrechtlichen
Ausdruck Erpressung lieber an das Bild von der Kelter, in der den Trau¬
ben Wein erpreßt wird. 1
Im französischen Strafrecht heißt die Erpressung chantage. Es liegt
der merkwürdige Fall vor, daß der Gesetzgeber sich einen Fachausdruck zur
Bezeichnung eines strafbaren Tatbestandes aus der Sprache der Verbrecher
holt. Chanter, wörtlich singen, bedeutet im französischen Argot: reden,
gestehen, anzeigen. Daher faire chanter, jemanden singen lassen = jeman¬
den zum Sprechen bringen, etre chante = angezeigt werden. Der Ausdruck
faire chanter bezog sich wohl zunächst auf Geständnisse auf der
Folterbank. Es ist einem so lange zugesetzt worden, bis er zu „singen“
(gestehen) begonnen hat; ebenso bedeutet spanisch cantar neben singen auch:
auf der Folter gestehen. Auch Verbrecher selbst sind in die Lage gekommen,
andere durch Foltern zum Reden zu bringen, z. B. wenn es sich darum ge¬
handelt hat, das Versteck eines Geldbetrages herauszubekommen. So bekam
faire chanter später den allgemeinen Sinn: jemanden durch Einschüchterung
i) Im übrigen verweise ich darauf, daß wir auch einen Gedanken „aus-
drücken (exprimere), wobei wohl das Bild vom Gedanken bestimmend sein
dürfte, den wir in eine Form (Gießform) bringen. (Als oben vom „Ausdruck
Erpressung“ die Rede war, kam unbeabsichtigt die Begegnung ähnlicher Bilder
zustande.)
*5
zu einer Zahlung zwingen. Josef Brück ist offenbar zu sehr von der journ
listischen Form der Erpressung beeindruckt, wenn er gegen die Deutui
faire chanter = jemanden schreien machen einwendet, daß „der, an dem c
Erpressung verübt wird, im Gegensatz zu dem, an dem ein Raub begang
wird, gewöhnlich nicht schreit" (weil er nämlich selbst etwas zu verheit
liehen hat) ; er beachtet sichtlich nicht die Kette der Bedeutungsübertragu
gen: von jemandem ein Geständnis herausbekommen — von jemande
etwas herausbekommen — von jemandem Geld herausbekommen.
In der ersten Hälfte des 19- Jahrhunderts drang der Ausdruck faire cha
ter in die allgemeine französische Umgangssprache ein. Da das Argot, schri
Nestor Roqueplan 1841, heute heimisch ist in den Boudoirs, gebrauchen \>
faire chanter in dem Sinne: Geld bekommen von jemandem, dem man Anj
eingejagt hat. Polizeipräsident Vidocq, als ehemaliger Galeerensträfling n
dem Argot wohl vertraut, konnte in seinem Argotglossar „chanteur“ bere
als einen auf die Journalistensphäre bezüglichen Ausdruck buchen; er spric
besonders von Journalisten, die sich durch Drohungen ein Schweigegeld <
pressen, von solchen, die sich für die Veröffentlichung von persönlichen I
klamnotizen bezahlen lassen, und von solchen, die auf ihr Wohlwol]
angewiesene Schauspieler und Schauspielerinnen ausbeuten. Auch Bah
wendet chanteur hauptsächlich auf Journalisten an. Le chantage, schre
er einmal, c’est la bourse ou Phonneur („die Börse oder die Ehre“, na
Art von „Geld oder Leben“). Eine witzige französische Bezeichnung c
Erpressers ist maitre-chanteur (Meistersinger). Faire chanter le perdreau, c
Rebhühnchen singen lassen, bedeutet im Argot: an einem Homosexuell
Erpressung verüben; perdreau = Rebhühnchen ist eine wortwitzartige ]
Setzung von pedero, Argotbezeichnung für Päderast. Die Erpressung an F
mosexuellen heißt im Argot auch chantage au saute-dessus.
Im Englischen heißt die Erpressung blackmail, im wörtlichen Sinr
schwarze Steuer. Zum zweiten Teil dieses Ausdrucks ist zu bemerken, daß
im Englischen drei gleichlautende — aber der Bedeutung und der Absta
mung nach verschiedene — Hauptwörter „mail“ gibt:
1) Mail = Sack, Felleisen, Briefbeutel, Briefpost, Post geht auf fran:
sisch malle = Bündel, Koffer zurück, das von althochdeutsch malaha
Tasche kommt (woher auch ungarisch mälha = Gepäck).
2) Mail = Panzer, Rüstung kommt von französisch maille = Masc
Schlinge, Panzerring, das selbst auf lateinisch macula = Masche, Fl«
zurückgeht (woher auch unser „Makel“),
3) Mail = Abgabe, Steuer, Pacht — ein jetzt nur mehr wenig und hau
sächlich in Schottland gebrauchtes Wort — geht ebenfalls auf ein fran
26
sisches Wort maille zurück, aber nicht auf das eben genannte, sondern auf
ein gleichlautendes anderes, auf maille = Name einer ehemaligen kleinen
Kupfermünze, der über medaille und metal auf griechisch metallon = Berg¬
werk zurückweist. (Dieses maille = kleine Kupfermünze ist enthalten in den
französischen Redensarten: n’avoir ni sou ni maille = nicht einen Groschen
haben, avoir maille ä partir ensemble = eine kleine Münze miteinander zu
teilen haben, in dem Sinne: ein Hühnchen miteinander zu rupfen haben.)
Dieses dritte englisch-schottische mail = Abgabe ist in blackmail = Er¬
pressung enthalten. Unter blackmail, „Schwarzsteuer“, verstand man ur¬
sprünglich, nach Skeat, die in Naturalien (Vieh) entrichteten Abgaben, zur
Unterscheidung von der in Barem, d. h. in „weißem“ Silber zu bezahlenden
Steuer. Mir scheint aber eher wahrscheinlich, daß die Bezeichnung einer Ab¬
gabe als einer schwarzen Steuer auf ihre Ungesetzlichkeit hin-
weisen soll, so wie es bei den deutschen Ausdrücken Schwarzf ahrer, Schwarz¬
hörer u. dgl. der Fall ist. To levy blackmail (Schwarzsteuer einheben) wurde
daher die Bezeichnung jener Zahlungen, die sich mächtige Räuberführer auf
der Landstraße von vorüberziehenden Reisenden zahlen ließen, wofür sie
diese, als Gegenleistung, vor anderen, offenbar weniger mächtigen Räuber¬
banden schützten 1 . Auf diese Weise stellt sich der Raub von Seite des grö߬
ten Räubers nicht offen als Raub, sondern gleichsam als Einhebung einer
Steuer (mail) dar. Und besteht denn das ganze soziale Leben nicht zum
größten Teil aus Leistungen des Schwächeren an den Stärkeren, ohne daß
dieser unmittelbare Gewalt anwenden müßte, d. h. aus Leistungen der Ein¬
geschüchterten, die schon im Vorhandensein des Stärkeren eine Drohung
sehen? Nur nach außen, nicht aber hinsichtlich ihrer inneren seelischen Be¬
gründung, unterscheidet sich wesentlich der Raub, diese aufrichtigste Form
der Erpressung, von der eigentlichen Erpressung und die Erpressung von
dem, was man soziale Ordnung nennt.
Nach Bartley und Barrere-Leland ist die englische Bezeichnung blackmail
für die Einhebung von Schutzgeldern von Seiten der Räuberbanden zuerst
in den Vereinigten Staaten zur allgemeinen Bedeutung der Erpressung ge¬
langt. Heute bezeichnet man damit hauptsächlich die Erpressung von Geld¬
beträgen mittels der Drohung, jemanden wegen eines Verbrechens anzu¬
zeigen oder ihn bloßzustellen durch Preisgabe eines Geheimnisses an die
Öffentlichkeit oder an bestimmte Personen.
i) Gegen das Einheben solcher Schwarzsteuer durch die „moss-troopers“ er¬
ließ Königin Elisabeth 1601 eine eigene Verordnung, aber das Entrichten von
blackmail an jene berittene Räuber hat sich im Norden Englands und in
Schottland bis Mitte des 18. Jahrhunderts erhalten.
*7
Sich ins Fettnäpfchen setzen
Bei Oswald von Wolkenstein, dem abenteuerreichen Tiroler Lyrik«
(f 1445) kommt als Schelte für einen Mann, der durch seine Ungeschick
lichkeit Ärger verursacht, der Spottname Heinzei Tritinprey („Tritt-in-der
Brei“) vor. Gewiß muß der sich unbeliebt machen, der sich wie „der El<
fant im Porzellanladen“ benimmt, der blindlings in eine Schüssel voll Bri
oder Mus hineintappt. Bei der Redensart vom Fettnäpfchen ist aber nicl
an eine ungenießbar gemachte Speise gedacht worden, sondern an Fett, d<
anderen Zwecken diente. In früheren Zeiten stand mancherorts (z. B. ii
Erzgebirge nach Müller-Fraureuths Feststellung) in den Bauernhäusern a
der Wand zwischen Tür und Ofen ein Fettnäpfchen, aus dem die nasse
Stiefel, die die Heimkehrer auszogen, gleich geschmiert wurden; der Ui
willen der Hausfrau traf nun denjenigen, der durch einen täppischen Tri
das Fettnäpfchen umwarf und so Fettflecken auf dem Bretterboden ve
ursachte. In Unkenntnis der bestimmten Lage, der sie entnommen wa
wurde die ursprüngliche Redensart „ins Fettnäpfchen treten“ gelegentlic
ein wenig variiert und heute heißt es meistens, jemand habe sich ins Fet
näpfchen gesetzt. Dadurch kommt auch ein neues Moment in die M
tapher, indem man an den Schaden denkt, den der Betreffende an sein
Kleidung nimmt. Vielleicht hat es der Gedanke an die Redensart „sich i
ein Wespennest setzen“ verursacht, daß oft nicht mehr vom Treten ii
Fettnäpfchen die Rede ist, sondern von einem Sichhineinsetzen. Mundartli«
ist allerdings das ursprüngliche Bild noch durchaus lebendig; im Sächs
sehen heißt es z. B.: da hat ’r scheene bei ’r ins Fettnäpfchen getrete;
's spritzte gleich hüben un drüben raus.
Feurige Kohlen
auf jemandes Haupt sammeln heißt soviel; ihn durch Großmut beschäme
ihm durch Verzicht auf Rache Gewissensbisse verursachen.
Die Redensart geht auf biblische Stellen zurück. Während in der Ber
predigt der Ermahnung, dem Feinde Gutes zu tun, dieses Gleichnis nie
hinzugefügt wird, heißt es sowohl in den Sprüchen des Salomon (24, 21.22
als bei Paulus (Römer 12, 20) : Wenn Du Deinem hungernden Feinde ;
essen gibst usw., häufst Du feurige Kohlen auf sein Haupt. Aus der Bit
hat die Redensart in viele Sprachen Eingang gefunden, z. B. französisd
amasser des charbons ardents sur la tete de quelqu’un, englisch: to he;
coals of fire on a person's head. Auffallend ist, daß diese Redensart*
sich stets peinlich an das biblische Original halten. Da man das Überträge)
28
n-H nicht verstand, d. h. einen Zusammenhang mit dem Vorgang der Gro߬
mut und Beschämung nicht sah, blieb nichts übrig, als diese stehende Redens-
. , AIten un d des Neuen Testaments in wörtlicher Übersetzung beizu-
hrhilten Die Wörterbücher von Grimm, Heyne, Weigand, Sanders führen
L Redensart ohne irgendwelche Angaben über die Entstehung an. Erst
in jüngster Zeit haben verschiedene Theologen und Sprachforscher ver¬
sucht den Ursprung der biblischen Redensart zu klären.
Die einen meinen, der bildliche Sinn sei: jemanden e r r ö t e n lassen,
ihm die Glut der Reue in die Stirne treiben. Haupt sei also in der Redens¬
art mit Stirn, noch richtiger mit Gesicht gleichzusetzen und nach der Hei¬
ligen Schrift treibe man eben dem hungernden Feinde, indem man ihn gro߬
mütig speist, die Schamröte ins Gesicht. 1 Andere Deuter der Redensart brin¬
gen sie in Verbindung mit dem Bilde vom Sitzen oder Gehen auf
Kohlen = in einer peinlichen Lage sein, Ungeduld empfinden. (Luther.
„Wenn Ihr auch auf feurigen Kohlen ginget, so solls Euch dünken, als
ginget Ihr auf Rosen".) Das Bild vom Sitzen oder Gehen auf feurigen
Kohlen aber hängt — wie die Redensarten: die Hand für jemand ins Feuer
legen, Gift auf etwas nehmen usw. — mit den mittelalterlichen Gottes¬
urteilen zusammen. Sehr gekünstelt erscheint der Zusammenhang, der
z. B. bei Borchardt-Wustmann zwischen den Redensarten von den glühen¬
den Kohlen unter den Füßen oder dem Gesäß und den Kohlen auf dem
Haupt hergestellt wird: während wir das Feuer des Gewissens unter
die Füße verlegen (ihm brennt der Boden unter den Füßen) oder unter
das Gesäß (auf heißen Kohlen sitzen), habe es sich das jüdische Altertum
auf dem Kopfe gedacht, indem es auf Hitzeempfindungen an der Schä¬
deldecke des Überreizten anspielte. (Auf dem Ganeff brennt das Hitl, sagt
das moderne jüdische Sprichwort vom Hut des Diebes.) Nicht weniger
unbefriedigend ist die Deutung von H. Schräder: So wenig, wie man
gCL’cn glühende Kohlen auf dem Haupte unempfindlich bleiben kann, so
wenig wird der Feind, der Guttat für Übeltat empfangen hat, unempfind¬
lich bleiben können.
Es wäre möglich, sagen andere Kommentatoren, daß das Tragen glü¬
hender Kohlen einmal eine wirklich ausgeführte symboli¬
sche Handlung gewesen sei, um die Empfindungen der Scham und
Zerknirschung auszudrücken. Wenn man sich also bei seinem früheren
i) Für diese Deutung scheint mir vor allem der Umstand zu sprechen,
daß im Hebräischen des Alten Testaments „sich schämen“ durch „brennen“
ausgedrückt wird, i Mos. 4, 6 spricht Gott zu Kain: Warum entbrennst du
und warum senkt sich dein Angesicht?
Feinde entschuldigen wollte, ging man zu ihm mit einem Becken voll fe
riger Kohlen. Daß man dieses Becken auf dem Haupte trug, sei nicht au
fällig, da man doch im Orient überhaupt Lasten mit Vorliebe auf dem Kop
trägt. Man könnte, sagen wieder andere Kommentatoren, diese sinnbildlicl
Reueerklärung sich auch so vorstellen, daß der Reumütige mit dem leere
Becken auf dem Haupte zum edelmütigen Gegner ging und ihn bat, feurig
Kohlen in das Becken zu legen. Dobschütz und Paul Wüst bringen die R
densart mit der Erzählung von Setne, Khamuas und Nenefer Kaptah in P
rallele, die ein Papyrus überliefert. In dieser Erzählung kommt mehrma
vor, daß jemand zur Buße mit einem Becken voll feuriger Kohlen auf de;
Kopfe antreten muß. Es scheint, daß das Tragen feuriger Kohlen im alt«
Orient eine symbolische Strafe war, zurückgehend vielleicht auf wirklicl
Folterungen mit Hilfe glühender Kohlen.
Auch Alfons Schulz geht von der Annahme aus, Kohlen auf jeman
häufen bedeute zunächst, ihm etwas Böses zufügen. In den Psalmen wir
wiederholt erfleht, Jahve möchte über die Feinde Feuerkohlen herabregn«
lassen. Im weiteren Sinne bedeute dann die Redensart von den feurig«
Kohlen: Rache nehmen und in den eingangs angeführten Stellen s
„Rache nehmen cc gleichsam zwischen Anführungszeichen zu verstehen, etv
so: gib Deinem Feind, wenn er hungert, zu essen, und das ist dann die ricl
tige „Rache“ (denn Du zwingst ihn, sich zu schämen). Es fällt einem nid
leicht, dieser Deutung der Redensart Gefolgschaft zu leisten.
Bemerkenswert ist der vom rumänischen Sprachforscher Tiktin erfolg
Hinweis auf eine heute noch bestehende primitive Art des B r o t b a c k e n
bei armen osteuropäischen Bauern, die keinen Backofen haben. Der Bau«
macht auf dem Herde oder auf einer Steinplatte ein Feuer an, läßt es he
unterbrennen, schiebt die glühende Kohle weg, legt auf die heiße Stelle de
Teig, stülpt eine Schüssel darüber und schiebt nun die Kohlen auf die Schü
sei. Auf diese Weise backen auch Fellachen in Palästina ihr Brot. Die hie 2
verwendete Schüssel heißt z. B. lateinisch testa und das bedeutet auch: Hin
schale (da die Hirnschale vermutlich das Trinkgefäß des urzeitlichen Mei
sehen, zum mindesten aber das Vorbild der irdenen Schüssel war). In d<
biblischen Metapher vom Häufen feuriger Kohlen auf das Haupt wäi
demnach nach Tiktin gar nicht der Kopf, sondern die Schüssel zu verstehe
und die Redensart soll irgendwie mit der ärmlichen Art der Kohlenbere
tung Zusammenhängen. Für Wilke ergibt sich aus Tiktins Hinweis ai
jene Brotbereitungsart, daß „feurige Kohlen auf jemandes Kopf sammeln
einfach bedeutet, „ihn beim schwierigen Geschäft des Brotbackens untei
stützen“, also ihm Gutes tun.
30
Ge^en Tiktin wendet Paul Wüst ein, daß die Doppelbedeutung Kopf
J Schüssel für die Sprachen, die den Urtext der Bibel lieferten, nicht
“ d k h möchte aber zu bedenken geben, daß die Verknüpfung zwi-
% n den Vorstellungen „Kopf" und „Gefäß" in so vielen Sprachen vor¬
kommt (im Deutschen z. B. sowohl die Verwandtschaft „Schädel“ —
Schale", als die Wortsippe Kopf, Kübel, Kufe, Kuppe, Kuppel, Giebel),
diß man die Wirksamkeit dieser vermutlich durch den urzeitlichen Gebrauch
von Schädeln begründeten Verknüpfung verallgemeinern darf und daß daher
die Zurückführung einer Redensart auf sie schließlich auch dann als immer¬
hin zulässig gelten kann, wenn sie gerade in der betreffenden Sprache durch
eine entsprechende Wortverwandtschaft nicht vertreten ist. Gegen die Ver¬
knüpfung der biblischen Redensart „feurige Kohlen auf ein Haupt sam¬
meln“ mit der primitiven Art der Teigerhitzung ist hingegen mit mehr Be¬
rechtigung anzuführen, daß der gedankliche Zusammenhang zwischen die¬
sem feigerhitzen und der in der Bibel offenbar gemeinten Beschämung und
Veranlassung zur inneren Einkehr damit noch gar nicht geklärt ist.
Aus dem ff, nach Schema F
Etwas aus dem ff erlernen oder können bedeutet: etwas gründlich erler¬
nen oder können. Man schreibt gewöhnlich: aus dem ff. Bekanntlich ist ff
eine vieldeutige Abkürzung: ff ist eine Abkürzung von „folgende“ bei Zitie¬
rung von Seitenzahlen, von „fortissimo“ in der Musik, von „feinst“ im
kaufmännischen Verkehr. Etwas aus dem ff (sprich: effeff) können, hängt
aber vielleicht weder mit fortissimo noch mit feinst zusammen (wie erklärte
sich denn sonst das „aus“ ?), sondern mit den sogenannten Pandekten („All¬
umfassenden") oder Digesten im Corpus Juris des Justinian. Die Glossatoren
des Mittelalters bezeichneten Zitate aus den Pandekten mit dem griechischen
Buchstaben pi, der aus zwei aufrechten Strichen und einem Balken darüber
besteht; bei schnellem Schreiben gingen die beiden aufrechten Striche über
den wagrechten Querbalken hinaus und nun sah das Zeichen so aus, als
wären es zwei lateinische „f“; so sei aus dem Mißverständnis laienhafter
Leser die Redensart „aus dem ff" entstanden. Die Digesten wurden aber nicht
nur mit einem griechischen P, sondern auch mit einem großen lateinischen
„D“ zitiert, wobei es üblich war, dieses D quer zu durchstreichen. Nach
anderer Deutung sei das so durchstrichene lateinische D irrtümlich für „ff“
gelesen worden. Nach beiden Erklärungen würde „aus dem ff“ ursprüng¬
lich also bedeutet haben: aus den Pandekten (Digesten) zitiert, belegt, be¬
gründet, daher gründlich, verläßlich, gediegen.
Der Ausdruck „nach Schema F“ scheint als Schlagwort bürokratischer
3 1
Schabionisierung seit den Neunziger Jahren üblich geworden zu sein
dendorf); nach der Mitteilung „eines alten Offiziers“ in der Sprach
des Allgemeinen Deutschen Sprachvereins soll er gegen 1900 von
deutschen Militärverwaltung ausgegangen sein. Seit längerer Zeit, minder
seit 1860, war im preußischen Heere ein Muster für Stärkenachweisur
(österreichisch: Standesmeldungen) vorgesehen, die den Vorgesetzten
Besichtigungen überreicht wurden. Diese Nachweisungen hießen F r o
Rapporte und das Muster dazu wegen des Anfangsbuchstaben kurz „Sch
F“. Dann wurde der Ausdruck allgemeiner gebraucht für schriftliche r
tärische Erledigungen, die zwar nichts mit dem sogenannten Frontrap
zu tun hatten, sich aber wie dieser nach einer vorgeschriebenen oder
gebürgerten Formel richteten. Aus dem Militärischen ist dann der Ausdi
„nach Schema F“ in die allgemeine Umgangssprache gedrungen. Man
gleiche auch zur Entstehung des „Amtsschimmels“ aus „simile“ (Erledig
nach einem „ähnlichen“ Fall) das Stichwort „Schimmel“ in „Wörter
ihre Schicksale“.
Fisimatenten
machen, schreibt Hermann Kurz 1858, „dies ist zwar keine gotische a
doch eine ländlich-sittliche Redensart, die man anwendet, wenn jemand
ziert”. Wenn ein Franzose vom Sachs-Villatteschen Wörterbuch erfah
will, was das deutsche Wort Fisimatenten bedeutet, bekommt er die /
kunft: faux-fuyants, d. h. Ausflüchte, Ausreden. Damit ist aber nicht
ganze Bedeutungsumfang erfaßt. Fisimatenten machen bedeutet außerd<
Flausen, Faxen, Zeremonien, viel Geschichten machen. Das Grimmj
Wörterbuch führt das Wort unter F nicht an, gibt es nur nebenbei
„Kunkelfusen" als Synonym an. In den Mundarten gibt es viele Net
formen von Fisimatenten; z. B. im Schwäbischen Fisimatenke, Fisimai
terle, Fislematantes. 1 Glassbrenner schreibt 1836 „mach keene lange ]
selmatenten". Für Umständemachen sagt man in der Schweiz 2 auch Fis
1) Hier nenne ich auch das ältere wienerische Fisikapaperln,
aber auch im Sinne des sogenannten Götzzitates verwendet wurde (Du kar
mi fisikapaperln). Nach Pötzl (1892) stammt der Ausdruck vom gelehrttu
den Unsinn der Quacksalber auf den alten Jahrmärkten; paperin wäre da
eine Umgestaltung von plappern.
2) Das Schweizerische Idiotikon gibt als Synonyme für „Pflanz“
Festitis, Fänzi, Fisimatentes, Faxen, Gravamien, Spargimentes, Stänkereien.
Zu den deutschen Volkswörtern, die als Synonyme von „Fisimatenten“ an
sehen werden können, gehört auch: Sperenzchen oder Sperantien (w
auf mittellateinisch sperantia = Hoffnung zurückgeführt).
3 *
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rement li worin sich das Wort Fisimatenten mit irgend einem anderen
Worte („Experimente*’ ?) zu kreuzen scheint. Spätmittelhochdeutsche und
frühneuhochdeutsche Vorläufer von Fisimatenten sind die Ausdrücke Vi-
sepetenten, Visipatenten, Visipotenten; damals war der Sinn Albernheiten,
Possen vorherrschend.
Cher die sprachliche Herkunft von „Fisimatenten** sind verschiedene
Ansichten geäußert worden, die wir zusammenfassend anführen wollen.
An die Spitze stellen wir eine der unsinnigsten, eine Ableitung aus dem
Französischen:
1) Im Jahre 1870 in Mainz gefangen gehaltene Offiziere, die sich abends
in der Stadt nur mit Urlaubschein frei bewegen durften, hätten auf die
Fra^e deutscher Wachposten nach dem Ausweis, gewöhnlich geantwortet,
je visite ma tan t e, ich besuche meine Tante, daher habe man schlie߬
lich faule Ausreden Fisimatenten genannt. Schon der Umstand, daß es sich
um einen viel älteren Ausdruck handelt, erledigt von vornherein diese
„Deutung**. 1
Nicht minder albern ist
2) der Gedankenblitz von Werthenau: „sollte am Ende Fisimatenten
eine Zusammensetzung sein aus: mit Füßen und Händen?**
Daneben gibt es aber auch ernste Versuche, das Wort Fisimatenten aus
deutschem Wortstoff zu deuten.
3) O. Weise, der zwar einer andern Erklärung den Vorzug gibt (der
von uns an 14., letzter Stelle anzuführenden), hält es immerhin für mög¬
lich, daß Fisimatenten zusammengezogen ist aus zwei deutschen Synony¬
men mit der Bedeutung Narrenpossen. Das erste Wort wäre mittelhoch¬
deutsch fisel = Scherz (dazu neuhochdeutsch faseln), das auch enthal¬
ten ist in westmitteldeutsch Fisigunkes (Gunkes in Schwaben und Hessen:
dummer Mensch, der pfiffig sein will) und in elsässisch fisinickern = lü¬
gen, aufschneiden. Das zweite Wort wäre mittelhochdeutsch tanten =
Scherz treiben (althochdeutsch tantaron = geistesverwirrt sein), dazu
thüringisch Tenten = albernes Zeug (z. B. Narrententen). Zwischen „Fisel**
und „Tente" enthalte Fisimatenten noch die Silbe ma, ein Streckelement
wie bei Abrakadabra oder bei mundartlich Alimatenten aus Alimenten.
Aus dem Rotwelsch, der deutschen Gaunersprache, versucht 1899
ein Beitrag in der Zeitschrift „Daheim** das Wort Fisimatenten zu deuten:
4) im Rotwelsch sei F i s e 1 eine Person, mit der der Gauner Durchsteche-
i) Die lächerliche Ableitung von Fisimatenten aus je visite ma tante taucht
in etymologischen Plaudereien gewisser Zeitungen immer wieder auf, ebenso
die nicht minder albernen und hartnäckigen Ableitungen: Schorlemorle
aus toujours l’amour, mutterseelenallein aus moi-tout-seul.
3 8torfer • Sprache
33
reien treibt; Maten na habe die Bedeutung: Geschenk. Sträflinge sud
oft die Personen, mit denen sie während der Haft in Berührung komm
2u kleinen pflichtwidrigen Gefälligkeiten 2u veranlassen. Nun hal
sie kein Geld, daher machen sie oft leere Versprechungen, mit dem H
weis auf versteckte Beute usw. (nach O. Weise).
Es folgen nun Deutungen von Fisimatenten aus dem Griechische
5) Da im Zeitalter der Scholastik, führt H. Schräder aus, wo die me
physische Wissenschaft in großem Ansehen stand und die Schriften
Aristoteles meta ta physika große Verehrung genossen, die Naturwiss
schäften verachtet und sogar als gefährliche Teufelsdinge angesehen wurd
konnte die Bezeichnung der letzteren, physika mathemata, eii
bösen Nebenbegriff erhalten, etwa in dem Sinne: lügenhafte Vorstellung
Fisimatenten sei die volkstümliche Umgestaltung von physika mathemata.
6) Wesentlich besser begründet ist eine andere Etymologie von Fisii
tenten, die eine griechische Wurzel und deren Vermittlung durch das I
lienische vorsieht. Im Italienischen bedeutet fisima: Laune, Einf
Seltsamkeit, Schrulle (wohin auch fisicare, grübeln, fisicoso, grübleris
veraltet fisicaggine, Einbildung gehören). Dieses italienische fisima brac
Adolf Tobler (1896 in der Berliner Akademie) mit griechisch physema,
Geblasene, die Blase zusammen. Aus dem Begriff der Blase habe sich
des Stolzes, des dummen Hochmuts, der „Aufgeblasenheit" entwick
daher der Name des Frosches im „Froschmäusekrieg" Physigmatos, Back
bläser; physan tas gnathous, die Backen aufblasen (vor Stolz) kommt
Demosthenes vor. Das griechische physema = Geblasenes gelangt
Fremdwort auch ins Lateinische (so findet sich z. B. bei Plinius die Me
zahlform physemata als Bezeichnung für hohle Perlen), und so sei es
dem erwähnten italienischen fisima und daraus zum deutschen Fisimaten
gekommen. Die eigentliche Bedeutung des letzteren sei demnach: et
Hohles, Aufgeblasenes, hohles und darum zweckloses Gerede oder Gebai
7) Die Ableitung von deutsch Fisimatenten unmittelbar aus italieni
fisima erachtet auch Schuchardt als möglich, doch sieht er in italieni
f isima einen Abkömmling von griechisch s o p h i s m a (Ausgeklügel
Trugschluß). Auch Kleinpaul denkt an eine Entwicklungsreihe griechi«
lateinisch sophisma — italienisch sfisma, fisma, fisima — deutsch Fisii
tenten.
Gelegentlich sind noch zwei weitere italienische Hypothesen i
gestellt worden. Sie sind sehr mangelhaft gestützt.
8) Fisimatenten habe sich aus italienisch vistamente = schnell, I
tig entwickelt, welchen Ausdruck das deutsche Volk auf Jahrmärkten c
34
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»eschnappt habe, wo er von Gauklern und Taschenspielern bei ihren Vor¬
führungen verwendet worden sei.
9) Fisimatenten habe sich entwickelt aus italienisch visemeattente
(sieh mich genau an) 'oder avvoisa, ma attento (schau her, aber aufmerk-
sim) ; auch dies seien Zurufe von Taschenspielern an ihre Helfer.
Mit dieser letztgenannten Deutung haben die Ableitungen aus dem
Lateinischen etwas gemeinsam; sie gehen von einem Zeitwort mit der
Bedeutung „sehen" aus, nämlich von lateinisch videre (mit der Partizipform
visus, -a, -um).
10) Auf visum authenticum, amtlich festgestellte Tatsache, grei¬
fen Andresen und in seinem Rotwelschbuch Kluge zurück. Solche Berichte
sollen wegen der Langatmigkeit und Formelhaftigkeit der Gerichtssprache
als dummes Geschwätz verspottet worden sein.
11) Visum repertum, Befund einer amtlich vorgenommenen Lei¬
chenöffnung oder sonstiger ärztlicher Bericht über eine gerichtlich-medizi¬
nische Untersuchung, will Leithäuser in „Fisimatenten" erkennen.
12) Sandvoß, Blomfield u. a. denken an visae patentes (literae
oder visa patentia = ordnungsgemäß ausgefertigtes Patent, öffentliche Emp¬
fehlungsschreiben der Marktschreier, dann verschlechtert: schwindelhafte
Empfehlungen ohne Beweiskraft, leere Redensarten). Tatsächlich ist für das
16. Jahrhundert die Form Visipatentes = Albernheit, Possen mehrfach
belegt.
13) Eine andere Deutung von Fisimatenten aus lateinischem Sprachstoff,
die aber nicht auf den Stamm videre = sehen abzielt, sieht im deutschen
Worte eine Umgestaltung von „Superintendent"; diese Deutung
bleibt uns alles schuldig, auch die Andeutung der Bedeutungsentwicklung.
Als letzte führen wir die heute vorherrschende Meinung über die Her¬
kunft des Wortes Fisimatenten an :
14) Im Mittelhochdeutschen bedeutet visa ment (ebenfalls zu latei¬
nisch videre = sehen): Aussehen, Gesicht, Visierung (kunstgerechtes Ein¬
teilen und Beschreiben eines Wappens, zu visieren — darstellen). In der
Wappenkunde bekommt visament noch die besondere Bedeutung:
geheimnisvoller (d. h. undeutbarer, einer klaren Bedeutung entbehrender)
Zug, unverständlicher Zierrat („womit man den Leuten auch Sand in die
Augen streut", R. Hildebrand). Neben visament kommt schon in mittel¬
hochdeutscher Zeit auch die Form fisiment vor. Die heutige Form Fisima¬
tenten sei eine scherzhaft-spöttische Verdrehung der lateinischen Form, zu¬
gleich eine sogenannte Streckform (wie Schlampampe aus Schlampe, volks¬
tümlich Alimatenten aus Alimenten, scherzhaft Monument aus Moment).
3 *
35
Übrigens erscheint, wie O. Weise anführt, in einer alten westfälisch*
Urkunde Fisimatenten einmal synonym mit Visierung verbunden, was jede
falls die Deutung von Fisimatenten aus visament stützt.
Wenn auch diese letzte Deutung — Fisimatenten = visamenta — £
vertrauenswürdigste ist, ausgeschlossen ist es doch nicht, daß mehret
Quellen in Frage kommen. So wäre es z. B. durchaus möglich, daß c
ursprüngliche Form Fisipatenten war (zu visae patentes, 12) und daß <j
Wandel des p zu m erst zufolge nachträglicher Anlehnung an visamentu
erfolgt ist. Auch gibt es zweifellos unter den anderen Deutungen no
die eine oder andere, die nicht als endgültig abgetan gelten darf, z. B. c
aus griechisch physema = Geblasenes.
Flanell
als Bezeichnung eines Wollgewebes ist im Deutschen seit dem 18. Jahrhi
dert bekannt. Die Schreibweise mit einem n und zwei 1 spricht für unrr
telbare Entlehnung aus dem Französischen (la flanelle), denn die englisc
Schreibweise ist: flannel. (Bei Lichtenberg kommt allerdings die letzt«
Schreibweise vor.)
Das Pariser Argot bringt das Wort flanelle offenbar mit dem Z(
wort fläner = bummeln in gedankliche Verbindung, denn es gebraui
flanelle mit den Bedeutungen: junger, eleganter Mann, verweichlich
Geck, eleganter Schmarotzer, Gast, der in einem Lokal keine Zeche mac
Etre flanelle de la tete aux pieds = von Kopf bis Fuß geckenhaft se
Faire flanelle wird für das Pariser Argot seit 1861 belegt mit der Bed
tung: Bordelle besuchen, ohne ein Mädchen in Anspruch zu nehmen. Dal
ist im Dirnenargot „c’est de la flanelle’* ein verächtlicher Ausdruck
„faule Jungens", d. h. für Besucher, die sich das Treiben in den Bord*
bloß ansehen. Eine familiäre Pariser Wendung ist: avoir l’estomac dou
de flanelle, eine gute Suppe gegessen haben.
Französisch flanelle und englisch flannel lassen keltischen Urspri
annehmen. Möglicherweise ist flanelle die Verkleinerungsform von altfr
zösisch flaine = Wollzeug, aber auch dieses Wort soll keltischer Herku
sein und zu gallisch gwlanen (urverwandt mit deutsch „Wolle*’) gehöi
Von der gallischen Sprache, deren Geltungsbereich im Altertum von S
nien bis nach Kleinasien (Galater!) reichte und die im ersten Jahrhunc
n. Chr. verschwand, ohne wesentliche Sprachdenkmäler zu hinterlass
leben Spuren nur in einzelnen Wörtern und Eigennamen (besonders 0
und Flußnamen) anderer Sprachen fort. Manche
36
keltische Wörter im Deutschen
, a ii er di-gs erst auf eine Entlehnung keltischer Begriffe und deren Be-
K-hnungen durch Vermittlung des Englischen in verhältnismäßig jüngerer
7 't zurück ln Großbritannien sind heute noch einzelne keltische Sprach-
zwcige lebendig: aus der irischen (auch als gälisch oder goidelisch bezeich¬
nen 0 ) Gruppe das eigentliche Irisch in Irland, das eigentliche Gahsch (oder
Schottisch) im schottischen Hochland und auf den benachbarten Inseln und
das Minx auf der Insel Man; zum bntamschen Sprachzweig zahlt das in
Wales gesprochene Kymrisch oder Welsch (Walisisch), ferner auf dem
Festlande das Bretonische in der Niederbretagne, die Sprache der seit dem
C 1 anrhundert auf der französischen Halbinsel angesiedelten Briten. Von den
n •uieltischen Sprachen ist es besonders das Galische oder Schottische, as
dem englischen und manchmal dadurch auch dem deutschen Wortschatz e-
eriffiich typische Ausdrücke geliefert hat. Wir nennen die schottische Stam-
raesoezeichtuing Clan (ursprüngliche Bedeutung: Kinder, Nachkommen,
schaft), die wir besonders auch mit dem Nebensinn Bande, Clique gebrauchen,
den Getränkenamen Whisky (aus schottisch uisge-beatha, Zusammensetzung
aus uisge = Wasser und beatha = Leben, also wörtlich gleichbedeutend mit
italienisch acquavite, französisch eau-de-vie, Lebenswasser d. h Brannt¬
wein) Plaid = Überwurf, Slogan = Schlagwort, Werbespruch im poli¬
tischen oder geschäftlichen Leben (ursprünglich schottische Bedeutung: Kriegs¬
ruf, eine Verschmelzung von sluag = Feind und gairm = Schrei, letzteres
enthalten vermutlich auch im Namen der „Germanen“, s. weiter unten). Der
in Schottland seit Mitte des 15. Jahrhunderts belegte Name des bekannten
Rasenspiels Golf kommt von schottisch gowf = Schlag und ist von Golt-
Mecrbuscn (zu griechisch kolpos, Busen) fernzuhalten. T o ry die Bezeich¬
nung des Angehörigen der Konservativen Partei, hat im Irischen ursprüng¬
lich dh- Bedeutung: Räuber. Aus dem kymrischen (walisischen) llymru —
sch irfes Gemisch kommt über englisch flummery die norddeutsche Süßspeise-
bczeichmmg Flammeri (vgl. dieses Stichwort in „Wörter und ihre
Schicksale“).
Budget, durch den altbewährten englischen Parlamentarismus zur all¬
gemeinen Verbreitung gebracht ist erst nachträglich zur Bedeutung Staats¬
haushalt gelangt. Die ursprüngliche Bedeutung von englisch budget ist
Lederbeutel, Ranzen, Tasche. (Ein ähnlicher Vorgang von Bedeutungsüber¬
tragung im Sinnbezirk des Politischen: Portefeuille = Brieftasche = Amts¬
zweig eines Ministers) Englisch budget = Ledertasche geht auf französisch
bougette zurück, auf die Verkleinerungsform von bouge = Lederbeutel, Reise¬
sack, und diesem französischen Worte liegt ein lateinisches zugrunde, bulga =
Lederbeutel, das nach Festus aus Gallien ins Lateinische kam; belegt ist alt¬
irisch bolg == Beutel, Tasche. P i £ c e = Stück (im Deutschen als Fremd-
peva) geht ebenso wie spätlateinisch petium auf eine gallische Wurzel petti
wort, z. B. eine Musikpi&ce, italienisch pezza, spanisch pieza, portugiesisch
37
zurück, die aus walisisch peth und bretonisch pezz = Stück erschlossen wir<
Keltischen Ursprungs ist vielleicht auch Bijou = Schmuck, Kleinod, Juwe
Man vermutet Verwandtschaft mit bretonisch bizou, kornwallisch bisou 5
Ring mit Edelstein, in welchen Wörtern wohl bretonisch biz, walisisc
bys = Finger enthalten ist. Auch der Vogelname Pinguin ist höchs
wahrscheinlich keltischer Herkunft. Man deutet ihn als walisisch pe
gwyn = weißer Kopf (gwyn = weiß, pen = Kopf). Zu bemerken ist alle:
dings, daß jene drolligen Tiere der südlichen Polargegend nicht weiße, soi
dern schwarzbefiederte Köpfe haben. Dennoch ist die Etymologie Pinguin :
Weißkopf nicht unhaltbar. Walisische Seefahrer dürften zuerst den über no
dische Meere verbreiteten Riesenalk (Plautus impennis Linn.), den kenne
zu lernen sie in Island und Südgrönland Gelegenheit hatten, als Pingui:
d. h. als Weißkopf benannt haben. Tatsächlich kennzeichnet diesen Vog
ein länglich runder weißer Fleck vor und über dem Auge. Mit den in d
Familie der Flossentaucher eingeordneten Pinguinen sind die Alken, die zi
Familie der Flügeltaucher in der Ordnung der Regenpfeifervögel gehöre
gar nicht verwandt, da aber auf den ersten Anblick eine große äußere Ähi
lichkeit zwischen Pinguinen und Alken, besonders in der Körperhaltung, h
merkbar ist, ist nicht zu verwundern, daß der keltische Name der aus de
nördlichen Meeren bekannten Alken später auf die ähnlichen Vögel übe
tragen wurde, denen man nach der Entdeckung Amerikas in den antarktische
Polargegenden begegnete. Daß man die neuentdeckten Vögel als Pinguin
wörtlich Weißköpfe, bezeichnete, obschon sie schwarze Köpfe haben, m u
nicht verwundern, selbst wenn man annimmt, daß die Übertragung d
Namens von den Alken auf die neuen Vögel durch solche Seeleute erfol;
ist, denen der wörtliche keltische Sinn des Namens noch bewußt war, den
schließlich bezeichnen auch wir als Plombe (plumbum, Blei) etwas, das o
aus Gold ist, als Gulden etwas, das meistens silbern und nicht gülden ist u. dg
Übrigens hat man die Alken und Pinguine anfangs auch für nahverwam
gehalten und sie irrtümlich in eine Ordnung (Impennes) zusammengefaii
lm Französischen dient dementsprechend das Wort pingouin heute noch s<
wohl zur Bezeichnung der Pinguine als der Alken. Unbestritten ist die Al
leitung des Vogelnamens Pinguin (englisch penguin, daneben aber auch di
Pflanzenname pinguin = Bromelia Pinguin, Pinguinananas aus den genam
ten keltischen Wörtern aber nicht: manche versuchen, das Wort in romaniscl
Zusammenhänge zu bringen, dem lateinischen Worte pinguis — fett zuzi
ordnen.
Zu den international bekannten keltischen Wörtern gehörte vor noch nicl
langem, d. h. bevor der Name des Ballspiels Lawn-Tennis sich nicht 2
Tennis vereinfachte, auch Lawn = Rasen. Das Wort geht wohl auf al
keltisch landa zurück, das aus bretonisch lann, irisch lann, walisisch llan =
umhegtes Gebiet erschlossen wird. Unser „Land“ ist mit all diesen Wörter
anscheinend urverwandt. Internationaler Bekanntschaft erfreut sich ferner se
38
• • Zeit das amerikanische Wort racket = Gaunerbande, Gangster-
rm 'f D - scs Wo rt, das in England ursprünglich die Bedeutung Lärm, Tumult,
‘-T; !ihertragen dann lärmende Gesellschaft, Schelmenstreich hatte, ist
, rl ‘T'!- keltischer, u. zw. gälischer (schottischer) Herkunft. (Mit dem gleich-
cbcn V englischen Wort, das den Tennisschläger bezeichnet, hat es nichts
laU, sdJffen, denn dieses Homonym kommt über französisch raquette von
arabisch rahat = Handfläche.)
Kulturhistorisch bemerkenswerter als die verhältnismäßig spaten deutschen
, l hnU ngen keltischen Sprachstoffes aus dem Englischen oder Französischen
J -ne deutschen Wörter keltischer Herkunft, die auf die Zeit verweisen,
S ' n keltische Völker, besonders gallische Stämme, nicht nur große Teile des
L uti en Frankreichs und Italiens, sondern auch der heute deutschen, schwei-
■risdien und österreichischen Gebiete besiedelten. Die Kelten hatten - be¬
sonders in ihrer Eigenschaft als Träger der Eisenkultur - nicht nur in kul¬
tureller Hinsicht einen erheblichen Vorsprung vor den Germanen,
d-ren Vorgänger sie auf einem großen Teil des heute deutschen Bodens waren,
sondern waren den Germanen eine Zeitlang auch an rechtlicher Organisation
und kriegerischen Tugenden überlegen; fuit antea tempus, schreibt Julius
Caesar in seinem berühmten Werke über den gallischen Krieg, cum Ger-
rranos Galli virtute superarent. Entsprechend der allgemeinen sprach-
gcschichtlichen Erscheinung, daß das schwächere Volk die Neigung hat, die
Eigennamen des herrschenden Volkes zu übernehmen (H. Hirt), werden
Spuren der keltischen Glanzzeit hauptsächlich durch Eigen namen in der
deutschen Sprache bewahrt. Wir erwähnen z. B. die deutschen Eigennamen
Dagmar, Hadumar, Sigmar aus keltisch Dagomaros, Catumaros, Segomaros
(letzteres zu keltisch seg = Kraft), die Gebirgsnamen Alpen, Sudeten, Taunus,
die Flußnamen Rhein, Ruhr, Reuß, Sieg, Main, Weser. Unter den Völker¬
namen ist nicht nur der der H e 1 v e t i e r keltischer Herkunft, sondern wahr¬
scheinlich sogar der der Germanen, gedeutet als „Tosende, Brüllende,
Rufer im Streit“, wozu aus den heutigen keltischen Sprachen die Haupt¬
wörter irisch gairm und kymrisch garm = Schrei gestellt werden. (Vgl. auch
oben die Etymologie von „Slogan“.) Groß ist die Zahl der deutschen Orts¬
namen, bei denen keltischer Ursprung sichergestellt oder wahrscheinlich
gemacht wurde, besonders auf west- und süddeutschem und auf schweizeri¬
schem Boden. In einzelnen deutschen Ortsnamen sind keltische Personen¬
namen enthalten, z. B. Gallus, Sigmar in St. Gallen, Sigmaringen. Der in
der Welt verbreitetste Vorname keltischer Herkunft ist wohl Arthur
(nach dem sagenhaften Britenkönig Artus).
Wenn wir nun nach den Eigennamen die deutschen Gattungs namen
keltischer Herkunft ins Auge fassen, fällt uns auf, daß diese hauptsächlich
in bestimmten Bedeutungsbezirken vorzufinden sind, die bestimmten kul¬
turellen Einflüssen der Kelten auf die Germanen entsprechen. Wie schon er¬
wähnt, waren die Kelten vor den Germanen die Träger der E i s e n kultur
39
und dem entspricht die keltische Herkunft der deutschen Wörter Eisen, B
Lot, Mine, Mineral, Ger, Gabel, Harnisch, Degen, Glocke.
Die keltische Wurzel, die zu E i s e n (althochdeutsch isarnon) vorausgese
wird, dürfte isarnon gelautet haben. Andere Deutungen fassen allerdings e
Abhängigkeit von lateinisch aes, aeris = Erz oder von einer illyrischen Wui
ins Auge. Blei (das übrigens andererseits vielleicht auch mit „blau“ \
wandt ist) wird zu altirisch bla = gelb gehalten. Lot = Meßblei, mit
ursprünglichen Bedeutung „leicht schmelzbares Metall“, gehört anschein«
zu altirisch luaide = fließen, schmelzen. Mine geht auf mittellateini
mina = Erzgrube zurück, auf dessen keltischen Ursprung altirisch mein
Metall, Erzader und kymrisch mwyn = Roherz schließen lassen. Demn;
sind auch die Fremdwörter minieren, konterminieren, Miner
Mineralogie in der Hauptsache keltischen Ursprungs.
Auch den mit einer Eisenspitze versehenen Pfeil dürften die Germai
von den Kelten übernommen haben, und das Wort Ger — die „alte geri
nische Waffe“, deren Name im letzten Jahrzehnt durch die Kreuzworträ
„Volksgut“ geworden ist — wird zu einer keltischen Wurzel gaisa gehall
Auch in den Personennamen Gerhart, Gertrud usw. ist die keltis
Wurzel enthalten. Von gallisch gabala = gegabelter eiserner Wurfsp
(altirisch gabul, kymrisch gafl, bretonisch gavl = gegabelter Ast, Gabeli
der Schenkel) kommt unser Gabel.
Harnisch (mittelhochdeutsch harnasch) hängt vermutlich mit haiarn
zusammen, das im Kymrischen, in der keltischen Sprache von Wales, die
deutung Eisengerät hat. Die Waffenbezeichnung Degen taucht erst
15. Jahrhundert in Deutschland auf. Dieses Wort ist nicht zu verwechj
mit dem von Lessing und anderen Klassikern neubelebten und daher poeti
wirkenden Worte Degen = Held, Kriegsmann, dem das althochdeuts
thegan = Mann vorangeht und das zur indogermanischen Wurzel t<
tok- = erzeugen gehört, woher auch griechisch teknon = Kind. Die da
fernzuhaltende Waffenbezeichnung Degen ist hingegen keltischer Herku
sie geht über französisch dague = langer Dolch und schottisch-mittellateini
dagua auf gälisch dag = Dolch zurück, woher auch englisch dagger, däni
daggert = kurzes Schwert. (Eine andere Deutung sieht allerdings in De
einen Abkömmling von lateinisch daca = dakisch, nämlich: dakisches Mess
Glocke ist irischen Ursprungs. Irische Missionäre brachten das Wort c
zu den Deutschen, bei denen es im 8. Jahrhundert (althochdeutsch gloc
auftaucht. Auch das gleichbedeutende vulgärlateinische clocca (woraus fl
zösisch cloche und englisch clock = Uhr) ist des gleichen keltischen Urspru
Aus der „staatsrechtlichen Überlegenheit, die die Kelten einst über
Germanen bewährt haben“ (Kluge-Götze) erklärt sich die keltische Herki
der deutschen Wörter Reich (sowohl des Hauptwortes als des Eigenscha
Wortes), Amt, Eid, Held, Geisel, Vasall, Erbe.
Reich (mittelhochdeutsch riche, althochdeutsch rihhi, gotisch reiki,
40
. ^ r ^j) ___ Herrschaft, Obrigkeit und die sonstigen Angehörigen dieser
n0f i sc hen Wortsippe gehen auf frühzeitige Entlehnung aus dem Keltischen
german ^ keltische rig = König ist übrigens urverwandt mit lateinisch
1 ^ | s a i t i n disch rajan (neuindisch Radscha, dazu Maharadscha, wört-
rC *^ Q ro ß r adscha) und auch mit der deutschen Wortsippe Recht, rechts,
^'chten Richtung, Richter, Bericht usw. Auch das deutsche Eigenschafts-
* : r u __ vermögend geht — ebenso wie gleichbedeutend italienisch
französisch riche usw. — auf die genannte keltische Wurzel zurück.
Uie ursprüngliche Bedeutung von reich ist auch nicht vermögend, sondern:
königlich, mächtig. Die keltische Wurzel ist auch enthalten im Namen
Richard und in der Endsilbe der Namen Verdngetorix, Theodorich,
Alberich, Alarich, Ulrich, Dietrich, Helferich, Heinrich, Friedrich usw.
Amt hat zum Vorgänger das althochdeutsche Wort ambahts = Dienst,
Amt Beruf, Gottesdienst (gleichbedeutend ist das gotische ambahti). Dazu
gehört auch althochdeutsch ambakt (gotisch andbahts) = Diener. Die Er¬
kenntnis, daß dieses germanische Wort keltischer Herkunft ist, verdanken
wir Cäsar, dessen Schritt über den gallischen Krieg uns das gallische Wort
ambactus = Dienstmann übermittelt. Es enthält allem Anschein nach die
keltische Vorsilbe amb = um. Aus derselben keltischen Wurzel leitet sich
übrigens auch das mittellateinische ambactia = Dienstauftrag ab, das u. a.
zu den aus dem internationalen diplomatischen Verkehr allgemein bekannten
französischen Wörtern ambassade, ambassadeur (Gesandtschaft, Ge¬
sandter) führt. Auch im holländischen ambacht = Amt, Handwerk ist viel
von der alten keltischen Lautfolge erhalten geblieben.
E i d (gotisch aiths) wird mit dem gleichbedeutenden altirischen oeth in
Verbindung gebracht. Es scheint, daß die Germanen die Einrichtung der be¬
dingten Selbstverfluchung von ihren keltischen Nachbarn übernommen haben.
Held (mittelhochdeutsch heit) ist im Althochdeutschen nicht vertreten.
Das Wort wird mit altsächsisch haeleth und altnordisch halr = Mann in
Verbindung gebracht und für die ganze Sippe wird keltischer Ursprung an¬
genommen, wofür das irische Wort calath und das bretonische calet = hart
zu sprechen scheinen.
Geisel (althochdeutsch gisal) = Kriegsgefangener, Leibbürge wird mit
altirisch giall, kymrisch gwystl in Verbindung gebracht, wozu eine keltische
Wurzel geslo vorausgesetzt wird. Demzufolge wären auch die deutschen Per¬
sonennamen Geiseiher, Giselher, Gisela, Gilbert, Geliert, Giesebrecht mittelbar
keltischer Herkunft (vielleicht auch Gessler, wenn nicht zu „Gasse“ gehörig).
Vasall geht ebenso wie vulgärlateinisch vasallus, mittellateinisch vassus
auf eine keltische Wurzel zurück, und zwar wird aus altbretonisch uuas, alt¬
irisch foss, bretonisch gwaz, walisisch gwas — alle mit der Bedeutung: Jüng¬
ling, Diener — auf ein frühkeltisches Wort wassos == Diener geschlossen.
Zu dieser keltischen Sippe gehört auch französisch valet = Diener (auch:
41
Bube im Kartenspiel); die altfranzösische Form des Wortes — va<
(vasalet) — läßt leicht erkennen, daß es sich um eine Verkleinerungsfo
von „vasal“ handelt.
Erbe (gotisch arbi) wird zu altirisch orbi = der Erbe gehalten. E
Urverwandtschaft mit griechisch orphanos, lateinisch orbus = beraubt, v
waist wird vermutet.
Weitere deutsche Wörter, die von unmittelbarem oder durch romanis<
Vermittlung erfolgtem kulturellem Einfluß der Kelten auf die Germai
zeugen, sind:
Zaun (althochdeutsch zun, altnordisch tun) geht, ebenso wie engli
town = Stadt, d. i. umzäunte Stätte, auf die in vielen Ortsnamen erhal
gebliebene keltische Wurzel dunos = Burg, befestigte Stadt zurück.
Tonne ist ein Wort gallischen Ursprungs, das im Irischen (tunna) n<
belegbar ist. Aus altirisch tonn = Fell, Lederbeutel, in übertragenem Sh
Weinschlauch, Weinbehälter, entstand mittellateinisch tunna = Faß, wor
französisch tonne, tonneau und andere romanische, sowie auch die germanisc]
Abkömmlinge zu erklären sind. Das französische tonne führt zur Verklei
rungsform tonnelle = Gewölbe, das im 18. Jahrhundert nach England entle.
(tunnel) die Bedeutung unterirdischer Durchgang bekommt, von dort spä
nach Deutschland gelangt, so daß auch unser Tunnel zu den deutsc]
Wörtern keltischen Ursprungs zu zählen ist.
Mergel (althochdeutsch mergil) geht über mittellateinisch margila ;
lateinisch marga zurück, das nach Plinius gallischer Herkunft ist.
Mantel (altdeutsch mantal, mandal) kommt — ebenso wie italieni
mantello, französisch manteau — von lateinisch mantum, bezw. dessen sei
bei Plautus belegter Verkleinerung mantellum. Das lateinische mantum ist a
offenbar keltischen Ursprungs; die Römer dürften das Wort in Hispanien e
lehnt haben.
K a i = gemauerter Uferdamm geht, ebenso wie niederländisch kaai, e
lisch quay, dänisch kai, schwedisch kaj auf französisch quai zurück, für
keltischer Ursprung angenommen wird; altirisch cai = Straße, Weg.
dieser Wortsippe gehört möglicherweise auch der Name der Chauken (Ia
nisch Chauci oder Cajici), der Bewohner des friesischen Inselgürtels, s
gleichsam eines Dammes, eines Kais längs der Nordsee.
Der Fischnamen Salm (althochdeutsch salmo) geht zunächst auf lateini
salmo zurück (wozu auch englisch salmon, französisch saumon), das lateinis
Wort dürfte aber keltischen Ursprungs sein, entsprechend dem Umstande, <
die Römer diesem Fisch zuerst in dem keltischen Rheingebiet begegneten.
Gaul dürfte ebenso wie vulgärlateinisch caballus = Pferd (woher fr
zösisch cheval und die anderen romanischen Namen des Pferdes und fer
unsere Fremdwörter Kavallerie, chevaleresk usw.) auf eine ga
sehe Wurzel zurückgehen. Keltischen Ursprungs ist wohl auch eine and
4*
n
e
n
h:
n
b
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IS
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«
n
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t-
LS
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o
h
le
i-
i-
:e
eichnung des Pferdes, das in Marschall (eigentlich „Mährenschalk“)
enthaltene Wort
Mähre (althochdeutsch marah), das ursprünglich keine herabsetzende
tung gehabt hat. Das gallische Wort marka wird von Pausanias über-
(belegt ist ferner altirisch marc, kymrisch march = Pferd).
pferd kommt zunächst von paraveredus = Postbeipferd, in welchem
•.•-^lateinischen Worte para die griechische Präposition, veredus aber keltisch
keltischen Worte veredos = Pferd ist die Vorsilbe ve = unten, am zu
^kennen die wörtliche Bedeutung von veredos ist: das zum Wagen gehörende,
mTwagen gehende (altgallisch reda = Reisewagen). Zeugnis dafür, daß die
Germanen den Gebrauch des Fahrzeugs auf Rädern von den Kelten lernten,
scheint auch das Wort
Karren (althochdeutsch karro oder karra) abzulegen. Das germanische
Wort taucht zu Beginn der christlichen Zeitrechnung im Raum von Köln und
Trier auf, also in Gebieten, die an damals keltische grenzten. Auch im Latei¬
nischen ist carrus = vierrädriger Wagen eine Bereicherung aus Gallien. Aus
äer vorauszusetzenden keltischen Wurzel karr sind nicht nur die weiteren Fahr¬
zeugbezeichnungen Karrete, Karosse abzuleiten (s. das Stichwort
Kutsche“ in „Wörter und ihre Schicksale“), sondern noch eine Reihe anderer
Fremdwörter. Auf der keltischen Wurzel karr fußt nämlich auch das spät¬
lateinische Zeitwort carricare = laden, beladen, belasten, woraus nicht nur
Karikatur kommt (italienisch caricatura, eigentlich das Überladene, Über¬
belastete, d. h. Übertriebene), sondern auch die Zeitwörter französisch charger,
englisch charge, woraus unser Fremdwort Charge, mit seinen vielen Bedeu¬
tungen, Weiterbildungen und Zusammensetzungen (Chargenbezeichnung, Char¬
gendarsteller usw.) entsteht. Zu dieser Sippe gehört auch spanisch Cargo =
Fracht, besonders bekannt durch ein internationales Fachwort der Schiffahrt:
Superkargo = Aufseher über die Ladung.
Der Name der Walh (Volcae), eines großen keltischen Volksstammes lebt
nicht nur in Landesnamen wie Wales und Cornwall fort, sondern auch im
deutschen Eigenschaftswort welsch (althochdeutsch walhisc), dessen Bedeu¬
tung zuerst auf alle keltischen Völker ausgedehnt wurde, um dann auf die
romanischen Völker übertragen zu werden und auch den Nebensinn „unver¬
ständlich Sprechende“ zu bekommen (daher die Zusammensetzungen Kau¬
derwelsch, Rotwelsch). Zu „welsch“, bezw. zum Namen der kelti¬
schen Volcae gehört auch Walnuß .(spätlateinisch nux gallica, da sie
ursprünglich besonders in Gallien gepflanzt wurde). Mit dem keltischen
Völkernamen Walh hängt wahrscheinlich auch die altslawische Wurzel
vlach zusammen, das zu dem bekannten Völkernamen W a 1 a c h e n führt.
^ a 1 1 a c h hat im Deutschen auch die Bedeutung verschnittenes Pferd, weil
verschnittene Hengste nach Mitteleuropa aus Rumänien kamen (oder aus Un¬
garn, daher französisch hongre = verschnittener Hengst). Der Name der Wel-
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sehen steckt auch in Galopp, wenn die Deutung dieses Wortes als w
hlaup — welscher Lauf richtig ist.
Von den — unmittelbaren oder mittelbaren — Entlehnungen aus dem
tischen sind wohl zu unterscheiden die germanisch-keltiscl
Gleichungen, d. h. die Fälle, wo — ohne daß eine Entlehnung in
einen oder der anderen Richtung vorläge — einfach auf Grund der indc
manischen Urverwandtschaft die gleiche Wurzel sowohl in einer oder me
ren germanischen, als auch in einer oder mehreren keltischen Sprachen
treten ist, nicht aber auch in einer Sprache, die irgend einer anderen Gri
der indogermanischen Sprachfamilie (z. B. der indoiranischen, der grit
sehen, der slawischen, der italo-romanischen usw.) angehört. So entsp;
dem deutschen Apfel im Irischen aball oder uball, dem deutschen Beut<
Irischen buaid — Sieg, dem deutschen Latte im Irischen slat = Rute,
deutschen Wert im Kymrischen gwerth = Preis, dem deutschen Dorf l
risch tref = Stadt, altbretonisch treb = Wohnung (enthalten u. a. in
Ortsnamen Arras und Artois, daher auch in „artesischer Brunnen“), dem c
sehen Streifen das gleichbedeutende irische sriab. Es gibt nahezu hundert
eher germanisch-keltischer Gleichungen. Da das Keltische innerhalb der i
germanischen Sprachfamilie dem Italischen am nächsten steht, ist die An
der romanisch-keltischen Gleichungen größer.
Fratze, Fratz
Die häufigste Verwendung für Fratze ist heute: verzerrtes Gesicht, t
lieh aus Mißmut, Ekel, Entsetzen oder einer beabsichtigten komischen 1
kung zuliebe verzerrtes Gesicht. Du sollst keine Fratzen schneiden, erm
die Mutter das Kind. Man gebraucht aber Fratze auch in dem Sinne: h
ches (d. h. nicht vorübergehend, sondern ständig häßliches) Gesicht. D
„Fratze“ wird somit ein Synonym der verächtlichen Bezeichnung F
(österreichisch Gfriß, schweizerisch Gfräß), an das es auch äußerlich
klingt, — höchstwahrscheinlich ohne etymologisch verwandt zu sein, <
„Fresse“ kommt von fressen = ver-essen, d. h. essend aufzehren
bedeutet zunächst Maul und wird erst in übertragenem, erweitertem S
verächtlich für das ganze Gesicht gebraucht.
In übertragenem Sinne ist eine Fratze auch eine abgeschmackte Gebi
eine tolle Handlung, ein närrisches Verhalten usw. „Bis zur Fratze g(
gertes Verhalten“, heißt es bei Schiller. Noch mehr ins Geistige, Absti
übertragen, gebraucht Kant das Wort Fratze: „Der Verstand ist grüble
und gerät auf Fratzen“ — „Unnatürliche Dinge, insofern das Erha
drinnen gemeint ist, ob es gleich wenig oder gar nicht angetroffen ^
sind Fratzen.“
44
—— ■ 1 ■
Vom Zerrgesicht kann die Bezeichnung Fratze auch auf seinen Träger,
?en ganzen Menschen übertra g en werden.
w p ür ^jgse letztere Bedeutung hat sich aber in stärkerem Maße die Form
Jrf p ra tz" eingebürgert und ein eigenes Wortdasein erlangt, was auch zu
^ nef Abwandlung und Abschwächung der Bedeutung geführt hat. Neben
Jem Scheltwortcharakter „der Fratz“ = Geck, Narr, Laffe (auch bedauernd:
armer Fratz) herrscht jetzt die Bedeutung „unartiges (oder besonders kin¬
disches) Kind“ vor und auch diese milde Schelte neigt dazu ins Zärtliche
umzuschlagen; den „süßen Fratz“ reimt z. B. die leichte Muse gerne auf
„Schatz“.
Aus Fratze und Fratz ergeben sich mehrere Ableitungen, wie fratzig,
fratzenhaft und Zusammensetzungen, wie Fratzenbild, Fratzenstück, Fratzen¬
wesen usw. E. Boucke, R. M. Meyer und P. Fischer, die sich mit dem Wort¬
schatz G o e t h e s beschäftigen, heben des Dichters Vorliebe für das Wort
Fratze und seine Abkömmlinge hervor und auch das Grimmsche Wörter¬
buch belegt diese Erscheinung. Fratze ist bei Goethe ein gefühlsbetontes
Wort mit negativem Vorzeichen. Boucke spricht von der Abneigung Goethes
£>egen alles Parodierende und Karikierende, weil er nichts „Förderndes“,
sondern nur etwas „Verneinendes“ darin sah. Wegwerfend spricht Goethe
vom Fratzenhaften der Menge, von der Gabe, alles zu verfratzen, den
Mönch Savonarola nennt er ein fratzenhaftes, phantastisches Ungeheuer
und an Schiller schreibt er: „daß doch einem sonst so vorzüglichen Men¬
schen immer etwas Fratzenhaftes ankleben muß.“ In dieser letzten Stelle,
die sich übrigens auf Fichte bezieht, bedeutet „Fratzenhaftes“ wohl: Unwah¬
res, Verlogenes, Affektiertes. In Goethes Satze „wir sehen hier einen klei¬
nen deutschen Hof gerade nicht fratzenhaft, doch von einer unerfreulichen
Seite geschildert“ entspricht „fratzenhaft“ dem Fremdworte „karikiert“.
Ebenso gebraucht Goethe, wie übrigens auch Jean Paul, Fratzenbild für Ka¬
rikatur: „Alle solche Fratzenbilder drücken sich unauslöschlich ein."
Fratzensprung gebraucht Goethe im Sinne von Kapriole: „Wohl so ein fran¬
zösischer Fratzensprung, vor dem sich diese lebhafte Nation in den ernste¬
sten Geschäften nicht immer hüten kann.“ Possen des modernen Theaters
als Gegensatz zu „den heiteren Stücken der Alten“ bezeichnet Goethe als
Fratzenstücke. Für „fratzenhaft“ bei Goethe noch drei Beispiele: „Es gibt
nichts Gemeines, was fratzenhaft ausgedrückt, nicht humoristisch aussähe“
— „Jede fratzenhafte Verzerrung, wodurch sich dünkelhafte Menschen mit
eigener Sinnesweise an dem Gegenstand versündigen“ — „Hier soll meist
das Fratzenhafte, das ein düst’rer Wahnsinn schaffte, für das Allerhöchste
gelten.“ Für Goethes heidnisch-hellenisches Fühlen und Denken war
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„Fratzenwesen“ vielfach gleichbedeutend mit dem Mittelalterlich-Chri
chen, mit der Gotik; er schreibt einmal von dem „unversöhnlichen ]
gegen das Pf aff tum, entsprungen aus der Betrachtung des rohen,
schmacklosen, geistverderblichen Fratzenwesens, welches die Mönche
Deutschland an manchen Orten zu treiben pflegten“.
Die Gedankenverbindung Gotik-Fratzenwesen leitet uns zu einer der
mologien des Wortes Fratze hinüber. Einzelne Sprachforscher nehmen
die ursprüngliche Bedeutung von Fratze liege auf dem Gebiete der 1
kunst. Der Ausdruck steht nach Lee M. Holländer und K. Bergmann
der Holzschnitzerei in Verbindung, die besonders beim Hausbau
übt wurde und eine Lieblingskunst der Germanen war. Die Fratzen s
ursprünglich Verzierungen gewesen, die in das Holz geschnitzt wurden,
solche Verzierungen waren besonders Grimassen schneidende Gesichter
phantastischen oder komischen menschlichen oder tierischen Zügen bei
so daß dann das Wort zur heutigen Bedeutung gelangen konnte. (D;
Gesichter, Grimassen, Fratzen „schneiden“?) Bergmann vermutet,
Fratze zu altsächsisch fratah und angelsächsisch fretan = fressen geh
es läge also eine Anspielung auf die mit einem „fressenden, nagenden,
ßenden“ Werkzeug herausgeschnittenen Figuren vor und demnach besti:
doch eine etymologische Beziehung zwischen der Fratze und der Fresse.
Wesentlich verläßlicher erscheint aber die von Kluge-Götze vertretene
Ieitung. Vom lateinischen Zeitwort virere = grünen kommt (über ein
mutetes spätlateinisches virasca = grünender Zweig), italienisch und
nisch frasca = Laubast, im Italienischen besonders auch jener grüne Zv
der als Schankzeichen für Wirtshäuser verwendet wird.
Mehrzahl frasche gelangt zur Bedeutung: ausgelassenes Wirtshaustreil
Schabernack, Possen. Daß unser deutsches Wort im Alt- und Mittelh(
deutschen fehlt, spricht für seine Entlehnung aus dem Italienischen. Lut
der das Wort frasche wohl in Italien kennen lernte, gebraucht seit 1
Fratzen im Sinne von Possen, albernes Gerede. Daraus entsteht in der er
Hälfte des 18. Jahrhunderts „Fratzengesicht", und das Wort Fratze in
neueren Bedeutung „verzerrtes Gesicht“ ist gleichsam nur eine Kurzf
für Fratzengesicht. Auf das italienische frasca gründet sich übrigens verr
lieh auch französisch frasque; es bedeutet sowohl Schabernack, als —
es scheint, mit einer weiteren Übertragung und auch unter Quereinfluß
frater — auch Laienbruder.
Das Grimmsche Wörterbuch bemerkt zu Fratze, man könnte an fat
Fatzbube, Fatzmann mit eingeschobenem r denken, doch ist diese Verl
4 6
1
a
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i
t
i
i
!D
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1 n * die auf eine Verwandtschaft zwischen Fratze einerseits und Fatzke,
fixen andererseits hinausläuft, kaum zu stützen.
\Venig spricht auch für die Ansicht des bekannten Orientalisten Enno
Littmann, das Wort stamme am ehesten aus dem jüdisch-aramäischen Worte
ftef das als Schimpfwort für ein häßliches Gesicht gebraucht wird;
^Itzef aramäisch parsof dürfte übrigens selbst indogermanischer Herkunft
r .; n nämlich von griechisch prosopon = Person, Maske, Rollenfach für
Schauspieler herkommen.
Gamin
Das französische Wort gamin = Straßenjunge (im weiteren Sinne dann
Bursche, z. B. Hilfsarbeiter der Maurer, auch mit der Bedeutung Schelm,
Wildfang, daher auch für Mädchen gebräuchlich) ist auch im Deutschen
als Fremdwort bekannt, wenngleich sein Gebrauch in der Nachkriegszeit
stark abgenommen hat; früher sprach man auch im Deutschen häufig von
einem gaminhaften Wesen, vom Gamintyp einer Operettenschauspielerin,
u. s. w.
Im Französischen selbst ist das Wort gamin noch keine zwei Jahrhunderte
alt. Allgemeiner wurde es in der Mitte des 19. Jahrhunderts, als die gro¬
ßen französischen Erzähler den niederen Bevölkerungsschichten von Paris
erhöhte Aufmerksamkeit zuzuwenden begannen 1 . Eine klassische Verkörpe¬
rung des Gamintyps stellt der Straßenjunge Gavroche in Victor Hugos
„Elenden“ (1862) dar. Hugo — von dem auch der Ausspruch stammt:
la gaminerie est une nuance de I’esprit gaulois — gibt in diesem Roman
auch eine allgemeine Charakterisierung des Pariser Gamins: „Er hat kein
Hemd auf dem Leibe, keine Schuhe an den Füßen, sein Haupt hat keine
Bedeckung, er gleicht den Fliegen in der Luft, die auch nichts von all dem
haben. Er ist sieben bis dreizehn Jahre alt, tritt das Pflaster, treibt sich in
Schwärmen herum, nächtigt unter freiem Himmel, .. . steckt sich eine Pfeife
an, flucht wie ein Verdammter, taucht in Schenken auf; er kennt die Diebe,
duzt die Mädchen der Straße, spricht Argot, singt zotige Lieder und hat
nichts Böses im Herzen.“ Und Alfred Delvau (dem übrigens auch ein
Wörterbuch des Argots, der „grünen Sprache“, zu verdanken ist) schreibt
in „Journee d’un gamin“: „Das ist der Gamin von Paris, ein Kind der
i) Im Juni des Revolutionsjahres 1848 erschien in Paris, herausgegeben
von Fouyon, eine in urwüchsiger Volkssprache geschriebene Zeitung, die sich
„Gamin de Paris“ nannte. Sie lebte nur drei Wochen, aber noch im gleichen
Jahre wurde eine zweite revolutionäre Zeitung dieses Namens gegründet.
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Öffentlichkeit, ein Produkt aus Dreck und Granit; ein Mistbeet, aus dess
Dünger Heroismus sprießt, ein wandelndes Krankenhaus aller sittlichen G
bresten der Menschheit. Er ist häßlich wie Quasimodo, grausam wie D
mitian, geistreich wie Voltaire, zynisch wie Diogenes, tapfer wie Jean-Ba
atheistisch wie Lalande, — ein Ungeheuer.“
Der Etymologie ist das Wort gamin eine harte Nuß. Es stehen verschi
dene Hypothesen zur Wahl.
a) Gegen einen Zusammenhang von gamin mit gambe, jambe = Bei
Unterschenkel (zu lateinisch gamba) — der allerdings nicht belegbar ist -
wäre in rein bedeutungswissenschaftlicher Hinsicht nichts einzuwenden; <j
ursprüngliche Bedeutung von gamin wäre demnach: einer, der immer a
den Beinen ist, auf den Straßen herumläuft. (In ähnlicher Weise hat m
ja auch versucht, „gigolo“ auf gigue = Schenkel zurückzuführen.)
b) Scheler deutet die Möglichkeit einer Verwandtschaft mit englis
game = Spiel, Scherz, Belustigung an oder
c) die einer Verwandtschaft mit pikardisch galmin, in welchem Woi
man das germanische gal = gellen, singen (enthalten in „Nachtigall“) ;
erkennen glaubt; zu dieser Deutung vergl. man das deutsche „Gassenhauer
das ursprünglich einen Gassentreter, einen Pflastertreter (also gleichsa
einen „gamin“) und dann erst dessen Tänze und Lieder bezeichnete (verj
das Stichwort „Straße“ in „Wörter und ihre Schicksale“).
d) Timmermans sieht in gamin die französische Entsprechung von sf
nisch gamonito = kleiner BaumsprÖßling (Verkleinerung von gamo).
e) Den stärksten Anklang findet heute die (u. a. von Littre und Mey(
Lübke vertretene) Auffassung, das französische gamin komme vom deutsch!
„Gemeine r“. Die deutsche Bezeichnung für den Soldaten ohne Charge
grad soll während der Kriege des 18. Jahrhunderts, besonders während d
Siebenjährigen, in das französische Volk gedrungen sein. Ein Beleg aus de
18. Jahrhundert spricht tatsächlich von un caporal et quatre g
m i n s, wobei jener Korporal gewiß nicht vier Straßenjungen befehli
hat. In diesem Zusammenhang sei auch daran erinnert, daß französiJ
gamin auch die Bedeutung hat: Hilfsbursche eines Maurers (also gleichst
der „Gemeine" des Maurerstandes). Sainean meint, der Ableitung v|
gamin aus dem deutschen Gemeiner widerspreche alles: die Form, die E
deutung, die Geographie. Er vertritt
f) die Auffassung, daß es sich um einen rein französischen, munda
liehen Ausdruck handle: in der Landschaft Berry sei gamin ein alter Voll
ausdruck mit der Bedeutung Knabe, Bursche und er hänge zusammen n
48
dem dortigen Zeitwort gamer = mausen, stibitzen (il a game des fruits, il
m »a game vingt sous).
Wenn es richtig ist, daß „gamin“ von „Gemeiner" kommt, und das meiste
spricht jedenfalls für diese Deutung, so liegt der sonderbare Fall vor, daß
ein typisches Pariser Wort für eine typische Pariser Erscheinung deutschen
Ursprungs ist. Das wäre aber keine vereinzelte Erscheinung,
deutsche Wörter im Pariser Argot
s i n d keine Seltenheiten. Gemeint sind natürlich hier nicht Wörter des all¬
gemeinen französischen Wortschatzes, die deutschen Ursprungs sind,
z B. die Entlehnungen aus dem Altdeutschen im bis io. Jahrhundert, in
der Franken-, Merowinger- und Karolingerzeit, wie email zu smelzi, Schmelz,
m ar£chal zu marahscalk, Mähren-Schalk, d. h. Pferdeaufseher usw., oder die
späteren allgemeinen Entlehnungen wie trinquer = beim Trinken anstoßen,
bransqueter = brandschatzen, maquereau (= Zuhälter) aus deutsch »Makler«,
le vasistas = Guckfenster (aus dem man prüfend hinauslugen kann: »was
ist das?«, in übertragenem Sinne auch für Monokel und für Afteröffnung
gebräuchlich), noch die in der Sprache der gebildeten Franzosen üblichen Be¬
zeichnungen für deutsche Begriffe (wie Ie kaiser, le krach, Persatz, le fuhrer),
sondern auf deutsche Wörter zurückgehende Sonderausdrücke der niederen
Pariser Umgangssprache.
Vache (meistens in der Mehrzahl gebraucht: les vaches) ist in Paris bei
Apachen und Dieben, Dirnen und Zuhältern die verbreitetste Schelte für
Polizisten und Gefängnisaufseher. »Mort aux Vaches!« (Tod den Vaches!)
ist gleichsam der Wappenspruch der Pariser Unterwelt- hat auch eine fest¬
stehende Abkürzung: M. A. V., welche drei Buchstaben die Gefängnisver¬
waltungen immer wieder von den Wänden der Zellen wegwaschen und weg¬
kratzen lassen müssen. Hue, les vaches! beginnen die Sträflinge im Chor
zu schreien, wenn die Wut auf die Wächter sie übermannt, und in der Frei¬
heit lautet so der Alarmruf, wenn eine Polizeistreife im Anzug ist. Auch die
französische Hochsprache hat ein Wort vache (von lateinisch vacca) und
bezeichnet damit die Kuh. Daß Zuhälter die Mädchen als ihre Kühe oder
noch deutlicher als ihre Milchkühe (vaches ä lait) bezeichnen, kann man ver¬
stehen, überhaupt den Gebrauch von vache als Schelte für weibliche
Wesen. Aber wie kommen Polizisten und Gefängnisaufseher dazu, als »Kühe«
beschimpft zu werden? Die Erklärung ist, daß dieses Argotwort vache mit
dem allgemeinen französischen vache = Kuh nur die heutige Lautform ge¬
meinsam hat, nicht aber die etymologische Herkunft. Vache = Polizist, Ge¬
fängniswächter kommt von deutsch Wache. Die Vermittlung ins Franzö¬
sische kann besorgt worden sein: durch die Gaunerwelt- die stets reichlich
über die Grenzen gehende Beziehungen hatte, oder durch die Bevölkerung
' 0n ^ sa ß und Lothringen, die wiederholt die Reichszugehörigkeit gewech-
4 Storfer . Sprache
49
seit hatte, oder durch die vielen Kriege, die wiederholt französische Trupp
auf deutsches Gebiet und deutsche Truppen auf französisches Gebiet führte
Entsprechend der Bedeutung von deutsch »Wache« bezog sich auch das P
riser Schimpfwort zunächst nur auf die Gefängniswächter, dann erst auf c
Polizisten.
Von deutsch »Wache« kommt noch ein anderer Ausdruck des Pari?
Argots, einer, der besonders der Gaunersprache angehört. Faire le gaf
für »Schmiere stehen« kommt schon 1827, in den Aufzeichnungen des P
lizeichefs Vidocq, dieses argotkundigen ehemaligen Galeerensträflings, v<
Gafe, gafeur, gafre ist nicht nur die Wache für fremdes Eigentum, sonde
auch der Schmiere stehende Helfer der Einbrecher. In mittelfranzösisch
Mundarten kommt gaffe im Sinne von Gerichtsvollzieher vor. Die Ui
Wandlung des deutschen Wortes Wache zu gaffe (germanisches »w« wird
Französischen »g«, wie in den Fällen Warte-garde, Wirre-guerre usw.) schei
sich zuerst in der französischen Soldatensprache vollzogen zu haben, 1
prendre le gaffe eine stehende Redensart ist mit der Bedeutung: auf Wac
ziehen.
Schloffer oder aller au schloff gebraucht das Pariser Argot fi
schlafen gehen. Bei Zola kommt vor: je suis alle schloffer un brin, ich gi
ein »Stückchen« schlafen. Auch in der Pikardie heißt es: aller k chelofe. ij
schwer ist in diesen Ausdrücken das deutsche schlafen zu erkenn;
Sainean meint, die Deutschen hätten das Wort 1815 anläßlich der Niedi
werfung Napoleons nach Frankreich eingeschleppt; nach Chautard ist diei
Argotausdruck jüngerer Herkunft, Flüchtlinge aus Elsaß und Lothringen hi
ten ihn nach dem Kriege von 1870-71 in den Pariser Stadtteil La Ville
eingeführt.
Etre chtourbe bedeutet im Pariser Argot: keinen Sou haben, chtoi
bard ist ein Pechvogel. In der Mundart der burgundischen Landschaft 1
das Morvan-Gebirge kommt chtourber = sterben vor und man darf vern
ten, daß auch das pariserische chtourbe von deutsch sterben, von des!
Partizip »gestorben« kommt. (Allerdings wird von anderer Seite auch
Ableitung von altfranzösisch destourber = stören oder von provenzalil
estourbir = totschlagen vertreten. Hier fällt mir übrigens eine gewisse !
deutungsgeschichtliche Parallele auf: wienerisch stier = geldlos von al
stieren, aufstöbern, aufstochern einerseits, s. S. 179, und andererseits pa
serisch chtourbe = geldlos, eventuell von destourber = stören.)
Q u e n 6 p e oder quenofe = Pfeife kommt wohl von »K n o p f« o|
»Knau f« (welche deutsche Wörter selbst untereinander auch verwandt sij
und gelangt entweder durch holländisch-flämische oder durch westschwei
rische Vermittlung ins Pariser Argot. Es liegt dabei Bedeutungsübertragt
vom Teil aufs Ganze vor: vom Pfeifenkopf (den übrigens früher manchij
einen Kopf darstellende Schnitzereien zierten) auf die ganze Pfeife. Möj
50
rhcrweise geht sogar das Pariser Argotwort nicht von »Knopf« oder »Knauf«,
ändern von »Kopf« (Pfeifenkopf) aus. Gaston Esnault ließ sich auch be«
richten, daß in französischen Radfahrerkreisen zu Beginn unseres Jahrhun-
j^rts eine in der Schweiz aus Wurzelholz hergestellte Pfeife beliebt war,
V die Fabriksmarke »Knopp« trug.
Faire chibis = desertieren, aus dem Gefängnis entweichen, ausknei¬
fen. sich von einer Arbeit, einem Dienst drücken, hängt anscheinend mit den
deutschen Wörtern schieben, Schiebung, Schieber zusammen; vermittelt
haben anscheinend die holländischen Ausdrücke schiebus gaan, schepes gaan =
,: c h davonmachen.
Ohne nähere Angaben führt Chautards Argotbuch faire les s c h 1 a d r o s
als seit 1882 belegt an. »Schladros machen« hat die Bedeutung, einen nächtli¬
chen Überfall machen und soll aus deutsch Schlagdrauf verderbt sein.
Vom deutschen Worte Schnauze kommt der Argotausdruck s c h n e s s e
Gesicht und vielleicht auch schnoutse = Betrunkener, faire les
schnoutses = Betrunkene bestehlen. Für den Diebstahl an Betrunkenen hat
das Argot auch die Fachausdrücke: faire les kneip es (Aristide Bruant
schrieb: faire au knep), aller chercher kneipe, faire la chasse aux kneipes.
Daß dieses kneipe = Betrunkener von deutsch Kneipe kommt, ist ziem¬
lich einleuchtend. Von deutsch Schoppen kommen vermutlich die fami¬
liären Pariser Ausdrücke c h o p i n e = Wein, chopiner = Wein trinken.
Daß in romanischen Sprachen verhältnismäßig viele Volksausdrücke, die sich
auf Trinken, Fluchen, Plündern beziehen, deutscher Herkunft
sind, hängt hauptsächlich mit den einstigen söldnerisch rauhen Sitten der in
Frankreich und Italien dienenden deutschen und schweizerischen Lands¬
knechte zusammen.
Von deutsch stinken kommen wahrscheinlich die gleichbedeutenden
Argotzeitwörter chelinguer, schlinguer, schlingoter, cingler. In den Wör¬
tern chouflick = Stümperarbeit, choufliqueur = Stümper, choufliquer
= schlecht arbeiten ist das deutsche Schuhflicker zu erkennen.
Erwähnt sei hier auch aus der französischen Soldatensprache f r i c h t i =
reichhaltige Mahlzeit, gutes Gericht (mit vielen mundartlichen Nebenformen,
wie fricheti, fristi, fristille, frichequi, frichetouille) aus dem deutschen Früh¬
stück. Das Wort muß, nach Ansicht Wartburgs, schon kurz nach Mitte des
19. Jahrhunderts aufgenommen worden sein; Vermittler waren wohl die El¬
sässer, die als Soldaten und Unteroffiziere im französischen Heere dienten.
Aus dem Argot der polytechnischen Kriegsschule erwähnen wir das von
\illatte 1912 belegte schicksaler = auslosen, dessen deutsche Herkunft
klar ist.
Weniger durchsichtig ist der deutsche Ursprung des familiären franzö¬
sischen Ausdrucks asticoter = necken, beschimpfen, quälen. Zu Grunde
iegen ihm wohl die deutschen Wörter »Daß dich Gott...«, mit denen
51
4*
verschiedene deutsche Fluchformeln beginnen, die die Franzosen von d$
Landsknechten gehört haben mochten. (Bei Rabelais kommt z. B. vor: da
dich gots matr sehend.) Daraus wurde dasticoter = deutsch spreche:
eine unverständliche Sprache sprechen, sinnlos schwätzen und dann mit Al
fall des Anlautes das genannte asticoter, dem der Anklang an asticot = Mad
£jyj Argot eine gewisse Farbigkeit und damit auch Beliebtheit sichert. (Üb(
die tatsächliche oder angebliche Verwendung von Flüchen und Fluchteile
zum Aufbau anderer Wörter siehe das Stichwort »Janhagel« in »Wörti
und ihre Schicksale«.)
Die angeführten Beispiele dürfen natürlich nicht zu dem Irrtum verführe)
alles was im Pariser Argot an irgend ein deutsches Wort anklingt, sei deut
sehen Ursprungs. Man gelangt da leicht zu komischen Fehlschlüssen. Auf ei
solches wunderliches Mißverständnis wies ich z. B. in meinem Buche »Wort
und ihre Schicksale« bei der Behandlung der volkstümlichen Bezeichnung]
für die Syphilis hin. Ein Pariser Argotausdruck für diese Krankheit i
lazziloff. Prof. Dietrich Behrens deutet ihn kühn aus deutsch »laß s
laufen«. In Wirklichkeit ist dieses Argotwort eine Scherzbildung aus de
Namen der Krankenanstalt Saint-Lazare.
Ins Gras beißen
Sagten wir von jemandem, der in der Sandwüste umgekommen ist od
im ewigen Schnee oder bei einem Dachfeuer in einem VWolkenkratzer,
habe ins Gras beißen müssen, so würde sich das Sprachgefühl gegen d
unziemende Bild auflehnen. Aber wo eine so krasse Unverträglichkeit nie
vorliegt, wird uns das Bild des Wortlautes kaum bewußt 1 und ins G
beißen bedeutet einfach: sterben. Man versteht eben unter diesem Ausdn»
nicht etwa ein Sterben unter bestimmten Umständen und er unterscheid
sich von anderen Bezeichnungen des Sterbens nur durch die gefühlsmäl
gen Nebentöne. In diesem Punkte sind überhaupt die meisten Unter
zwischen den unzähligen Synonymen für das Sterben zu suchen. Ni
i) H. Schräder kann sogar berichten, daß ihm einmal mit besonderen rt
torischen Mitteln gelungen ist, die Redensart „ins Grab beißen“ in eigentli
ganz unpassendem Zusammenhang anzuwenden. „Ich habe in größerem L
sammenhange erzählt, wie in der Nähe von Stralsund bei Sturm ein Sc i
nicht fern vom Lande zerschellte, wie nur Vieren gelang, ein kleines Boot
gewinnnen. Der Sturm treibt sie dem Ufer zu, noch wenige Klafter und
sind gerettet Da erfaßt die Brandung das kleine Fahrzeug, zerschmettert,
und alle Vier müssen doch noch ins Gras bei ßen. Es lag vielleicht i
an dem bewegten Ton, mit dem gesprochen wurde, daß kein Hörer über (
Widersinn die Miere verzog.“ Bei solchen Todesarten sollte man sagen kt
nen: ins Seegras beißen.
52
ers taunt, in einer Todesanzeige oder in einem Nachruf zu lesen, Herr
Soundso sei verblichen (und mag er auch an Rotlauf oder Halsbräune, an
gelbem Fieber oder der Schwarzen Pest gestorben sein), aber man kann
nicht gut sagen, im Nachbarhause sei heute jemand verblichen. Sehr viele
Ausdrücke, die das Sterben bezeichnen, können überhaupt nur in der Ver-
cangenheitsform verwendet werden und es müßte schon ein Stück von
Njestroy sein, in dem man eine erschrockene Magd schreien hört: Hilfe,
Hilfe, der gnädige Herr segnet das Zeitliche.
Der Redensart „ins Gras beißen" liegt gleichsam ein sportlicher Gefühls¬
ton zugrunde. Der Abenteurer, dem man von einem gefährlichen Unter¬
fangen abrät, zuckt die Achseln: Ach was, ob man früher oder später ins
Gras beißt, ist doch einerlei. Wer ins Gras beißt, statt „auf dem Stroh" zu
sterben, hat dem feindlichen Geschick ins Angesicht geschaut, sich ihm
gestellt und seinen Platz im Leben nicht kampflos geräumt. Besonders
eignet sich diese bagatellisierende Art vom Sterben zu reden, wenn es sich
um eine gleichsam von sich abgeschobene Todesvorstellung handelt (z. B.:
ich gedenke noch lange nicht ins Gras zu beißen).
Nicht weniger als sechs Deutungen hat die Redensartforschung bisher
zum Ausdruck ins Gras beißen beigebracht. Ich möchte — der einfachen
Unterscheidung halber — diese Deutungen als die rechtssymbolische, die
religiöse, die gastrische, die kavalleristische, die totengräberische und die
medizinische bezeichnen.
1) Auf rechtssymbolische Erscheinungen gründet sich die Deu¬
tung, die Pischel (in einer Sitzung der Preußischen Akademie) der Redens¬
art zu geben versucht hat. Es habe einen bei Indern, Italern, Germanen und
Slawen verbreiteten, also indogermanischen Brauch gegeben, in bestimmten
Fällen Gras in den Mund oder in die Hand zu nehmen. Belege aus der
indischen Literatur ließen dieses Tun als symbolische Bekundung der Unter¬
würfigkeit erscheinen. Fürsten hätten ihren Untertanen die Pflicht auferlegt,
als äußeres Zeichen vollständiger Unterwerfung buchstäblich ins Gras Zu
beißen. Daß Besiegte dem Sieger ein Büschel Gras entgegenstreckten (Plinius
bezeugt diesen Brauch 1 und seine Fortdauer bestätigt noch um die Wende
des 10. und 11. Jahrhunderts die Chronik des Dietmar von Merseburg 2 ),
1) Apud antiquos signum victoriae erat herbam porigere victos, hoc est,
terra et altrice ipsa humo cedere, quem morem nunc durare apud Germanos
scio.
2) Es heißt dort, daß die von den Deutschen besiegten Lausitzer „pacem . ..
cum gramine datisque affirmant dextris“ (den Frieden durch eine Erdscholle
und das Reichen der rechten Hand bekräftigen). R. Lasch hat in seiner Mono-
53
könnte eine symbolische Fortsetzung der ursprünglichen Sitte, ins Gras *
beißen sein. Aus dem wörtlichen Sinne: ich beiße ins Gras, d. h. ich unter
werfe mich, was dem Gegner gegenüber im Kampfe bedeutete: ich ergebe
mich, da ich am Ende meiner Kräfte bin, habe sich die heutige Bedeutun
entwickelt: unterliegen, fallen, sterben.
2) Vieles weiß die religiöse Deutung für sich anzuführen. Es wa
ein mittelalterlicher Rest des Heidentums, wenn Menschen, denen durch
Mord oder im Kampfe ein rascher Tod drohte, in Ermangelung einer prie
sterlichen Hostie, Erdbrocken ergriffen und als letzte Wegzehrung zu siel)
nahmen (Richter-Weise). Im „Meier Helmbrecht", der satirischen Dichtun
von Wernher dem Gartenaere, wird erzählt, daß die Bauern dem Räuber
den sie an den Baum hängten, einen „brosemen von der erden" gaben, „zq.
ner stiuwer für daz hellefiuwer" (Steuer für das Höllenfeuer). Im gleichen
Jahrhundert, dem 13., erzählt der steiermärkische Ritter Ulrich von Lichten
stein am Schlüsse seines Versromanes „Frauendienst , daß er, als er im
Gefängnis seinen Tod nahe glaubte, nach einem Brotkrümchen suchte,
Ein altfranzösisches Gedicht auf die Schlacht von Roncesvalles berichte
vom Helden Olivier, daß er zu Tode verwundet liegend drei Grashalm«
genommen habe, um das heilige Abendmahl zu feiern. Es wird aus dem
Mittelalter erzählt, daß mitleidige Zeugen einem zufolge Kampfes oder
mörderischen Anschlags unerwarteterweise und ohne priesterlichen Beistand
Sterbenden Erde zu essen gaben, denn die Erde sei als Leib des göttlichen
Urwesens angesehen worden und ihr Genuß im Angesicht des Todes als
heilsam für das zukünftige Leben. Wenn tatsächlich dieser Brauch und
dieser Gedankengang der Redensart „ins Gras beißen" zugrunde liegt, so
ist jedenfalls vom ursprünglichen erhabenen Pathos im heutigen, gradezu
übermütigen und derben Gebrauch nichts mehr verblieben.
3) Als k a v a 11 e r i s t i s c h e Deutung möchte ich jene bezeichnen, die
den Ausdruck „ins Gras beißen" aus einem Vorgang im Leben des Reiters
graphie über den E i d in der Völkerpsychologie auf eine altertümliche Form
des Erdeides, das Essen von Erde an Eidesstatt hingewiesen. Dieser Brauch
ist vor allem in Indonesien weit verbreitet. Es kommt daher auch vor, dal
bei Grundstreitigkeiten beide Parteien Erde vom strittigen Grund in den Mund
nehmen. Auch im europäischen Mittelalter gab es Rase neide; ein alt
schlesischer Eid mit der Erdscholle auf dem Haupte wird noch in einer Ur
künde aus dem Jahre 1590 erwähnt. Dieser Eidform verwandt ist der söge
nannte „R a s e n g a n g“, der Schwur unter dem Rasenstreifen, wobei eil
solcher vom Boden abgelöst, emporgehoben und gestützt wurde. Unter diesen
Erdbande knieten (z. B. in Skandinavien beim Abschluß von Blutsbrüder
schaft) die Schwörenden nieder und legten den Eid ab.
54
erstehen will. Weigand weist darauf hin, daß in der mittelhochdeutschen
Literatur öfters erzählt wird, daß ein Ritter an (in) das gras erbeizt, d. h.
Pferde absteigt; eigentlich war erbeizen soviel wie bizen machen, näm¬
lich dem Pferd zum Beißen Gelegenheit geben. Ins Gras beißen — wie
^n man nur darum vom Pferde heruntergeraten wäre, um es futtern zu
lassen — sei nun mit einer gewissen grimmigen Ironie vom Verwundeten
azt worden, z. B. da erbeizte manic man von den rossen nider in daz
n az So sei aus „in daz gras beizen" = absteigen müssen „in das Gras
beißen" = vom Pferde fallen, sterben geworden. Das Beißen beziehe sich
also nach dieser Deutung gar nicht auf den sterbenden Kämpen, sondern
auf sein rastendes Roß. Unmöglich ist so etwas bedeutungsgeschichtlich
nicht, besonders wenn man bedenkt, wie sehr sich Denken und Fühlen des
Reiters von der Beobachtung des Verhaltens des Pferdes lenken läßt. (Vgl.
Wörter und ihre Schicksale" unter dem Stichwort „ins Gebet nehmen"
m
die vielen der Sphäre des Reiters entnommenen Redensarten).
4) Als gastrisch sei jene Deutung bezeichnet, die glaubt, das Ster¬
ben mit wirklichem Gras-essen in Verbindung bringen zu müssen. Aus
Zeiten großer Hungersnot wird berichtet, daß Hungernde durch Essen von
Gras ihre Qualen zu stillen versuchen. Da auch solch verzweifeltes Tun vor
dem Hungertod nicht bewahren konnte und das Gras also bereits den
Anfang vom Ende anzeigte, habe der Ausdruck „ins Gras beißen" die
Bedeutung des Todeskampfes bekommen. Den gleichen Anspruch, das
Sterben zu bezeichnen, hätte dann auch etwa das Schuhsohlenkauen.
5) Gleichsam vom Standpunkt des Totengräbers gesehen ist es,
wenn man „ins Gras beißen" als eine Sterbensart auffaßt, die mit dem Zu¬
grabegehen bereits wörtlich beginnt. Der nicht im Bett Verstorbene oder
aus dem tödlichen Kampfe nicht in Ehren Fortgetragene und Aufgebahrte,
also der sterbend auf dem Felde Verbleibende tritt mit dem kühlen Erd¬
reich bereits in Berührung, ehe noch die Schaufel des Totengräbers zu amten
beginnen könnte. Bei Borchardt-Wustmann wird die Frage aufgeworfen,
ob nicht „das Begräbnis unter dem Rasen", das ja auch sprichwörtlich
geworden ist, zur Erklärung der Redensart „ins Gras beißen" ausreiche.
Auch die Redensart „über etwas Gras wachsen lassen" könnte bedeutungs¬
geschichtlich herangezogen werden: das Verbrechen oder sonst zu Ver¬
gessende wird einem verscharrten Ding verglichen, dessen Spuren erst
ausgetilgt sind, wenn sich eine Grasnarbe darüber gebildet hat. Für die
Neigung der redensartbildenden Phantasie zur Verknüpfung der Vorstellung
vom Sterbenden mit jener von Erde und Gras scheinen übrigens auch fran¬
zösische Redensarten zu sprechen, die die Bedeutung „begraben sein" haben:
55
1
manger la salade, Salat essen, manger l’herbe (oder des pissenlits 1 ) par l a
racine, das Gras (den Löwenzahn) von der Wurzel aus essen. Man ver-
gleiche damit den ungarischen Soldatenausdruck aus dem Weltkrieg: alulröl
szagolni az ibolyät (am Veilchen von unten riechen) = gefallen sein. 2 U
beachten ist auch aus dem englischen Ringkämpferslang: to go to grass =
zu Gras gehen, d. h. glatt zu Boden fallen, welcher Ausdruck im allgemeinen
Slang zur Bedeutung von „Sterben" gelangt.
6) Als medizinische Deutung bezeichne ich schließlich jene, die
von gelegentlichen Begleiterscheinungen des Todeskampfes ausgeht. Das
krampfhafte Öffnen und Schließen des Mundes macht den Eindruck, als
schnappte der Sterbende nach etwas, und es ist auch beobachtet worden, daß
tödlich Verwundete, die sich im Schmerz auf der Erde winden, Sand, Erd¬
schollen oder Gräser mit dem Mund erfassen, um die heftigen Schmerzen
zu „verbeißen". Die sprachliche Erfassung des Vorganges wird in der klassi-
sehen Literatur des Altertums durch mehrere Stellen belegt. In der Ilias
(2, 416—18) ruft Agamemnon den Zeus an, er möchte die Sonne nicht
sinken lassen, „eh’ ich vor Hektors Brust ringsher zerrissen den Panzer mit
eindringendem Erz, und viel um ihn die Genossen, vorwärtsliegend inj
Staube, geknirscht mit den Zähnen das Erdreich" (odax lazoiato gaian).
Und später (ll,747f) spricht Hektor: „Und zween Kriegsmänner um
jeden (Wagen) knirschten den Staub mit den Zähnen (dyo... photes odax
helon oudas) von meiner Lanze gebändigt." Ähnliches bieten andere Stel¬
len der Ilias (19, 61; 22, 17; 24, 738) 2 . Auch bei den römischen Dich¬
tern Virgil und Ovid beißen Sterbende in die Erde (Aeneis 10, 589: ter-
ram hostilem moriens petit ore cruente; 11, 118: procubuit moriens et hu¬
mum semel momordit; Metamorphosen 9, 60: tum denique tellus pressa
genu nostro est, et arenas ore momordi). Die deutsche Redensart „ins Gras
beißen" wäre demnach ein Abkömmling antiker Ausdrücke oder eine Neu¬
schöpfung auf Grundlage der gleichen Beobachtung des Todeskampfes
Diese „medizinische" Deutung wird von H. Schräder, Richter-Weise unc
Friedrich Seiler vertreten.
Zweifellos spricht das Meiste für diese letzte Deutung unserer Redensart
1) Pissenlit = Löwenzahn ist zu verstehen als der erstarrte Imperativ
piss-en-lit (Piß-ins-Bett) = Bettnässer; die aufgekochten Blätter des Taraxa-
cum officinale gelten als harntreibend.
2) Man beachte auch folgende Ilias-Stellen; 13, 508 ho d’en koniesi pesoi
hele gaian agosto (mit den Armen die Erde erfassen); 3, 55 hot* en konies
migeies (sich im Staube mischen); 13, 618 idnothe de peson (sich im Staubt
krümmen).
56
pp
.. Deutung aus dem krampfhaften Verhalten des Schwerverwundeten,
j Jas sich wohl auch die Stellen bei Homer, Virgil und Ovid gründen.
it erklären sich zugleich auch die französischen und englischen Redens-
Jcn mor dre la poussiere (oder le poudre) und to bite the dust, Staub bei-
die ebenfalls das Sterben umschreiben. Übrigens gilt das auch für die
-iJeren angeführten Deutungen, daß sie, wenn sie überhaupt richtig sind,
gleichzeitig auc ^ ^ ür P ara ^ e ^ e französische und englische Redensart zu-
f^| en> _mit Ausnahme jener Erklärung, ins Gras beißen sei soviel wie:
vom Pferde steigen, um es „beißen" zu lassen, die für die Etymologie der
französischen und der englischen Redensart höchstens dann zum entfernten
•\usgang genommen werden könnte, wenn man etwa nachwiese, mordre la
poussiere und to bite the dust seien einfach Übersetzungen des deutschen
Ausdrucks „ins Gras beißen", und zwar aus einer Zeit, in der diese Wen¬
dung bereits zur Bedeutung des Sterbens gelangt war. Übrigens kann ganz
gut angenommen werden, daß das aus der Anschauung des krampfhaften
Todeskampfes gewonnene Bild auch durch den Gedanken an die kurzerhand
erfolgende Begegnung des Gefallenen mit dem Grabesrasen eine Verstär¬
kung erfahren hat, daß also die beiden Deutungen, die wir als die medizini¬
sche und als die totengräberische bezeichneten, einander nicht ausschließen
müssen.
ßedeutungsgeschichtlich viel weniger umstritten sind andere
Umschreibungen des Sterbens
in der deutschen Sprache. So gibt es z. B. eine große Gruppe solcher Euphe¬
mismen, die zweifellos aus der kirchlich-theologischen Anschauungsweise her¬
vorgehen. F. Wilhelm hat hervorgehoben, daß man da unterscheiden muß
einerseits zwischen der philosophisch-theologischen Bibel- und Welterklärung,
die bestrebt ist, die Richtigkeit der bestehenden Dogmen zu erweisen, und
ihren Höhenpunkt in der katholischen Scholastik erreichte, und andererseits
zwischen der durch die protestantische Kirche vertretenen philologischen Bibel¬
auslegung, die dazu führte, daß biblische Wendungen über den Tod sich
unmittelbar in die deutsche Sprache Bahn gebrochen haben. Nach der Auf¬
fassung der Scholastik ist der Tod eine Trennung der geistigen Substanz, der
Seele, von der körperlichen (lip und sele scheident sich, heißt es mittelhoch¬
deutsch). Wir sprechen daher von verscheiden, hinscheiden, man
fällt plötzlich entseelt zusammen, der Selbstmörder entleibt sich. Das
Verlassen des Körpers durch die Seele wird ganz konkret vorgestellt. Geh
Hin un pfludere (flattere, fliege fort), sagt man in Württemberg zum
Toten. Die Seelen der Toten verursachen geradezu Wind, wenn sie sich aus
dem Körper entfernen. Besonders stark ist dieser Wind beim Selbstmörder. (Es
muß sich einer im Wald erhängt haben, sagt man bei plötzlichem Winde.)
57
Zu den Euphemismen, die auf biblischen Stellen fußen, gehört vor allem
z u S t a u b oder zu Erde werden (i Mos 3) 17—21). Nach 1 Mos 25,
und 49, 29 heißt es:zuseimemVolkeversammeltwerden. Dara 3
klingt auch an: in das Reich seiner Väter oder zu seinen Vä
tern versammelt werden (Richter 2, 10: omnisque illa generati
congregata est ad patres suos). Nach 1 Könige 2, 2: den Weg all e
Fleisches gehen. Nach Hiob 1 6, 22: den Weg gehen, den mai
nicht wiederkommt. Nach Jeremias 51, 34: den ewigen Schl a
schlafen. Nach Matthäus 2 6, 18 heißt es sprichwörtlich vom Sterbend^
seineStundeseinahe, nach demselben Evangelium vom eben Verstor
benen: er sei eingegangen zu seines Herren Freude. Zu de
Wendungen, die zufolge der Vervolkstümlichung der Bibel durch Luther u n
die Reformation in die deutsche Sprache gelangten, gehören auch jene, die di
Sterben als ein Eingehen in den Himmel, als ein Eingehen i
ein anderes Leben oder in ein besseres Dasein oder in di
Ewigkeit darstellen.
Im Zusammenhang mit den letzten Ausdrücken sind auch jene zu erwähnen
die das Sterben als eine Heimkehr darstellen, als ein Zurück in die wahr
Heimat, indes das irdische Leben nur als ein vorübergehender Aufenthalt i
der Fremde gelte. (Gustav Landauer sprach einmal von den Lebenden a|
den „Beurlaubten des Todes 44 ). Bemerkenswerte Belege für diese Auffassuq
des Todes als Heimkehr führt K. Bergmann aus den deutschen Mundarten an
Im Schweizerischen wird verhuse (eigentlich: seine Behausung verändert
und h e i m g a (heimgehen) für sterben verwendet. In Dresden bezeichnet sic
manche Leichenfrau an ihrem Wohnungsschild als „Heimbürgin , d. h. ein
Frau, die heimbürgt, nämlich den Menschen in seine Heimat, d. h. ihn fi
das Grab bereitmacht. Aus dem Obersächsischen: ’r werd h e i’r ah am
g i i e h (er wird dieses Jahr heimgehen). In einer Predigt des Bruders Ber
hold von Regensburg heißt es: Wir sin gar eilende (= fremd) hier, unde d
solten wir wol smaehen diz leben unde solten heim gen lande ziehen, da w
iemer mer mit fremde waren.
Zu den von religiösen Anschauungen ausgehenden Umschreibungen des Ste
bens gehören auch jene, die den Tod als Erlösung vom irdischen Dase
und seinen Bürden und Sorgen darstellen. Der Tote hat seine Erden
Wanderung vollendet, Gott hat ihn aus diesem Elend ab
berufen (wobei zu beachten ist, daß im Worte Elend offenbar auch noi
die alte Bedeutung „Fremde“ mitenthalten ist, vgl. das Stichwort „Elend“
Das Sterben ist ein Feierabend (eine schweizerische Umschreibung fi
sterben: Firabend mache), ein g u t e r a b e n d (i ha g’gloibt, es si guete Abei
mit-em; schweizerisch). Dem is e guete Tag g’s G h ä n, heißt es vc
eben Verstorbenen im Elsässischen, hei is an de Warheit, im W<
deckischen.
Neben der Bibel und der frühen theologischen Literatur gehört auch £
58
t i k c zu ^ en w ^ c ^ t *8 stcn B e ^ ruc ktern unserer Bilder-Sprache» So hat z. B.
j ° antike Vorstellung des Todes als eines Genius, der die Fackel des Lebens
^loscht (von Lessing in seiner Abhandlung „Wie die Alten den Tod gebildet“
Gehend erörtert), Niederschlag in der deutschen Sprache gefunden: sein
Lebenslicht erlischt, sein Lebenslicht ausblasen. Ebenso
eiklären sich aus der Beschäftigung mit Überlieferungen der Antike: von
^en Pfeilen des Todes erreicht werden, ins Reich der
Schatten abgehen.
Zahlreich sind die Synonyme für sterben, die den Vorgang als Aufhören
ier körperlichen Tätigkeit kennzeichnen, wie z. B.: er hat die Augen ge¬
schlossen, er ist entschlafen, er ist verblichen. Das Nichtmehr¬
atmen kommt in vielen Euphemismen vor; der Tote hat ausgehaucht
(exspiravit animam), er schnauft nimmer (elsässisch: er het usge-
schnuft, er het’s Schnufe vergässe, ufgän). Immer wieder kehrt in volkstüm¬
lichen Wendungen der Gedanke wieder, daß der Tote nicht mehr nötig hat
tu essen. Da hat scho wider aens d’ Leffel weggeworffe, sagt man
in München, wenn man die Sterbeglocke läuten hört. Elsässisch: er ißt ke
Sester Salz mehr und schweizerisch: er ißt kei Pfund Melw
mehr bedeuten: der hat nicht mehr lang zu leben. In vielen Variationen
kommt vor: er ißt kein Brot mehr oder er bedarf hinfort
keines Brotes. (Man vgl. italienisch: finire di mangiare pane. Bezeich¬
nend ist, daß im Chinesischen — entsprechend dem Umstande, daß Reis in
Ost- und Südasien die Hauptnahrung ist — „keinen Reis mehr haben“ der
bildliche Ausdruck für „dem Tode nahe sein“ ist.)
Die Redensart in den letzten Zügen liegen bezieht sich ur¬
sprünglich nicht auf die letzten Atemzüge, wie man anzunehmen geneigt ist.
Das Wort „letzt“ ist hier überhaupt nach Richter-Weise ein Zusatz, der erst
in neuerer Zeit in die Redensart aufgenommen worden ist; in älteren Quellen
hat schon „ziehen“ allein die Bedeutung: im Sterben liegen. In Vorarlberg
bedeutet „der Kranke zieht noch heute“: er ist im Sterben begriffen; man
läutet das Ziehglöckle, damit man für den Sterbenden bete. In Wien heißt es
Ziegenglöckl, und wer in diesem Worte nicht erkennt, daß für einen „Ziehen¬
den“ geläutet wird, mag sich wundern, was das brave Horntier — das übri¬
gens in Wien keine Ziege, sondern eine Gas (Geiß) ist — mit der Glocke zu
tun hat. Das Ziehen (woraus es zu den „letzten Zügen“ kam) bedeutet eigent¬
lich „Hinziehen“ und hangt zusammen mit der Vorstellung, daß der Tod
eine Reise, eine Heimreise sei. (Bergmann weist darauf hin, daß man in man¬
chen Gegenden dem Sterbenden noch heute alle diejenigen Dinge mit ins Grab
gibt, die er zu einer langen Reise braucht, dazu vor allem Schuhe, die „To¬
tenschuhe“; man vgl. weiter unten französisch graissir ses bottes, wörtlich
seine Stiefel schmieren = dem Tode nahe sein.)
Für „todkrank sein, bald sterben müssen“ hat K. Bergmann im Martin-
üenhartschen Wörterbuch u. a. folgende elsässische Ausdrücke festgestellt:
59
er get ge Pflüeg hiiete (weil in der Nähe des Friedhofes die Bauern
oft über Mittag oder über Nacht ihre Pflüge hinstellen), der rißt schujj
Fäde us dr Dekked (offenbar Anspielung auf den Todeskampf, vg|
oben die Deutung 6 der Redensart „ins Gras beißen“), er wür boj
d Bein (oder: d Nos) in d Höche strecke, no Tannehol*
rieche, schmecke (vgl. weiter unten französisch: sentir le sapin), d {
Songallemer Marsch blosen (Anspielung auf den St. Gallu s ,
Friedhof bei Straßburg, wo im 17. Jahrhundert die Leichensezierungen vorg e ,
nommen wurden).
Angesichts der ungeheuren Fülle an deutschen Synonymen für das Sterbe^
kann nicht daran gedacht sein, hier alle anzuführen. Wir wollen nur noch
einige aus der großen Zahl der noch nicht erwähnten herausgreifen:
Zur großen Armee abgehen dürfte aus irgend einer literari-
sehen Quelle herstammen, die aber bisher nicht sichergestellt werden konnte;
in Dantes Inferno gibt es eine Stelle, wo hinter der Fahne des Todes gewal-
tige Menschenzüge einherlaufen, die eine große Armee bilden; auf einen
Spruch in einem „Totentanz“ aus dem Jahre 1450 in der Lübecker Marien-
kirche macht Zoozmann aufmerksam: „Herr Wucherer... legt ab den Knap-
sack von eurer Seiten, jetzt heißts im alten Heer mitschreiten“;
er ist in die besseren Jagdgründe h i n ü b e r g e w e c Il¬
se lt (vielleicht in Anlehnung an angelesene Indianerromantik: ewige Jagd¬
gründe);
er ißt mit Kulman (mecklenburgisch), d. h. er ist in der kühlen
Erde, in Gesellschaft des kalten Todes;
er hört den Kuckuck nimme brüele (u. a. bei Jeremias Gott¬
helf);
er hat einen hölzernen Rock angezogen oder ein grünes
Kleid (daher der derbe Spruch, die beste Schwiegermutter sei, die ein grü¬
nes Kleid anhabe);
mit seinem Leben bezahlen beruht wohl auf mittelalterlichen
Rechtsvorstellungen;
um die Ecke gehen und abkratzen sind eigentlich bloß Um¬
schreibungen für: sich entfernen, verschwinden;
in das Geschlecht der Mutter fallen ist von Uhland als eine
sprachliche Widerspiegelung von Vorstellungen der nordischen Mythologie
aufgefaßt worden;
in die Nüsse gehen (fränkisch-hennebergisch) hat die Bedeutung:
entzweigehen, wie eine Nußschale (man vgl. damit Österreichisch: „ich tauge
zu nichts mehr, ich gehöre schon in die Würst“);
erkommt auf des Mesmers Garten ist als schwäbisch, a u
des Mesmers Alm als oberbayrisch gebucht worden;
60
»
ppp -
m uß in die Pappelalle c, sagt man im Sächsischen von einem
^kranken, und Müller-Fraureuth vermutet, daß dabei an eine mit Pappeln
bepflanzte pHedhofstraße gedacht wird;
der Sand ist verronnen entspricht der Auffassung der Sanduhr
eines Attributes des Todes, der pünktlich seine Termine einhält; es wird
juch vom Sterbenden gesagt, seine Uhr (oder: seine Zeit) sei abge-
1 a u f ® ti»
per Reichtum der deutschen Sprache an Synonymen für das Sterben hat
. ^holt Witzbolde dazu verlockt, die verschiedenen sprachlichen Todes¬
arten bestimmten Berufen zuzuordnen. Es heißt dann etwa, daß dem Nacht-
3 achter die letzte Stunde geschlagen hat, daß der Fleischer den Weg alles
Fleisches geht; der Fußballspieler beißt ins Gras, die Prostituierte geht um
ciie Ecke, der Maurer kratzt ab, der Lokomotivführer liegt in den letzten
Zügen, der Gelehrte gibt den Geist auf, der Priester segnet das Zeitliche, der
Atheist muß daran glauben usw.
Auch die klassischen Sprachen des Altertums sind überaus reich an Aus¬
drücken für das Sterben. Was das Griechische anbelangt, beschränken
wir uns darauf, auf die bei Homer vorkommenden Euphemismen hinzuwei¬
sen (Zakelj hat sie 1884 in einer Laibacher Programmschrift behandelt). Viele
dieser Umschreibungen drücken das Erlöschen des Augenlichts aus, z. B.: die
Erfüllung des Todes umhüllte ihm Augen und Nasenlöcher (Ilias 16, 502 f),
über die Augen ergoß sich Nebel (16, 344), Dunkel umhüllt seine Augen
(4, 461), finstere Nacht umhüllte ihm ganz die Augen (13, 580), ent¬
setzliches Dunkel umfaßte ihn (5, 47), dunkles Gewölk umhüllt ihn (20, 417),
er verläßt das Sonnenlicht (18, 9). Der Auffassung von Thanatos und Hypnos
als Zwillingsbrüder (II. 16, 682) entspricht der Euphemismus: zum ehernen
Schlaf einschlafen (11, 241). Der Tod ist eine Reise in die Unterwelt, in den
Hades, dabei heißt das Sterben: zum Hades gehen (Od. n, 425), zum Hades
kommen (II. 21, 48), in das Haus des Hades hineingelangen (20,336), in das
Haus des Hades hineinschreiten (24, 246). Es heißt vom Sterbenden auch, er
gehe in die Erde ein (11 6, 411), er gehe unter die Erde (18, 333), er gelangt
unter die schreckliche Erde (Od. 20, 81). Den Sterbenden verläßt die Lebens¬
kraft (Od. 12, 414), er haucht sein Herz aus (ij, 252), die Seele hat ihn ver¬
lassen (14, 134), die Seele überschreitet den Zaun der Zähne (II. 9. 409). Der
Tote reist irgendwohin, woher er nicht zurückkann, daher ist sterben: die
Rückkehr verlieren (Od. 23, 67). Besonders sinnfällig sind die Umschreibun¬
gen für das Sterben im Kampfe. Der in der Schlacht tödlich Getroffene er¬
faßt mit den Armen die Erde (II. 13, 508), er krümmt sich im Staub (13. 618),
er mischt sich mit dem Staube (3, 55) Auf die homerischen Ausdrücke, die
den Sterbenden die Erde mit den Zähnen beißen lassen (II. 2, 418; 11, 749;
19 61; 22 17; 24 738) haben wir bereits oben bei der Behandlung der deut¬
schen Redensart „ins Gras beißen“ hingewiesen.
Anschließend an die griechischen Euphemismen sei ein kurzer Ausflug ins
6 1
20. Jahrhundert gestattet. Während der Sowjetherrschaft in Ungarn (1919)
war folgende Umschreibung für „töten“ in Umlauf: gajdeszbe küldeni (j n
G a i d e s schicken). Uber die Etymologie dieser Redensart ist nach Zusam.
menbruch der roten Herrschaft viel geschrieben und herumgeraten worden
Man versuchte besonders, in die Redensart eine jüdische (hebräische) Wurzel
hineinzudeuten. Es ist anzunehmen, daß die Verbreitung der Redensart durch
ungarische Soldaten erfolgt ist, die aus russischer Kriegsgefangenschaft heim,
gekehrt waren, woher sie ja auch kommunistische Ideen mitbrachten. Man
darf daher annehmen, daß Gaides oder Gades nichts anderes sei, als die ru$.
sische Aussprache von griechisch Hades, Unterwelt. (Da das Russische kein
„h“ hat, ersetzt es in Fremdwörtern diesen Laut durch ein „g“, daher gaubiza
geraldik, garemj, gauptwachta usw. und selbst Eigennamen wie Gamlet*
Geinrich Geine.) So hat also die griechische Mythologie sich noch nach
Jahrtausenden als redensartschöpferisch erwiesen.
Mit den lateinischen Wörtern und Redensarten, die das Sterben be¬
zeichnen, beschäftigt sich eine Marburger Dissertation (1909) von Barthel
Winand: Vocum Latinarum, quae ad mortem spectant, historia. Viele von
ihnen stellen den Tod als einen Abgang dar. Dieser Art sind z. B.;
migrare ex vita, abire e vita. Exire ad libertatem (zur Freiheit abgehen) wird
im Sinne der stoischen Philosophie vornehmlich auf den Freitod angewendet
Wiederholt wird übrigens von den römischen Philosophen der Tod mit dem
Abgang des Schauspielers verglichen. Es heißt auch: an den gemeinsamen
Ort abgehen (abire in communem locum), zu den Mehreren (abire ad plures
bei Petronius, penetrare ad plures bei Plautus; vgl. dann weiter unten eng¬
lisch to go over to the majority). Der Sinn des Ausdrucks antecedere ist: sei¬
nen Mitmenschen vorangehen in den auch für sie unvermeidlichen Tod. Viele
Wendungen beziehen sich auf das Aushauchen der Seele, z. B. wird
animam verknüpft mit den Zeitwörtern efflare, omittere, emittere, relin-
quere, exhalare, ponere, deponere. Hierher gehört auch exspirare, spiritum
reddere, emittere, deponere und viele ähnliche Synonyma. Naturae concederc
oder reddere oder satisfacere erinnert an das deutsche Bild: der Natur seinen
Tribut entrichten. Ausdrücke für den Zeitpunkt des Todes sind
z. B.: atra dies, miserabilis hora, fatalis hora.
Nun wollen wir uns zwei lebenden Sprachen zuwenden, dem Französi¬
schen und Englischen, da aber die üblichen Sterbenssynonymen der allgemei¬
nen Sprache zum größten Teil Wiederholungen solcher Vorstellungen zeigen
würden, denen wir bei der Behandlung der Euphemismen im Deutschen und
in den beiden klassischen Sprachen schon begegnet sind, wollen wir uns im
Französischen und im Englischen in der Hauptsache auf die „farbigen Wör¬
ter“ der Volkssprache, besonders auf Argot und Slang, beschränken.
Die Bedeutung sterben haben im Französischen u. a. folgende Wör¬
ter und Redensarten: claquer, wörtlich klatschen, knallen (auch: se laisser
claquer), deteindre, wörtlich verbleichen, sich entfärben, se vider, sich ent-
62
W—
en (übrigens auch eine Bezeichnung für den Geschlechtsverkehr im Pari-
^Argot), se l a ^ sser g^ sser » abrutschen, faire sa crevaison, zerplatzen, tourner
sef tortiller de l’oeil, die Augen verdrehen, fermer son vasistas, sein Guck-
® C schließen, souffler sa veilleuse, seine Nachtlampe ausblasen (bedeutet
; fc f ran zösischen Volkssprache sinniger Weise auch: die Stimme des Ge-
1D issens ersticken), laisser ses bottes quelque part, seine Stiefel irgendwo
i ssen cracher son äme, seine Seele ausspucken, cracher ses embouchures,
jas Mundstück (seines Blasinstruments) ausspucken, cracher oder eternuer
le son, in die Kleie spucken oder niesen (besonders für guillotiniert
erden, vgl. das Stichwort „Guillotine“ in „Wörter und ihre Schicksale“),
’avoir plus mal aux dents, keine Zahnschmerzen mehr haben, eteindre son gaz,
sein Gas erlöschen lassen, laisser fuir son tonneau, sein Faß ausrinnen las¬
sen deboulonner sa colonne, seine Säule Umstürzen, lächer la perche, la rampe,
die Stange, das Geländer loslassen, perdre son bäton, seinen Spazierstock
verlieren, £pointer son foret, die Spitze seines Bohrers abbrechen.
£s heißt vom Sterbenden, er verschlucke seine Zunge (avaler sa langue,
im Argot auch: sa gaffe, sa chiffe) oder seine Gabel, seinen Löffel (sa four-
chette, son cuiller). Auf das Nichtessen weisen auch hin die Redens¬
arten: perdre le goüt au pain, den Geschmack am Brot verlieren, remercier
son boulanger, seinen Bäcker verabschieden, feler son saladier, seine Salat¬
schüssel zerbrechen. Hier ist auch anzuführen: poser sa chique, sein Priem-
chen (Kautabak) weglegen. (Farmer und Henley verwechseln chique =
priemchen mit chic und erklären daher die Redensart poser sa chique in
ihrem großen Slang-Wörterbuch fälschlicherweise: „seine Erziehung, seine
Eleganz, seine Schneid, seinen Geist, also kurz all das, was für einen Men¬
schen bezeichnend ist, ablegen.“)
Andere Redensarten über das Sterben spielen, wie die schon erwähnten
vom Löffelverschlucken usw. auf das Uberflüssigwerden gewis¬
ser Gegenstände an: fermer son parapluie, den Regenschirm zumachen,
casser son crachoir, son fouet, sa pipe, sa canne, seinen Spucknapf, seine
Peitsche, seine Pfeife, seinen Spazierstock zerschlagen, remiser son fiacre,
seinen Wagen in den Schuppen stellen, demonter son choubersky, seinen
„Choubersky“ abtragen (so hieß ein beweglicher Stubenofen nach seinem
Erfinder).
Viele Ausdrücke für den Tod stellen ihn als einen Abgang, als eine
Abreise dar. Wir erwähnen: s’evanouir, durchgehen, durchbrennen, deme-
nager, übersiedeln, passer au bleu, ins Blaue gehen, sortir les pieds devant,
mit den Füßen nach vorne die Stube verlassen, s’en aller dans le pays des
marmottes, in das Land der Murmeltiere abgehen, partir pour le royaume
des taupes, abreisen in das Königreich der Maulwürfe. Wie diese letzte Redens¬
art spielen auf das Grab auch an: rendre le cimettere bossu, dem Friedhof
einen Buckel (nämlich: einen neuen Grabeshügel) machen und das schon
früher (bei der Behandlung von „ins Gras beißen“) erwähnte aller manger
*3
les pissenlits par la racine, sich anschicken, den Löwenzahn von der W
zu essen.
ür* t
An den personifizierten Tod wird gedacht, wenn für sterben gesagt ,
epouser ] e camard, den Stumpfnasigen heiraten. Bei der Redensart dich'
son faux-col, seinen Kragen aufreißen = sterben erinnert man sich an
Sterbeszenen aus der Frühzeit des stummen Films, als er noch darauf a ''
wiesen war, das Geschehen durch übertriebene Gebärden zu verdeutlich 85
der Sterbende riß, wenn er angekleidet war, seinen Hemdkragen auf ^6^
wie die Umstehenden den eingetretenen Tod dem Zuschauer durch Abnah^
der Hüte erkenntlich machten). Ins Moralische zielen die Metaphern: rendre **
comptes, Rechnung ablegen, devider ä Pestorgue, seine Falschheit abhasp e ^
Dem Tode nahe sein, im Sterben liegen ist der Sinn folgender *
densarten: chasser les mouches, die Fliegen jagen, n’avoir plus d’huile da',
la lampe, kein öl mehr in der Lampe haben, avoir son pain cuit, ses caroti!!
cuites, sein Brot bereits gebacken, seine Mohrrüben bereits gekocht half
graissir ses bottes, seine Stiefel schmieren (nämlich für die bevorstehend!
Reise), faire sa malle, ses petits paquets, sein Gepäck fertigmachen, sentir l
sapin, das Tannenholz riechen (nämlich den Sarg, daher s’habiller de sapin
sich in Tannenholz kleiden = sterben), mettre la table pour les asticots, Tisch
decken für die Würmer, etre en pegrenne (p£grenne ist ein Wort der V er
brechersprache mit der Bedeutung: Hunger, Not, Elend — ob nicht zu jüdisch
und rotwelsch peigern = krepieren, sterben?).
Einige dem militärischen Leben entnommene und daher'hauptsäch¬
lich von Soldaten verwendete Metaphern für das Sterben: passer Farme i
gauche, die Waffen strecken, passer au dixi&me r^giment, zum io. Regiment
abgehen, rendre sa canne au ministre, seinen Stock dem Minister zurückgeben
avaler sa cartouche, ses baguettes, sa canne, seine Patronentasche, seine Trom-
melschlägel, seinen Tambourstock verschlucken, d£crocher ses cymbales, seine
Schell becken abhängen, recevoir sa dScompte, den rückständigen Sold (die
„Endabfertigung“) bekommen (decompte bedeutet in der Soldatensprache
aber auch: tödliche Verwundung), descendre la garde, von der Wache abzie-
hen, defiler la parade, seine Parade abmarschieren. Im Argot der Seeleute
ist für Sterben gebräuchlich: peter son lof, Luv-Seite furzen; in dem der
Fischer: avaler son goujon, seinen Gründling verschlucken (aber faire
avaler le goujon a quelqu’un, jemanden einen Gründling schlucken lassen
bedeutet: jemandem etwas aufbinden). Im Argot der Ärzte ist für Sterben
gebräuchlich: rentrer ses pouces, seine Daumen einziehen; in dem der Kauf-
leute: ingurgiter son bilan, seine Bilanz verschlingen; in dem der Juri¬
sten: deposer son mandat, sein Mandat niederlegen, decrocher ses panon-
ceaux, sein Schild abhängen (panonceau ist besonders das Schild der Notare);
im Argot der Schauspieler: saluer le public, das Publikum begrüßen,
an den Schauspieler denkend, der, bevor er nach Schluß des Stückes endgültig
abtritt, noch eine letzte Verbeugung macht.
64
Auch dem englischen Slang stehen zahlreiche Ausdrücke zur Bezeich¬
nung des Sterbens zur Verfügung. Die Umschreibung t o go a 1 o f t, abgehen
kom mt auch bei Shakespeare und Dickens vor. (Aus einem Sea-Song aus dem
i.ihre 179° auf den Tod eines Matrosen: His form was of the manliest
beauty, his heart was kind and soft; faithful below, Tom did his duty,
an d now he’s gone aloft). Weitere Slangausdrücke für Sterben sind: to hop
off, weghüpfen, to hop the twig, über den Zweig hüpfen (bedeutet auch:
Jurchbrennen, „abhauen“), to mizzle, durchbrennen, to cut one’s stick, sich
einen Stecken schneiden (nämlich: um einen Weg anzutreten). To go under
'untergehen) oder to go up (aufsteigen) sind amerikanische Ausdrücke für
das Sterben. To go over to (oder join) the (great) majority oder kurz join
the majority, zur großen Mehrheit abgehen, geht auf Ausdrücke des klassischen
Altertums zurück, auf griechisch es pleonon hikesthai (Krinagoras) und auf
lateinisch penetrare ad plures (Plautus), bezw. auf die in römischen militäri¬
schen Redensarten häufige Wendung abit ad multos; zu Grunde liegt jeden¬
falls die Vorstellung, daß die Zahl der jeweiligen Lebenden viel geringer ist,
als die der seit vielen Generationen Verstorbenen.
Im Weltkrieg ist ein älterer englischer Slangausdruck für sterben, in der
Schlacht fallen neu belebt worden: going west, westwärts gehen. (Bei
H. G. Wells, Joan and Peter, 1917, ist zu lesen: Dear old boy! he went west
last May. „Went west“ was the common phrase. They never said „killed“)
Über diesen Ausdruck ist während des Krieges in englischen Zeitungen viel
geschrieben worden. J. R. Harding behauptete, der Ausdruck sei bei irischen
Regimentern aufgekommen. Manche denken an den Untergang der Sonne im
Westen. Aus dem Slang von Heer und Flotte ist noch zu verzeichnen: to
lose the number of one’s mess, seine Messenummer verlieren. Aus dem See¬
mannsslang: to slipe one’s cable, sein Tau entschlüpfen lassen, to cut the
painter, die Fangleine durchschneiden (hat auch die Bedeutung: sich davon¬
machen, Fersengeld geben), to go to Davy Jones’ locker, in Davy Jones’
Truhe gehen (besonders für den Tod durch Ertrinken, da Davy Jones’ Truhe
= die See).
Da der Tote nicht mehr essen muß, ist to Iay down one’s knife and fork,
Messer und Gabel niederlegen oder to stick one’s spoon in the wall, seinen
Löffel an die Wand hängen == sterben. Auf den S a r g spielen an die Redens¬
arten: to put on a wooden surtout, einen hölzernen Uberrock anlegen und to
peg out, mit Nägeln abstecken. Auf das Grab: to take an earth bath, ein
Lrdbad nehmen, to have a ground-sweat, Grundschweiß haben, to be put to
bed with a (pickaxe and) shovel, mit (Krampen und) Schaufel ins Bett
celegt werden. (Im Slang der englischen Collegeschüler kommt der Aus¬
druck bedtime, Bettzeit für Todesstunde vor).
Die Bedeutung sterben haben ferner die Redensarten: to go (oder drop)
to croak, krächzen, to kick the bücket, dem Balken einen Fußtritt
off the hooks, aus den Angeln geraten, to bithe the dust, den Staub beißen,
5 8torfer. Sprache
65
geben. Als bücket (wahrscheinlich von buck = Bock) bezeichnet man i n
einzelnen Gegenden (z. B. in Norfolk) besonders den Balken, auf den
geschlachtete Schweine an den Hinterbeinen aufgehängt werden. Man nimmt
daher an, daß die Sterbensmetapher to kick the bücket an die Todes¬
zuckungen des Schlachtviehs denkt. Nach anderer Deutung bezieht sich die
Redensart auf einen Balken, auf dem ein Selbstmordkandidat steht und den
er, nachdem er sich die Schlinge um den Hals gelegt, mit dem Fuß weg.
stößt. Die englische Redensart kick the bücket ist übrigens auch in die
Sprache der westindischen Neger gelangt und zu kickeraboo geworden*
als Eigenschaftswort bedeutet kickeraboo: tot, als Zeitwort: sterben.
Zum Abschluß wollen wir an einem Beispiel, an der Sprache der Einge¬
borenen von Samoa zeigen, daß auch primitive Völker die Neigung
haben, den Vorgang des Sterbens durch Umschreibungen auszudrücken. Aus
den Aufzeichnungen, die Pastor Heider auf Samoa gemacht hat, als diese Süd¬
seeinsel noch im deutschen Besitz war, führen wir einige Beispiele an: malin,
wörtlich: er ist gegangen, to le manava, die Seele aushauchen, vala anina,
abberufen sein, si itia, emporgehoben und weggenommen sein. In der Klasse
der „Sprecher“, d. h. der Ratgeber des Häuptlings jedes Dorfes, heißt es:
gangan le to oto-o, der Stab ist zerbrochen, usu fono, er ist in die Ratsver¬
sammlung gegangen (nämlich: ins Totenreich), fai i lagi folanga, nach oben
fahren. Entsprechend den besonderen Tabus, mit denen die Person des Häupt¬
lings umgeben ist, gibt es eigene Ausdrücke für das Sterben des Häuptlings,
z. B. tuunmali, die Herrschaft aufgeben, ua tafea le moli, die Orange ist fort¬
geschwommen (die Orange ist wertvoller Besitz zur Haarpflege beim Baden
im Meere, mit ihrem Verlust durch Fortschwimmen wird der Verlust des
wertvollsten Besitzes eines Dorfes, des Häuptlings verglichen), ua tafea le
tanofe, die Angelrute ist fortgeschwommen, faasolo motu, die Halskette des
Häuptlings ist zerrissen, gangan auta, die Trommelschlägel sind zerschlagen
(man vgl. die oben erwähnte französische Wendung vom Verschlucken der
Trommelschlägel), na motu le son, die Verbindung mit den Gefährten ist
abgerissen.
Halunke
taucht im Deutschen in verschiedenen Formen im 16. Jahrhundert auf. Im
Verlorenen Sohn von Waldis, 1527 in Riga erschienen, bedeutet Hollunck
einen Nichtswürdigen. Gleichbedeutend erscheint Hollunck 1541 in einer
Prager Flugschrift. In der polnischen Chronik des Lorenz Kyndlerm aus dem
Jahre 1562: „die koch und die kochenknechte und andere holuncken rei¬
nigten die kaldunen" (Kaldaunen = Eingeweide). Hier sind wohl niedere
Bedienstete gemeint. Auch sonst bedeuten in verschiedenen, besonders schle¬
sischen Quellen des 16. Jahrhunderts helunke, holunke, holanke: niedere
Schloßbedienstete, Heideläufer, laufende Boten, Wächter. Noch Lessing und
66
Schiller schreiben Holunke, daneben erscheinen aber schon seit dem 16.
Jahrhundert die Varianten mit a: Halluck, Hallunck, Halunke. Man hat
versucht, das Wort in Verbindung zu bringen mit herumlungern (lungern
ursprünglich: gierig aufpassen, von mittelhochdeutsch lunger = rasch, dazu
englisch lounger = Faulenzer), mit isländisch halloka, Knecht, mit franzö¬
sisch haillon, Lumpen, mit spanisch alacco, Tölpel. Das Wort ist aber
tschechischen Ursprungs, es kommt von holomek = nackter Bettler,
Taugenichts (zu tschechisch holy, nackt).
Hand ins Feuer legen
für jemanden (d. h. gutstehen für ihn) geht auf den mittelalterlichen Brauch
der Gottesurteile (Ordalien) zurück. Feuerproben kannten schon die
Griechen. In der Antigone des Sophokles sagt der Wächter: „Wir waren
bereit, glühendes Eisen mit den Händen aufzuheben, durch Feuer zu lau¬
fen und bei den Göttern zu schwören, daß wir weder die Tat verübt, noch
den Urheber und Rädelsführer kennen.“ Auf Gottesurteile beziehen sich
auch die Redensarten: die Feuerprobe bestehen (was allerdings ähnlich wie
die „Feuertaufe “ 1 jetzt hauptsächlich in Bezug auf den Krieg gebraucht
wird), für jemand durchs Feuer gehen, auf glühenden Kohlen sitzen, Gift
auf etwas nehmen, das Abendmahl auf etwas nehmen. (Dem Verdächtigen
wurde eine Schnitte Brot oder Käse in den Mund gesteckt, hatte er Schwie¬
rigkeiten es hinunterzuschlucken, galt er als schuldig.) Es ist die Vorstellung,
dem unschuldig Verdächtigten müsse wunderhafter Weise göttliche Hilfe
zu teil werden zum Schutze vor dem Feuer, dem Wasser, dem Gifte usw.,
die all diesen Ordalien zugrunde liegt. Das mittellateinische Wort ordalia
(Gottesurteile) ist übrigens nichts anderes als unser „Urteil“, althochdeutsch
urteili, angelsächsisch ordal = das Erteilte, die erteilte Entscheidung 2 .
Die Hosen verlieren
In derber Weise sagt man von jemandem, der bei einem Geschäfte
oder im Glücksspiel alles verloren hat, er habe seine Hosen verloren. Da
man auch sagt, jemand sei bis aufs Hemd geplündert worden oder er habe
sich auch seines letzten Hemdes entäußern müssen, scheint das Bild vom
i) Matth. 3, n sagt Johannes der Täufer: Ich taufe Euch mit Wasser zur
Buße; der aber nach mir kommt, der wird Euch mit dem heiligen Geist und
mit Feuer taufen.
. 2 ) -^ e< ^ ensart jjfeurige Kohlen auf jemandes Haupt sammeln 46 (s. dieses
Stichwort) hängt nicht mit den Gottesurteilen zusammen.
5 *
$7
Verlieren der Hosen zunächst ohne Weiteres verständlich. Es hat aber da.
mit vielleicht noch eine besondere Bewandtnis, denn die Redensart scheint
eine Erinnerung zu sein an einen alten rechtssymbolischen Vorgang, an
eine mittelalterliche Form dessen, was wir jetzt Offenbarungseid
nennen. Jungbauer erinnert im Handwörterbuch des deutschen Aberglau,
bens an die im Mittelalter in Italien, in Frankreich und den Niederlanden
verbreitete Sitte des Hosenherablassens, die darin bestand, daß der
zahlungsunfähige Schuldner auf offenem Markte oder auf einer dazu er*
richteten Säule durch Herablassen der Flose und Zeigen des nackten Kör.
pers erklärte, daß er nichts besitze und daß man sich an seinem unbeweg¬
ten Körper schadlos halten möge. In der Redensart „seine Hosen verlieren"
die die allerletzte Stufe der Verarmung charakterisieren soll, mag nun die
Erinnerung an jenen rechtssymbolischen Akt enthalten sein.
Aus den beiden Redensarten „seine Hosen verlieren“ und „kein Geld
auf Brot haben“ hat sich auf dem Wege der Verquatschung, der Redens*
artenkreuzung die häufig vernehmbare Scherzredensart „kein Brot auf
Hosen haben“ ergeben.
Das geht über die Hutschnur
hat die Bedeutung: das ist zu arg. Aus Thüringen ist auch die Fassung be¬
legt: bis über die Hutschnur in Schulden stecken. Sie erinnert an die gleich¬
bedeutende Redensart: bis über die Ohren in Schulden stecken und man
kann daraus folgern, daß auch der Redensart „das geht über die Hutschnur“
ursprünglich das Bild vom Ertrinken, vom Versinken im Sumpf vorge¬
schwebt hat. Dementsprechend wird auch bei Borchardt-Wustmann „über
die Hutschnur“ als eine Steigerung von „es (nämlich das Wasser) geht an
den Hals“ auf gef aßt. Gemeint sei dabei aber nicht etwa die um den Hut
laufende Schnur (wie sie in vielen Volkstrachten noch heute statt eines Hut¬
bandes üblich ist), sondern die unter dem Kinn herumlaufende, den
Hut am Kopfe festhaltende Schnur.
Eine überraschend neue Deutung der Redensart „über die Hutschnur“
hat Käthe Gleißner 1934 versucht. Ihre Deutung gründet sich auf eine im
Staatsarchiv zu Eger aufbewahrte Urkunde vom 30. April 1356. In dieser
einigen sich die Kreuzbrüder mit dem Stern und die Deutschherren zu Eger
über die Nutzung einer Wasserleitung, die durch mehrere Grundstücke
geht. Die ersten Anlieger sollen nicht mehr Wasser nehmen, als sie zum
Trinken und Kochen nötig haben „vnd des selben wazzers schol in niht
mer noch dicker auz den Roeren gen, danne als ein hutsnur“. Die Stärke
68
einer Hutschnur ist also ein Maß für fließendes Wasser,
für einen Wasserstrahl, und wenn es „über die Hutschnur geht“,
so handelt der Nutznießer gegen die Vereinbarung, also unrecht. (Man
vergleiche damit die Redensart „über den Span“, z. B. über den Span for¬
dern == übermäßige Bezahlung fordern, gegen eine rechtmäßig geltende
Abmachung verstoßen, Unrecht tun überhaupt; unter „Span“ ist hier zu
verstehen das Kerbholz der Kaufleute und Gastwirte, auf dem sie durch
Einritzen die Schulden ihrer Kunden vermerkten.)
Der Deutung der Redensart „über die Hutschnur" auf Grundlage jener
Urkunde aus dem' Jahre 1356 und der darin erscheinenden Art des Wasser¬
strahlmessens ist immerhin der auffällige Umstand entgegenzuhalten, daß
die Belege für diese Redensart nicht über den Anfang des 18. Jahrhunderts
zurückreichen.
„Das geht über die Hutschnur“ hat nichts zu schaffen mit der Redensart
„über die Schnur hauen“, die aus dem Leben des Zimmermanns bezogen
ist der über den Balken, um ihn gradlinig zu behauen, eine Schnur zieht
und dann darauf achtet, nicht über diese „Richtschnur“ zu hauen.
Isabellenfarbe
Infantin Isabella, die Tochter Philipps II., Regentin der Niederlande,
soll, als ihr Gemahl Erzherzog Albrecht von Österreich Ostende belagerte,
gelobt haben, ihr Hemd nicht zu wechseln, ehe die Stadt erobert sei. Da
die Belagerung von Juli 1601 bis September 1604 dauerte, habe das Hemd
der Infantin die seither so genannte Isabellenfarbe angenommen. Eine
andere Überlieferung heftet ein solches Gelübde an das Andenken der
spanischen Königin Isabella „der Katholischen", der Gönnerin des Kolum¬
bus, bei der es sich um die Belagerung von Granada handelte, mit dessen
Einnahme im Jahre der Entdeckung Amerikas der letzte Krieg gegen die
Mauren seinen Abschluß fand. Diese Anekdote über die Herkunft der
Isabellenfarbe und ihres Namens ist allgemein bekannt, und Schopenhauer
führt in „Welt als Wille und Vorstellung" das Gelübde der Isabella als
das Beispiel einer „unverständigen, aber dennoch vernünftigen Handlung"
an. Die Idee eines solchen trotzigen Gelübdes gehört übrigens zum alten
Bestand immer wiederkehrender geschichtlicher Anekdoten. Schon Histiaios
von Milet schwur nach Herodot, sein Gewand nicht auszuziehen, ehe er
Sardinien dem Könige Darius tributpflichtig gemacht habe.
Isabell als Farbenbezeichnung taucht um 1640 bei Oudin auf als Bezeich¬
nung für die Farbe des Falben, des hellgelben Pferdes, und wenn wir
Sainean, dem erfolgreichen Zerstörer vieler anekdotisierenden Etymologien
*9
auch hier folgen dürften, hatte diese Farbenbezeichnung mit dem Vornamen
Isabella (der übrigens nichts anderes ist als eine Abwandlung von Isabeau
der französischen Form des hebräischen Elisabeth) nichts zu schaffen-
isabell als Bezeichnung der Pferdeart und der Farbe soll eine Verschmel.
zung der französischen Wörter i s a r d und m i r a b e 11 e sein. Jedenfalls
stimmt es, daß beide — die Gemse wie die Mirabellenfrucht — von gelb,
licher Farbe sind. An der Verknüpfung der Isabellenfarbe mit dem weib.
liehen Vornamen im heutigen Sprachbewußtsein kann jedoch diese Etymo-
logie, sollte sie auch richtig sein, nichts mehr ändern.
Daß sich der „Treppenwitz der Weltgeschichte" der Farbenbezeichnung
„isabellen" bemächtigt und sie mit einer Belagerung in Beziehung gesetzt
hat, ist ein bezeichnender Umstand. Belagerungen machen auf die Zeit-
genossen meistens einen nachhaltigen Eindruck. Je länger sie sich hinziehen,
umso größer die Spannung und man könnte, ohne als zynisch zu gelten,
fast sagen, die sensationslüsterne Menschheit habe sich, als es noch keine
internationalen Sportkämpfe gab, zeitweilen an den Nachrichten über den
Verlauf von Belagerungen schadlos gehalten. Kein Wunder, daß von dieser
seelischen Anteilnahme an auffälligen Phasen der Kriege manche Spur
auch im Wortschatz hartnäckig erhalten bleibt, sodaß man von einer ganzen
Kategorie von
Wörtern, die an Belagerungen erinnern,
sprechen kann. Ich meine damit sowohl solche Wörter, die tatsächlich im
Zusammenhang mit einer Belagerung oder einer bestimmten Schlacht entstan¬
den sind, als auch jene, die allgemeiner Glaube oder etymologische Bemühung
Einzelner fälschlicherweise mit solchen Kriegshandlungen in Verbindung ge¬
bracht hat. Zum letzteren Typus gehören z. B. die Anekdoten über Spiele,
die die Besatzungen belagerter Orte zur Vertreibung der Langweile erfinden
und die dann nach dem Namen des betreffenden Ortes benannt werden.
Für das Wort Hasard, das zuerst nur „Würfelspiel“ bedeutete, flatterte
so eine Erklärung schon im 13. Jahrhundert auf. Als sich die Belagerung der
Feste Hasard (El Azar) durch die Kreuzritter in die Länge zog, soll die
arabische Besatzung zum Zeitvertreib das Würfelspiel erfunden haben. Aus
dem Heiligen Land habe sich das Spiel unter dem Namen jenes Ortes in die
Länder der Christenheit verpflanzt. Zweifellos ist das Wort arabischen
Ursprungs, aber er ist viel älter. Im klassischen Arabisch bedeutet jasara
würfeln, jasar die würfelnde Gesellschaft. Zur Zeit der Maurenherrschaft in
Spanien drang das Wort in die Sprachen des Abendlandes und vom Wür¬
felspiel verallgemeinerte sich schließlich die Bedeutung zu: Zufall, Wagnis.
Glaubhafter ist die Überlieferung, daß der Name des Kartenspiels Boston
mit der Belagerung der englischen Besatzung dieser amerikanischen Stadt
70
durch die Truppen Washingtons (1775/76) Zusammenhänge. Wenn es auch
nicht nachgewiesen ist, daß Bostons Besatzung es war, die dieses dem Whist
ähnliche Kartenspiel erfunden hat, so steht jedenfalls fest, daß es in den
Jahren des amerikanischen Befreiungskrieges aufkam und daß es nach der
Stadt Boston benannt ist.
Fälschlicherweise bringt man mit der Belagerung von Stralsund (1628)
das Wort Kommißbrot in Verbindung. Wallenstein habe in den umlie¬
genden Ortschaften durch besondere Kommissionen Mehl aufbringen und Brot
backen lassen. Dieses Brot sollen dann die Soldaten zunächst Kommissions¬
brot getauft haben. Aber schon viel früher, im Jahre 1552, ist in einem
Straßburger Dokument die Rede von 12.000 Kommißbroten, die dem König
von Frankreich geliefert wurden, und in der „Reuterbestallung“ Karls V.
kommt „Kommiß“ im Sinne von Heeresvorrat wiederholt vor (z. B. „alles
dasjenige ehrbarlich zu bezahlen, was aus der Kommiß gegeben wird“). Das
Wort kommt von lateinisch commissum = anvertrautes Gut. (Von der
Bezeichnung Kommißbrot aus entwickelt sich in Österreich-Ungarn „Kom¬
miß“ als Beibezeichnung von Gegenständen, Einrichtungen und Personen des
Heeres. So nannte man die „ärarische Montur 44 Kommißuniform im Gegen¬
satz zur „Extrauniform“, die sich nicht jeder leisten konnte. Man raunzte
über die Kommißkost, schimpfte den Vorgesetzten einen Kommißknopf usw.
Im Ungarischen ist „komisz 44 aus der militärischen Sphäre hinausgewachsen
und ein allgemeines Eigenschaftswort geworden mit der Bedeutung: schlecht,
minderwertig, grob, gemein, bösartig).
Von der Bezeichnung Landauer für eine bestimmte Wagenform heißt
es gewöhnlich, sie sei darum entstanden, weil Kaiser Joseph I. zum ersten
Male so eine große offene Kutsche gebrauchte, als er 1702 zur Belagerung
von Landau fuhr. (Ausführlicheres darüber und über die vorzuziehende Ab¬
leitung des Wortes Landauer aus altindisch hindola oder andola über arabisch
al ondal = Sänfte s. unter dem Stichwort Kutsche in „Wörter und ihre
Schicksale 44 ). Glaubwürdiger ist ein anderer Beitrag der Belagerung von
Landau an das Wörterbuch. Es handelt sich um das Wort Zickzack, das
zunächst ein Wort der Belagerungskunst war, die Bezeichnung für eine gewisse
Linienführung der Annäherungsgraben zur Verminderung der Sichtgefahr und
der feindlichen Feuerwirkung. Nehring bucht 1720: „sicsac, ein neu Wort,
so erst bey der Belagerung Landaus (seit 1703) bekannt gemacht worden.“
Im Jahre 1747 belagerten die Franzosen die niederländische Stadt Bergen-
op-zoom und setzten sich in ihren Besitz. Daher bekam im Französischen eine
Seidenspitzenart, die eine Zeitlang in Mode war, den Namen bergop-
zoom. Ein Sieg, den die Franzosen neun Jahre später errangen, hat nicht
allein das französische Wörterbuch bereichert. Der 1756 erfolgten Belagerung
und Eroberung der Festung Mahon auf der Baleareninsel Menorca verdankt
nämlich seine Entstehung das internationale Wort Mayonnaise, ursprüng¬
lich Mahonnaise. So wurde nach dem eroberten Mahon die Tunke benannt,
71
die ein Pariser Koch anläßlich eines Festmahles für die Sieger erfunden
hatte. (Ausführlicher darüber unter dem Stichwort Mayonnaise in „Wörter
und ihre Schicksale“.)
Ein anderes Speisekartenwort erinnert an einen napoleonischen Sieg. Wäh¬
rend der Schlacht bei Marengo (14. Juni 1800) soll Napoleons Koch i Q
Ermangelung von Butter Hühnchen mit Pilzen und Trüffeln in öl gebraten
haben. Seither heißt diese Zubereitung & la Marengo. Übrigens gibt es
als Andenken an jene Schlacht auch eine französische Farbenbezeichnung;
auch in Deutschland war früher für ein von der Damenmode eine Zeitlang
bevorzugtes Stoffmuster, dunkelbraun mit weißen Tupfen, die Bezeichnung
marengofarben gebräuchlich. Ferner ist Marengo ein Fachausdruck
des Textilgewerbes für ein bestimmtes Gewebe, für ein meliertes Strickgarn¬
gewebe, dessen schwarze Grundfarbe durch beigemengte weiße Fasern belebt
wird. (Da weniger staubempfindlich als rein schwarzes Tuch, wird Marengo
für Cutaways bevorzugt.) Die Bezeichnung Marengo führten (nach Brock¬
haus) auch schwarz gefärbte Kammgarnstoffe mit Beimischung von 3—j%
weißer Wolle oder Seide.
Seit der Schlacht von Waterloo (1815) hat Waterloo im Französischen
die Bedeutung: Niederlage (z. B. der Ausruf quel waterloo! = welche
Schlappe!). Im englischen Armeeslang ist Waterloo-day eine Be¬
zeichnung für den Tag des Soldempfangs (Anspielung darauf, daß der 18.
Juni 1815 der Tag war, an dem dem großen Korsen endgültig alles heim¬
gezahlt wurde.) An den Oberbefehlshaber der Verbündeten bei Waterloo
erinnert uns das (in einer Teighülle) gebratene Filet ä la Wellington.
Durch die Beliebtheit, der sich seit dem entscheidenden Anteil der Truppen
Blüchers an dem Sieg bei Waterloo Preußen eine Zeitlang in England
erfreute, erklärt sich die Verwendung des Eigenschaftswortes Prussian gleich¬
sam als eines Kosewortes. So bedeutete im Slang my Prooshan blue
(— my Prussian blue, mein Preußisch-Blau) etwa: mein Liebling. Der Aus¬
druck ist u. a. bei Dickens (Pickwickier) belegt. (Als Gegenstück erwähnen
wir aus der französischen Umgangssprache: prussien = Gesäß.) An Blücher
selbst erinnert im englischen Wortschatz des 19. Jahrhunderts der Ausdruck
the bluchers = feine Halbstiefel.
In vielen europäischen und außereuropäischen Städten gibt es Vergnü¬
gungslokale, die Trocadero heißen. In den Jahren vor dem Weltkrieg
nannten sich in Deutschland vorzugsweise solche Lokale so, in denen die
Tanzvorführungen nicht auf einer Bühne, sondern auf dem Parkett, mitten
im Publikum stattfanden. Trocadero ist der Name eines Fischerdorfes und
Forts gegenüber von Cadiz. Nach hartnäckiger Belagerung eroberten die
Franzosen, die damals im Aufträge der reaktionären Heiligen Allianz die
liberale spanische Regierung bekämpften, am 31. August 1823 das Fort Tro-
cad£ro. Zu Ehren dieses Sieges wurde ein großer Platz in Paris nach dem
Fort Trocadero benannt. Dort wurde dann für die Weltausstellung 1878 das
7 *
palais du Trocadero erbaut. Mit Anspielung auf die viel besuchten Vergnü-
gungs- und Tanzstätten der Pariser Ausstellung legten sich dann allerlei
Lokale in Großstädten auch den Namen Trocadero bei. (Eine Music-hall in
London, die sich Trocadero nannte, wurde dann kürzer Troc genannt.)
Nach der mehrere Wochen dauernden heldenhaften Verteidigung einer
befestigten Station bei Mazagran in Algerien durch wenige Franzosen gegen
eine große Übermacht von Arabern im Jahre 1840 heißt gewässerter schwar-
zer Kaffee (weil die tapfere Besatzung gegen Ende der Belagerung fast gar
keine andere Nahrung mehr hatte) seither Mazagran (ausführlicher unter
diesem Stichwort in „Wörter und ihre Schicksale“).
In die Jahre 1857 und 1858 fällt der sogenannte Sepoy-Krieg in Indien,
der Kampf der Engländer gegen meuternde Eingeborenentruppen. In ein¬
zelnen Städten verteidigten sich englandtreue Garnisonen gegen die belagern¬
den Sepoys, andere von den Meuterern gehaltene Orte wurden von den Eng¬
ländern belagert. Einer der englischen Generäle, deren Kriegsruhm die eng¬
lische Öffentlichkeit beeindruckte, hieß Havelock und ein Bild von ihm, das
durch die Zeitungen ging, hatte zur Folge, daß der Typus des Mantels, in
dem ihn jene Zeichnung zeigte und der bis dahin eines besonderen Namens
anscheinend entbehrte, fortan Havelock hieß. Man bezeichnete damals als
Havelock einen der ganzen Länge nach zugeknöpften Mantel, der ärmellos
war, aber mit einem langen herabfallenden, die Arme ganz bedeckenden
Schulterkragen versehen war. Seither hat sich die Bedeutung dieser Man¬
telbezeichnung wiederholt modifiziert. Im Englischen hat übrigens havelock
auch die Bedeutung: Kopf- und Nackenschleier für die Tropen.
Der Sieg der von Mac Mahon befehligten französisch-piemontischen Armee
über die Österreicher am 4. Juni 1859 hat den Namen des norditalienischen
Ortes Magenta, wo diese wichtige Schlacht stattfand, in aller Welt Mund
gebracht. Da man für einen Teerfarbstoff, dessen industrielle Herstellung
damals grade in eine neue Phase trat, einen einprägsamen Namen suchte,
nannte man ihn in Frankreich magenta. Auch deutsche Wörterbücher führen
die Farbenbezeichnung Magentarot, doch werden in der deutschen Far¬
benindustrie jetzt die Bezeichnungen Fuchsin und Anilinrot bevorzugt. Bei
Magenta erwarb sich neben Mac Mahon (der Duc de Magenta wurde) auch
Adolphe Niel Ruhm und Marschallstab; nach ihm wurde die einige Zeit
darauf in Frankreich erzüchtete Teerose mit gelben, duftreichen, halt¬
baren Blüten Markhai Niel getauft. Auch in Deutschland wurde die
Marschall-Niel-Rose unter diesem Namen bekannt.
Zwanzig Tage nach Magenta errang die französisch-piemontische Armee
einen neuerlichen Sieg über Österreich. Nach dem Schlachtort Solferino wurde
eine Zeitlang ein bestimmtes Rot Solferinorot genannt. (Es ist mir nicht
gelungen, festzustellen, durch welche Schattierung sich das nach dem 24.
Juni benannte Rot von dem nach dem 4. Juni benannten unterschied.) Hier
sei erwähnt, daß man nach den Rothemden Garibaldis auch von einem G a r i-
73
b a 1 d i r o t sprach und jahrelang, in manchen Gegenden sogar noch J a h r .
zehntelang eine rote Bluse als Garibaldibluse oder einfach als G a r i b a 1 d j
(so z. B. in der Schweiz) bezeichnete. In Frankreich bezeichnete man auch
trockenen Zwieback mit eingebackenen Korinthen als garibaldi (noch so i n
Klöppers Reallexikon 1900).
Als 1871 die kommunistisch verwaltete französische Hauptstadt von de n
Truppen der Versailler Regierung belagert wurde, verbreiteten sich überall
Gerüchte von Brandstiftungen Pariser Revolutionäre; so entstanden die Aus.
drücke petroleur und petroleuse, Schimpfwörter für die Komitm-
narden, später allgemein auf die Anhänger des Sozialismus übertragen.
Mit Spannung verfolgte im Burenkrieg die europäische Öffentlichkeit die
Belagerung der vom englischen Obersten Baden-Powell (dem heutigen obersten
Führer aller Pfadfinder) verteidigten Stadt Mafeking. Als englische E nt .
satztruppen im Mai 1900 Mafeking nach mehr als siebenmonatiger Belage-
rung durch die Buren befreiten, fanden in allen Städten Englands große
Siegesfeiern statt. Seither ist der englische Wortschatz um ein neues Zeit-
wort bereichert: to maffick = begeisterte patriotische Kundgebungen
veranstalten. (Der Ortsnamen Mafeking wurde gleichsam so behandelt, wie
wenn seine Endung -ing die englische Partizipialendung wäre und es wurde
ein Zeitwort daraus rückgebildet; sogenannte back-formation.)
Keine Belagerung hat so viel Spuren in den Wörterbüchern hinterlassen,
wie die von Sebastopol (vom Oktober 1854 bis September 1855) i m
Krimkrieg. So wie sich bei der Belagerung von Cadiz (1823) vor allem
der Name des Forts Trocadero der Öffentlichkeit einprägte, so konzentrierte
sich auch bei der Belagerung der russischen Festung am Schwarzen Meere
durch die den Türken verbündeten Franzosen und Engländer die Aufmerk¬
samkeit auf ein bestimmtes Fort, den Malakoff-Turm. Nicht zu Unrecht, denn
der Befestigungsplan des russischen Befehlshabers, des Generals Todleben, hatte
tatsächlich dem Malakoff die wichtigste Rolle in der Verteidigung Sebasto-
pols zugewiesen. Am 18. Juni 1855 versuchten die Franzosen vergeblich das
Fort Malakoff zu stürmen, aber als es am 8. September den Zuaven der Bri¬
gade Mac Mahon gelang, in den Malakoff einzudringen, war auch das Schick¬
sal Sebastopols besiegelt und der ganze Krimkrieg entschieden. Nach dem
Turm Malakoff, der sich als die Schlüsselstellung erwiesen hatte, bekam
Pelissier, der französische Oberbefehlshaber den Titel eines Duc de Malakoff
(indes der unter ihm an der Eroberung des Malakoff beteiligte Mac Mahon
später Duc de Magenta wurde). Während der Belagerung von Sebastopol
entstand im Süden von Paris, unmittelbar an dem Stadtwall, eine neue Sied¬
lung. Das Holzgerüst für eine dieser Neubauten überragte die anderen und
konnte, bei einiger Phantasie, die Vorstellung eines Turmes erwecken. Ein
geschäftstüchtiger Pariser, der gerade neben diesem „Turm“ ein Gast- und
Tanzhaus errichtete, nannte es, an das damals jeden bewegende Interesse
appellierend, „zum Tour Malakoff“. Dieser Name ging auf die ganze Sied-
74
lung über, die, abgetrennt von der Gemeinde Vauves, eine selbständige Ge¬
meinde wurde und seither — Malakoff-la-Tour heißt; sie ist jetzt
ganz mit Paris verwachsen. Übrigens hat die Belagerung von Sebastopol
nicht nur der Landkarte Frankreichs einen russischen Ortsnamen beschert;
au f britischem Gebiet, in Wales, wurde ein kleiner Ort damals Sebastopol
getauft. Bemerkenswert ist, daß die Bevölkerung von Frankfurt a. M» die
von Burnitz zur Zeit der Belagerung von Sebastopol erbauten Häuser der
Liebfrauenstraße noch ein halbes Jahrhundert später (Askenazy, 1904) „Ma-
lakoff“ nannte. Auch im Jenaer Forst gibt es, wie Prof. Franz Blume mir mit¬
teilt, einen Malakoffweg.
So wie mancher andere französische Sieg (Mahon-Mayonnaise, ä la Maren-
g 0 , Mazagran), hinterläßt auch die Erstürmung des Malakoff seine Spur auf
der Speisekarte. Malakofftorte ist auch heute noch eine internationale
Bezeichnung. Weniger bekannt ist, daß in Frankreich eine feine Traubenart
lange den Namen Malakoff trug.
Neben der Speisekarte ist auch das Vokabular des Bekleidungswesens durch
die Eigennamen, die die Kriegs- und Belagerungsberichte in aller Leute Mund
bringen, leicht beeindruckbar. Den Havelock haben wir bereits erwähnt. Der
Krimkrieg und die Belagerung von Sebastopol liefern dem Lexikon gleich
drei neue Bezeichnungen für Kleidungsstücke. Englisch nightingale be¬
deutet Flanellhemd für Kranke, nach Miß Florence Nightingale, die durch
ihre Verdienste um die Krankenpflege im Krimkrieg berühmt wurde. Sowohl
der Name des englischen Befehlshabers im Krimkrieg, als der des russischen
überlebte seinen Träger als eine Bezeichnung für eine Mantelart. Nach dem
einarmigen englischen Feldmarschall Lord Raglan, der während der Belage¬
rung Sebastopols an der Cholera starb, heißt seither der Mantel, bei dem
der Ärmel nicht an der Achsel eingesetzt, sondern bis zum Kragen durchge¬
führt ist: Raglan. Die Bezeichnung Menschikoff für einen leichten
Überzieher war in den Jahren vor dem Weltkrieg noch gebräuchlich. Fürst
Menschikoff, eine Zeitlang der Oberbefehlshaber der russischen Land- und
Seemacht im Krimkrieg, hat nicht wie sein Gegner Lord Raglan durch die
äußere Form seines Mantels die terminologische Phantasie des Schneidergewer¬
bes befruchtet, sondern durch einen bestimmten Vorfall, in dem sein Über¬
zieher eine Rolle spielte. Knapp vor Ausbruch des Krimkrieges kam Men¬
schikoff als außerordentlicher Gesandter Rußlands nach Konstantinopel. Es
hieß damals allgemein, sein den kriegerischen Intentionen Rußlands gemäß
schroffes Auftreten bei der Hohen Pforte habe den Krieg verursacht oder
doch seinen Ausbruch beschleunigt. Durch ganz Europa ging bei Kriegsbeginn
die Anekdote, der Gesandte Menschikoff habe den Großwesir, der übrigens
des Sultans Schwager war, im Überzieher besucht, um ihn zu beleidigen.
Diese nette Legende hat die objektive Geschichtsforschung seither zerstört.
Gleich nach der Ankunft in Konstantinopel ließ Menschikoff den Großwesir
bitten, ihn zunächst privat besuchen zu dürfen. Vermutlich aus einem
1
Mißverständnis empfing jedoch Mehemed Ali Pascha den Fürsten, der nicht
in der Diplomatengala, sondern im Frack und Uberzieher zur Zusammenkunft
ging, dennoch offiziell. Menschikoff wartete zunächst (wie bei Hertslet-
Helmolt erzählt wird) in einem langen ungeheizten Korridor, aus dem er
dann noch in ein Vorzimmer zu kommen gedachte, wo er den Überzieher
hätte ablegen können. Plötzlich öffnete sich aber am Ende des Korridors ein
schwarzer Vorhang und der Großwesir stand im Salonanzug vor Menschi¬
koff. Es blieb dem Russen nichts übrig, als den Uberzieher rasch abzu¬
nehmen, ihn über den linken Arm zu legen und den Pascha zu begrüßen.
Als die beiden Staatsmänner dann auf einem Sofa Platz nahmen, legte Menschi¬
koff den Uberzieher neben sich hin. Den Krimkrieg wird dieses harmlose
Kleidungsstück wohl doch nicht entfesselt haben, aber als die Spannung, mit
der die europäische Öffentlichkeit den einige Monate später beginnenden
Krimkrieg verfolgte, auch seiner Vorgeschichte Interesse zukommen ließ,
wurde jener Vorfall mit Menschikoffs Uberzieher so sprachgeläufig, daß
wieder einmal ein Eigenname seinen Einzug ins Wörterbuch als Sach-
name feiern konnte, indem das Wort Menschikoff die Bedeutung Über¬
zieher bekam. Man kann also sagen, im Kampfe um Sebastopol stand der
Wettermantel des englischen Marschalls Raglan dem Uberzieher des russi¬
schen Oberbefehlshabers Menschikoff gegenüber. Auf die Frage, welche
Art von Uberzieher als Menschikoff bezeichnet worden ist, möchte ich mich
nicht einlassen, denn bei solchen Modebezeichnungen ist die Bedeutung ge¬
wöhnlich schwankend und einem raschen Wechsel unterworfen. (Ich erwähne
bloß einen Beleg aus dem Jahre 1876 aus dem Pariser Figaro, der die Mantel¬
typen Menschikoff und Ulster gleichstellt.) Die Mantelbezeichnung Menschi¬
koff hat im Londoner Slang noch eine weitere gezeugt. Farmer-Henleys Slang¬
wörterbuch verzeichnet: the immensikoff = mit Pelz schwer gefütterter
Mantel. Offenbar ist hier, mit Hilfe eines Wortwitzes (immens = ungeheuer
groß, maßlos), eine „Steigerung' 4 von Menschikoff vorgenommen worden.
Das Slangwort immensikoff gelangte zur Verbreitung durch den Kehrreim
eines Couplets das Arthur Lloyd in den Sechziger Jahren sang und das The
Skoreditch Toff hieß („Der Stutzer von Skoreditch", Sk. ist ein Londoner
Stadtteil). Zur Entstehung des Ausdrucks immensikoff ist noch zu bemerken,
daß „immense" lange ein Modewort war in London und in Paris, etwa wie
im Vorkriegsdeutschland „kolossal 4 *. (Den Ausruf c’est immense hat in Frank¬
reich besonders die Offenbachoperette La Jolie Parfumeuse, 1873, volkstüm¬
lich gemacht.)
Neben den aus Personennamen des Krimkrieges abgeleiteten Kleidungsbe¬
zeichnungen nightingale. Raglan, Menschikoff sei auch eine genannt, die auf
einem geographischen Eigennamen beruht, auf dem Namen der Halbinsel Krim
selbst. Das Hauptwort crimeenne erklärt der Larousse: langer und weiter
Militärmantel mit Kapuze und Pelerine, nicht vorschriftsmäßig, aber von
den Offizieren im Krieg häufig getragen. Sachs-Villatte gibt französisch
A
\
7 6
crim&nne durch deutsch Havelock wieder. So mischt sich im Vokabular
jer Mantelmoden der Krimkrieg mit dem fast gleichzeitigen Sepoykrieg.
Ein eigener Sieg, den die Engländer im Krimkrieg errungen haben, führt
zur Bereicherung des englischen Armeeslangs. Nach Balaklava, der Hafen¬
stadt in der Krim, wo die Engländer am io. Oktober 1854 einen großen
russischen Angriff erfolgreich abwehrten, hat Balacla va-day im Armee¬
slang die Bedeutung: Zahltag. Mir scheint dieser Ausdruck aus der Tatsache
des Sieges („Heimzahlung”) erklärt werden zu müssen (wie oben S. 72 Water-
loo-day =• Zahltag). Ein englisches Slangwörterbuch erklärt jedoch: „Bala-
clava war die große Ergänzungsbasis für die englischen Truppen, bei den
dortigen Marketendcreien konnte man am besten den am Zahltag bekomme¬
nen Sold los werden.“
Mit der Belagerung von Sebastopol hängt auch eng der Ausdruck
Tatarennachricht = falsche oder stark übertreibende alarmierende
Nachricht zusammen. Der Ausdruck geht auf ein am 2. Oktober 1854 in
Wien aufgegebenes Telegramm zurück, das fälschlicherweise den Fall Seba-
stopols meldete (der aber erst elf Monate später, am 8. September 1855
erfolgte). Die Nachricht, hieß es in jenem Telegramm, habe ein „Tatar“
(Meldereiter) nach Bukarest gebracht. (Ausführlicheres darüber unter dem
Stichwort „Ente“ in „Wörter und ihre Schicksale“).
Wie es bei den Siegen von Marengo und Magenta der Fall war, hat die
französische Sprache auch im Krimkrieg Gelegenheit gefunden, die Listen
ihrer Farbenbezeichnungen zu vergrößern. Seit der Besetzung von Adria-
nopel durch die Franzosen (1854) gibt es ein rouge andrinople.
Übrigens wurde andrinople auch die Bezeichnung für einen billigen
Baumwollstoff.
An den Krimkrieg erinnert auch die Bezeichnung Krimstecher für
das Doppelfernrohr. Sie ist allerdings in neueren Wörterbüchern schon durch
das Wort Feldstecher „ausgestochen“ worden.
Jause
nennt man nicht nur im heutigen Österreich, sondern fast überall bei den
Deutschen auf dem Gebiete der ehemaligen Donaumonarchie die kleine
Zwischenmahlzeit, u. zw. wenn nicht ausdrücklich anders bezeichnet, jene
zwischen Mittagessen und Abendbrot. Die Zwischenmahlzeit am Vormittag
bezeichnet man genauer als „Zehnerjause“, ohne Rücksicht darauf, ob sie
um 10 Uhr oder früher oder später eingenommen wird. Muß ja auch in
der Schweiz das Z’nüni nicht gerade um 9 Uhr, das Z’vieri nicht gerade
um 4 Uhr eingenommen werden 1 . In Kärnten unterscheidet man Vor jausen
1) Im Südosten der Schweiz, in Graubünden, gibt es statt Z’nüni und
Z’vieri das Hauptwort Märend und das Zeitwort märenden. (Händ er
77
(am Vormittag) und Nachjausen 1 . Das Nachmittagsschläfchen nannte der
Wiener in früheren Zeiten Jausenschlaferl.
Fälschlicherweise hat man das Wort Jause etymologisch zu jener indo¬
germanischen Wortsippe in Beziehung gesetzt, der auch das deutsche Wort
Jauche angehört 2 . Zu dieser Sippe gehört lateinisch jus = Brühe, fran¬
zösisch jus, englisch juice = Saft, altpreußisch und polnisch jucha = Brühe
woher dann unmittelbar das deutsche Jauche entlehnt ist. Aber Jause ist
ganz anderer Herkunft. Das slowenische Wort j u z i n a bedeutet
Mittagessen, juzinati = zu Mittag essen. Die darin enthaltene slawische
Wortwurzel j u g 3 mit der Doppelbedeutung „Süden" und „Mittag" (wie
französisch midi, ungarisch del 4 ) ist heute durch den Namen Jugoslawien
(,,Südslawien cc ) allgemein bekannt. Die Entlehnung des slowenischen Wor¬
tes durch die österreichische Volkssprache erfolgte schon im 15. Jahrhun¬
dert 5 . (Im Ungarischen wurde aus dem slawischen jusina das Wort
uzsonna, mit der gleichen Bedeutung wie das österreichische Jause.)
g’marendet?) Das Wort geht auf rätoromanisch marenda (italienisch merenda)
= Mittagsbrot zurück.
1) In Steiermark heißt übrigens die Nachmittagsjause auch Halber-
abendmahl; den Halberabend halten = die Nachmittagsjause einnehmen.
Aus dem älteren Steirischen sei noch der Ausdruck „Jausenzeitbau“ erwähnt
= Ackerfläche, deren Bestellung eine Arbeitsdauer von einer Jause zur an¬
dern, d. h. von der vormittägigen bis zur nachmittägigen, erfordert. — In
Tirol sind neben Jaus’n auch die Synonyme Märend, Vormeß, Neuner (neu¬
nem, neunerlen) üblich. Im Unterinntal heißt die Vormittagsjause auch
„Umal“ (man hat versucht diesen Ausdruck als „Unmahl“ zu deuten, nach
Art wie Unsache = geringe Sache).
2) Aus dem Bestreben, „Jause“ mit „Jauche“ zu verbinden, gelangt Stucke
zur gekünstelten Folgerung, „Jause“ habe zunächst wohl eine Zwischenmahl¬
zeit von vorwiegend flüssigen Speisen bezeichnet. Dem ist entgegen¬
zuhalten, daß die Zwischenmahlzeit, die der Bauer oft auf dem Felde ein¬
nimmt, meistens nicht flüssig ist; man beachte auch, daß man von einem
Gabel frühstück spricht, nicht etwa von einem Löffelfrühstück.
3) Zur slawischen Sippe jug gehören u. a. die Wörter: kleinrussisch juh =
Süden, Südwind, juha = warmer Wind, juhovyj = südlich brennen; serbo¬
kroatisch und slowenisch jugovina = Tauwetter; bulgarisch uzin = Vesper¬
brot. Die Etymologie der slawischen Wurzel jug selbst ist unsicher. Sie gehört
nach Berneker vielleicht zur Sippe von altindisch vjas = Macht, lateinisch
augere = wachsen lassen (enthalten in augustus = hoch, erhaben und in un¬
seren Fremdwörtern Autor, Autorität, Auktion, Auxiliär-). Die ursprüngliche
Bedeutung von slawisch jug (Süden) wäre demnach Höhe, d. h. Hochstand
der Sonne.
4) Man vgl. auch litauisch petus, das sowohl Süden als Mittagsmahlzeit
bedeutet. . , 1 , ■ i ; jj, , ; 1 ; t -M
78
Katzelmacher
Indignatio facit versum. Entrüstung über den Feind drängt zum Reime,
wofür schon Abraham a Santa Clara ein Beispiel liefert, der sich im 17.
Jahrhundert ereiferte: „den Feind schlagen, die Türken jagen, die Moham¬
medaner zwagen, 1 die Muselmanen plagen“. Bei Beginn des Weltkrieges
konnte man auf vielen Eisenbahnwagen, die Truppen beförderten, die Auf¬
schrift lesen: „Jeder Schuß ein Ruß, jeder Tritt ein Brit, jeder Stoß ein Fran¬
zos!** Als im Frühjahr 1915 auch Italien dem Habsburgerreich den Krieg
erklärte, bekam jene Aufschrift eine Fortsetzung: „Jeder Kracher ein Katzel¬
macher!“ Wer in der vielzüngigen Donaumonarchie es bis dahin noch nicht
wußte, erfuhr es jetzt, daß „Katzelmacher** ein altes und verbreitetes deutsch¬
österreichisches Schimpfwort für Italiener ist. Man gebrauchte es hauptsäch¬
lich für herumziehende italienische Taglöhner, Musikanten, Hausierer. Ver¬
einzelt ist diese Schelte, besonders für frühere Zeiten, auch außerhalb Öster¬
reichs im oberdeutschen Sprachgebiet bezeugt; z. B. in der Schweiz in der
Form Chätzlimacher. Es kommt auch bereits bei Hans Sachs vor.
Katzelmacher, wellischer Katzelmacher hatte übrigens in Österreich nicht
nur die Bedeutung Italiener, sondern wurde auch als verächtliche Bezeich¬
nung für andere romanische Völker verwendet. Am 13. März 1741, als die
Kaiserin Maria Theresia ihren ersten Sohn bekam, den späteren Kaiser
Josef II., war an einem Hause „am Hof“ ein Transparent angebracht* dessen
gereimte Inschrift mit den Worten begann: „Du Katzelmacher, pack dich
fort...'* Es war eine Anspielung darauf, daß die Geburt eines männlichen
Erben Österreich vor der Gefahr bewahren werde, es könnte eine fremde
(romanische) Dynastie Anspruch auf den Thron erheben. Jedenfalls spricht
der Wortlaut jenes Transparents dafür, daß die Bezeichnung „Katzelmacher“
für die „Welschen“ um die Mitte des 18. Jahrhunderts in Wien allgemein
bekannt war. Etwa fünf Generationen später, 1873, bezeichnet Hügels Wör¬
terbuch der Wiener Volkssprache den Ausdruck Katzelmacher als: veraltet,
5) Von südslawisch iug = Süden, Mittag leitet sich außer Jause auch noch
ein anderes Wort der österreichischen Volkssprache ab. Der Süd- oder Süd¬
westwind heißt in Kärnten und Steiermark der J a u k, im Salzburgischen
Jauchwind (fälschlich auch als Jochwind gedeutet). Das Tauwetter heißt
in Kärnten Jaugwetter oder J u s c h j e. Auch das tirolische jauschen
= im Sonnenschein dünn regnen hängt vielleicht mit slowenisch juzi se = es
taut (nämlich unter dem Einfluß des warmen Südwindes) zusammen, wenn
es nicht vielleicht doch wie schweizerisch Gejänk, Jänkele == rascher Wit¬
terungswechsel zu schweizerisch jänkken, jänggen = jagen zu halten ist.
i) Zwagen = die Wäsche mit einem flachen Holze schlagen.
79
nur in der Umgebung noch gebräuchlich. 1898 verzeichnet H. Schukowits
im „Urquell" Katzelmacher besonders als Bezeichnung für die italienischen
Taglöhner der k. k. Nordbahn.
Katzelmacher war und ist tatsächlich eine verächtliche Bezeichnung, <j a .
rüber kann kein Zweifel bestehen („man versteht die aufwallende Empö.
rung der Romulusenkel über diesen wenig schmeichelhaften Ehrentitel"
schrieb Prof. Knielly in der Grazer „Tagespost"), aber worin eigentlich der
Schimpf besteht, darüber waren sich all diejenigen nicht sehr klar, die in
den affektgeheizten Kriegstagen dieses Scheltwort im alltäglichen Gebrauch
hatten. Gewöhnlich verknüpfte man damit mehr oder minder deutlich irgend
welche Vorstellungen in Bezug auf die Katze: die Italiener seien Katzen¬
diebe, sie seien Liebhaber von Katzenbraten, sie benützten zu ihren Pelzen
Katzenfelle, sie mißbrauchten Katzen geschlechtlich usw. Daß der Inhalt des
Schimpfwortes vom Wortlaut beeinflußt wird, ist nicht zu vermeiden, der
Wortforscher kann sich aber mit der Feststellung der oft spät hinzugekom¬
menen Bedeutungsnuancen nicht begnügen, er muß versuchen, die wirkliche
sprachliche Herkunft des Ausdrucks aufzudecken. Es liegen mehrere Etymo¬
logien für das Wort Katzelmacher vor, genauer gesprochen für den ersten
Bestandteil dieser Zusammensetzung.
1) Vor allem erwähnen wir diejenigen, die glauben, dem sprachlichen
Augenschein trauen zu dürfen und im ersten Teil des Ausdrucks wirklich
die „K a t z e" sehen. Es wird eben der in das Schimpfwort offenbar nach¬
träglich hineingelegte Sinn, der die Italiener des Katzenessens 1 beschuldigt,
gleichzeitig auch als das entscheidende etymologische Moment ausgegeben.
Andere schaffen derart eine Verbindung zwischen dem Begriff des Italie¬
ners und dem der Katze, daß sie auf die italienischen Händler von Ton- und
Gipsfiguren (figurini) hinweisen, die vor dem Weltkriege in deutschen
Ländern herumzogen. Diese hätten auch kleine Katzenstatuen verkauft. Aber
doch bei weitem nicht so viel Katzen, als Dantes, Napoleons, Goethes.
Warum sollten dann diese Gipsfigurenhändler und alle ihre Landsleute nach
den Katzen benannt worden sein? (Da gibt es schon viel mehr Katzen unter
den kleinen Kunstwerken der Kopenhagener Porzellanmanufaktur, ohne daß
i) Der Vorwurf des Katzenessens ist volkskundlich auch sonst belegt und
diese Schelte hat sogar einen Beitrag zur Familiennamenbildung geliefert. In
der ungarischen Hauptstadt lebt seit vielen Generationen eine aus Graubünden
oder dem Tessin eingewanderte Familie, in der das Kaminfegergewerbe erblich
ist. Ihr Familienname war früher Menegatta (Mangiagatta = friß* die Katz!)
und ist mittlerweile zu „K a t z e n b e i ß e r“ verdeutscht worden. Im Wiener
Adreßbuch 1937 finde ich den Namen Katzenbeißer 26mal vertreten.
80
man die Dänen jemals als Katzelmacher bezeichnet hätte.) Auf die Deutung,
die Italiener seien Katzelmacher, weil sie es „mit Katzen machten“, d. h.
Sodomiten seien, wollen wir weiter unten zurückkommen, wo wir die Ablei¬
tung von „Katzelmacher“ aus „Ketzer“ erörtern werden.
2) Die Polenta, der beliebte Maisbrei der Italiener, wird im Italieni¬
schen auch cascia genannt; auch mit diesem letzteren Worte wollte man
Katzelmacher in Verbindung bringen. (Allenfalls ist richtig, daß Spottwör¬
ter und Schimpfnamen, die von wirklichen oder angeblichen Lieblingsspeisen
gewisser Völker hergenommen sind, verschiedentlich verkommen; so wer¬
den im französischen Argot Engländer als „biftecks“ bezeichnet und wird
in deutschen Liedern der jüngsten Zeit von den Juden als dem „Volk der
Knoblauchfresser“ gesungen.)
3) Für die im Wiener „Fremdenblatt“ 1913 ausgesprochene Meinung von
Prof. Hammer, Katzel- sei eine Verballhornung von cacio = Käse,
spricht einzig der Umstand ein wenig, daß man die Italiener an manchen
Orten auch „Käsestecher" nennt. (Den damals von F. Pollak erhobenen
Einwand, in Österreich hausierende Italiener* hätten zwar mit Käse gehandelt,
ihn aber nicht selbst „gemacht“, kann man jedenfalls nicht gelten lassen;
volkswirtschaftliche Genauigkeit muß man von einem volkstümlichen Schelt¬
wort nicht verlangen.)
4) Die Deutung von Katzelmacher aus „Kotzen macher“ (Kotze =
zottiges Tuch, grober Teppich) ist bloß ein Einfall und durch nichts zu
stützen.
5) Etwas mehr hat für sich die Deutung, Katzelmacher sei eine Verder-
bung von Kessel macher. Neben den wenigen seßhaften Kesslern, die zu
den zünftigen und ehrbaren Handwerkern gehörten, gab es in nicht geringer
Zahl herumziehende Kessler, wohl hauptsächlich nur Kesselflicker und Ver¬
käufer von anderwärts verfertigten Waren, die außerhalb der Gewerbeord¬
nung standen und eigene Verfassung hatten. Sie bildeten, wie das Schweize¬
rische Idiotikon vermerkt, ein „Königreich“ (wie etwa die fahrenden Musi¬
kanten, die „Pfeifer“) und hatten in der Schweiz einen Chessler-Chünig.
Die Kessler hatten angesichts ihrer unsteten Lebensweise natürlich einen
zweifelhaften Ruf und das Wort Kessler nahm einen entsprechenden Neben¬
begriff an, so daß es fast gleichbedeutend wurde mit Landstreicher, Vaga¬
bund. 1531 nennt Heinrich Bullinger die „widertäufferisch Rott“ eine
Kesslergesellschaft, in der Berner Bettlerordnung 1727 werden angeführt;
„alles frömbde Bettel- und Strolchen-Gesind, ausländische Korbmacher,
Kessler und Spengler“. Man sprach auch von Kesslerpack, Kesslerware.
Jeremias Gotthelf gebraucht Kesslerwesen im Sinne von: unstetes Wesen.
8i
6 Storfer • Sprache
Chessler hat in der Schweiz auch die Bedeutung: Schmeichler, charakterloser
Kerl, ferner einer, der Stimmen zur Erlangung eines Amtes erkauft, daher
Chessleri für Wahlumtriebe. Für den verächtlichen Gebrauch von Kessler,
Kesselflicker, Kesselmacher dürfte auch maßgebend gewesen sein, daß dieses
Gewerbe auch von herumziehenden Zigeunern ausgeübt wurde. Auch die
slowakischen „Rastelbinder", die vor dem Krieg in Österreich herumzogen,
erfreuten sich keines großen Ansehens. Wenn nun Kessler, Kesselmacher
eine allgemeine verächtliche Bezeichnung für herumziehende fremdsprachige
Händler und Arbeiter überhaupt war, so mag dies zu gewissen Zeiten und
an gewissen Orten auch für italienische Arbeiter und Hausierer gegolten ha¬
ben und es wäre grundsätzlich immerhin möglich, daß der Ausdruck „Kessel¬
macher" die Vorstufe von „Katzelmacher" war.
6) Das Wort Kessel (althochdeutsch kezzil) kommt von lateinisch catinus 1
= Napf, Schüssel, Wasserkessel der Handfeuerspritze. Dieses lateinische
Wort hat außer „Kessel" noch einen zweiten Abkömmling, der für die Deu¬
tung von „Katzelmacher" herangezogen worden ist. Von lateinisch catinus
stammt nämlich auch italienisch c a z z a (oder gazza, grödnerisch tgiazza) =
Rührlöffel. Auch das Schweizerische und das Bayrisch-Österreichische
weisen zur selben Wurzel gehörige Löffelbezeichnungen auf und es muß
dahingestellt bleiben, ob sie Entlehnungen aus dem Italienischen sind oder
zu den frühen und unmittelbaren Nachkömmlingen des Vulgärlateins in den
alpenländischen Mundarten gehören. Der Gatzen und das Gätzi waren
schweizerische und südösterreichische Bezeichnungen für metallene oder höl¬
zerne Schöpfkellen. Vom frühen Vorkommen in Österreich zeugt „Katzen"
in einem Inventar von 1482 (O. v. Greyerz). Tirolische, kärntnerische und
steirische Wörterbücher buchen den Ausdruck „die Gatz" oder „der Gatzen",
Unger-Khull verzeichnet für Steiermark auch die Verkleinerung Gatzel,
Gatzerl. In Tirol nennt man die Seihkelle zum Seihen von Flüssigkeiten,
z. B. der Milch, Seichgatzl. Nun haben die italienischen Hausierer, die in
Österreich, vor allem natürlich im benachbarten Tirol, mit allerlei billigen
Waren herumzogen, unter anderem auch Schöpfkellen und hölzerne Löffel
verkauft, und man mag von ihnen angenommen haben, daß sie solche primi¬
tive Küchengeräte, „Gatzen", selbst anfertigten. Die Bezeichnung Katzel¬
macher sei also zunächst gar kein Schimpfwort gewesen, sondern eine sach¬
liche Feststellung des Gewerbes der italienischen Holzlöffelmacher und -Ver¬
käufer, das Wort habe nur einen verächtlichen Charakter bekommen, weil
i) Die Umwandlung von n zu 1 zeigen nach der Zusammenstellung von
Kluge-Goetze außer catinus-Kessel auch: Esel aus lateinisch asinus, Igel zu
griechisch echinos, Himmel zu gotisch himins, Kümmel aus semitisch kammun.
W
82
eben die herumziehenden Löffelverfertiger, die „Löffler", als ebenso ver¬
ächtlich galten, wie die unzünftigen Kessler, Spengler und alles fahrende
Volk. Der stärkste Einwand gegen die Deutung von Katzelmacher als Gatzl-
(cazza-, Löffel-) macher ist, daß der Ausdruck Katzelmacher bereits zu
Jnc-r Zeit bestand, als noch keine italienischen Hausierer und Handwerker
durch die deutschen Lande zogen.
7 ) £j ner weiteren Etymologie von Katzelmacher liegt eine Vokabel des
italienischen erotischen Wortschatzes zugrunde: cazzo = männliches
Glied. Aus dem Worte cazzo ist bereits vor vier Jahrhunderten ein deut-
v-her Ausdruck gebildet worden und zwar einer, der — nach dem Grund¬
sätze pars pro toto — zur Bezeichnung eines Menschentypus diente. Der
Leipziger Michael Lindener hat 1558 eine derbe, besonders auch in eroticis
sich wenig Zurückhaltung auferlegende Schwanksammlung unter dem Titel
„Katzipori" veröffentlicht („darinn newe Mugken, seltsame Grillen, uner¬
hörte Tauben, visirliche Zotten verfaßt und begriffen sind"). Der öfters vor¬
kommende Ausdruck Katzipori — Lindener gebraucht diese Form sowohl
als Einzahl als auch als Mehrzahl — kommt anscheinend von italienisch
cazzo == penis und bedeutet nach E. Trauschke dort etwa: geiler, auf derbe
Liebesabenteuer erpichter Geselle, vielleicht auch schlechthin „Kinder-
macher".
Zu „Katzelmacher" soll das italienische Wort cazzo auf dem Wege seiner
Rolle als Fluch wort führen. Daß der Italiener den Ausruf cazzo für
jjde Gelegenheit bereit halte, ohne sich um den obszönen Wortsinn zu küm¬
mern, wußte man auch außerhalb Italiens. In Blumauers Äneis-Travestie
(1788) lautet eine Stelle: „Er sperrte Maul und Augen auf und rief zu
allem: cazzo." Unter anderem soll auch Benedikt XIV., der um die Mitte
des 18. Jahrhunderts auf St. Petri Stuhl thronte, den Ausruf cazzo ständig
ini Munde geführt haben. Als ein Höfling ihn an die Schmutzigkeit des
Wortes zu erinnern wagte, soll er erwidert haben: „Cazzo, cazzo! Ich werde
cs so oft sagen, bis es nicht mehr schmutzig ist, cazzo!" Mirabeau erzählt
die Anekdote von den Studenten in Padua, die einmal mitten in der Nacht
einen Professor weckten und in den Vorlesungssaal holten, damit er über die
richtige Schreibweise eines Wortes entscheide, das zu den allerhäufig-
s t e n im italienischen Sprachgebrauch gehöre. Als sich nun der Gelehrte im
vollen Ornat die Streitfrage vorlegen ließ, stellte sich heraus: es war die
Frage, ob man cazzo mit einem oder mit zwei z zu schreiben habe.
Der Ausruf cazzo hat nicht nur den Charakter eines Fluches, sondern ist
aiiLh der Ausdruck der Überraschung, der Ungeduld, der Ablehnung, paßt
sich überhaupt der Gesprächslage in ebenso schmiegsamer Weise an, wie
83
etwa im Bayrisch-Österreichischen das Götz-Zitat. Der Ausruf cazzo wird
auch häufig als Schmähruf verwendet, z. B. gegen einen Dummkopf. Beson¬
ders ist auch in jenen italienischen Gebieten, die mit dem Deutschtum nach¬
barlich in Berührung kommen, der Gebrauch von cazzo gang und gäbe. So
ist im teilweise gemischtsprachigen Friaul cazz! ein verbreiteter Ausruf im
Sinne etwa von „Potztausend“ 1 .
Daß Katzelmacher vom italienischen Sexualwort cazzo, bezw. von dessen
fluchartiger Verwendung kommt, wird von Schmeller, Lexer und Unger-
Khull vertreten. Mit dem Ausdruck Katzelmacher habe man die Angehörigen
des italienischen Volkes bezeichnet, weil man sie an dem häufigen und typi¬
schen. Ausruf cazzo erkannte 2 . Der Ausdruck Katzelmacher gehört also nach
dieser Deutung zu jenen Spitznamen für einzelne Menschen, Menschentypen
oder ganze Völker, die nach einem Lieblingsausdruck oder einem Lieblings¬
fluch gebildet sind, wie z. B. französisch le goddam für Engländer, spanisch
didones (von dis-donc) für Franzosen usw. (Vgl. die diese sprachliche
Erscheinung betreffenden Ausführungen unter dem Stichwort „Janhagel in
„Wörter und ihre Schicksale".)
8) Als letzte behandeln wir jene Deutung von Katzelmacher, die das
Wort von K e t z e r (Abtrünniger des richtigen Kirchenglaubens) ableitet.
Diese Deutung hängt mit einer Epoche der Religionsgeschichte zusammen.
Seit Ende des 10. Jahrhunderts kommen von der Balkanhalbinsel verschie¬
dene ketzerische Richtungen herüber, die besonders in Norditalien, in der
Schweiz und in Südfrankreich Boden fassen und deren Anhänger unter ver¬
schiedenen Namen — Katharer, Gazari, Manichäer, Albigenser usw.
1) Der italienische Ausruf cazzo hat auch im e n g 1 i s c h e n Slang Eingang
gefunden; z. B. heißt es einmal bei Dickens (im Oliver Twist, 1838): „Gadso!
said the undertaker“. Der Ausruf erscheint im Englischen auch zu gadzooks
verderbt. Farmer-Henleys großes Slangwörterbuch (1893) spricht von einem
Überbleibsel des Phallizimus in gewissen volkstümlichen Flüchen und Aus¬
rufen, besonders bei den romanischen Völkern und verweist auf spanisch carajo
(eigentlich: penis) und cojones (eigentlich: Hoden) und auf italienisch cazzo.
2) österreichische Teilnehmer am italienischen Feldzug 1859 erzählten, es
sei unter den Soldaten der Glaube verbreitet, die Italiener pflegten ihre Gefan¬
genen zu kastrieren und ihnen das abgeschnittene Glied in den Mund zu
stecken; die Italiener nannten dieses Verfahren fare il cazzo, den Cazzo
machen und daher rühre das Schimpfwort Katzelmacher. Daß unter den öster¬
reichischen Soldaten Gerüchte von solchen Grausamkeiten verbreitet sein moch¬
ten und daß solche Gerüchte zu jener Deutung des Schimpfwortes Katzel¬
macher führen mochten, soll nicht bezweifelt werden. Daß es jedoch nicht die
richtige Etymologie ist, geht schon daraus hervor, daß das Schimpfwort viel
älter ist.
84
bekannt waren. Die Häresie — ihre wichtigste religiöse These war duali¬
stisch: Gott als Herr des Himmels, der Teufel als Schöpfer und Herr der
Er j e 1_ verbreitete sich rasch in allen Ständen der Bevölkerung und gelangte
im 12. Jahrhundert zu großer Bedeutung. Sie erhielt sich bis an den Anfang
des 14 Jahrhunderts, nachdem sie bereits eine derartige Ausdehnung erreicht
lütte, daß zu ihrer Bekämpfung besondere Kriege (Albigenserkreuzzüge)
geführt werden mußten. Die endgültige Ausrottung besorgte die Inquisition.
Dem Kampf mit Feuer und Schwert ging, wie es gewöhnlich der Fall ist,
auch einer mit geistigen Waffen voraus. Die Kirche ließ über die Irrgläubi¬
gen verbreiten, daß sie Unzuchtorgien feierten, bei denen sie den Teufel in
Gestalt eines Bockes oder einer Katze anbeteten. Knielly weist darauf hin,
daß in alten bildlichen Darstellungen Ketzer und Hexen einer Katze huldi¬
gend den Hintern küssen. Auf Grund solcher Vorstellungen mengte sich
schon im 12. Jahrhundert der lateinische Ausdruck catarus (Katharer 1 , von
griechisch katharos = rein 2 ) mit lateinisch catus = Kater 3 . Unter Verken¬
nung der Abstammung aus griechisch katharos und mit bewußt wortwitz-
artiger Etymologie, wie sie zu polemischen Zwecken stets beliebt war, schrieb
z. B. Alanus in seiner Schrift „Contra Waldenses" : catari dicuntur a cato, quia
osculantur anum cati, in cuius specie, ut dicunt, apparet eis Lucifer, sie heißen
Katharer nach dem Kater, weil sie den Hintern des Katers küssen, in dessen
Gestalt, wie sie sagen, Lucifer ihnen erscheint. In einer lateinischen Predigt
des 14. Jahrhunderts heißt es ähnlichen Sinnes: unde bene chetzer dicitur
(haereticus), quod sicut cattus multos inficit, postquam buffonem in
occulto lingit. Und schon im 13. Jahrhundert bringt der Franziskaner Bert-
hold von Regensburg den Namen der „Ketzer" mit der „Katze" in Ver-
bindung.
Nach Ausrottung der Katharer verblieb das Schimpfwort Ketzer weiter
im deutschen Sprachgebrauch, besonders bei den südlichen Sprachstämmen,
u. zw. einerseits als Schelte für Italiener (weil doch die alte Häresie bei ihnen
verbreitet gewesen war), andererseits als allgemeines Scheltwort. Elsässische
1) Ungerechtfertigterweise hat man übrigens die Bezeichnung Katharer auch
mit der dalmatinischen Stadt Cattaro in, Verbindung gebracht; man nannte
die Sektierer daher auch Cattarener.
2) Ein anderes Beispiel aus der Religionsgeschichte, wo die Anhänger einer
Sekte sich als die „Reinen“ bezeichnen, liefern die englischen Puritaner (zu
lateinisch purus, rein).
3) Nicht nur mit griechisch katharos = rein berührt sich der Name der
männlichen Hauskatze zufällig, sondern auch mit griechisch katarrhus =
Herabfluß (deutsch: Katarrh), woher daher wohl Kater = Katzenjammer
kommt (vgl. S. 195).
8j
Kraftausdrücke sind z. B.: du dummer Ketzer, Ketzerbu, Ketzerwetter, e
ketzeri Kälte. Schweizerisch: fuler Chetzer, wüester Chetzer usw. Aus dem
Bernischen ist verzeichnet worden: er louggnet (leugnet) wie ne Chätzer;
im Dörfli ume chätzere (herumstrolchen) ; er het e Chätzer, es Chätzerli
(Rausch, Räuschlein). Dabei ist die sodomitische Komponente auch nach
dem Verschwinden der Katharer nicht ganz verblaßt. Die religiösen Gegen¬
sätze während der Reformation haben vielmehr dazu beigetragen, daß An¬
dersgläubige wieder den Vorwurf der widernatürlichen Wollust zu hören
bekamen. Bei Johannes Fischart taucht das Schimpfwort Katzenhinternlecker
auf. Die protestantischen Berner wurden verdächtigt, sich in ihren religiösen
Zeremonien an Katzen zu versündigen und wurden daher von ihren katholi¬
schen Nachbarn „Katzenküsser" geschimpft, und ein langwieriger Grenzkrieg
mit den Unterwaldnern, in den Bern verwickelt wurde, soll auch diese
Schmähung zur Ursache gehabt haben.
Im Schimpfwort Ketzer, selbst wenn es nur eine Umgestaltung von
katharoi, die Reinen, bezw. der damals in der Po-Ebene verbreiteten italieni¬
schen Form gazari sein sollte, klang also der Vorwurf des Katzenhintern¬
küssens mit und Ketzer könnte demnach auch ein abgekürzter Ausdruck
jenes Vorwurfs der Sodomie sein. Und wenn später aus Ketzer Katzelmacher
geworden ist, so hat sich nur der in jenem kurzen Schimpfwort latent
gebliebene obszöne Vorwurf wieder einen deutlichen sprachlichen Ausdruck
verschafft. Warum dabei aus Ketzer gerade Katzel m a c h e r geworden sei,
bliebe noch ungeklärt. Mitgewirkt hat dabei vielleicht der seit dem 15. Jahr¬
hundert gebrauchte Ausdruck „Ketzermacher" = ein Mensch, der andere
zu Ketzern machen will, verleumdet oder heimtückisch betrügt.
Jedenfalls ist zu beachten, daß — auch wenn angenommen wird, daß
„Katzelmacher" tatsächlich von Ketzer kommt — die eigentliche Etymo¬
logie von Katzelmacher noch nicht am Ende ist, denn auch für das Wort
„Ketzer" selbst stehen drei verschiedene Ableitungen zur Wahl:
a) die schon erwähnte vom Namen der Katharersekte, also mittelbar aus
griechisch katharos = rein, wobei sich demnach die Bedeutung aus der
Vorstellung der Reinheit grade; zur verruchten Unreinheit und Unkeuschheit
verkehrt hätte, 1
1) Mit den Sekten der Katharer, Albigenser und Waldenser hängt auch ein
verbreitetes französisches Schimpfwort zusammen: bougre = Schuft, ver¬
worfener Kerl kommt vom Namen der Bulgaren, weil die Sekte der Bogo-
milen in Bulgarien verbreitet war, bezw. weil die Bulgaren schon als Ange¬
hörige der orientalischen Kirche als Ketzer galten. Unmittelbar scheint das
französische Schimpfwort auf italienisch buggerone, bugiarone = Sodomit (aus
8 6
b) die Ableitung von Katze, * 1 so daß „Ketzer" eigentlich „Katzer"
heißen sollte, hätte die alemannische Form Chätzer nicht zu schriftsprach-
lieh Ketzer geführt;
c) die von Collitz und Kluge-Götze vertretene Auffassung, die Ketzer
(und seine älteren Nebenformen Kötzer, Quetser) auf das Zeitwort quet¬
schen (zu lateinisch quatere = schütteln, stoßen, zerschmettern) zurück¬
führt, dessen alter Sinn verletzen, zertrümmern, schädigen ist, so daß Ketzer
die eigentliche Bedeutung Schädiger, Schänder hätte.
Rückblickend auf all diese Deutungen von Katzelmacher sehen wir also,
daß man den Ausdruck ableitet: von Katze, und zwar unmittelbar (1) oder
über Ketzer (8b) oder von cascia = Maisbrei (2) oder von cacio = Käse
(3) oder von Kotze == Teppich (4) oder von Kessel (5) oder von cazza
= Rührlöffel (6) oder von cazzo = Penis (7) oder von katharos = rein
über Ketzer (8a) oder von quetschen über Ketzer (8c).
Es darf angenommen werden, daß in gewissem Sinne mehrere Quellen
bei der Entstehung der Schelte Katzelmacher Zusammenflossen, daß bedeu¬
tungsgeschichtliche Quereinflüsse auf die Wortform eingewirkt haben, daß
also ein Fall von etymologischer Überdeterminierung vorliegt. (Zur Frage
der „Überdeterminierung" vgl. das Stichwort „Gas" in „Wörter und ihre
Schicksale").
lateinisch bulgarus = Bulgare) zurückzugehen; das italienische Zeitwort
buggerare bedeutet: widernatürliche Unzucht treiben, schänden; in übertrage¬
nem Sinne; betrügen. Daher auch im Deutschen Buserant = Homosexuel¬
ler. Wir sehen also auch im Falle Bulgare-bougre, wie beim deutschen Schimpf¬
wort Ketzer, die Vorstellungen Irrgläubiger und Tierschänder ineinander*
fließen.
i) Die Verknüpfung der Vorstellungen Ketzer und Katze ist auch
selbst mehrfach begründet. Zunächst bezieht sie sich auf die angeblichen un¬
sittlichen Vorgänge bei den Irrgläubigen. Wobei auch zu bemerken ist,
daß die Italiener überhaupt für die benachbarten Deutschen Jahrhunderte
hindurch als Träger der unnatürlichen Wollust galten. Geiler von Kaisersberg
(1445—15 10 ), der gegen die Kuh-, Buben- und Frauenketzer wettert, nennt
die perversen Ausschreitungen an Tieren, besonders an Ziegen und Katzen:
„der Walen (Welschen) Kezerey“. Eine andere Bedeutungsbrücke zwischen
den Vorstellungen Ketzer und Katze ist die nächtliche Betätigung. Zwei
gelehrte Jesuiten, Jakob Grether und Gottfried Henschen, vertraten die Mei¬
nung, man habe die Irrgläubigen „Kater“ (katharoi) genannt, weil sie, wie
die Kater, ihre Versammlungen bei Nacht abhalten. Und endlich ist auch der
Umstand, daß die Katze als falsch und heimtückisch gilt, für die Verbindung
Katze-Ketzer förderlich, zumal da die Italiener, die dem süddeutschen Volke
als Träger religiösen Irrglaubens bekannt waren, außerdem auch als beson¬
ders falsch galten („ein Wälscher ist ein Verfälscher“).
87
Killen
kennt das Grimmsche Wörterbuch (der Band K ist aus dem Jahre 1873)
nur in der Bedeutung „liebkosen" (dazu kille = sanft, zärtlich, traulich
und schwedisch kela, dänisch kjäle = liebkosen, hätscheln). Etymologisch
ganz unabhängig von dieser Wortsippe ist der drastische Ausdruck killen =
töten 1 , der erst in der Nachkriegszeit zur allgemeinen Verbreitung gelangt,
obwohl er als Volksausdruck gelegentlich bereits früher erscheint. Er geht
auf eine anscheinend germanische Wurzel zurück, die im englischen Zeit¬
wort to kill == töten fortlebt. Killed in action war im Krieg der amtliche
Ausdruck für: im Gefecht gefallen; to kill time, sagte der Engländer, indes
wir die Zeit vorzugsweise nicht töten, sondern nur vertreiben; to kill two
birds with one stone = zwei Vögel mit einem Stein erschlagen — ein Vor¬
gang, wo der Deutsche mit Fliegen vorlieb nimmt.
Im Englischen bedeutet das Zeitwort kill aber nicht nur töten, sondern
auch vernichten, beseitigen, aufheben, daher z. B. in der amerikanischen
journalistensprache auch: eine Stelle tilgen, streichen (das „deleatur!" un¬
serer Buchdrucker). Diese Bedeutung war französischen Beamten offenbar
nicht bekannt, denn als 1920 ein amerikanischer Journalist in Paris seinem
Blatte als Nachtrag zu einer vorher abgesandten Depesche kabelte: „kill
lloyd george" (Streiche Lloyd George, nämlich die ihn behandelnde Stelle)
wurde er wegen Verdachts eines Mordkomplotts verhaftet und erst nach
sprachkundlicher Aufklärung von Seiten der amerikanischen Botschaft frei¬
gelassen.
Knickebein
ist ein Likör, dem ein ganzer Eidotter beigegeben ist. Der Name wird so
aufgefaßt, daß diese Mischung in die Beine geht, die Beine knickt. Über
das Entstehen des Ausdrucks gibt es eine dichterische Überlieferung. Es
heißt in einem Studentenliede, das eine scherzhafte Nachbildung eines Ge¬
dichtes von Schenkendorf ist: „Als der Sandwirt von Passeyer — Innsbruck
hatt' mit Sturm genommen, — Ließ er sich ein Dutzend Eier — Und ein
Dutzend Schnäpse kommen, — Machte daraus eine Mischung, — Schlürft’
sie mit Behagen ein. — Seitdem nennt man die Erfrischung — In ganz
Deutschland Knickebein."
i) Zu einer dritten etymologischen Gruppe scheint der ostfriesische Aus¬
druck Kille = Rinne, natürliche Wasserleitung zu gehören. Er dürfte ver¬
wandt sein mit kollern = sich rollend bewegen und daher auch mit Kugel
und mit Keule (Stock mit verdicktem, kugelförmigem Ende).
88
Aber nach anderer studentischer Überlieferung wird die Erfindung des
Knickebeins nicht mit dem Tiroler Freiheitshelden Andreas Hofer verbun¬
den sondern mit einem mecklenburgischen Studio zu Jena; er sei stets mit
eingeknickten Beinen gegangen, daher habe sein Lieblingsgetränk seinen
Spitznamen Knickebein geerbt.
Jedenfalls ist das Wort Knickebein als imperativische Bildung aufzufas¬
sen, als eine zum Hauptwort erstarrte Befehlsform nach Art von Vergi߬
meinnicht, Stelldichein, Tunichtgut, Luginsland. Gerade unter den volks¬
tümlichen Bezeichnungen für Schnäpse finden sich viele solche er¬
starrte Imperative. So kennen zum Beispiel niederdeutsche Mund¬
arten den Ausdruck Smitum („schmeiß um!") für Branntwein. Ein Leip¬
ziger Ausdruck für Schnaps lautet: Wuppdich. Hessisch ist: Rackermich-
dichtig. Eigentlich ist auch das Wort Schnaps selbst imperativischer Her¬
kunft: „schnapp es!". Im Französischen heißt ein starker Schnaps casse-
gueule, das heißt: „Spreng die Kehle". Noch drastischere und ebenfalls
imperativische Volksausdrücke der Franzosen für einen starken Schnaps
sind casse-pattes (Brich die Pfoten) und roule-par-terre (Wälz dich auf dem
Boden).
Kur ' ' . ! : : :
In dem Satze „Der kurländische Kurier läßt sich nicht kuranzen, er hat
Kurage und macht der Tochter des kurfürstlichen Kurschmieds die Kur"
kommt siebenmal „Kur" vor, und jedesmal ist diese Lautfolge anderer Her¬
kunft und anderer Bedeutung.
1) Kur im Worte Kurland ist der Name der Kuren, eines einst an der
Ostsee lebenden, vielleicht finnisch-ugrischen Volkes, das in die Liven,
Letten und Litauer aufging und dem von ihnen bewohnten Lande den Na¬
men Kurland gab. (Daher auch Kurisches Haff, Kurische Nehrung.)
2) Kur- = Lauf. Von lateinisch c u r r e r e (Supinum: cursum), fran¬
zösisch courir kommen außer Kurier = Eilbote auch die Fremdwörter
kurant = laufend, gangbar („Preiskurant" ist eigentlich ein Verzeichnis
der eben laufenden, d. h. der gültigen Preise), Kurrende (Laufchor, von
Haus zu Haus wandernde, singende Schüler), Kurs (Lauf, Umlauf, Lehr¬
gang), kursiv, Exkurs, Diskurs, Rekurs, Sukkurs, Konkurs, Konkurrenz,
curriculum u. a. m., auch Korso und Korsar (daraus „Husar", s. dieses
Stichwort in „Wörter und ihre Schicksale“).
3) Kuranzen = in Zucht nehmen, hart anfassen, kommt — ebenso wie
unser Fremdwort Karenz = Wartezeit, Sperrfrist — von mittellateinisch
89
c a r e n t i a = Bußübung mit Geißeln (zu lateinisch carere = entbehren
einem Orte fern bleiben) und hat ursprünglich in verschiedenen Mundar¬
ten noch karanzen oder koranzen gelautet.
4) Kur- in französisch courage = Mut aus coeur — Herz, das auf
lateinisch cor, cordis zurückgeht, ist auch enthalten in unseren Fremdwör¬
tern kordial, Akkord, Rekord, Konkordat; auf die griechische Vertretung
dieser Sippe (kardia = Herz) gehen Fachausdrücke der Medizin, wie endo-
card, pericard zurück.
5) Kur- = Wahl kommt besonders in Zusammensetzungen vor wie:
Kurfürst (Fürst, der an der Kaiserwahl beteiligt ist), Kurmark, Kurhessen,
Kurpfalz, Willkür (früher auch Willens Kür, z. B. im Faust: „Des allge¬
meinen Willens Kür bricht sich an diesem Lande hier"), Walküre (die
unter den Toten des Schlachtfeldes, der „WaT-statt, wählt), Kürturnen
(bei dem sich jeder nach eigener Wahl turnerisch betätigen kann, im
Gegensatz zum Riegenturnen), Kürlauf, kurz auch „die Kür" genannt
(Vorführung nach eigener Wahl bei den Wettbewerben im Kunsteislauf,
im Gegensatz zum Pflichtlauf), Kurkind (Wahlkind, d. h. Adoptivkind).
Die Silbe kur oder kür in allen diesen Wörtern dürfte urverwandt sein mit
altindisch jus = erwählen, gern haben und mit lateinisch gustus, Geschmack
(Zeitwort gustare) 1 , auf dem u. a. italienisch gusto, französisch goüt 2 =
Geschmack, französisch choisir, englisch choose = wählen fußen. Von alt¬
hochdeutsch kiosan (gotisch kiusan) = prüfend wählen leiten sich die alter-
tümelnden Zeitwörter kiesen und küren 3 , erküren 4 ab (daraus auserkoren
= auserwählt). In Mundarten finden wir heute noch kiesig = wählerisch
1) Die in gustare vorausgesetzte indogermanische Stammwurzel wird auch
in Augur (aus avis = Vogel und gustare) = Vogelprüfer, Zeichendeuter
vermutet, so daß vielleicht auch das Fremdwort inaugurieren zu dieser
großen Sippe Kurfürst — Willkür — auserkoren — Ragout — kosten gehört.
2) Dazu auch unsere Fremdwörter Degout, Ragout, in denen noch die la¬
teinischen Vorsilben de- und re- enthalten sind.
3) Neuerdings scheint der Gebrauch von „küren“ eine Belebung zu er¬
fahren, offenbar weil dieses Zeitwort geeignet erscheint, das wegen der
Verfemung demokratischer Einrichtungen unansehnlich gewordene Zeitwort
„wählen“ zu ersetzen. So spricht z. B. der sudetendeutsche Führer Konrad
Henlein im Jahrbuch 1935 des Volksbunds für das Deutschtum im Ausland
von den Männern, „die um ihren in Treu gekürten Führer in unbedingter Ge¬
folgschaft stehen.“
4) Zur Frage der Wandlung des s zu r (kiesen = küren) vgl. die Ausfüh¬
rungen über „Rhotazismus 46 im Anschluß an das Stichwort „Hoffart“ in
„Wörter und ihre Schicksale“.
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beim Essen, kören = wählen auf dem Viehmarkt. Der Familienname Kiese¬
wetter bedeutet wörtlich: Prüf-das-Wetter, Beurteile-das-Wetter, Schau-
nach-dem- Wetter. Zu dieser Sippe gehört schließlich auch das Zeitwort
kosten" = durch Schmecken prüfen.
6 ) Kur- = Sorge gehört zu lateinisch c u r a und ist seit Anfang des
16 Jahrhunderts im Deutschen für ärztliche Fürsorge gebräuchlich. Die
Wurzel kommt in vielen Ableitungen und Zusammensetzungen vor: kurie¬
ren kurabel, kurios (eigentlich: besorgt, interessiert), Kurarzt, Kurort, Kur¬
salon, Kurtaxe, Kurschmied (Hufschmied, der die Tiere auch heilt), Kur¬
pfuscher, Kurat, Kurator, Kuratel, akkurat, Sinekure, Prokura, Prokurist,
Prokurator (im Ungarischen zu prökator verkürzt), Pediküre, Maniküre,
Custor, Custos. Zu lateinisch cura = Sorge gehört ferner auch se-curus =
sicher, daraus italienisch sicuro, französisch sür (aber neben sürete auch
securite), englisch secure und sure, im Deutschen vertreten nicht nur durch
das Fremdwort Assekuranz, sondern auch durch das Lehnwort „sicher".
7) Kur- = Hof — besonders in Kur machen (Hof machen, „hofie¬
ren"), Kurtisane, Courtoisie — kommt von französisch cour = Hof und
dieses (über mittellateinisch cortis, fürstlicher Hof) aus lateinisch cohors 1
__ eingezäunter Raum, Abteilung, Soldatenabteilung, worauf mittelbar auch
unsere Fremdwörter Kurie, kurial, Kortege (Ehrengefolge), Cortes (spani¬
sches Parlament) fußen.
Lücken büßen
Lücke (althochdeutsch lukka) ist verwandt mit „Loch", dessen ursprüng¬
liche Bedeutung: Verschluß, Gefängnis, verborgener Aufenthalt, Höhle,
Öffnung.
Büßen ist verwandt mit gotisch bota = Besserung, das sowohl mit besser
und best (samt dem zu diesem Komparativ und Superlativ gehörigen heute
veraltet klingenden baß) zusammenhängt, als auch mit Buße. Das althoch¬
deutsche buoza im Sinne Besserung, Gutmachung hat sich immer mehr auf
das rechtliche und kirchliche Gebiet verengt, daher ist Buße gleich Geld¬
strafe, eine Genugtuungshandlung aus Reue. Der allgemeine Sinn der
i) Im lateinischen cohors ist vermutlich enthalten hortus = Garten,
mit dem urverwandt ist deutsch Garten (althochdeutsch garto, gotisch
gards = Haus, altnordisch gardr = Zaun, Gehege, Hof). Auf diese germa¬
nischen Wurzeln gehen zurück sowohl französisch jardin und englisch garden
und yard, als auch altslawisch g r a d = Burg, Stadt, Garten (enthalten in
Ortsnamen, wie Beograd, Visegrad, Nowgorod, Gradiska, Graz, Stargard usw.).
91
1
Besserung hat sich aber erhalten in gelegentlich noch vorkomnienden
süddeutschen Ausdrücken „das Garn büßen” (das Netz ausbessern) und
Altbüßer = Flicker (Flickschuster) und in der schriftsprachlichen Redens¬
art Lücken büßen, d. h. wörtlich die Lücken ausbessern, ausfüllen. Luther
übersetzt Nehemia 4,7: „höreten, daß die Mauern zu Jerusalem zugemacht
waren, und daß sie die Lücken angefangen hatten zu büßen.” Bei Luther
hieß es auch noch Hunger, Krankheit büßen, d. h. dem Hunger, der Krank¬
heit abhelfen. Auch bei Hans Sachs ist zu lesen: „Ich bitt, gebt mir ein
Bissen Brot, zu büßen hier dem Hunger mein.”
In Magdeburg gab es eine Kessel b e i ß e r Straße, was eine Verderbung
des früheren Namens Kesselbüßergasse war. Die dort wohnten, und nach
denen die Straße benannt war, waren weder kesselbeißende „Eisenfres¬
ser”, noch hatten sie wegen irgendwelcher Kessel Buße tun müssen. Sie
büßten (besserten) die Kessel, waren also Kesselflicker (was man in Öster¬
reich Rasteibinder nennt). Die Altbüßer waren Schuhflicker. In Basel und
Straßburg gab es Stadtquartiere „Unter Altbüßern”. (Geiler von Kaisersberg:
„Die Altbüßer sitzen in den Winkeln, in den kleinen engen Gesslin”).
Auch in Breslau und Hildesheim gab es Altbüßergassen; im letzteren Orte
wurde dann aus Oltböter (so hieß die Gasse im 14. Jahrhundert) verderbt:
Altpetristraße. Auch im Stettiner Straßennamen Oltbötenweg steckt wohl
Altbüßer = Schuhflicker. Aus dem 15. Jahrhundert ist belegt die Berufs¬
bezeichnung : „grindt buesserin” = die mit Behandlung des Kopfausschlags
der Kinder betraute Frau.
In Schillers Teil mahnt Gertrud: „Willst du erwarten, bis er die böse
Lust an dir gebüßt?” Seine Lust büßen bedeutet: dem Lusthunger
abhelfen, also Lust stillen. Die Redensart ist heute kaum noch gebräuchlich,
man würde sie mißverstehen und gerade das Gegenteil darunter verstehen:
für empfundene Lust eine Strafe erleiden. Im Badischen sagt man: de gluste
(Gelüste) biesse und versteht darunter: seinen Willen erfüllt bekommen.
In manchen Gegenden versteht man unter „Büßen einer Krankheit” ein
abergläubisches Heilzeremoniell, einen Kultakt zur Vertreibung des Krank¬
heitsdämons (z. B. im Badischen: „die Zähne büßen”).
Mob
wird heute im Deutschen nicht mehr so häufig gebraucht wie früher. Ge¬
wöhnlich tritt das Fremdwort in Wendungen wie Großstadtmob, Mob der
Straße, plündernder Mob auf. Bis Mitte des 19. Jahrhunderts wurde es in
Deutschland nur auf Londoner Verhältnisse angewandt. Nach Deutschland
92
1 ngte das Wort Mitte des 18. Jahrhunderts aus England, wo es im 17.
lahrhundert entstanden war. Bis dahin schimpfte man dort den Tumulte ver¬
ursachenden Haufen the rabble (vom Zeitwort to rabble = durcheinander¬
zerren zerknüllen, in lärmenden Haufen überfallen). In den politisch
unruhigen Zeiten Karls II. 1 begann man auf den Zusammenkünften der
konservativen Klubs statt auf den rabble, auf das mobile oder den mob zu
schimpfen. Mob war allem Anschein nach die Abkürzung von lateinisch
mobile vulgus (wankelmütige Menge, Stelle bei Claudius) oder von
mobilium turba Quiritium (der wankelmütigen Quiriten Schar, bei Horaz) , 2
Über die Neigung der englischen Sprache zu solchen Wortstutzungen s. die
Ausführungen über das Überhandnehmen einsilbiger Wörter, S. 284f.
Aus dem Hauptwort the mob machte die englische Sprache auch das
Zeitwort to mob = tumultieren, mißhandeln, pöbelhaft ausschimpfen und
als satirischen Wortwitz mobility 8 = Pöbelhaftigkeit, im scherzhaften Gegen¬
satz zu nobility = Adel. Nach Christian Rogge, der den fruchtbaren Ge¬
danken von Quereinflüssen in der Wortgeschichte oft übertreibt und überall
Verschmelzungswörter sieht, ist Mob überhaupt eine Verschmelzung: masse
+ nobility 4 .
Außer der auf das 17. Jahrhundert zurückgehenden Wortstutzung Mob
_ Pöbel, gibt es noch eine moderne: Mob sagte man kurz in den letzten
Jahrzehnten der k. u. k. Armee in Generalstabskreisen und in den militäri¬
schen Ämtern an Stelle von Mobilisierung, Mobilmachung; man
sprach vom Mobfalle, von Mobvorschriften usw. In England nannte man
das Depot, in dem die Rekruten die Kleidungs- und Ausrüstungsgegen-
i) Über das Jahr 1680 in welchem die Tories über die Frage des Thron¬
folgerechts des katholisch gewordenen Bruders des Königs einen Sieg über die
Whigs errangen, schreibt Macaulay in seiner Geschichte Englands: In that
year our tongue was enriched with two words Mob and S h a m (Betrug),
remarkable memorials of a season of tumult and imposture.
l) Der gedanklichen Verbindung zwischen den Begriffen Menge und Wan¬
kelmut begegnet man wiederholt in Shakespeares Dramen. So heißt es z. B.
im Prolog zu Heinrich IV.: the still-discordant wavering multitude, die im¬
mer streitige, wandelbare Menge; und Coriolan spricht von the mutable, rank¬
scentend many, der wankelmütigen, stinkigen Menge. In Schillers Maria Stuart
sagt Elisabeth: Die wankelmütige Menge, die jeder Wind herumtreibt.
3) Jonathan Swift hat, gerade umgekehrt, in seiner „Kunst der politischen
Konversation“ mobility als den älteren Ausdruck angesehen und mob als seine
Abkürzung.
4) „Besonders lehrreich ist,“ polemisiert Rogge, „wie selbst ein Pott, durch
zuversichtliche Angaben englischer Scharlatane irregeführt, englisch mob aus
lateinisch mobile vulgus erklären konnte und übrigens auch Holthausen noch
heute tut.“
93
stände erhielten: mob-store (statt mobilization störe). Übrigens finden wir
im Slang der englischen Soldaten im Weltkriege den Ausdruck mob auch
zur Bezeichnung eines Regiments, eines Bataillons oder sonst einer Einheit.
This mob is always on the move, sagte man von einem Truppenkörper, der
immer hin und her verschoben wurde. What mob are you, welcher Mob
seid Ihr, war eine ständige Frage, wenn Abteilungen sich begegneten. Der
Ausdruck ist vermutlich aus mobilization gekürzt oder aus mobility Ä Be¬
weglichkeit und dabei auch beeinflußt von mob = Menge, Haufen, ohne
daß der verächtliche Charakter des älteren Ausdrucks ganz übernommen
worden wäre.
In der englischen Verbrechersprache bezeichnet man als mob eine zusam¬
men „arbeitende" Bande (nach Barrere-Leland) oder den Helfershelfer
eines Diebes. Im Slang der Schafzüchter im australischen Hinterland hat
mob die Bedeutung: Herde.
Nachahmen
wird sowohl transitiv verwendet mit dem Akkusativ der nachgeahmten Per¬
son oder Sache (man ahmt die Greta Garbo nach, man ahmt ihre Haartracht
nach), als auch intransitiv mit dem Dativ der Person (Klopstock: „ihr
ahmt nur den Juden in ihrer Bitterkeit und Wut nach") oder dem Dativ
der Sache (Wieland: „die außerordentliche Begierde, den erhabenen
Mustern nachzuahmen"). Die Möglichkeit, dieses Zeitwort transitiv oder
intransitiv zu gebrauchen, ist mitunter stilistisch fein ausgenützt worden. So
schreibt z. B. Lichtenberg: „Sie müssen nicht das Werk, sondern dem
Meister nachzuahmen versuchen." Von Herder wird unterschieden: „einen
nachahmen, heißt, wie ich glaube, den Gegenstand, das Werk des Anderen
nachahmen, ein e m nachahmen aber, die Art und Weise von dem Ande¬
ren entlehnen, diesen oder einen ähnlichen Gegenstand zu behandeln."
Schärfer grenzt Sanders ab: „Wer mich nachahmt, dem bin ich nur ein
Gegenstand, den er kopiert; wer m i r nachahmt, dem bin ich eine Persön¬
lichkeit, nach der als Muster er sich bildet."
Die heutige Lautform „nachahmen" erscheint zuerst 1641 (bei Zesen).
Aber noch ein Menschenalter später heißt es in Grimmelshausens Simplicis-
simus: nachähmen oder nachöhmen. Bei Luther ist dem Zeitwort nach-
ohmen wiederholt zu begegnen. In den Tischreden z. B. „der allen Ande¬
ren nachohmet und irer spottet", „die Eselsköpf ohmen nach guten Kün¬
sten", „also ohmen nach die Kätzer Gottes Wort." Auch hauptwörtlich:
„Sonst ist alles ein Nachomen des rechten Gottsdienstes."
94
In nachahmen ist das Hauptwort O h m (oder Ahm) enthalten. Ohm
ist der Name eines alten Hohlmaßes (ungefähr 150 Liter) und hatte
orünglich die allgemeine Bedeutung Weingefäß. (Es hat nichts zu schäf¬
ten mit Ohm, der Nebenform von Oheim, noch mit der Maßeinheit des
elektrischen Widerstands, benannt nach dem Physiker Simon Ohm). Das
deutsche Wort Ohm (mittelhochdeutsch ame) kommt von mittellateinisch
ima = Weingefäß, das mit griechisch ame = Gefäß verwandt ist. Vom
Hauptwort Ohm kommt zunächst das mittelhochdeutsche Zeitwort amen ==
den Raum eines Fasses mit einem Visierstabe untersuchen, nachmessen, dann
überhaupt abmessend wiedergeben, nachmessend gestalten, woraus sich
schließlich die gegenwärtige Bedeutung von nachahmen entwickelt. Auch in
neuhochdeutscher Zeit hat sich die alte einfache Form ahmen — mit der
Bedeutung: etwas nach der Ahme, als einem bestimmten Maß, nach einem
Vorbild, Muster machen — noch erhalten. Bei Lenau heißt es z. B.: „Um¬
sonst, daß ich dem Lied geböte, es will nicht ahmen leiser Lüfte Zittern/'
Die Verkupplung mit der Vorsilbe „nach" begann Zu Luthers Zeiten.
Eigentlich hatte aber, wie wir sahen, schon ahmen allein die Bedeutung von
nachahmen, das also eine tautologische oder wenn man will verdeutlichende,
verstärkende Bildung ist wie nachfolgen, ableugnen, ausleeren, emporheben,
herabsenken, umwenden, widerspiegeln.
Campe versuchte als Gegenstück von nachahmen das Zeitwort vor¬
ahmen einzuführen, etwa im Sinne: etwas tun, um Nachahmern als
Vorbild zu dienen, originell sein. („Ich war nicht groß, nicht klein, kein
Weiser und kein Tor; ich ahmte keinen nach und ahmte keinen vor").
Das in nachahmen enthaltene — männlich und sächlich gebrauchte —
Hauptwort Ohm (und seine auch weiblich gebrauchte Nebenform Ahm),
das übrigens auch enthalten ist in einem Fachausdruck der Schiffahrt (die
A h m i n g = Maß für den Tiefgang des Schiffes), ist eines der deutschen
Lehnwörter der Weinkultur aus dem Lateinischen,
die Zeugnis ablegen davon, daß die Römer es waren, die den Weinbau nach
Deutschland, in seine westlichen und südlichen Gaue, brachten. Römische Gabe
ist schon das Wort
Wein (althochdeutsch win) selbst, das auf lateinisch vinum zurückgeht.
(Vom lateinischen Wort selbst ist zweifelhaft, ob es ein echt indogermanisches
ist; es gibt Hypothesen, nach denen der Ursprung der Wurzel in semitischen
oder kaukasischen Sprachen zu suchen sei). Mit vinum hängt auch
Winzer (althochdeutsch winzuril, winzurnil) zusammen, dessen Vorbild
das gleichbedeutende lateinische vinitor ist.
95
Most (schon althochdeutsch so lautend) erklärt sich aus lateinisch vinum
mustum, junger Wein zu mustus = frisch, neu.
Lauer (= Nachw&in, althochdeutsch Iura) kommt von lateinisch lora
oder lorea = mit Wasser verdünnter Wein, das mit lavare = spülen, waschen
verwandt ist.
Essig ist abzuleiten aus lateinisch acetum und gehört daher zu jener gro¬
ßen Wortsippe, die wir S. 99 behandeln.
Spund (ursprünglich besonders: Anstich des Fasses) kommt nach Kluge-
Götze von lateinisch (ex)punctum = Stichloch, in eine Röhre gebohrte Öff¬
nung.
Kelter (althochdeutsch calcatura, kelketra, kelketerra) geht zurück auf
lateinisch calcatura zu calcare = treten (gemeint ist das Treten der Trauben
mit den Füßen), worin calx = Ferse enthalten ist.
Kufe (althochdeutsch kuofa) entwickelt sich aus lateinisch cuppa
Becher, das urverwandt ist mit „Kopf“ und an die bedeutungsgeschichtlichen
Beziehungen zwischen den Bezeichnungen des Schädels und denen der Trink¬
gefäße erinnert (vgl. S. 31 u. 121).
Becher (althochdeutsch behhari) läßt rückschließen auf ein vulgärlatei¬
nisches Hauptwort bicarium, verwandt mit griechisch bikos = irdenes Gefäß.
Kelch (althochdeutsch kelich) ist die Verdeutschung des gleichbedeuten¬
den lateinischen calix, wobei es, wie bei Kluge-Götze hervorgehoben, nicht
etwa eine mit dem christlichen Gottesdienst zusammenhängende Entlehnung
ist, sondern noch vor dem Christentum als Wort der Weinkultur übernom¬
men wurde.
T r i c h t e r (althochdeutsch trahtari) kommt vom gleichbedeutenden
lateinischen trajectorius (mittellateinisch verkürzt: tractorius) zu trajicere =
aus einem Gefäß ins andere gießen, woher auch unser Fremdwort Trajekt
herrührt.
Stiefel = Stange, Stütze emporrankender Gewächse geht auf lateinisch
stipula = Halm zurück und ist fernzuhalten von dem ebenfalls aus dem
Lateinischen entlehnten Stiefel = Fußbekleidung, das zu mittellateinisch
aestivale = Sommerliches (zu aestas = Sommer) gehört und ursprünglich
zur Bezeichnung leichter Sommerschuhe diente.
Pflücken kommt von vulgärlateinisch piluccare zu lateinisch pilare =
Haare entfernen (fortlebend auch in unserem Fremdwort depilieren = ent¬
haaren, das in den letzten Jahrzehnten angesichts der zunehmenden Inan¬
spruchnahme der Damenfriseure und ihrer kosmetischen Leistungen auch
außerhalb ärztlicher Kreise gebräuchlich geworden ist).
P r o p f e n geht zurück auf lateinisch propagare = erweitern, ausdehnen,
fortpflanzen, bezw. auf das Hauptwort propago = Ableger, Setzling, sodaß
das Lehnwort „propfen“ eigentlich die Doublette des Fremdworts „propa¬
gieren“ ist.
96
I m p f e n gehört auch zu den Lehnwörtern, deren Aufnahme mit der
Erlernung des Weinbaus von den Römern zusammenhängt. Natürlich bezog
sich dieses Zeitwort vor dem 18. Jahrhundert nicht auf die bis dahin nicht
bekannte Blatternimpfung, sondern nur auf den Weinbau und die Gärtnerei.
Im Althochdeutschen lautete das Zeitwort impiton und dies ist wohl Ent¬
lehnung aus einem vorauszusetzenden lateinischen imputare zu putare =
schneiden.
Nachtigall, rossignol
Nacht (althochdeutsch naht) ist verwandt mit altindisch nakt-, griechisch
nyx (nyct*), lateinisch nox (noct-), gotisch nahts, englisch night, franzö¬
sisch nuit usw.
Der zweite Wortteil in Nachtigall (althochdeutsch nahtagala, englisch
nightingale, holländisch nachtegaal, schwedisch näktergal, dänisch näkter-
gal) ist die alte germanische Wurzel gel, gal = tönen, woher auch das neu¬
hochdeutsche Zeitwort gellen; vielleicht besteht auch Urverwandtschaft mit
lateinisch gallus = Hahn (der Gellende?). Im Althochdeutschen bedeutet
galan besonders singen, Zaubergesänge singen. Nachtigall ist also: Sängerin
der Nacht.
Auch im Lateinischen und in den romanischen Sprachen beruht die Be¬
nennung dieses Vogels anscheinend auf der Beobachtung, daß er bei Tag
nur wenig singt. Das lateinisch luscinia gilt als eine Zusammenziehung aus
luscicinia. Die Bestandteile dieses lateinischen Wortes dürften sein: luscus =
halblicht, dämmernd (davon lusciosus = schwachsichtig und französisch
louche = schielend) und canere (Vergangenheit: cecini) = singen. Von
luscinia („die in der Dämmerung Singende") gab es die Verkleinerung lus-
dnioia (italienisch usignuolo). Aus dem lateinischen lusciniola entwickelt
sich in Gallien losseignol und so entstand dann — im Wege der Dissimila¬
tion von 1 zu r zur Vermeidung von zweimal 1 (vgl. das Stichwort „Hof¬
fart" in „Wörter und ihre Schicksale") — das neufranzösische Wort ros¬
signol.
Neun
Selbst dem Laien muß es, wenn er mehrere Sprachen kennt, auffallen,
daß das Wort für den Zahlbegriff 9 nicht nur im Deutschen eine Ähnlich¬
keit mit dem Eigenschaftswort neu aufweist, sondern daß eine — mehr
oder minder deutliche — Beziehung zwischen diesen beiden Bezeichnungen
in vielen anderen indogermanischen Sprachen besteht. Im Lateinischen z. B.
novem und novus, im Italienischen nove und nuovo, im Englischen nine
7 Storfer . Sprache
97
und new. Einige Sprachen zeigen sogar gleichlautende Ausdrücke für „neun"
und „neu": z. B. nava im Altindischen, neuf im Französischen. Auch im
Tocharischen, dieser erst im 20. Jahrhundert in Ost-Turkestan entdeckten
indogermanischen Sprache, wird „neu" und „neun" mit demselben Worte
(nju) ausgedrückt.
Daraus folgt allerdings noch nicht, daß eine etymologische Verwandt¬
schaft unbedingt bestehen muß zwischen den Bezeichnungen für 9 einer¬
seits und denen für „neu" andererseits. Wenn Herr A Herrn B zufällig
ähnlich sieht, ohne mit ihm im geringsten verwandt zu sein, so darf der
Umstand, daß auch einige nahe Verwandte des A einigen nahen Ver¬
wandten des B ähnlich sehen, nicht überraschen und nicht zur Folgerung
führen, die Familie A sei doch mit der Familie B verwandt. Daß z. B. das¬
selbe Wort Plan im Deutschen sowohl a) die Bedeutung Absicht hat
(einen Plan verfolgen), als auch b) die Bedeutung Ebene (auf den Plan
treten) und daß ein entsprechendes Verhältnis auch im Französischen vor¬
liegt, z. B. a) tirer un plan, einen Plan schmieden, b) plan incline, schiefe
Ebene und auch im Englischen, z. B. a) to devise plans, Pläne entwerfen,
b) open plain, offene Ebene, — das ändert nichts an der etymologischen
Tatsache, daß nur den Wörtern, die die Ebene, die Fläche bezeichnen das
gleichbedeutende lateinische planum zu Grunde liegt, daß sich hingegen all
jene gleich- oder ähnlichlautenden Wörter, die die Bedeutung Grundriß,
Entwurf, Absicht haben, sich aus irgend einer anderen Wurzel — wahr¬
scheinlich aus lateinisch planta = Fußsohle oder aus lateinisch planta =
Pf lanze — entwickelt haben. Und auch, daß sowohl im Deutschen, als auch
im Französischen und Englischen an die genannten Bezeichnungen für Ab¬
sicht und Ebene jeweils auch das Wort Planet anklingt, gestattet noch
nicht die Annahme einer etymologischen Beziehung; Planet kommt näm¬
lich vom griechischen Zeitwort planan = herumirren.
Es wäre also grundsätzlich auch möglich, daß neun, novem usw. einerseits
und neu, novus usw. andererseits miteinander nicht verwandt sind, sondern
daß die beiden Wortgruppen einander nur darum ähnlich sind, weil schon
die beiden — einander nicht verwandten — Wurzeln, zu denen die beiden
Wortgruppen gehören, untereinander lautlich ähnlich sind. Doch ist es im
Falle dieser beiden Wortsippen der Sprachvergleichung wirklich gelungen,
eine Verwandtschaftsbeziehung glaubhaft zu machen.
Die Erklärung der Bedeutungsbeziehung neun-neu führt zu der Entste¬
hung der Zählarten zurück. Die erste Grundlage für das Messen 1 und das
i) Vgl. über Elle, Klafter usw. das Stichwort „Zoll“ in „Wörter und ihre
Schicksale“.
98
Zählen gab gewöhnlich der menschliche Körper ab. Das Dezimalsystem z. B.,
das jetzt in der Kulturwelt vorherrschend geworden ist, beruht auf der Zahl
der Finger an den beiden Händen. Die Etymologie der indogermanischen
Bezeichnungen der Zahl 8 läßt darauf schließen, daß der anatomische Bau
der menschlichen Hand nicht nur für den Begriff 5, sondern auch für den
Begriff 4 ein charakteristisches Vorbild liefert. Wenn wir die Hand vor¬
wärts gestreckt halten, tritt der Daumen, auch wenn wir ihn nicht seit¬
wärts strecken, stark zurück und vier Fingerspitzen sind es, die
gleichsam in der vordersten Front stehen. Das Bild dieser 4 Fingerspitzen
und ihre Bezeichnung wird für die Bildung der Zahl 8 von Bedeutung.
Aus griechisch ake = Spitze, okris 1 — Spitze, Bergspitze, Ecke, Kante,
akron = Spitze, Gipfel (enthalten in unseren Fremdwörtern Akropolis —
Gipfelstadt, Hochstadt, Akribie = Genauigkeit, Spitzfindigkeit, Akroterie =
Gipfelverzierung, Akrozephale = Spitzköpfiger, Akronym = aus Anfangs¬
buchstaben mehrerer Wörter gebildetes Wort, z. B. Hapag, Osaf, Ufa,
Avus, Akrostichon 2 = Leistenvers, Akrobat 3 ) und aus lateinisch acus =
Nadel, acidus = sauer, acer und acutus = spitzig, scharf (woraus franzö¬
sisch äcre und aigre, italienisch acuto usw.), acerbus — herb, sauer, traurig,
ferner aus deren germanischen Verwandten, z. B. im Deutschen Ecke, Egge,
Essig, auch Ahorn (lateinisch acer, griechisch akastos, offenbar wegen der
spitzen Einschnitte der Blätter) und wahrscheinlich auch Ähre („Spitze des
Getreides") — aus all diesen und zahlreichen anderen Vertretern dieser
großen Wortsippe 4 wird auf eine indogermanische Wurzel ak- oder ok- =
spitz rückgeschlossen, von dort aus ferner auf ein Hauptwort o k e t o m
1) Dazu auch altlateinisch ocris, enthalten in mediocris = mittelmäßig,
eigentlich auf halber Höhe befindlich.
2) Der zweite Bestandteil in Akrostichon ist griechisch stichos = Reihe,
Zeile, Vers, enthalten auch in Distichon, wörtlich Doppelvers.
3) Akrobat, wörtlich Spitzenschreiter, Hochschreiter, scheint in moder¬
nen Sprachen zunächst nur für den Seiltänzer gegolten zu haben. Vielleicht
deutet aber der Bestandteil akro- auf die Zehenspitzen hin, Akrobat wäre da¬
her wörtlich Fußspitzengänger. (Nach Prellwitz ist akris, der griechische Na¬
me der Heuschrecke, die Kurzform für akrobatousa = auf den Fußspitzen
gehende.) Der zweite Bestandteil in Akrobat geht zurück auf das griechische
Zeitwort bainein, schreiten, das auch im Krankheitsnamen Diabetes, Zucker¬
krankheit, wörtlich Durchschreitendes enthalten ist.
4) In die indogermanische ak-Sippe gehören z. B. auch: mit 1 -Formantien:
armenisch aselu = Nadel, lateinisch aculeus = Stachel; mit m-Formantien:
griechisch akme (auch im Deutschen als Fremdwort gebraucht) = Spitze,
Schneide, Höhepunkt, Entscheidungspunkt, altirisch acmen = Stein, Fels,
Himmel; mit n-Formantien: altirisch acani-h = Pfeilspitze, Geschoß, grie-
7*
99
mit der Bedeutung Spitzentum, Spitzenschaft, Spitzenreihe, womit die
im Vordergrund erscheinenden vier Fingerspitzen der ausgestreckten Hand
gemeint wären. * 1 Daraus ergäbe sich wieder die Dual form o k e t o u =
zwei Spitzenreihen, d. h. 2X4 also 8 Fingerspitzen und aus diesem oketou
soll sich die Bezeichnung der Zahl 8 in den indogermanischen Sprachen
(altindisch astau, tocharisch okät, griechisch okto, lateinisch octo, altirisch
ocht, gotisch ahtau, althochdeutsch ahto, angelsächsisch eatha, englisch eight,
dänisch otte, französisch huit usw.) entwickelt haben.
War nun bei einem Zählsystem, dem die Zahl der vorderen Fingerspitzen
einer Hand, also die Zahl 4 zu Grunde lag, 2 die Zahl 8 erreicht, deren Dar-
chisch akaina = Spitze, Stachel, akon = Wurfspieß, akone = Wetzstein,
akanthos = Distel; mit s-Formantien: griechisch oxys = scharf, oxos =
Weinessig, akoste = Gerste, lateinisch acus = Spreu; mit t-Formantien: grie¬
chisch akte = schroffe Küste mit Brandung, Landspitze; mit k-Formantien:
litauisch asaka = Fischgräte (Walde-Pokorny). Kretschmer will auch in grie¬
chisch akuein = hören (Akustik!) die Wurzel ak- = Spitze erkennen; akuein
wäre demnach also etwa: das Ohr „spitzen“, das Ohr „schärfen“, d. h. hören.
1) In der zusammenfassenden Bezeichnung dieser vier Finger bezw. Finger¬
spitzen, d. h. im Außerachtlassen des Daumens bei dieser Zählung liegt viel¬
leicht auch ein gewisser anthropologischer Sinn, wenn auch der Daumen, in
dem Maße, als sich der homo sapiens von seinen nächsten Verwandten im
Tierreich wegentwickelt hat, immer mehr von seinem Sondercharakter unter
den Fingern eingebüßt hat. (Man beachte z. B. die weitabspreizbare Daumen¬
zehe bei den Affen und den geringen Unterschied zwischen den fünf Zehen
des Menschen.) Das Übergehen von dem 4—8—16 System der Zählung zum
Dezimalsystem wäre gleichsam der Ausdruck jener biologischen Entwicklung
des Menschen, die zufolge Anpassung an geänderte Lebensbedingungen des
Menschen den ursprünglichen großen Unterschied zwischen dem Daumen einer¬
seits und den vier anderen Fingern, bezw. Zehen andererseits weniger beach¬
tenswert erscheinen läßt. Man beachte auch die Sonderbehandlung des Dau¬
mens durch die Sprache. Wohl haben auch die anderen Finger eigene Namen,
Zeigefinger, Mittelfinger usw., aber in diesen Bezeichnungen ist das Wort
Finger stets beibehalten (oder mitgedacht), indes der Daumen mit einem ganz
anderen Worte bezeichnet wird. Darum heißt es z. B. einmal bei Walther von
der Vogelweide, auf Grund der Erklärung einer alten Traumdeuterin, aus¬
drücklich, „daz min dume ein vinger si.“ Im Englischen spricht man von
„the four fingers and the thumb.“
2) Spuren eines Vierersystems findet man auch in den uralaltaischen Spra¬
chen. So wird im Samojedischen 8 durch „zwei Viere“ (si dendet) ausgedrückt.
— Die Anzeichen dafür, daß bei indogermanischen Völkern eine Vierer-
Zählweise bestanden haben mochte, sind jüngstens von R. Löwe zusam¬
mengestellt worden. Daraus, daß die Indogermanen die Zahlen 1 bis 4 als die
erste Tetrade zusammengefaßt haben, soll sich der Umstand erklären, daß
die indogermanischen Wörter für 1 bis 4 undekliniert waren und daß dies-
IOO
Stellung also bereits beide Hände erfordert, so mußte die Zählung nun von
euem beginnen, wenn über die Zahl 8 hinausgegangen werden sollte.
Meun war also jene Zahl, bei der mit der Fingerspitzenzählung neu be¬
gonnen wurde.
Die Zahl 9 scheint übrigens einst als heilige Zahl eine große Rolle in
Glaube und Brauch der indogermanischen Völker gespielt zu haben 1 und ist
auS dieser ihrer Sonderstellung erst durch die semitische (babylonische)
Zahl 7 verdrängt worden, deren Schätzung auf die Beobachtung der sieben¬
tägigen Mondphasen zurückzuführen ist.
Zum Schluß möchte ich noch betonen, daß die Deutung von „neun“ als
„Beginn einer neuen Zählung nach Beendung einer Zählung der beiden
vorderen Fingerspitzenreihen" nicht etwa als einwandfrei gesichert zu be¬
trachten ist. Man versucht, das Vierersystem, von dem Spuren in den indo¬
germanischen Sprachen erkennbar sind, auch anders zu deuten. Güntert z. B.
erklärt das aus tessares, quattuor, vier usw. erschlossene indogermanische
Zahlwort qwetwores als das „aus vier Spitzen und Winkeln be¬
stehende K r eu z z ei c h en." W. Brandenstein lehnt diese Deutung
bezüglich nach 4 ein grammatikalischer Einschnitt in der Zahlenreihe besteht.
Diesem Einschnitt steht ein weiterer hinter 16 (4X4) zur Seite, der mehrere
Spuren hinterlassen hat. Wie schon Priscian es als bemerkenswert erkannt hat,
heißt es z. B. im Lateinischen undecim, duodecim, tredecim, quattuordecim,
quindecim, sedecim, aber dann: decem et septem, decem et octo usw. (Aller¬
dings kommt daneben auch septemdecim vor; dies ist aber die erheblich selte¬
nere Form.) Der Einschnitt zwischen 16 und 17 ist in den Tochtersprachen des
Lateinischen auch noch mehrfach erhalten, z. B.: französisch onze bis seize,
dann dix-sept, dix-huit usw., italienisch undici bis sedici, dann diciasette,
diciotto usw. Im Armenischen sind wie im Lateinischen die Zahlen 11 bis 16
m i t „und“, die Zahlen 17 bis 19 ohne „und“ gebildet. Dieser Einschnitt
hinter 16 stärkt zweifellos die Annahme einer Viererzählerweise, die natürlich
nicht die alleinige sein mußte, sondern möglicherweise nur für gewisse Zählun¬
gen gegolten hat und sich mit anderen Zählsystemen kreuzte.
1) Der von der Midgardschlange verwundete Thor fällt 9 Schritte von ihr
nieder. 9 Nächte hing Odin im Weltenbaum. Gegen 9 Berserker kämpft
Qrvar Oddr. 9 Könige bezwang Olatr der Heilige. Auf Island war jedes
Landesviertel in 9 Bezirke eingeteilt. Noch im 14. Jahrhundert mußten am
Rhein 9 Männer über den Landfrieden wachen, in der Schweiz bestand das
Gericht der Neuner, die Volksrechte erheischen oft 9-faches Wergeid, nach
alemannischem Recht tritt am 9. Tag das Erbrecht des Kindes ein, nach den
Bauernweistümern soll, wer eine Leibeigene zur Frau hat, 9 Schritte vor der
Gerichtshalle stehen bleiben, 9-erlei Holz braucht man zum Notfeuer, Kreuze
aus 9-erlei Holz schützen vor Krankheit usw. (Weitere Angaben s. bei
Hoops in Schräders Reallexikon, im Handwörterbuch des deutschen Aber¬
glaubens, bei Weinhold und bei Lessmann).
IOI
ab, da nicht der geringste Anhaltspunkt dafür bestehe, daß das Kreuzzei-
chen im täglichen Leben der ältesten Indogermanen eine solche Rolle
gespielt hat. Brandenstein selbst gibt eine andere Deutung: „Wenn der
Familienverband zur Großfamilie anwächst, muß dort, wo das Kleinvieh
zur täglichen Nahrung gehört, wohl beinahe alltäglich ein Schaf geschlach¬
tet werden; dabei wurde der Tierkadaver gevierteilt, weil dies
entsprechend den anatomischen Tatsachen am praktischesten ist. Es ist leicht
verständlich, daß die Indogermanen durch dieses tägliche Erlebnis einer
Vierteilung den Begriff vier gewannen, bzw. zur Zahl vier fortschritten/'
In qwetwores findet Brandenstein indogermanische Wurzeln, die die Be¬
deutung „geschnittenes Fleisch" ergeben. Demnach wäre der Begriff „vier"
also nicht mit der Zahl der vorderen Fingerspitzen an einer Hand verknüpft,
sondern mit der Anzahl der Beine des Schlachttieres. Die Deutung
von „neun" als „neuen Zählungsbeginns" verträgt sich aber nur mit der
Annahme, daß der Begriff vier aus anatomischen Verhältnissen der mensch¬
lichen Hand gewonnen worden ist.
Nihilismus
Das lateinische Wort nihil = nichts ist — was auf den ersten Anblick
sonderbar erscheinen mag — mit unserem Fremdwort Filet verwandt. Als
Filet bezeichnete man das Fleisch der unter dem Rückgrat gelegenen Lenden¬
muskeln des Rindes. 1 Filet kommt von lateinisch filum, französisch fil =
Faden. Filet bedeutet französisch ursprünglich einen kleinen, dünnen Faden,
dann feines Netzwerk und schließlich ein fadenfein schneidbares Stück
Fleisch oder Kuchen. Von fil = Faden kommt auch defilieren = wie an
einem Faden entlang vorbeiziehen und defile = fadenartiger, d. h. schmaler
Weg, Hohlweg. 2 Zu dieser Wortsippe gehören auch „Profil" und „Fili¬
gran". 3
Das lateinische filum hatte auch die mundartliche Nebenform hilum =
Fäserchen. Daher die Redensart: neque proficit hilum, es nützt kein Fäser-
1) In Wien heißt es Lungen braten, was nichts mit der Lunge zu tun hat,
sondern eine Verderbung von Lenden braten ist, wobei zu bemerken ist,
daß die ältere Form von Lende Lu m bei ist (lateinisch lumbulus = Weich¬
teil).
2) Militärisch ist jede Bodengestaltung, wo sich die Truppe nicht in der
Breite entwickeln kann, ein Defilee, also nicht nur eine Schlucht, sondern
auch eine Straße in einer Stadt, eine Brücke usw.
3) Filigran (Fäden und Körnchen, meistens aus Gold und Silber, die
als Verzierung auf Schmuckgegenständen auf gelötet sind) enthält neben filum
= Faden auch ein zweites lateinisches Wort: granum = Korn.
102
'hen (etwa wie: keinen Pappenstiel wert sein). Angesichts der häufigen
Verwendung von hilum in solchen negativen Ausdrücken wuchs ne-hilum =*
. • Fäserchen zu einem Wort zusammen, z. B. in der Redensart nihilum
venire zu nichts werden. Weitere Vereinfachung führte zu nihil oder nil =
nichts.
Die modern anmutende Bildung Nihilist aus nihil kam verhältnis¬
mäßig früh zustande. Schon im mittelalterlichen Latein gab es das männ¬
liche Hauptwort nichilianista = einer, der an nichts glaubt, Ketzer. Unab¬
hängig davon gebrauchte der Philosoph F. H. Jacobi 1799 in einem Briefe,
den philosophischen Idealismus tadelnd, das Wort Nihilismus. Das 1801
erschienene Neologische Wörterbuch von Mercier erklärt „nihiliste" als
rienniste", als einen, der an nichts glaubt, sich für nichts interessiert. Ganz
anders und offenbar von seinen Vorgängern nichts wissend, spricht Jean Paul
1804 von Nihilisten im Gegensatz zu Materialisten, Stoffkennern. Er wid¬
met in der „Kleinen Nachschule zur ästhetischen Vorschule" den ersten
Paragraphen den „poetischen Nihilisten" und meint damit im Gegensatz zu
den gelehrten Dichtern, wie Rabelais, Swift, Goethe, jene, die wenig oder
nichts gelesen haben („dies ist eben die rechte schriftstellerische Schöpfung
aus dem Nichts, nämlich aus sich").
Im Jahre 1822 gebrauchte Görres gelegentlich das Wort Nihilismus im
politischen Sinne * 1 , ohne aber damit durchzudringen. 1846 findet sich das
Wort Nihilist bei Auerbach, 1850 bei Gutzkow.
Allgemein bekannt wurden die Ausdrücke Nihilist und Nihilismus erst,
als Turgenjew — offenbar ohne von den früheren Prägungen zu wis-
sen 2 — s ie in seinem 1862 erschienenen Roman „Väter und Söhne" ge-
i) „Möchte noch immerhin eine solche einzelne Regierung, die in der Angst
vor der Zeit sich nicht zu lassen weiß, unter dem Bettlermantel jener Nihili¬
sten sich verkriechen.“
i) ¥undt scheint es wahrscheinlich, daß bei der Feststellung der späteren
Bedeutung eine Erinnerung an die frühere überhaupt nicht vorhanden war,
sondern jedesmal eine Neubildung aus dem nämlichen Worte nihil vorliegt.
Eine Bemerkung von Ranke aus dem Jahre 1879 sieht einen inneren Zusam¬
menhang zwischen dem seit 1862 so benannten Nihilismus der russischen Ju¬
gend und gewissen geistigen Strömungen im Vormärz: „Ich besinne mich,
daß ich von dieser Lehre zuerst — ich denke es war im Jahre 1839 — in
Paris gehört habe — als von der Philosophie der Polen. »Vergangenheit sei
Nichts, Zukunft sei nichts; die Gegenwart ist alles. In dieser hat nur die
Revolution die Empfindung der Wahrheit...* In diesem Gedanken sehe ich
die Wurzel des Nihilismus, der also von den Polen auf die Russen übergegan¬
gen sein würde. Schon bei jener ersten Begegnung mit dem Nihilismus wurde
mir gesagt, daß die slawischen Nationalitäten dazu bestimmt seien, diese Dok-
103
brauchte. Nun bezeichnete man, Turgenjews Helden Basarow vor Augen
habend, anarchistisch gesinnte Intellektuelle und der „Propaganda der Tat"
huldigende russische Revolutionäre als Nihilisten. Das Wort wirkte als
Schimpfname, die damit Bedachten nahmen es aber mit gewissem Stolz auf
sich und deuteten es: sie hätten ihre Sache auf nichts gestellt, sie fürch¬
teten nichts und wollten von den verhaßten Einrichtungen der bestehen¬
den Gesellschaftsordnung nichts schonen. Turgenjew selbst verwahrte sich
übrigens später in seinen Lebenserinnerungen gegen die verbreitete An¬
nahme, er habe in das Wort Nihilismus einen Tadel der Jugend jener Zeit
hineingelegt: „Nicht im Sinne eines Vorwurfs, einer Kränkung hatte ich
dieses Wort gebraucht, vielmehr als einzig richtigen Ausdruck für eine
geschichtliche Tatsache; es wurde aber zu einem Werkzeug der Verleum¬
dung — ja beinahe zu einem Brandmal der Schande gemacht."
Paprika, Pfeffer
Als vor mehreren Jahren die ungarische Bühnenschauspielerin Franziska
Gaal zum erstenmal in einem Film, in einem deutschsprachigen Tonfilm,
spielen sollte, hat man angesichts der ungarischen Färbung ihrer deutschen
Aussprache nicht nur beschlossen, daß die Künstlerin eine Ungarin darzu¬
stellen habe, sondern man war auch bestrebt, schon im Titel des Films den
ungarischen Einschlag unverkennbar zum Ausdruck zu bringen. Regisseure
und Dramaturgen, Propagandaleute und Verleiher, unter ihnen das unga¬
rische Element ausgiebig vertreten, hielten eine besondere Beratung über den
zu wählenden Titel ab, dem) sie eine große Bedeutung beimaßen. Sie gelang¬
ten schließlich zum Ergebnis: das auf der ganzen Welt zweifellos b e k a n n-
teste ungarische Wort, das zudem die Bezeichnung für eine kern¬
ungarische Sache ist, überdies wohllautend ist und schlagwortartig wirkt, sei
— Paprika. Wie weit es mit dem kernungarischen Charakter von Paprika —
von Wort und Sache — her ist, werden wir bald sehen.
Zwischen Pfeffer und Paprika besteht bloß eine etymologische, aber keine
botanische Verwandtschaft. Denn der Paprika gehört (wie auch Kartoffel,
Tomate, Tabak, Aubergine, Bilsenkraut, Tollkirsche) in die Pflanzenfamilie
trin in der Welt zu behaupten und durchzuführen/ 4 Wenn Fontane in
seinen Erinnerungen „Von Zwanzig bis Dreißig“ einen Ausspruch aus dem
Jahre 1844 verzeichnet: „Schade, daß Sie so sehr Nihilist sind, nicht ein
russischer, sondern ein recht eigentlicher, will also sagen einer der gar nichts
hat“, so hat er den Begriff des russischen Nihilismus — er schrieb diese
Erinnerungen 1898 — anachronistisch zurückverlegt.
104
jer Solanazeen, der Nachtschattengewächse, der Pfeffer hingegen zu den
Piperazeen.
Der schwarze Pfeffer (piper nigrum) * 1 , die wichtigste von den etwa 700
Arten des Piper, ist ein ursprünglich an der Malabarküste (im Südwesten
Vorderindiens) heimischer Kletterstrauch, den man jetzt im ganzen indisch-
malayischen Gebiet (besonders auf Sumatra), ferner im tropischen Amerika
anbaut. Die Griechen lernten den Pfeffer im 4. vorchristlichen Jahrhundert
durch die indischen Feldzüge Alexanders des Großen kennen. Der Pfeffer¬
handel mit Alexandrien als wichtigstem Umschlagplatz spielte dann eine
große Rolle im alten römischen Reiche. Das altindische Wort pippali =
beere, Pfefferkorn wurde im Griechischen zu peperi, im Lateinischen zu
piper (daraus italienisch pepe, französisch poivre, englisch pepper usw.).
im Althochdeutschen lautete die Bezeichnung pfeffar, doch die Germanen
waren bereits vor der althochdeutschen Zeit mit diesem Gewürz bekannt.
Daß sie es hoch schätzten, bezeugt der Bericht des Zosimus: als der West¬
gotenkönig Alarich im Jahre 410 Rom belagerte, bekam er auf seine For¬
derung neben 5000 Pfund Gold, 30.000 Pfund Silber, 4000 Seidengewän¬
dern, 3000 scharlachroten Pelzkleidern auch 3000 Pfund Pfeffer. Auch
später diente Pfeffer nicht selten zu Geschenk- und Tributzwecken; so
wurden im Jahre 1111 dem deutschen Kaiser von der venezianischen
Signoria 50 Pfund Pfeffer dargebracht und im Jahre 1177 erhielt Kaiser
Friedrich I. einen Jahrestribut in Pfeffer. Welche Bedeutung der Pfeffer als
wertvoller Handelsartikel in der Vergangenheit hatte, besonders im späten
Mittelalter und in der frühen Neuzeit, können wir heute kaum noch ermes¬
sen. Der Pfeffer galt unbestritten als das wichtigste Gewürz, oft rechnete
man mit Mengeneinheiten des Pfeifers wie mit Währungseinheiten, und
wenn man in Deutschland die reichen Kaufleute Pfeffersäcke 2 schalt
(der Ausdruck ist seit 1532 belegt), so wurde dabei dieses Gewürz gleich¬
sam als Symbol des großzügigen, weite Entfernungen überwindenden Han¬
dels angesehen. Übrigens wurde schon von den Römern der Ausdruck
piperarii, Pfefferleute, als allgemeine Bezeichnung für Krämer überhaupt
verwendet. Bezeichnend ist auch dänisch peversend (wörtlich: Pfefferbur¬
sche) = Junggeselle. Der Ausdruck erklärt sich wohl aus dem Umstand,
daß man für den Dienst der niederen Handelsangestellten, die man auch auf
Reisen schickte, nur ledige junge Männer brauchen konnte. Auf dem Pfef-
i) Der sogenannte weiße Pfeffer ist nichts anderes als der reif geerntete
und geschälte schwarze Pfeffer.
i) Besonders die Nürnberger Kaufleute nannte man Pfeffersäcke. Im en¬
geren Sinne hatte Pfeifersack die Bedeutung: habgieriger, geiziger Kaufmann,
105
ferhandel beruht zum guten Teil die Blüte Venedigs gegen Ende des Mit¬
telalters, und um ihre Vorzugsstellung im Pfefferhandel mußte die Lagunen-
stadt viele langwierige Kriege mit Genua führen. Einer der wichtigsten
Beweggründe jenes Strebens, einen Seeweg nach Indien zu finden, das be¬
kanntlich zur Entdeckung Amerikas führte, sah es auf die Vereinfachung
und Verbilligung der Pfeffereinfuhr ab, die bis dahin auf die festländischen
Karawanenwege angewiesen war und der die im 15. Jahrhundert erfolgte
Eroberung Konstantinopels durch die Türken und deren Ausbreitung i n
Vorderasien manche Erschwerung verursachte. Als den Portugiesen die Um-
seglung Afrikas gelang, sicherte der daraus folgende Vorsprung Portugals
im Verkehr mit Süd- und Ostasien, besonders auch mit den Pfefferinseln
diesem Lande eine Zeitlang eine führende Stellung im Welthandel. Anfangs
des 17. Jahrhunderts entrissen die Holländer den Portugiesen die Einfuhr
aus den malayischen Gebieten, aus den sogenannten Gewürzinseln, und so
verhalf nun wieder der Pfeffer den Holländern zu einer bedeutenden Stel¬
lung im Welthandel, von der sie allerdings seit dem 18. Jahrhundert allmäh¬
lich vieles an England abtreten mußten.
Einen neuen Weg zu den Pfefferländern Asiens hatte Kolumbus nicht
gefunden. Aber die entdeckte „Neue Welt" entschädigte Europa reichlich
für diese Enttäuschung. Eine lange Reihe bis dahin völlig unbekannter Pflan¬
zen lieferten der weißen Menschheit neue Genuß- und Nahrungsmittel. Mit
der Sache übernahm die Alte Welt oft auch den Namen von der Neuen,
wie dies z. B. beim „Mais" und der „Schokolade" — beide Bezeichnungen
sind mexikanisch — der Fall ist. Zu den Nachtschattengewächsen, die aus
Amerika nach Europa verpflanzt wurden, gehört neben Tabak, Tomate,
Kartoffel auch jene Pflanze, die die Wissenschaft später Capsicum annuum
taufte. Daß aus der Frucht dieser Pflanze ein Gewürz zu gewinnen ist, haben
die spanischen und portugiesischen Eroberer früh erkannt. Der beißende
Geschmack dieses Gewürzes legte einen Vergleich mit dem Pfeffer nahe
und man belegte es daher mit einem Namen, der auf diesen Umstand und
auch auf die Herkunft der Pflanze hinwies, bezeichnete sie als indiani¬
schen oder brasilianischen Pfeffer, bezw. da es vielerorts
spanische Seefahrer waren, die die erste Bekanntschaft mit diesem Gewürz
vermittelten, als spanischen Pfeffer. Ein späterer volkstümlicher
Name des aus der Frucht des Capsicum annuum gewonnenen Gewürzes war
türkischerPfeffer, und dies hängt damit zusammen, daß der Capsi¬
cumanbau sich besonders auf der damals zum osmanischen Reich gehörigen
Balkanhalbinsel verbreitete, wie dies auch bei andern wertvollen Geschenken
Amerikas, z. B. beim Tabak (Mazedonien!) der Fall war. Der „indianische
106
Pfeffer" wurde also ebenso zum „türkischen Pfeffer", wie der aus West-
ndien kommende Mais als „türkischer Weizen”, das ebenfalls aus West¬
indien und Mexiko nach Europa eingeführte Truthuhn („Indianer” noch
heute in Österreich, dinde von poule d’Inde im Französischen) in manchen
Sprachen auch als türkisches Geflügel (z. B. englisch turkey) bezeichnet
wurde.
per wissenschaftliche Name des Capsicum kommt von griechisch kapsikos
— beißend. Der scharf riechende und schmeckende Stoff, den die Frucht
jer Pflanze enthält, heißt Kapsizin. Aus der Schale wird das sogenannte
Kapsizinrot gewonnen. Das aus dem in Amerika wachsenden Capsicum
erzeugte Gewürz kommt als Cayenne- oder Guineapfeifer in den Handel.
Wenn das Gewürz in Essig eingemacht wird, bezeichnet man es gewöhnlich
als „Chilli".
Schon im Anfang des 16. Jahrhunderts, also bald nach der Entdeckung
Amerikas, wurde mit dem Anbau von Capsicum auf der Balkanhalbinsel
begonnen. Aus Serbien kam die Pflanze auch nach Ungarn, wo sie nach der
Feststellung von Zoltän Gomböcz erst in der ersten Hälfte des 18. Jahrhun¬
derts allgemein wurde. Im Wörterbuch des Albert Molnär ist sie noch als
török bors (türkischer Pfeffer) und piper indicum angeführt. Die Bezeich¬
nung paprika ist zweifellos die slawische Verkleinerungsform von neugrie¬
chisch piperi = Pfeffer. Der älteste ungarische Beleg für die Bezeichnung
paprika ist aus dem Jahre 1748. Als also die ungarischen Stände auf dem
Preßburger Landtag 1741 in temperamentvoller Begeisterung die Säbel zogen
und ihrem „König” Maria Theresia Blut und Leben zur Verfügung stellten,
gab es noch kein ungarisches Wort paprika.
Mittlerweile hat aber die Paprikakultur in Ungarn große Fortschritte
gemacht, besonders in der Gegend von Szeged, und die Botanik kennt jetzt
eine besondere varietas szegedinensis des Paprika. Das Gewürz ist ein typi¬
sches Merkmal der mit Recht geschätzten ungarischen Küche geworden, * 1 von
der sich bekanntlich auch die ebenfalls gutbeleumdete Wiener Küche man¬
ches angeeignet hat. Daß nunmehr eine innige Verknüpfung zwischen den
Vorstellungen Ungarn und Paprika besteht, ändert aber nichts an der Tat¬
sache, daß Paprika eine slawisierte Form einer altindisch-griechischen Be¬
zeichnung für ein asiatisches Gewürz ist, welche Bezeichnung — in bota¬
nisch unbegründeter Weise — auf eine andere, von Spaniern und Portu-
i) Paprika ist jene nationale Lieblingsspeise, nach der der ungarische „Hans¬
wurst“ benannt wird; er heißt Paprika Jancsi (Paprikahänschen). Über solche
nach nationalen Lieblingsspeisen benannte komische Gestalten s. die Fußnote
i auf S. 2iy.
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giesen aus Amerika nach Europa gebrachte und dort erst von den Türken
und den Serben zu den Ungarn gelangte Pflanze übertragen worden ist.
Das Schicksal, als besonders kernungarisch zu wirken, in Wirklichkeit ab er
einer fremden Sprache entlehnt zu sein, teilt das Wort Paprika noch mit
einigen andern. Das Wort Husar, die Bezeichnung einer Kavalleriegattung
die alle modernen Staaten tatsächlich nach ungarischem Vorbild eingeführt
haben, kommt durch südslawische Vermittlung aus dem Romanischen und
ist eigentlich eine Doublette von „Korsar 14 (vgl. das Stichwort „Husar 14 i n
„Wörter und ihre Schicksale“). Die Attila, der verschnürte Rock der
ungarischen Nationaltracht, heißt nicht nach dem großen Hunnenkönig, so n -
dem ist ebenfalls romanischer Herkunft und gehört zu italienisch attilare =5
sich ausrüsten, schmücken (attilarsi = sich mit ausgeschmückter Elegant
kleiden, attillato = geschniegelt, geziert, eng anliegend). An dem Worte
Puszta, das im engeren Sinne eigentlich nur Steppen, große Viehweiden
in öden baumlosen Ebenen bezeichnet, haften angesichts des romantischen
Tiefebenenkults der Ungarn so viel Gefühlswerte, daß der Name für gewisse
Landstriche und einzelne Ortschaften auch dann beibehalten wurde, als auf
jenen seinerzeit von den Türken ganz verwüsteten Gebieten schon blühende
Obst-, Wein- und Getreidekulturen entstanden waren. Der Name der ungari¬
schen Puszta, deren Romantik über Ungarns Grenzen hinauswirkt, ist jedoch
ebenfalls Lehnwort, er enthält die slawische Wurzel pust = leer, öde, die
übrigens auch in den ungarischen Zeitwörtern pusztul = zugrundegehen und
pusztit = verwüsten, vernichten enthalten ist. Das Wort Betyar = Lump,
Räuber ist dank der Romantik, die im 19. Jahrhundert das ungarische Bandi¬
tentum (Rozsa Sändor, Sobri Joska u. a.) umwitterte, auch außerhalb Ungarns
bekannt geworden. Das Ungarische verdankt das Wort der Berührung mit
den Balkansprachen. Serbokroatisch becar bedeutet aber nicht nur Vagabund,
Stromer, sondern vor allem: Junggeselle. Die gleiche Bedeutung haben auch'
bulgarisch bekarin und rumänisch becher. Alle diese Wörter sind mittelbare
oder unmittelbare Entlehnungen aus dem Türkischen, wo bekjar die Bezeich¬
nung für Junggeselle ist. Aber auch in diesem Falle, wo ein repräsentatives
ungarisches Wort auf ein türkisches zurückgeht, ist es kein eigentlich turani-
sches (uralaltaisches) Wort, denn das türkische fußt auf einem semitischen,
aut arabisch bikr = Jungfrau. Den Bedeutungsabstand von Jungfrau zu
Junggeselle überbrückt das gemeinsame Element der Ledigkeit, den Übergang
von Junggeselle zu Vagabund, Räuber der Umstand, daß dieselben ökonomi¬
schen Ursachen, die gewisse Personen (z. B. zweite und dritte Söhne) zum
Ledigbleiben verurteilten, sie oft auch zwangen, in die Welt zu ziehen und
ein unstetes, vielleicht auch unehrliches Leben zu führen. Bezeichnenderweise
hieß der ungarische Bandit nicht nur betyar, sondern auch szegeny legeny,
d. h. wörtlich armer Bursche, armer Junggeselle. (Man vgl. auch oben, S. 105
dänisch peversend = Junggeselle und das Stichwort „Hagestolz, Kadett“ in
„Wörter und ihre Schicksale“.) Cs är das’ ist in Ungarn seit 1835 der Name
108
r
Musikstückart und taucht als Name eines Tanzes Anfangs der 40er
«f aU f 5 a J s Baron B£la Wenckheim und seine Freunde diesen Volkstanz auf
***** leinen Bällen einführten. Seither hat Csardäs, Begriff und Bezeichnung,
de ° - n der ganzen Kulturwelt als ein Stück echten Magyarentums durchgesetzt.
S *k auch in diesem Falle ist es mit dem Magyarentum des Wortes nicht weit
1 6 Csärdäs ist eine Ableitung aus csärda = Heideschenke. Dieses nicht älter
Is * 79 ° belegte Wort ist zweifellos ein Lehnwort slawischer Herkunft. Im
q bokroatischen hat cardak die Bedeutung: Podium, Warte, Wachhaus auf
Pf'hlen an der Grenze, Behältnis für Maiskolben. Slowenisch öardac = Block¬
haus, russisch tscherdak = Erker, Speicher, tschertog = Saal, Halle, Prunk-
emach. Dazu gehört auch: rumänisch cerdac = Aussichtswarte, Veranda, mit
Geländer versehener Gang an der Außenseite eines Hauses, albanisch tsardak
___ p u ßboden aus Holz, bedeckter Vorplatz. Dies alles scheint zurückzugehen
über türkisch tschardak = viereckiges kleines Zimmer, Terrasse, viereckige
Aussichtswarte auf dem Dach von Sommerhäusern, Altane auf vier Säulen auf
persisch tschartak, in welchem Worte der zweite Teil vermutlich arabisch
u k = Gewölbe ist, der erste Teil aber persisch t s c h a r (tschahar) = vier,
(verwandt mit altindisch catvarah, griechisch tessares, tetra-, lateinisch
quattuor, altirisch cethir usw.), so daß uns in „Csardas“ ein sonderbarer Ab¬
kömmling einer indogermanischen Bezeichnung für die Zahl 4 gegenübersteht.
— Von den angeführten sechs Wörtern, die man außerhalb Ungarns als typi¬
sche Vertreter des ungarischen Wortschatzes empfindet, ist keines ein echt
iranisches (uralaltaisches) Wort. Paprika, Husar, Attila, Puszta sind indoger¬
manischen, Betyar ist semitischen Ursprungs; Csardas ist zur Hälfte indoger¬
manisch, zur Hälfte semitisch. Mit Ausnahme von Attila sind alle angeführten
Wörter unmittelbar aus slawischen Sprachen in das Ungarische gelangt.
Im Französischen heißt der Paprika: piment (von lateinisch pigmentum
== Farbstoff, woher auch unser Fremdwort Pigment, zu pingere = färben,
französisch peindre). Volkssprachliche Bezeichnung des Paprika im Fran¬
zösischen sind: poivre long, langer Pfeffer oder poire de Cayenne, Cayenne-
Birne, wohl verderbt aus poivre de Cayenne, Cayenne-Pfeffer. Das unga¬
rische Wort Paprika hat der Franzose zur Bezeichnung des Gewürzes selbst
nicht übernommen, er gebraucht es aber in übertragenem Sinne. Baver dans
Ie paprica (in den Paprika geifern) ist eine familiäre Redensart mit der Be¬
deutung: aufschneiden, übertreiben. Im Jahre 1917 gab es eine französische
Frontzeitung unter dem Titel „Bavons dans le Paprika". Wie im Deutschen
haftet auch im Französischen der Vorstellung „papriziert" der übertra¬
gene Begriff des „Beißenden", „Pikanten" an („In der Luft liegt Pa¬
prika"). Im Jahrzehnt vor dem Weltkrieg war das Wort Paprika bevor¬
zugt als Titel für Sammlungen zotiger Witze (sogenannte „Junggesellen¬
bücher"). Eines der vor dem Kriege sehr verbreiteten Bücher von Jules
109
Grand-Carteret, die einzelne Gebiete aus der Geschichte der Karikatur behan
delten, führte den Titel „Paprika". In Paris bezeichnete man verstohlen
verkaufte pornographische Photographien und auch den Handel mit ihnen
als Paprika. (L. Spitzer vermutet, daß das Wort Paprika 1911 durch ein
Wiener Operettenensemble nach Paris verschleppt worden sei.)
Von den vielen bildlichen Redensarten der französischen Sprache, i n
denen von Pfeffer die Rede ist, seien einige erwähnt: poivre et sei (Pfeffer
und Salz) = schwarz und weiß gesprenkelt, eher comme poivre (teuer wie
Pfeffer), chier du poivre (Pfeffer scheißen) = sein Wort brechen, im wich¬
tigen Augenblick verschwinden, jemandem großen Kummer verursachen
moudre du poivre (Pfeffer mahlen) = langsam vorwärtskommen. Mehrere
Bedeutungen hat die Redensart piler du poivre (Pfeffer stoßen): schlecht
arbeiten; von einem Abwesenden schlecht sprechen; im Sattel hüpfen; bei
der Infanterie: am Ort treten ohne zu marschieren. Das Wort poivre
selbst hat in der französischen Gaunersprache auch die Bedeutung: Gift,
Schnaps, Syphilis.
Auch der englische Slang bedient sich gern des Wortes pepper.
Im übertragenen Sinne bezeichnet es ein scharfes, hartnäckiges Tun. To
pepper im Sinne von zurechtweisen, züchtigen kommt auch bei Shakespeare
wiederholt vor. IT1 give you pepper, ich werde Dir Pfeffer geben, entspricht
unserem: ich werde es Dir einsalzen. Als peppered galt im älteren englischen
Turfslang jemand, der sehr große Einsätze auf ein Pferd gewettet hatte. To
throw pepper in the eyes (Pfeffer in die Augen streuen) bedeutet: betrügen.
Gleichbedeutend ist auch: to use the pepper-box, sich der Pfefferbüchse
bedienen. Pepper-box (Pfefferbüchse) hat im Slang auch die Bedeutung
Hitzkopf, Heißsporn, ist auch eine Bezeichnung für Revolver; außerdem
werden im Volksmund die Kuppeln verschiedener öffentlicher Gebäude und
Kirchen pepper-boxes genannt. To have (oder: take) pepper in the nose
(Pfeffer in der Nase haben oder in die Nase nehmen) bedeutet: eigensinnig
sein. Pepperer = Hitzkopf; pepperiness == Hitzigkeit; peppery = hitzig,
heftig. Pepper-and-salt (Pfeffer und Salz) für einen schwarz und weiß
gesprenkelten Stoff ist u. a. bei Dickens belegt. Im Marineslang ist Tom
Pepper Spottname für einen Lügner, einen Aufschneider.
Auch im Deutschen ist die Ausbeute an übertragenen Bedeutungen
von Pfeffer ergiebig. Eine unverfrorene Äußerung, eine dreiste Handlung
kennzeichnet man als „starken Pfeffer" (wie „starkes Stück", „starker
loback".) Wir sprechen von gepfefferten Reden, gepfefferten Anekdoten,
gepfefferten Rechnungen. Ein unredlicher Beamter wird aus einem Unter¬
nehmen hinausgepfeffert (Einfluß von „hinausgefeuert"?), man pfeffert
no
einen Stein nach einem Köter, der Jäger pfeffert ein Eichhörnchen vom
fraum die Artillerie pfeffert in die feindlichen Stellungen hinein. Wenn es
heißt man zahle einem fünfzig aus dem spanischen Pfeffer, so wird wohl
nicht' nur auf das beißende Capsicum, sondern auch auf das spanische Rohr
als Züchtigungsmittei angespielt. Über verpfeffert = luetisch angesteckt (so
z B in einem Briefe der Liselotte von der Pfalz) s. das Stichwort „Syphilis"
j n „Wörter und ihre Schicksale".
Im Elsaß heißt es von einem, den man überall antreffen kann, er sei
Pfeffer auf allen Suppen. In Sachsen sagt man von einer „Koketten", die
sich beim Gehen ziert („mit dem Steiß wackelt"), sie reibe Pfeffer. Ein
weit verbreiteter Volkspruch ist: Der Pfeffer hilft dem Mann aufs Pferd,
der Frau in die Erd 1 . Er erklärt sich einerseits aus der Auffassung, der Genuß
von Pfeffer (oder von Gewürzen überhaupt) erhöhe die männliche Ge¬
schlechtskraft 2 und andererseits daraus, daß Pfeffer zur Herstellung von
Fruchtabtreibungsmitteln verwendet wurde.
Die Redensart hier liegt der Hase im Pfeffer hat die Bedeu¬
tung : dies ist der wichtigste Punkt in der ganzen Angelegenheit. Das erklärt
sich daraus, daß „Pfeffer" die volkstümliche Bezeichnung für stark gewürzte
Saucen ist. 3 (Daß Pfeffer als das wichtigste Gewürz oft die allgemeine Be¬
deutung Gewürz hat, geht auch aus den Bezeichnungen Pfefferkuchen,
Pfefferzelten, Pfeffernüßchen, Pfefferkarpfen hervor.) Die Speise, die man
in Berlin Hasenklein nennt, heißt im Westen und im Süden meistens Hasen¬
pfeffer. Wenn man von jemandem sagt, er wisse wo der Hase liegt, so
meint man wörtlich, er wisse, wo der Hase in der Brühe liegt, 4 d. h. er ver¬
stehe es, wenn er in die Schüssel langt, rasch die Fleischstücke in der Sauce
zu finden und herauszuholen. 5 Bei Moscherosch (17. Jahrhundert) heißt es:
1) Elsässische Formen des Sprichwortes: Pfeffer lüpft dr Mann uPs Roß
und d’Frau ins Grab; Pfeffer hilft de Buebe ufs Pferd u de Maidle unter die
Erd. In ähnlicher Weise heißt es in einem alten holländischen Sprichwort
von der ebenfalls als Aphrodisiakum geltenden Petersilie: Peterselii helpt de
mannen to paerdt, de vrouwen onder de aerdt. Englisch: A parsley-field will
bring a man to his saddle and a woman to her grave.
2) In manchen deutschen Gegenden mischen junge Frauen ihren Männern
mit Absicht viel Pfeffer in die Speisen.
3) „Uber schwarz, stinkend Fleisch macht man gern einen gelben Pfeffer“,
heißt es in Fischarts Gargantua.
4) Man vgl. italienisch: vediamo, dove giace la lepre; französisch: c’est 1 h.
que git le li&vre.
5) Gekünstelt ist die bei H. Schräder angegebene Deutung: Zur Vermittlung
des Sinnes (bei der übertragenen Bedeutung: hier liegt der Hase im Pfeffer)
weist man wohl darauf hin, daß pfeffern soviel als schießen bedeutet (einem
III
Keiner aber weiß, wo der Has im Pfeffer liegt, als der ihn angericht. Seba-
stian Brant sagt im Narrenschiff von Prozeßkrämern, die den Advokaten
viel zu verdienen geben: „Sie sind der Has, der in der schriber pfeffer
kummt." Aus der Gleichung Pfeffer = scharfe Sauce erklärt sich auch die
Redensart in den Pfeffer geraten = in Verlegenheit kommen, j n
Schwierigkeiten geraten. (Ich vermute, daß auch ungarisch päcba jön =-
in Schwierigkeiten geraten von deutsch „Beize" kommt, obschon es auch an
„in die Patsche kommen" anklingt, das aber wohl zu Patsche = Pfütze zu
halten ist.)
Zum Schluß erwähnen wir noch die Redensart: Jemanden hinwünschen
oder hinschicken, wo derPfeffer wächst. Demokritos-Weber meint
„das Land wo der Pfeffer wächst", sei „Banta, das selbst Javaner ansehen
als das Land der Verwesung, des Fluches und des Todes; aus diesen Gegen¬
den stammt die Redensart: ich wollte Du wärest, wo der Pfeffer wächst."
Er meint die javanische Landschaft Bantam, deren gleichnamige Hauptstadt
einst der Hauptverschiffungsplatz für Pfeffer war. Dazu ist allerdings zu
bemerken, daß die Portugiesen erst 1511 zum erstenmal nach Java gelang¬
ten, daß aber schon im Jahre 1512 in Thomas Murners Narrenbeschwörung
zu lesen ist: Ach werents an derselben statt, wo der pfeffer gewachsen hat,
Es ist anzunehmen, daß diese Wendung schon damals keine neue Prägung
war und daß dem Ausdruck die alte Vorstellung zugrunde liegt: es seien
sehr entfernte Gebiete, wo jenes exotische Gewürz wachse. Damit erledigen
sich auch die Deutungen, die die Redensart gar nicht auf den Pfeffer, son¬
dern auf den „spanischen Pfeffer", auf den Paprika beziehen. Jemanden
hin wünschen, wo der Pfeffer wächst, heiße gar nicht ihn nach Java oder
Sumatra schicken, sondern in die tropische Hölle von Französisch-Guyana
(nach dessen Hauptstadt Cayenne der Paprika auch Cayenne-Pfeffer heißt),
wohin Frankreich bisher seine Schwerverbrecher deportierte. Dem ist jedoch
entgegenzuhalten: Als Thomas Murner die Redensart gebrauchte, war die
Küste von Guyana zwar schon entdeckt, aber an dieses Gebiet knüpfte sich
damals noch keinerlei schreckeneinflößende Vorstellung, es galt vielmehr,
wie auch die andern neu entdeckten Gebiete als ein wahres Land der Ver¬
eins auspfeffern) und die Körner des Hasenschrots auch wohl Pfeffer genannt
wurden. Oder man sagt auch wohl, man habe an das Pfefferkraut (lepidium)
u. dgl. zu denken. — Auch Peter Rosegger, dem wohl die in Österreich nicht
übliche Bedeutung Pfeffer = Gewürzsauce fremd war, scheint die Redensart
vom Hasen im Pfeffer mißzuverstehen und mit Pfeffer irgend ein Kraut zu
meinen, denn er schreibt einmal: „ob nicht irgendwo eine Wildtaube niste
oder ein Has* im Pfeffer.“
112
heißung- Jemanden hinwünschen, wo der Pfeffer wächst, hieß also ur¬
sprünglich nur: jemanden s e h r w e i t wegwünschen. (Im Elsaß kommt die
Redensart auch in folgender Form vor: Wenn de nummen in Grenowel
warst, wo der Pfeffer wachst. Die Stadt Grenoble repräsentiert für das
elsässische Landvolk gleichsam die weite Ferne.)
paschen, schmuggeln, schwärzen
Im Faust klagt Mephisto: „Mir ist ein großer, einziger Schatz entwen¬
det / Die hohe Seele, die sich mir verpfändet / Die haben sie mir pfiffig
weggepascht.“ Paschen — zuerst 1777 in Adelungs Wörterbuch gebucht
(als „nur im gemeinen Leben Oberdeutschlands gebraucht“) — kommt in
oberdeutschen Mundarten mit der Bedeutung schmuggeln vor, daher
Pascher = Schmuggler. Abpaschen bedeutet meistens durchbrennen, so z. B.
in der Studentensprache und in der Wiener Gauner- und Kellnersprache
(„mir is heund a Gast ohpascht"), entsprechend den mehr norddeutschen
Ausdrücken türmen und abhauen. In übertragenem Sinne bedeutet abpaschen
auch sterben. Die Ableitung des Wortes von hebräisch passah = über¬
schreiten (daher im Jüdischdeutsch paschen = die Grenze überschreiten,
nämlich mit verbotenen Waren) dürfte die richtige sein 1 . Weniger wahr¬
scheinlich ist die Ableitung von französisch passer = vorübergehen (von
lateinisch passus = Schritt). Einzig der alte deutsche Volksausdruck ab¬
paschen = mit Würfeln besiegen, hängt offensichtlich mit dem franzö¬
sischen passer zusammen, und zwar mit dem Spiel „passe-dix“ = „über¬
schreite zehn“, ein Spiel mit drei Würfeln, wobei der Wurf mit mehr als
zehn Punkten gewinnt. (Das Spiel sollen die Römer nach Gallien gebracht
haben; es wurde in Frankreich noch anfangs des vorigen Jahrhunderts viel
gespielt; jeu de la passe heißt im französischen Argot auch heute ein volks¬
tümliches Hasardspiel.) 2
1) Die Vermittlung zwischen dem Hebräischen und der deutschen Gemein¬
sprache besorgte das Rotwelsch, aus der es zunächst, nach Mitte des 18, Jahr¬
hunderts, die Studenten übernahmen, unter denen ja die Theologen hebräisch
konnten und »für die das Überlisten der Zollwächter an der Stadtgrenze ein
Hauptspaß war« (Trübners Wörterbuch). Goethe dürfte das von ihm ge¬
brauchte »wegpaschen« (s. die eingangs angeführte Fauststelle) wohl als
»burschikos« empfunden haben.
2) Das wienerische paschen = die Hände vor Vergnügen ineinander schla¬
gen hängt mit dem obenerwähnten Paschen nicht zusammen, sondern ist ein
lautmalerisches Zeitwort, eine sanftere Abart des patschen (z. B. in patschnaß,
Patschhändchen).
in
8 Storfer • Sprache
Schmuggeln tritt erst im 18. Jahrhundert in der hochdeutschen
Schriftsprache auf. Es kommt von niederdeutsch smuggeln (dazu dänisch
smug = heimlich, smughandel = Schleichhandel). Im Englischen ist
smuckellor seit 1661, smuggle seit 1687 belegt. Vielleicht besteht Verwandt¬
schaft mit schmiegen, anschmiegen; die Brücke, die den Bedeutungswandel
vermittelt, wäre dann: sich an den Boden schmiegen, d. h. sich ducken,
sich heimlich durchwinden (man denke an ,,Schleich cc -handel).
Der süddeutsche Ausdruck für schmuggeln ist schwärzen. Er hängt
wahrscheinlich damit zusammen, daß im Rotwelsch, der alten deutschen
Gaunersprache, swerze (Schwärze) schon im 14. Jahrhundert die Nacht (im
übertragenen Sinne daher die Heimlichkeit) bedeutete. Übrigens hat man
zur Erklärung des Zeitwortes schwärzen auch den Umstand herangezogen,
daß Schmuggler sich das Gesicht schwärzen, um unkenntlich zu sein. Man
vergleiche auch „schwarze Reichswehr <c (geheim gehaltene Truppenver¬
bände), schwarzhören (wenn man keine Rundfunkgebühren zahlt),
Schwarzfahren (ohne Fahrschein auf der Eisenbahn oder Straßenbahn fah¬
ren) usw. Wenn Autodiebe den gestohlenen Wagen ganz zerlegen, um die
Beute in einzelnen Bestandteilen zu verwerten, so nennt man das in Berlin
Schwarzschlachten. Im Krieg verstand man darunter das Schlachten von Rin¬
dern oder Schweinen unter Verletzung von Lebensmittelverordnungen.
Pistole
An der Zurückführung von Sachnamen auf Eigennamen findet das große
Publikum offenbar unersättlichen Gefallen, denn von Zeit zu Zeit wieder¬
holen sich in Tageszeitungen und volkstümlichen Zeitschriften Aufsätze,
die immer wieder das Macadampflaster des Amerikaners MacAdam und
die Schrapnells des Obersten Shrapnell „aufwärmen“. Aber nicht nur der
„gleichnamige Erfinder" ist sehr beliebt, die Formel „nach dem Orte der
Erzeugung" steht auch nicht in tiefem Kurse. Neben den richtigen machen
sich unter diesen abgedroschenen Ableitungen aus Ortsnamen auch einige
falsche breit und sie erweisen sich als nicht minder hartnäckig. Oft
ist es allerdings bei gewissen etymologisch dunklen Wörtern das Fehlen
oder vorläufige Fehlen einer anderen Deutungsmöglichkeit, das — ange¬
sichts zufälliger Lautähnlichkeit eines geographischen Eigennamens — die
Entstehung einer etymologischen Legende fördert. Selbstverständlich soll
nicht etwa bestritten werden, daß viele dieser Ableitungen aus geographi¬
schen Eigennamen einwandfrei sind. Der Magnet und das Magne¬
sium erinnern mit Recht an die thessalische Landschaft Magnesia, das
Kupfer an die Insel Kypern, das P e r g a m e n t an die Stadt Pergamon,
114
w0 man als Ersatz für Papyros zuerst Tierhäute für das Schreiben herrich¬
tete. Diese Liste ließe sich lange fortsetzen. Unter diesen auf geographische
Eigennamen zurückgehenden Sachnamen wird gewöhnlich auch die P i s t o 1 e
angeführt. Die kleine Handfeuerwaffe heiße so, weil sie zuerst in der ita¬
lienischen Stadt P i s t o i a (bei Florenz) erzeugt worden sei. Auch Kluges
Etymologisches Wörterbuch vertrat früher, durch viele Auflagen hindurch
bis zur allerjüngsten Zeit, diese Ableitung. Darüber, daß kein geschicht¬
licher Beleg dafür vorliegt, daß diese Waffe gerade in Pistoia erzeugt wor¬
den wäre, hat man sich nicht lange gewundert. Allerdings fanden sich Auf¬
zeichnungen, daß man in Pistoia kleine Dolche verfertigt hatte. Diese
hießen pistoyers und in Italien bedeutet pistolese auch jetzt ein Jagdmesser.
Es müßte also eine Übertragung des Namens vom kleinen Dolch auf die
kurze Handfeuerwaffe erfolgt sein (Diez: „weil beide versteckt geführt
wurden?“), was zwar nicht belegt, immerhin aber grundsätzlich nicht aus¬
geschlossen ist. Es liegt übrigens auch eine Vermutung von Frisch vor,
Pistole sei aus lateinisch pistillus = Stößel (italienisch pestello) abgeändert
und habe die ursprüngliche Bedeutung: Werkzeug mit Knauf.
Eine geistreiche Hypothese über die Herkunft des Wortes Pistole („wo¬
mit die stümperhafte Beziehung des Wortes Zu der Stadt Pistoia fällt“) hat
Rudolf K1 e i n p a u 1 aufgestellt. Er sieht in Pistole das italienische pistoia
(lateinisch epistola) = Brief. Als im 14. Jahrhundert die Handfeuerwaffen
ganz kleinen Kalibers in Italien auf kamen (im Jahre 1364 ließ die Republik
Perugia 500 Stück solcher Waffen anfertigen), mag diese Waffe den Na¬
men pistoia bekommen haben, indem man sie einem Briefe, d. h. richtiger
einer Brieftaube verglich. Jedenfalls stimmt, was Kleinpaul als allgemeine
Voraussetzung seiner Deutung ins Treffen schickt, nämlich der Umstand,
daß Schußwaffen oft Vögeln verglichen und nach Vögeln be¬
nannt worden sind. „Wenn im Mittelalter, wo der Reiher gebeizt ward,
Geschütze und Handfeuerwaffen die Namen von Stoßvögeln erhielten,
Namen, die teilweise heute noch leben, so war das doch eine handgreif¬
liche, schöne, aber als solche niemand entgehende Metapher.“ ^Vir nennen
die Beispiele Falkaune und Falkonett, Muskete, Terzerol. Der Falke (latei¬
nisch falco, mittellateinisch falcona) ist bekannt als Jagdvogel. Nach der
Erfindung des Schießpulvers ist die Schußwaffe auf dem Gebiete der Jagd
gleichsam an die Stelle des Stoßvogels getreten. Heißt die Falkaune
und das kleinere F a 1 k o n e 11 nach dem Falken 1 , so kommt der Name
0 Das Schweizerische Idiotikon sieht — bei der Behandlung des Wortes
Fagune (so hieß in der Schweiz im 16. Jahrhundert die Falkaune) — die
ID
Muskete (moschetto) von dem einer Sperberart. Mosquet ist der spa¬
nische, 6mouchet der französische Name eines Sperbers, dessen Brust mit
kleinen Flecken (frz. mouche von lat. musca = Fliege) gesprenkelt ist und
der deutsch, ebenfalls mit Hinsicht auf die Sprenkelung, „Sprinz cc heißt.
Nach diesem Stoßvogel hieß das auf eine Gabel aufgelegte Luntenschloß,
gewehr, das 1521 im Heere Karls V. an Stelle der Hakenbüchse trat, um
dann etwa 100 Jahre später, von Gustav Adolf verbessert, alle anderen
Gewehrarten zu verdrängen, Muskete. (Daher „Musketiere“ nicht nur in
Frankreich, sondern bis 1918 auch der Name für die Mannschaft in den
ersten beiden Bataillonen der deutschen Linieninfanterieregimenter.) Ter-
z e r o 1 war der Name einer kleinen Pistole. Der Name kommt vom ita¬
lienischen Wort terzuolo, dem Namen einer Habichtsart. Der Vogelname
terzuolo selbst (französisch tiercelet) ist nicht ganz klar, man führt ihn
auf tertiolus (lateinisch tertius) = der Dritte zurück, weil nach dem Volks¬
glauben in den Nestern dieser Vogelart jedes dritte Junge ein Männchen
sei, oder weil nach einer anderen Volksmeinung das Weibchen um ein
Drittel kleiner sei als das Männchen. Aber wie immer es zum Namen der
Habichtsart gekommen sein mag, gesichert erscheint jedenfalls, daß die
Waffe Terzerol nach dem Raubvogel terzuolo heißt.
Hier haben wir also in Falkonett, Muskete und Terzerol drei einwandfreie
Zeugen dafür, daß die Neigung bestand, Schußwaffen nach Vögeln zu be¬
nennen, wie übrigens auch nach Schlangen: Serpentins, Feldschlangen u.
dgl. Daneben werden noch vereinzelte Benennungen eines einzelnen Ge¬
schützes von seiten der Truppe als Adler, Nachtigall * 1 , Hahn, Taube u. dgl.
überliefert. In einer Lindauer Urkunde aus dem Jahre 1723 ist von einem
Eammerstückh (Geschütz) „der Adler“ die Rede. Noch im Weltkrieg hat¬
ten bayrische Soldaten für ein russisches Geschütz den Namen Auerhahn
aufgebracht. Das alles läßt Kleinpauls Deutung Pistole = Brief, d. h. Brief¬
taube als nicht unwahrscheinlich und jedenfalls besser begründet erscheinen
als die Ableitung von der Stadt Pistoia.
Als erwiesen kann jedoch die Vogeldeutung nicht gelten. Zumal da noch
eine weitere Ableitung auf den Plan tritt, die man als befriedigend ansehen
darf. Demnach wäre das Wort Pistole tschechischen Ursprungs. Zum
lautmalenden tschechischen Wort pisk = Pfiff (piskati = pfeifen) ist das
Vergleichsgrundlage nicht darin, daß das Geschoß wie ein Raubvogel auf den
Gegner losgelassen wird, sondern im schwirrenden Flug der Kugel.
i) Nachtigall war im Besonderen der volkstümliche Name einer schweren
Geschützart, die sonst Kartaune hieß (von mittellateinisch quartana = Viertel*
büchse).
ii6
^ort pisfala = Pfeife gebildet. Meyer-Lübke hat in seinem Romanischen
FtvcQologischen Wörterbuch auf die (übrigens viel früher schon vom
tschechischen Historiker Palacky erkannte) Möglichkeit eines Zusammen¬
hangs zwischen Pistole und tschechisch pi&ala = Pfeife hingewiesen, aller¬
dings hinzugefügt: „doch fehlt die historische Begründung der Auffassung“.
Seither hat Kurrelmeyer, der, wie übrigens auch K. Strekelj, unabhängig von
Meyer-Lübke auf die tschechische Spur gelangte, die vom Romanisten ver-
Inißten historischen Belege beigebracht. Pistole kommt deutsch zuerst in
schlesischen Geschichtsquellen zwischen 1421 und 1429 als Name von
Feuerwaffen vor: und zwar in Formen wie pischulle, pischoll, pischczal usw.
Daß in diesen Fällen das tschechische Wort pisfal = Pfeife im Sinne von
Handrohr, Handfeuerwaffe gebraucht wird, beweist der Umstand, daß ge¬
legentlich auch das tschechische Wort übersetzt erscheint und daß deutsch
pfeife" im Sinne von Pistole gebraucht wird 1 . So ist in einem schlesischen
Dokument aus dem 15. Jahrhundert die Rede von „steynbuchsen und pulver
und steyne ... und ouch p f e i f f e n und hawfenicz“. Das letzte Wort be¬
deutet Haubitzen und erinnert uns daran, daß die Herkunft der Pistole aus
dem tschechischen pisfal nicht ein Unikum darstellt. Gerade auf dem Ge¬
biete des Kriegswesens finden sich im Deutschen und in den euro-
i) Die Grundlage für die Gleichstellung von Schußwaffe und Pfeife liefert
Jas gemeinsame Merkmal des Hohlen. Darauf gründet sich auch die Inan¬
spruchnahme der Pistole als weiblichen Geschlechtssymbols. So
heißt es in einem schweizerischen Volksreim: Min Schatz is vo Uri und ich
us Tirol, min Schatz hed en Sabel und ich e Pistoll. Hier ist also die Form,
das Ausgehöhltsein der Pistole für die Symbolik des Volkslieds wichtiger als
ihr Charakter als Angriffswaffe, denn sonst haben nämlich Angriffs¬
waffen männlichen Symbolwert. Dies gilt z. B. für den Säbel, wie
der eben angeführte Volksreim zeigt. Ein anderer, ebenfalls aus der Schweiz,
lautet: Aide, aide, aide (Ade), der Heiri un si Vre (der Heinrich und seine
Veronika), sie fored übr d’ See, der Heiri zieht de Sabel us und sticht der
Vre alle Federe us. Ebenso dient auch das Bajonett als männliches Geschlechts¬
symbol. Sein Pankenett putzen kommt in oberdeutschen Mundarten verschie-
denorts mit der Bedeutung onanieren vor. Man beachte auch österreichisch
Titschkerl = Bajonett, tischkerln = coire. Aus dem Pariser Argot bucht
Villatte 1912 als Bezeichnungen des männlichen Gliedes: braquemart, kurzes
Schwert, dard, Spieß (astiquer le dard, den Spieß putzen = onanieren). Aus
dem englischen Slang buchen Farmer und Henley: bayonet, fixed-bayonet, auf¬
gestecktes Bajonett, lance in rest, eingelegte Lanze, dagger, Dolch, battering-
piece, Belagerungsgeschütz. Bei den Römern war hasta (Lanze) ein gangbarer
Euphemismus für penis. Römische Dichter gebrauchten für das männliche
Glied gelegentlich auch arma (Waffe) schlechthin (z. B. Petronius, Proper-
tius).
päischen Sprachen überhaupt mehrere Eindringlinge aus dem Tschechi¬
schen. Sie gehen auf die Zeit der Hussitenkriege und auf den Dreißig,
jährigen Krieg zurück. Die Gelegenheit zur Berührung mit tschechischen
Kriegsleuten und mit den redensartlich gewordenen „böhmischen Dörfern"
war jedenfalls zeitweilen reichlich gegeben. Außer der schon erwähnten
Haubitze (aus tschechisch houfnice = hölzerne Steinschleuder 1 ) er¬
wähnen wir noch Trabant aus tschechisch drab = Fußsoldat, Torni¬
ster aus tanistra (das wohl ebenso wie ungarisch tarisznya, rumänisch
taistra und daraus siebenbürgisch-sächsisch teister, auf zwei untereinander
nicht verwandte Vorfahren, auf spätgriechisch tagistron = Futtersack des
Reiters und lateinisch canistrum == Brotkorb zurückgeht). In diesem Zu¬
sammenhang seien noch folgende militärische Sachnamen genannt, die aus
dem Osten, und zwar aus mehr oder weniger slawischen Zusammenhängen
kommen: Säbel, Pallasch, Husar 2 , Pekesche, Litewka.
Zur Stützung der tschechischen Ableitung von „Pistole“ kann noch er¬
wähnt werden, daß für das Gleichnis, das der Bedeutungsübertragung von
pisfal = Pfeife auf Pistole = Handfeuerwaffe zugrunde liegt, eine Ana¬
logie vorhanden ist. Nicht nur das Wort Pistole bedeutet ursprünglich nur
Pfeife, Rohr, sondern auch das Wort Kanone, dem eine bedeutungs¬
geschichtlich ähnliche Metapher zugrunde liegt. Der Ursprung von Kanone
ist semitisch: akkadisch qanu, hebräisch qane bedeutet Schilfrohr, dar¬
aus griechisch kane = kleines Rohr, aus dem sich sowohl Kanon = Rohr¬
stab, Meßstab und dann allgemein Maß, Regel, als Kanone = Geschütz, übri¬
gens auch Kanal, entwickelten; Kanonen rohr ist also sprachgeschichtlich
eigentlich eine Tautologie, wie Attentatsversuch, Plaisirvergnügen, Guerilla¬
krieg.
Wir können vom Wort Pistole, das uns bereits zu verschiedenen wort¬
geschichtlichen Ausblicken veranlaßt hat, nicht Abschied nehmen, ohne vor¬
her noch einer seiner bisher nicht erwähnten Bedeutungen zu gedenken.
Pistole hieß der von Philipp II. von Spanien eingeführte Doppelscudo, wel¬
ches Wort dann besonders in Frankreich Fuß gefaßt hat als Münzbe¬
zeichnung; aus Geschichtsbüchern und historischen Romanen ist das
Wort Pistole als Münzbezeichnung auch in Deutschland bekannt geworden.
Im deutschen Schrifttum kommt „Pistolet" zuerst 1575 in Fischarts Gar-
1) Das aus dem Dreißigjährigen Krieg stammende Wortspiel: »Was dem
Häuf nütze, ist die Haufnitze« (Haufen = Truppe, Bataillon) darf nicht
etymologisch gewertet werden.
2) Vgl. dieses Stichwort in »Wörter und ihre Schicksale«.
an tua vor. Man nimmt an, daß le pistolet in Frankreich zuerst ein Scherz¬
name war, den man kleinen spanischen Geldmünzen gegeben hat, und er¬
klärt sich die Sache so: le pistolet sei eine Verkleinerung von la pistole;
man habe ja auch gewisse kleine Dolche in Italien pistolette und pistolese
nannt und so habe man eine gewisse spanische Münze, die kleiner gewe¬
sen sein soll als andere, Pistolchen, pistolet genannt. Der eigentliche Sinn
war also: das Kleine. Ein französischer Autor, Henry Estienne, fügt hinzu,
es werde eine Zeit kommen, in der man die kleinen Männer pistolets (Pi¬
stolchen) und die kleinen Frauen pistolettes (Pistolinchen) nennen werde.
(Eitzen: „Wenn das ernst gemeint gewesen wäre, wäre es eine der seltenen
Voraussagen für einen Bedeutungswandel.“) Eine andere kühne Deutung
des Münzennamens Pistole meint, der Durchmesser dieser Goldstücke sei
ursprünglich genau so groß gewesen wie das Kaliber der Pistole genannten
Schußwaffe.
Wesentlich glaubhafter ist die Verwandtschaft des Münzennamens Pistole
mit dem Worte Piaster. Da diese Geldbezeichnung jetzt nur noch im
Orient vorkommt, wäre man zunächst geneigt, in ihr ein indisch-persisches,
arabisches oder türkisches Wort zu vermuten. In Wirklichkeit ist das Wort
erst aus dem Abendland in den Orient gedrungen. Die Bezeichnung Piaster
gebrauchten zuerst die Spanier, und zwar für den in Südamerika in Kurs
gesetzten spanischen Peso. Das Wort Piaster ist auch mit Pflaster ver¬
wandt. Das Stammwort ist das mittellateinische plastrum = Metallplatte.
Die Vermittlungsform ist italienisch piastra = Metallplatte, und besonders
seine Verkleinerung piastola = Plättchen. Von piastola zu Pistole und Pia¬
ster ist der Weg nicht mehr weit. Die lautliche Übereinstimmung der roma¬
nischen Geldbezeichnung Pistole mit dem ursprünglichen tschechischen Waf¬
fennamen Pistole ist also wohl nur eine zufällige.
Pluzer
An dem österreichischen Worte Pluzer kann man eine Reihe von Er¬
scheinungen aus dem Gebiete der Bedeutungsübertragung beobachten. Pluzer
bedeutet zunächst
1) einen Kürbis, besonders einen großen Kürbis. Man vermutet, daß
dieses Hauptwort verwandt ist mit dem mundartlichen Zeitwort pluzen, her-
pluzen = schwer mit Geräusch niederfallen (also etwa wie plumpsen). Der
Name Pluzer würde sich demnach also irgendwie auf den Eindruck gründen,
den das Einbringen der Kürbisse vom Felde, das Hinwerfen der schweren,
aber minderwertigen Früchte hinterläßt.
2) Pluzer heißt ferner eine bauchige Flasche aus Steingut mit schma¬
lem Hals. Die Bedeutungsübertragung beruht vor allem auf der Formähnlich,
keit, vielleicht auch darauf, daß ausgehöhlte Kürbisse mitunter als Gefäße
verwendet worden sind. Diese Bedeutungsbeziehung zwischen den Be¬
griffen Kürbis und Flasche besteht nicht nur im Österreichischen. Aus ara¬
bisch qar’a = Kürbis entwickeln sich die Bezeichnungen der Flasche im
Spanischen, Katalanischen und Portugiesischen: calabaza, carbassa, cabaza
Es gibt einen „Flaschenkürbis c< (Lagenaria vulgaris aus griechisch-lateinisch
lagena = Flasche) und es ist zu beachten, daß für das Altertum, wie Merin-
ger hervorhebt, nur der hartschalige, weißblühende Flaschenkürbis in Be¬
tracht kommt, denn der gelbblühende (cucurbita pepo) ist erst aus Amerika
eingeführt worden. Primitiven Völkern dienen Flaschenkürbisse als Gefäße
und ein großer Teil der vorgeschichtlichen Töpferkunst, vor allem die
Bandkeramik, geht auf Kürbisformen zurück.
In früheren Zeiten gingen in Wien bei Volksfesten oder sonstigen gro¬
ßen Menschenansammlungen Frauen herum, die aus Steingutflaschen Wasser
oder Mineralwasser feilhielten. Das war das „Pluzerwasser“. Manchmal ver¬
kauften sie aus dem Pluzer auch Pluzermüli, d. h. Wasser mit gestoßenen
Kürbiskernen und in diesem Falle war die „Pluzer <c -Bezeichnung doppelt
begründet. Bei der Redensart „i kunt vor Zürn in an Pluzer spring’n“ ist
nicht klar, ob vom Kürbis oder von der Flasche die Rede ist, jedenfalls ist
etwas für den Menschen sehr Enges gemeint.
3) Nicht nur auf eine Flasche bestimmter Form, auch auf das mensch¬
liche Haupt wird der österreichische Name des Kürbisses übertragen 1 .
Besonders einen großen Kopf, einen sogenannten Wasserkopf, nennt man
Pluzer. Die Bezeichnung kann, muß aber nicht etwas Verächtliches haben,
scherzhaft ist sie jedenfalls. „An Zylinder auf’n Pluzer cc , heißt es in einem
alten Wiener Drahrerlied. In den sein Pluzer geht nix eini, sagt man von
einem, der schwer von Begriff ist. Daß der Kürbis gelegentlich als Symbol
der geistigen Minderwertigkeit dient, beruht vermutlich sowohl auf dem
geringen Wert der Frucht, als auch auf der Vorstellung der Hohlheit, da
man auf dem Lande Kürbisse zu praktischen Zwecken oder zur Verwen¬
dung in gewissen alten Bräuchen oft aushöhlt. Man beachte übrigens auch
im Ungarischen: tökfilkö = Kürbisjunge (auch Schellenober) im Sinne von
Trottel, tökbuta = dumm wie ein Kürbis, tökreszeg = besoffen wie ein
Kürbis. (Das Eingehen auf die ungarische Bedeutungsreihe Hoden-Kürbis-
Schellen würde hier zu weit führen.)
i) Ähnlicherweise hat in der schwäbischen Kundensprache Kürbis auch
die Bedeutung: Kopf.
120
^enn man an den alten ländlichen Kinderbrauch denkt, in einen aus-
—bohlten Kürbis Löcher zu schneiden, die Augen, Nase und Mund dar-
;'ellen sollen 1 , erscheint die Vorstellungsverknüpfung Kürbis—Kopf nicht
-0 weit hergeholt 2 * * . Auch spielt die schon behandelte Gleichung Kürbis =
pluzer = Gefäß dabei mit. Ferner muß man auch wissen, daß die Kultur¬
sprachen in ihrem Wortschatz lebendige Andenken an jene Zeiten erhalten
haben, in denen die Menschen die Schädel der Toten als Trinkgefäße be¬
nutzten. Das deutsche Wort Kopf (verwandt mit englisch cup = Becher,
Obertasse) hat noch im Mittelalter „Trinkgefäß“ bedeutet, woraus sich dann
zunächst die Bedeutung Hirnschale entwickelte. Auch die einwandfreie
sprachliche Verwandtschaft zwischen „Kopf“ und „Kübel“ und zwischen
Schädel“ und „Schale“, sowie die Entwicklung des lateinischen testa =
Schale zu französisch tete = Kopf deutet auf die einstige Verwendung von
Menschenschädeln als Trinkgefäßen. Im Bregenzerwald, in Graubünden und
in Glarus nennt man den Handwerker, der aus Holz Milchgefäße u. dgl.
anfertigt: Schädler. Die Übertragung des Wortes Pluzer auf den Schädel ist
also mehr als ein volkstümlicher Scherz, eine uralte Vorstellungsverknüpfung
zwischen Trinkgefäß und Menschenhaupt wirkt dabei als unbewußtes ar¬
chaisches Moment mit.
4) Nicht nur den Kopf kann Pluzer bedeuten, auch der Mensch selbst
kann mit diesem Wort bezeichnet werden. Es wird dann zum gerichtsnoto¬
rischen Schimpfwort. Aus einer Gerichtsverhandlung in Schwechat im
Oktober 1933 wegen Körperverletzung: „I bin friedlich beim Tisch g’sess’n.
Auf amai kummt er und stänkert mi an. Dreimal hat er ma kräftig ins
Ohr g’schrien: Pluzer! Damit Ruh 5 ist, hab i eam langsam wegtaucht. Dann
san ma a bisserl z’samg’wachs’n.“ Pluzer bedeutet in diesem Falle etwa:
Idiot. Es ist ein Fall jener häufigen Bedeutungsverschiebung, bei der man
1) lm Frankfurterischen bezeichnet man als Kerwes-Kepp mit Aage (Kür¬
bisköpfe mit Augen): ausgehöhlte und mit Löchern (Mund und Augen) ver¬
sehene Kürbisse, in die ein Licht gesteckt wurde,
2) Auch in der französischen Volkssprache wird der Kopf calebasse
(Flaschenkürbis) genannt; vendre la calebasse (den Kürbis verkaufen) = je¬
manden verraten, anzeigen. Man vgl. im Argot: citrouillard (Kürbisling) =
Kopf, cucurbitac6 (Kürbisartiges) = Dummkopf. Auch das Italienische kennt
die Bedeutungsentwicklung von succa = Kürbis zu »Kopf« und zu Dumm¬
kopf. Schon im Vulgäriateinischen dient Cucurbita zur Bezeichnung eines
einfältigen Menschen (z. B. bei Petronius, verdeutlicht bei Apulejus: Cucurbitae
caput). Der Japaner bezeichnet scherzweise einen Raum, in dem buddhisti¬
sche Priester versammelt sind, wegen deren kahlgeschorenen Schädel: tog-
.wambune, Kürbisschiff.
121
mit dem Namen eines Körperteils den ganzen Menschen bezeichnet, ^j c
Graubart, Fettwanst, Leichtfuß, Dummkopf u. dgl. Gerade den Kopf
treffende volkstümliche Bezeichnungen werden oft als Schimpfworte fü r
den ganzen Menschen gebraucht. So hat, um nur ein Beispiel zu nennen
das im Weltkrieg berüchtigt gewordene Schimpfwort Boche in französischen
Mundarten ursprünglich die Bedeutung Dickkopf, Quadratschädel.
5) Schließlich hat Pluzer noch eine fünfte Bedeutung. Eine aus dem
Jahre 1800 stammende Definition kann im großen und ganzen auch heute
noch gelten: „ein unerhebliches Versehen, besonders gegen die Kon*
venienz“ Wie kommt es zu dieser Bedeutung? Führt dazu eine Brücke von
einer der vier vorherigen Vorstellungen Kürbis, Flasche, Kopf, Dummkopf?
Am verlockendsten erscheint es, von der letztgenannten Bedeutung aus-
zugehen. Dann stünde es so, daß wer einen Pluzer, d. h. einen minder¬
wertigen Kürbisschädel hat, auch selbst Pluzer geschimpft wird, und was
er nun in seiner Dummheit anstellt, heißt nun auch Pluzer. Unmöglich ist
diese Kombination nicht, aber gar kein sprachgeschichtlicher Beleg spricht
dafür. Vor allem ist festzustellen, daß Pluzer weniger die Handlung eines
Dummen bedeutet, als ein Versehen aus Ungeschicklichkeit, Unaufmerksam¬
keit oder Zufall. Wenn nun nach einer anderen Deutung ausgeschaut wer¬
den soll, möchte ich zu beachten geben, daß man in manchen Gegenden
Frankreichs für Korb geben donner la citrouille, den Kürbis geben sagt.
Vielleicht wird die vergleichende Volkskunde noch einmal feststellen, daß
der Kürbis als minderwertiges Gewächs in verschiedenen, von einander un¬
abhängigen Gegenden Europas gleichsam als Symbol des Mißerfolges galt,
so daß es auch diesmal dem Bewußtsein bereits verloren gegangene archaische
Vorstellungen sind, die ihre Spuren im Wortschatz hinterlassen haben.
Vielleicht hängt aber die Bedeutung Pluzer = Versehen gar nicht mit
der Vorstellung des Kürbisses zusammen, sondern mit jenem Zeitwort, das
vermutlich in der Wortgeschichte hinter Pluzer steht: mit dem schon erwähn¬
ten pluzen = hinplumpsen. In diesem Falle also würden sich vom Zeitwort
pluzen herleiten sowohl das Hauptwort Pluzer = hinplumpsende Frucht =
Kürbis, als auch das Hauptwort Pluzer = Hinplumpsen = ungeschickter
Schritt. Daß die Bezeichnung einer ungeschickten Art der Fortbewegung aus
dem Konkreten übertragen wird und dann etwas Negatives im geistigen
oder sittlichen Sinne bedeutet, kommt in der Wortkunde mehrmals vor. So
kommt z. B. das Wort Trottel von treten und enthält einen Hinweis auf die
unsicheren kleinen Schritte der Schwachsinnigen. Beim doppeldeutigen Wort
Fehltritt sind die Übertragungsverhältnisse durchsichtig. Einen Versager, eine
Fehlleistung nannte man früher, und noch jetzt in manchen Mundarten,
122
-nen „Purzelbock“, was ja bekanntlich auch zunächst eine körperliche Be¬
legung bedeutet. (Aus Purzelbock erklärt sich dann die Redensart „einen
I3ock schießen“.)
Im übrigen ist noch zu bemerken, daß es nicht ganz sicher ist, ob Plu-
zer = Kürbis usw. und Pluzer = Fehler sprachgeschichtlich überhaupt ver¬
wandt sind. Schon Schmeller hat in seinem Bayrischen Wörterbuch die Ver¬
mutung ausgesprochen, daß Pluzer = Fehler mit tschechisch blud = Irr-
kmi, blouditi = irren zusammenhängt. In den hundert Jahren seit Schmel¬
ler hat sich diese Hypothese weder erhärten noch ausschließen lassen 1 2 .
putsch
Putsch in dem Sinne „kleiner Aufstand mit Überrumpelungstaktik“ ge¬
langte 1839 aus der schweizerischen Mundart in das Schriftdeutsch.
Das schweizerische Wort ist anscheinend zurückzuführen auf althochdeutsch
bozan = stoßen, schlagen, woher auch „Amboß“ (althochdeutsch anaboz)
= Gestell, auf dem man schlägt. Im Tirolischen gibt es noch ein Zeitwort
boassen = schlagen, stoßen, klopfen (z. B. den Schnee von den Füßen
a’boassn). Auch mundartlich bosseln = Kegel schieben ist zu erwähnen.
Es besteht auch Verwandtschaft mit englisch beat = schlagen, mit franzö¬
sisch pousser = stoßen, bosse = Beule, bouton = Vorstoßendes, Knospe,
Knopf, debut = erster Stoß, mit italienisch botto = Stoß, bozza =
Beule. Zur selben Sippe gehört im Deutschen Butzen = Klumpen, d. h.
„Vorstoßendes“ (enthalten in „Butzenscheibe“ = Scheibe mit der „Butze“,
der Erhöhung in der Mitte).
Als ursprüngliche Bedeutung von schweizerisch Putsch führt man ge¬
wöhnlich Platzregen, plötzlicher Guß an 1 . Dies ist eine Ungenauig-
1) Die slawische Wurzel blud dürfte zum indogermanischen Erbgut gehören
und mit dem veralteten deutschen Wort blenden = mischen, vermischen, ver¬
wechseln (daher Blendling = Mischling, Bastard, Zwitter) verwandt sein. Das
jüdische Zeitwort blondzen = sich verirren, auf Abwege geraten — z. B. im
Sprichwort: besser zehnmal fragen, ejder (ehe) einmal blondsen — hängt jeden¬
falls — ohne mittelbare Beziehung zum österreichischen Pluzer-Fehler —
mit dem genannten slawischen Zeitwort zusammen.
2) Es wirkt dabei wohl auch mit der Anklang an die lautmalenden Wör¬
ter Patsch (= Schlag, Patschhand, patschnaß) und plätschen = laut aufschla-
gen (wovon auch Platzregen, oberelsässisch Platschregen). Das Schweizer¬
deutsch hat übrigens viele Ausdrücke für die verschiedenen in der Schrift¬
sprache kaum auseinanderzuhaltenden Stärkegrade des Regens; z.
B. im Berner Oberland: e Steipeta oder Spritzeta, es Schitteli oder es Rägelli,
123
keit, die auf eine Bemerkung von Gottfried Keller zurückgeht. Die ür
sprüngliche Bedeutung von Putsch ist im Schweizerischen viel allgemeiner
Im Idiotikon sind viele Spalten mit Belegen der vielfachen Verwendung d es
Worts gefüllt. Putsch ist zunächst ein Ausruf beim Zusammenprall
Dinge oder Personen (also wie Oha, Hoppla, Bumsti), aber auch das Ge
rausch des Zusammenpralls selbst (das hat en rechte Putsch tue). Put^
ist auch der Stoß selbst (d’Geiß hed mer e Putsch g’ge, d’ Sackuhr hed en
Putsch übercho), auch ein Stoß im bildlichen Sinne (Zwingli schreibt z. ß
er habe um Christi willen „so viel großer unsäglicher Pütschen erlejd“)*
Hierher gehört auch das Zeitwort putschen == stoßen (er het mit sine
Chopf gnickt, also wie wenn er mit ime Schafbock butsche hätte wolle)-
zur Gesundheit putschen = mit dem Trinkglas anstoßen.
Putsch ist auch ein Maß (en Putsch Geld müeßt ihr riskiere), wer viel
erbt, hat „en großen Putsch übercho“. Putsch ist auch eine Bezeichnung fü r
Most, Obstwein; verputschen = zu Most verwandeln. Bachputsch ist die
plötzliche Anschwellung des Baches zufolge Platzregens, Anputsch ist An¬
prall, der erste Anputsch ist die erste Aufregung. Das Plötzliche, Sto߬
artige ist fast in allen Bedeutungen vorherrschend. So bekam das Wort, auf
menschliches Verhalten bezogen, besonders auch den Sinn: Aufwallung,
sinnlose Aufregung, strohfeuerartige Begeisterung. Die Neigung zu sol¬
chem Verhalten hat eifersüchtige Nachbarschaft besonders den Zürichern
vorgeworfen; man nannte daher, wie Gottfried Keller schreibt, „jede när¬
rische Gemütsbewegung, Begeisterung, Zornigkeit, Laune oder Mode der
Züricher einen Züriputsch“.
Züriputsch war aber vor allem die Bezeichnung für ein bestimmtes
politisches Geschehnis im Jahre 1839. Schon vorher hatte man den am
6. Dezember 1830 erfolgten Zug der Freiämter nach Aarau den Freiämter¬
putsch genannt. Aber erst dem Züricher Putsch vom Jahre 1839 war es
Vorbehalten, das schweizerische Mundartwort in die politische Terminologie
der hochdeutschen Schriftsprache zu verpflanzen. Die Ursache jener Volks¬
bewegung war der Umstand, daß David Friedrich Strauß, der
es Schmeizeta, e Schitti, e Schuur, e Gutz und e Wolkenbruch. Auch andere
deutsche Mundarten verfügen über ähnlich reiche Skalen. So hat z. B. der
große Sprachreiniger Campe, der für die Fremdwörter vornehmlich aus den
niederdeutschen Mundarten Ersatz holen wollte und daher bestrebt war, den
Reichtum des Niederdeutschen aufzuzeigen, u. a. die Ausdrücke für regnen
zusammenstellte; seine niederdeutsche Skala geht von „es mistet“ (für Staub¬
regen) ansteigend über es schnuddert, stippert, pladdert, guddert, gießt bis
zum „es gießt in Mollen“.
I2 4
mit seinem „Leben Jesu“ viel Aufsehen verursacht hatte, als Professor
C die theologische Fakultät der Universität Zürich berufen wurde. Bevor
30 h der blutjunge schwäbische Theologiedoktor die Lehrkanzel beziehen
? nte brach im Kanton Zürich der sogenannte Straußenhandel aus. Eine
Flut von Flugschriften der Antistraußen verteidigte die orthodoxen kirch-
|vL n Belange, und schließlich zogen große Haufen bewaffneter Bauern
■ die Kantonshauptstadt, und in wenigen Stunden — das war eben der
Putsch — endete der Straußenhandel mit dem Sieg der Konservativen. Ein
Mitglied der Regierung, Dr. Hegetschweiler, büßte sein Leben ein, andere
Mußten die Flucht ergreifen und eine konservative Regierung trat an die
Stelle der fortschrittlichen. David Friedrich Strauß selbst wurde, bevor er
die Professur überhaupt antreten konnte, pensioniert. Für das Wort Putsch
bedeutete jener bewegte Tag die Aufnahme in den hochdeutschen Wort-
schätz. .
Schon daraus, daß der konservative Züriputsch von 1839 ein erfolg¬
reicher Putsch war, ist zu ersehen, daß die Definition des Wortes Putsch
[m Deutsch-Englischen Wörterbuch von Muret-Sanders und im Deutsch-
Französischen von Sachs-Villatte als m i ß 1 u n g e n e Volkbewegung eine
unbegründete Einschränkung darstellt. Hingegen ist als richtig anzuerkennen
die Bemerkung im Handwörterbuch der deutschen Sprache von Sanders-
Wülfing, daß die Bezeichnung Putsch heute etwas Verächtliches hat.
Jedenfalls wird für jene Vorgänge, die man gewöhnlich als den Kapp*
Putsch, den steirischen Heimwehr- oder Pfrimer-Putsch bezeichnet, von
den Teilnehmern selbst und von deren Gesinnungsgenossen die Bezeich¬
nung Putsch kaum verwendet.
Das Wort Putsch hat auch zu verschiedenen Zusammensetzungen
(Putschpolitik, Putschmethode, Putschstimmung, Putschangst usw.) geführt.
Neuerdings hat sich auch das Zeitwort aufputschen eingebürgert. Es
bedeutet nicht nur zum Putsch bewegen, aufwiegeln, sondern besonders
auch: leidenschaftliche Stimmung erregen. Offenbar wirkt der Anklang an
„aufpeitschen 4c hier sinnbestimmend mit. Gegen andere Weiterbildungen,
wie Putschist, Putschismus sprach sich die Zeitschrift des All¬
gemeinen Deutschen Sprachvereins 1919 wie folgt aus: „Uns bleibt nur
die Hoffnung, daß unser Volk, wie so manche Krankheitsstoffe, so auch
diese Begriffe und damit ihre Bezeichnung bald wieder ausscheiden wird.
Aber die Wörter Putschist und Putschismus sind noch immer nicht ver¬
schwunden und in Sprachvereinskreisen trachtet man, wenigstens die frem¬
den Endungen auszumerzen. Die „Wiener Sprachblätter“ (1936) empfeh¬
len statt Putschist: Putscher (Mehrzahl: Putschmänner), statt Putschismus.
125
Putschtum. („Allerdings könnte jemand bei dem letzten Worte an der
Lautfolge —tscht— Anstoß nehmen und sie ungebräuchlich finden. p r
wird anderer Meinung werden, wenn man ihn an das Wort Deutschtum
erinnert, das ja dieselbe Lautfolge enthält.“)
Die Zurückführung des heute allgemeinen Worts Putsch auf die Züricher
Vorgänge im Jahre 1839 erinnert daran, daß es noch ein Beispiel für die
Bereicherung des literarischen Wortschatzes durch ein bestimmtes politisches
Ereignis gibt. Das Wort Krawall war ursprünglich ein Ausdruck der
hessischen Mundart, angeblich aus französisch charivari = Katzenmusik
Straßenlärm, aber viel wahrscheinlicher aus bayrisch Grewehi, fuldaisch
Geraball. Der Hanauer Aufstand am 27. September 1830, der von der
einheimischen Bevölkerung Graball genannt wurde, führte zum allgemeinen
Bekanntwerden des Wortes Krawall, das dann aus dem Deutschen auch
in einige andere Sprachen eindrang (z. B. ins Tschechische, kraval, i ns
Schwedische, krawall).
Der mundartliche Ausdruck „Geraball'’, der dem Worte Krawall ver¬
mutlich zu Grunde liegt, dürfte mit Rebell verwandt sein, das über fran¬
zösischen Umweg auf lateinisch rebellis = Aufrührer (eigentlich „den Krieg
Wiederholer") zurückgeht 1 . In dieser Bedeutungseinengung — von Kriegs¬
wiederholer zu Aufrührer — drückt sich gleichsam die Siegesgewißheit der
römischen Eroberer aus. Rom führt gewissermaßen gegen ein Volk nur
einen Krieg, der Gegner wird in diesem jedenfalls besiegt und unter¬
worfen, und greift er doch noch einmal zur Waffe, so ist dies eben schon
Aufruhr, Rebellion.
i) Rebellisch und rebellen — auch mit der abgeschwächten Be¬
deutung: unruhig sein, lärmen — sind im Deutschen richtige Volksausdrücke
geworden und sind auch aus den Mundarten reichlich belegt. (Von unruhigen
Bienen wird z. B. an vielen Orten gesagt, sie seien rebellisch. Das Elsässische
Wörterbuch verzeichnet Wendungen wie „In Paris rewellen si alle Fingers
lang“ oder „Die Buewe tuen uf dr Stross rewelln“. Aus dem Ostfränkischen
ist rawelisch mit der Bedeutung konfus, aufgeregt gebucht. Ein österreichisches
Gstanzl lautet: Hinta mei Hosntürl — Han i a Forelln — Wannst ma a
Sechsa gibst — Lass i ’hn rebelln.) Beim sächsischen Ausdruck R e b e 11 e r =
Weckruf ist wohl Anklang an französisch reveille (auch in der deutschen Mi¬
litärsprache gebraucht für: Trommelschlag oder Hornsignal zum morgendli¬
chen Wecken) wirksam. Aus der Beziehung von bayrisch-fuldaisch Geraball
zu Rebell folgt, daß Krawall — Rebellion zu jenen etymologischen
Doppelformen gehört, die ich in „Wörter und ihre Schicksale“ unter den
Stichwörtern „authentisch-Effendi“ und „loyal-legal“ behandle.
12 6
Quintessenz
Quinta essentia (griechisch pempte ousia, bei Aristoletes pempton stoi-
cheion) heißt wörtlich fünftes Wesen. Lateinisch quinta ist die Ordnungs¬
zahl zu quinque, was ebenso wie griechisch pente, armenisch hing, alt¬
indisch panca, gotisch fimf, altnordisch fimm, englisch five (angelsächsisch
fif), deutsch fünf (althochdeutsch fünf, finf) von den Anhängern der
Ursprachenhypothese auf eine urarische Wurzel, etwa penque, zurückgeführt
wird. Essentia ist die von Cicero eingeführte Übersetzung 1 2 für griechisch
ousia, Wesen, wesentlicher Auszug. Als quinta essentia wurde in der pytha¬
goreischen Lehre der neben den vier sichtbaren Elementen (Feuer, Wasser,
Luft, Erde) bestehende fünfte, unsichtbare Luftstoff, der Äther, gemeint,
dann der von einem Chemiker aus einem Körper ausgezogene feinste Stoff,
ferner übertragen das Wesen einer Sache. Agrippa von Nettesheim ver¬
stand unter Quintessenz einen Auszug aus allen Elementen, den Weltgeist,
und bei seinem Zeitgenossen Rabelais ist Quinte Essence der Name der
Königin von Entelechien, wo der ganze Hofstaat damit beschäftigt ist,
Sprichwörter schauspielerisch darzustellen. Die von Bürger und Zschokke
erfolglos vorgeschlagene — später allerdings gelegentlich auch von Maxi¬
milian Harden verwendete — Verdeutschung „Fünftelsaft“ (Bürger:
„Minnesold ist aller Freuden Fünftelsaft“) beruhte jedenfalls auf einem
Mißverstehen der ursprünglichen Bedeutung.
Rabeneltern
Es ist eine Eigenheit der deutschen Sprache, lieblose Eltern als Raben¬
eltern zu bezeichnen, von einer Rabenmutter, einem Rabenvater zu sprechen-.
Franzosen und Engländer haben keine entsprechenden Ausdrücke mit Be¬
zugnahme auf den Raben. Es heißt bei ihnen pere denature usw. und
unnatural (oder cruel) father usw.
1) Fritz Mauthner bezeichnet diese Übersetzung als greulich; in den ro¬
manischen Sprachen ist „essentia“ auch so heruntergekommen, daß es bald
nicht viel mehr als den Auszug wohlriechender oder wohlschmeckender Dinge
bezeichnete.
2 ) Schiller hatte eine Vorliebe für diese Ausdrücke. Im Prolog zur
Jungfrau von Orleans heißt es: Wider ihn im Heer der Feinde kämpft j Sein
nächster Vetter und sein erster Pair / Ja seine Rabenmutter führt es an. Im
Fiesko: Rabenvater! Was hast du gemacht? diesen ungeheuren, gräßlichen
Fluch deiner armen, schuldlosen Tochter? In Kabale und Liebe: Blick hieher,
hieher, du Rabenvater, — ich soll diesen Engel würgen?
127
H. Lessmann, der hinter jeder Redensart Gedankengut der germanisch
Mythologie witterte oder wenigstens Märchenstoffe, versuchte auch die
drücke Rabenvater, Rabenmutter aus einem Märchenstoff zu deuten ^
Märchen werden oft Menschen gegen ihren Wunsch in Vögel verwandelt
so z. B. die sieben Söhne der Witwe im Bechsteinschen Märchen ßj«!
sieben Raben”. Eines Tages, als die Geduld der Mutter mit der Bosheit
und Wildheit der Knaben zu Ende war, rief sie aus: „O, ihr bösen Raben
jungen, ich wollte, ihr wäret sieben schwarze Raben und flöget fort, daß
ich euch nimmer wieder sehe! £C Und alsbald wurden die sieben Knaben
zu Rabenvögeln, fuhren zum Fenster hinaus und verschwanden. Diese Mut-
ter sei also sowohl im eigentlichen als im übertragenen Sinne eine Raben¬
mutter gewesen.
Richtiger ist es, den Ursprung der Redensart in alten volkstümlichen
Anschauungen über die Brutpflege bei den Raben zu suchen. Die Auf¬
fassung, diese Brutpflege sei ungenügend, ist schon für das Alte Testament
belegt. Hiob macht dem Raben den Vorwurf, er werfe die Jungen aus dem
Nest. Auf die mangelhafte Fürsorge der Eltern spielt wohl auch die Stelle
in einem Psalme König Davids an, wo es heißt: Gott gibt den jungen
Raben, die zu ihm schreien, ihr Futter. In seinem berühmten „Buche der
Natur“ (1349) schreibt Konrad von Megenberg: Die raben werfent etliche
kint ausz dem nest, wenn si der arbait verdreuszt mit in, dasz sie nicht
genuog speis pringen mügent. Pater Abraham a Santa Clara sagt in seinem
Buche „Judas der Erzschelm“: „Wann der schwarze Vatter und die
schwarze Mutter, beide Rabenvieh siehet, daß anfangs ihre ausgeschlossene
(ausgebrüteten) junge Raben weiß gekleidet sein und nicht mit gleicher
Schwärze prangen, so halten sie diese junge Dieb nicht für ihre eigene
Brut.“ Es galt die Auffassung, daß die Rabenjungen in den ersten neun
Tagen, solange sie nackt und hell sind, von den Eltern verlassen und ver¬
nachlässigt im Nest hocken und nur auf den „Tau des Himmels“ ange¬
wiesen sind. Die erbosten Eltern sollen sich nur von Zeit zu Zeit nach dem
Nest umschauen und erst vom neunten Tage an, wenn an den Jungen die
ersten schwarzen Federn sichtbar werden, sind sie beruhigt und beginnen
Futter herbeizuholen.
In Wirklichkeit ist es eher umgekehrt. Gerade in der ersten Zeit ist die
elterliche Fürsorge der Raben die liebevollste. „Beide Eltern“, heißt es
Zum Beispiel in Brehms Tierleben, „lieben die Brut außerordentlich und
verlassen die einmal ausgekrochenen Jungen freiwillig nie. Sie können
allerdings verscheucht werden, bleiben aber auch dann immer in der Nähe
des Horstes und beweisen durch allerlei klagende Laute und ängstliches
128
Hin- und Herfliegen ihre Sorge um die geliebten Kinder. Wiederholt ist
beobachtet worden, daß die alten Raben bei fortdauernder Nachstellung
ihre Jungen dadurch mit Nahrung versorgten, daß sie die Atzung von
oben auf das Nest hinabwarfen.“
Der Irrtum, die Rabenj ungen würden von ihren Eltern aus Lieblosigkeit
frühzeitig hinausgeworfen, beruht offenbar auf der Beobachtung des Um¬
standes, daß die Alten aus richtiger Rabenweisheit darauf drängen, die
kaum flügge gewordene junge Brut möglichst rasch in den Daseinskampf
einzuführen. Es entspricht dies der allgemeinen Vogelnatur. Unter gün¬
stigen Umständen veranlassen die Eltern die jungen Raben, den Horst bereits
Ende Mai oder Anfang Juni, also im Alter von 8—10 Wochen, zu ver¬
lassen. Die Jungen werden dann von ihren angeblich lieblosen Eltern auf
Wiesen und Äcker geführt, dort noch gefüttert, gleichzeitig aber „in allen
Künsten und Kniffen ihres Gewerbes unterrichtet“. Wirklich selbständig
wird der junge Rabe erst gegen Herbst hin.
Wir sprechen auch von Rabensöhnen, Rabentöchtern, Rabenkindern
und meinen damit Kinder, die zu ihren Eltern lieblos sind 1 . Diese Ausdrücke
scheinen mir nur Umkehrungen der ursprünglichen Redensart von den
Rabeneltern zu sein und man muß wohl nicht, wie es Riegler tut, anneh¬
men, es habe da eine Volksfabel über den Geier mitgewirkt, nach der die
Geier jungen sich an den altgewordenen Eltern für die ihnen seinerzeit
teilgewordene grausame Behandlung rächen, indem sie sie ohne weiteres
töten.
Im Gegensatz zu der deutschen Redensart von Rabensöhnen gilt bei den
Japanern und den Chinesen der Rabe geradezu als ein Vorbild der
kindlichen Dankbarkeit gegen die Eltern. Es heißt bei diesen Völkern, der
Rabe bringe seinen Eltern, wenn sie alt geworden sind, Futter. Daher das
japanische Sprichwort: Karasu ni hambo no ko ari — der Rabe hat die
Tugend, (den Eltern) die Nahrung zu vergelten.
Räsonnieren
Das französische Zeitwort raisonner (von raison = Vernunft aus latei¬
nisch ratio) bedeutet: seine Vernunft gebrauchen, urteilen, überlegen, rich¬
tig denken, Schlüsse ziehen. Es kann auch transitiv verwendet werden und
bedeutet dann: etwas durchdenken. Das französische Zeitwort ist sowohl
ins Englische (to reason), als ins Deutsche übernommen worden. Am deut-
i) Im fünften Akt der Räuber spricht Karl Moor zu seinem Bruder Franz:
fahr in die Hölle, Rabensohn,
9 Storfer. Sprache
129
sehen Zeitwort räsonnieren ist geistesgeschichtlich bemerkenswert, daß ^
einen im Französischen nur gelegentlich in die Erscheinung tretenden Neben,
sinn zum Hauptsinn, zur nahezu alleinigen Bedeutung entwickelt hat. 1^
Französischen hat raisonner neben den oben angeführten gelegentlich auch
die Bedeutung: debattieren, Einwendungen machen, widersprechen. (Haupt,
sinn und Nebensinn von raisonner finden sich nebeneinander in der Rede.
Wendung: raisonnons de bon sens et ne raisonnons guere, überlegen wir
mit gesundem Menschenverstand und räsonnieren wir nicht lange.)
deutschen Sprachgebrauch ist die Hauptbedeutung sozusagen schon g an2
verschwunden. Kant, als Vorkämpfer der „Vernunft" („Habe Mut, dich
deines eigenen Verstandes zu bedienen!"), gebraucht allerdings räsonnieren
noch in dem Sinne: sich Gedanken machen und sie äußern. Er verteidigt
z. B. „das Recht auf Räsonnieren gegenüber der Kirche, die nicht räson-
niert, sondern glaubt". Er spielt dabei auch auf Friedrich den Großen an
auf dessen Standpunkt: Räsonniert, so viel ihr wollt und worüber ihr wollt
aber gehorcht! Doch gerade der große Preußenkönig selbst gebraucht das
Wort räsonnieren mit Vorliebe in verächtlichem, schwer tadelndem Sinne;
z. B.: „Von den Officier an, bis auf den letzten gemeinen Mann, raisonniret
keiner, sondern executiret nur, was befohlen worden" und „Dahergegen
muß man nach aller Schärffe der Gesetze wider denjenigen Soldaten ver¬
fahren, der Meuterey macht, der raisonniret oder der plündert". Wir sehen
hier also das Räsonnieren (Nörgeln, Kritisieren, Murren, Widersprechen)
des Soldaten als ein schweres Verbrechen neben Meuterei und Plünderei
angeführt. Heute würde sich das Zeitwort räsonnieren als viel zu unscharf
erweisen zur Bezeichnung des tadelnswerten Verhaltens von „Meckerern"
und „Kritikastern". Fritz Mauthner meint, daß die Beschränkung des Zeit¬
wortes räsonnieren auf die verächtliche Bedeutung vom preußischen Sprach¬
gebiet ausgeht 1 , wo „vom höchsten Beamten bis zum Schutzmann das
,Nichträsonnieren ! c dem Bürger entgegengehalten wird, fast in der Bedeu¬
tung: schweigen Sie, reden Sie nicht". (In Österreich gibt es ein geflügeltes
Wort: Maul halten und weiter dienen!) 2
1) Prof. Franz Blume (Jena), der mich freundlicherweise beim Lesen
der Korrekturen dieses Buches unterstützt und mir bei dieser Gelegenheit auch
in sachlicher Richtung manchen wertvollen Fingerzeig gegeben hat, macht
mich auf einen Scherz aus dem Vormärz (nach Hans Ostwalds „Urberliner
Humor 44 ) aufmerksam: „Ick sage ja keen Wort, Herr Kumsarjus.“ — „Halt
Sie’s Maul! Sie raisonniert inwendig ! 44
2) Eine ähnliche und geistesgeschichtlich ebenfalls sehr bezeichnende
Wandlung zur verächtlichen Bedeutung weist das Wort Rationalist auf
Besonders dem französischen Volkscharakter wird üblicherweise Rationalis¬
mus vorgeworfen.
T 3°
r
j H. Campe empfahl zur Ersetzung des Fremdwortes räsonnieren: Ver¬
nunft« 1 . vernunftein, widerbellen. Klopstock hatte „beweistümeln" ge¬
braucht. Keine dieser Verdeutschungen konnte sich durchsetzen. Angesichts
der verächtlichen Bedeutung, die im deutschen Gebrauch dieses Zeitwortes
vorherrschend wurde, hatte es sich anscheinend als geeignet ergeben, für
eine üble Sache eine üble, d. h. eine welsche Bezeichnung beizubehalten.
Renommieren
Im französischen Zeitwort renommer ist das lateinische nomen (Name),
nominare (nennen) leicht erkennbar. Renommer heißt wiederernennen, zum
zweiten Male wählen, se faire renommer sich einen Namen machen. Und
das Hauptwort renommee bedeutet einen guten Namen, Berühmtheit. Das
Hauptwort hat auch im Deutschen, als Fremdwort gebraucht, diese Bedeu¬
tung* Das Zeitwort aber, dessen sich die deutsche Studentensprache vor
etwa zweihundert Jahren bemächtigt hat (mit Weiterbildungen wie Renom¬
mist, Renommage), hat im Deutschen einen vom Französischen stark ab¬
weichenden Sinn bekommen. Das „Burschicose Wörterbuch“ von 1846 de¬
finiert das Renommieren: „1) dicktun; 2) sich blähen; 3) sich loben;
4) sich rühmen; 5) durch sein Benehmen Aufsehen machen; 6) furo-
rieren; 7) burschicos auftreten; 8) famosieren; 9) auf der Hochschule
durch Raufen, Schlagen, Saufen und Commersiren berühmt machen; 10)
den Studio spielen; 11) Aufwand und Wind machen.“ Soviel Aufwand
und Wind zu machen versteht das originalfranzösische Wort renommer
nicht. Wollte man deutsche Sätze, wie z. B. daß ein adliges Offizierskorps
einen einzigen Renommierbürgerlichen duldet oder daß jemand der Renom¬
mierchrist in einem bestimmten Verwaltungsrat war, derart ins Französische
übersetzen, daß das ursprüngliche französische renommer beibehalten wird,
würden die Franzosen sehr staunen. Ebenso wie sie Augen gemacht haben
müssen, als ein deutscher Hundezüchter — es war vor dem Kriege — in
einer französischen Zeitschrift „chiens ä renommer“ (also „Hunde zum
Wiederernennen“) zum Kauf anbot. Heute allerdings dürfte selbst im
Kreise von deutschen studentischen Verbindungen ein Angebot von „Re¬
nommierhunden“ seltsam anmuten.
Schnorren
Schnorre mit der Bedeutung Maul (besonders auch für den Rüssel
des Schweines) ist ein altes, in alemannischen Mundarten nach Zeugnis des
Schweizerischen Idiotikons und des Elsässischen Wörterbuchs noch Iebendi-
131
9*
1
ges Wort. Eme gschenkte Ross, heißt es im Appenzellischen, moss-me nüd
i d'Schnorre luege, und ein anderer Appenzeller Spruch lautet: Es is besser,
me wörf eme Hond e Stock Brod i d'Schnorre, as daß-er einn biss. In grober
oder verächtlicher Weise wird auch bei Menschen von einer Schnorre ge¬
sprochen: e wüeschti Schnorre, e tummi Schnorre mache, e suri Schnorre
mache. Wenn einer seine Schnorre überall hinsteckt, möchte man ihm gern
eins über die Schnorre geben. Ein gegen Italiener gerichteter schweizerischer
Spottreim lautet: Tschinggela-morre, hast Dreck a der Schnorre. Elsässische
Belege z. B.: Mit der Schnurr wüelt d’Säu im Dreck erum. Oder: Dem bin
i üwer d'Schnurr gtare.
Schnurre = Maul ist enthalten in der Zusammensetzung Schnurr¬
bart, d. h. wörtlich Maulbart, Schnauzbart. In Frankfurt nennt man den
Schnurrbart auch kurz Schnorres, z. B.: mit seim klaane Schnorres uff der
Lippe. Auch das Pfälzische kennt Schnorres = Schnurrbart. Im Henneber-
gischen, in Franken: Schnorrwichs = Schnurrbartpomade.
Es darf vermutet werden, daß die Ausdrücke Schnorre, Schnurr = Maul,
ebenso wie ihre Synonyme Schnauze, Schnute und Schnabel (übrigens auch
die gleichanlautenden Zeitwörter schnalzen, schnappen, schnarchen, schnar¬
ren, schnattern, schnauben, schnaufen, schneuzen, schnüffeln, schnupfen)
laut- und b e w e g u n g s nachahmenden Ursprungs sind. Im Schweizeri¬
schen entspricht denn auch dem Hauptwort Schnorre ein Zeitwort
schnorren, das einen in der Hauptsache akustischen Vorgang bezeich¬
net. Schnorren wird in schweizerischen Mundarten in derbem, meist ver¬
ächtlichem Sinne gebraucht für (viel, eilfertig, laut, grob, aufdringlich, un¬
nütz, bösartig) reden, schwatzen, das Maul voll nehmen, aufschneiden, auf-
begehren. (Er überschnörret ain, er lot niemer rede.) In der schweizerischen
Komödie „Cäsar in Rüblikon" (1935) von Walter Lesch poltert ein dörf¬
licher Vorkämpfer des „autoritären Kurses": „d'Schnurrerei im Gmeindrat
muess jetz äntli ufhöre — handle wämmer". Ferner gibt es im Schweizeri¬
schen das Hauptwort Schnorrer = Schwätzer, Großmaul, Krakeeler.
Aber Schnorrer als Bezeichnung für einen Bettlertypus kommt im Schwei¬
zerischen kaum vor. Trotzdem besteht die Verwandtschaft zwischen dem
Schweizerischen schnorren = schwatzen und dem Slangwort schnorren =
betteln. 1 Den Bedeutungsübergang besorgt die Anwendung des Zeitwortes
i) Im Judendeutsch wird zwischen Bettler und Schnorrer in der Weise
unterschieden, daß die letztere Bezeichnung vorzugsweise auf jüdische Arme
angewendet wird und gewöhnlich nur, insoweit sie Glaubensgenossen um Un¬
terstützung angehen, gleichsam an eine durch die Religion gebotene Pflicht
der Barmherzigkeit und der Solidarität pochend. Max Graf hat in einem
132
schnurren auf bestimmte charakteristische Geräusche. Auszugehen ist davon,
daß als schnurren in der Hauptsache längere, gleichmäßige, aber unruhige
Geräusche bezeichnet werden, die einigermaßen wie „schnrr" tonnen. Die
Katze * 1 schnurrt und das Spinnrad, der Hohlkreisel schnurrt und das Fleisch
a m Bratenwender, sogar der Nachtfalter schnurrt und heißt daher u. a. auch
Schnurrer. Ein schnurrendes Ding (z. B. das auch Knarre genannte Gerät
des Nachtwächters 2 ) wird als Schnurre bezeichnet und der Übergang auf den
Begriff Maul scheint sich bei solchen Tieren vollzogen zu haben, deren
Stimrne (wie es z. B. bei der Katze der Fall ist) als Schnurren gekennzeich¬
net werden konnte.
ln übertragenem Sinne bedeutet Schnurre (vermutlich mit Anspielung
auf die Knarre, mit welchem Gerat im Fastnachtstreiben und bei sonstigen
Volksbelustigungen Spaß getrieben wurde) auch: Belustigungsmittel, Posse,
Anekdote 3 ; in weiterer sinnverschlechternder Übertragung: albernes Zeug,
Krimskrams. Dazu gehört auch das Eigenschaftswort schnurrig = drollig,
sonderbar. Die Schnurrpfeife war ein primitives musikalisches Gerät. Mit
Schnurrpfeife und Maultrommel zogen die Bettelmusikanten herum, auch
kündigten sich die herumziehenden Lumpensammler durch die Stimme der
Feuilleton eine grundsätzliche Abgrenzung der Begriffe Bettler und Schnorrer
versucht. Der Bettler sei ein demütiger Mensch, der gebückt und entblößten
Hauptes dem Mitmenschen entgegentritt. Der Schnorrer aber sei selbstbewußt,
energisch, aktiv, er fordere seine Gaben, da es ihm selbstverständlich erscheine,
daß der Reiche von seinem Überfluß abzugeben habe. Die Armut des „Bettlers“
sei von keinem Standpunkt aus gesehen komisch und sie gebe keine geistige
Überlegenheit, die nicht den Armen, der bettelt, doch bedauern und bemitlei¬
den müßte; der „Schnorrer“ aber sei überlegen, besitze Humor und fordere
auch gegen sich selbst zu Humor heraus.
1) Eine semasiologische Beziehung zwischen der Stimme der Katze und
einem herumziehenden Habenichts, wie sie der Fall schnurren-Schnorrer zeigt,
liegt auch der Ableitung des französischen Wortes maraud == Lump, Maro¬
deur von einem französischen mundartlichen Namen des (lärmend und Scha¬
den verursachend) herumstreichenden Katers zu Grunde. (Vgl. das Stichwort
„marod“ in „Wörter und ihre Schicksale.“)
2) In der älteren Studentensprache daher Schnurre (und auch Schnurrbart)
auch der Name des Nachtwächters und — wohl daraus übertragen — auch
des Polizisten.
3) Auf dieser Vieldeutigkeit von schnurren Schnurren beruht ein Ho¬
monym von P. Jakoby, das mit den Zeilen beginnt: Der Hans erzählt’s, der
Kater tut’s in süßer Ruh, als dritter im geselPgen Bund es lustig tun die
flinken Rädchen. Schnurre (= Posse) war übrigens ein Lieblingswort L es¬
sin g s. („Wie viel leichter ist es, eine Schnurre zu übersetzen, als eine Emp¬
findung.“ „Sie werden es kaum glauben, daß ich die mutwilligsten Schnur¬
ren oft in «ehr trüben Augenblicken geschrieben habe.“)
133
Schnurrpfeife an (daraus Schnurrpfeifereien = wertloser Kram, Albern-
heiten). Auf die Schnurrpfeife der Bettelmusikanten gründen sich eigentlich
die Wörter schnurren = bettelnd herumziehen und Schnurrer (auch
Schnurrant) = herumziehender Bettler 1 . Das ältere Rotwelsch hatte für bet¬
telnde junge Mädchen die Ausdrücke: Schnurrpilsel, Schnurrscheie, Schnurr-
schicksel, Schnurrkeibelche. In der sächsischen Studentensprache bedeutete
„eine Vorlesung schnurren”: sie hören ohne Kollegiengeld zu zahlen, „das
Konvikt schnurren”: unberechtigt (an Stelle eines Ausgebliebenen) im
Stiftungsspeisesaal essen. Im Badischen und im Elsässischen wird das Spa¬
zierengehen der jungen Leute zu einer bestimmten Stunde in einer bestimm¬
ten Straße („Korso", „Abendmarkt”) auch als Schnurren bezeichnet. „Bist
nächte (gestern abend) wider uf de Schnurr gewen?” Da dieses Schnur¬
ren gewöhnlich nach Feierabend erfolgt, spricht man auch vom „Achte-
Schnurren”. In Ostpreußen bedeutet „auf die Schnurr gehen”: in die
Spinnstube gehen; aber auch von Frauen gebraucht, die abends auf Männer¬
fang ausgehen. Daher: in die Schnurr geraten = liederlich werden. Man
vgl. eine Stelle bei Hans Sachs: Wenn ein Hur ist in der Schnurr lang umb-
geloffen, unter Mönnich und Pfaffen geschloffen ...
Die Lautänderung von schnurren zu schnorren geht möglicherweise auf
jüdischen, Einfluß zurück. Jedenfalls kommen die Wörter schnorren und
Schnorrer im Judendeutsch sehr häufig vor. (Unzähligemal z. B. in „Rosin¬
kess mit Mandlen”, der Sammlung jüdischer Schwänke von Olswanger, die
die Schweizerische Gesellschaft zur Volkskunde veröffentlicht hat.) 2
Die Lautform schnorren statt schnurren setzt sich im 18. Jahrhundert
durch. Bei Goethe (in der Geschichte Gottfriedens von Berlichingen) heißt
es bereits: „dergleichen Volk schnorrt im Lande herum”. In einem Mirza-
1) Im Elsaß werden besonders auch Zigeuner und herumziehende Musiker
als Schnurranten bezeichnet (daher Schnurrantemusik). In rheinfrän¬
kischen Gauen kommt Schnurrant im Sinne von Possenreißer, Gaukler vor.
Kehrein gibt für das Nassauische die Nebenformen Schlorrant und Schlarrant
an, worin der Einfluß des Zeitwortes schlarren = plärren, laut schreien zu
erkennen sei. (H. Platz: „Wenn man sich der überlauten Art erinnert, in der
diese Leute z. B. auf den Jahrmärkten tätig sind, dann wird man wohl zuge¬
stehen müssen, daß diese Assimilation auch in begrifflicher Hinsicht adäquat
ist.“)
2) Die häufige Verwendung des Ausdrucks Schnorrer im Judendeutsch hat
dazu verlockt, seine Herkunft im Hebräischen zu suchen. Man hat ihn mit
S c h i n o r, dem Namen einer Landschaft im alten Palästina, in Verbindung
gebracht. Die Einwohner dieses minder fruchtbaren Landes, die „Schinorer“,
hätten oft in andere Gegenden Boten um Nahrungsmittel entsenden müssen.
Jedoch läßt sich nicht die geringste wortgeschichtliche Tatsache zur Stützung
dieser Etymologie von Schnorrer anführen.
*34
Schaffy (Bodenstedt) verspottenden Gedichte von Ludwig Ganghofer heißt
Er der zu Ispahan ... einige Worte mühsam sich zusammenschnorrte."
/Nascher, in seinem — auch sonst unverläßlichen und durchaus wertlosen
_____ Buch des jüdischen Jargons", behauptet, Ganghofer sei derjenige, der
das Zeitwort schnorren in die deutsche Sprache einverleibt habe. Wogegen
schon allein die oben angeführte Goethe-Stelle spricht.) Eine scherzhafte
Weiterbildung von Schnorrer (nach Paul Lindaus Aufzeichnung zu seiner
2 eit für herumziehende — echte oder unechte — spanische Tänzer ge¬
braucht) ist: Schnorreros.
Schnorren ist nicht das einzige Wort der deutschen Umgangssprache, bei
dem man durchaus zu Unrecht an eine jüdische Herkunft denkt. Solche
pseudojüdische Wörter
sind z. B. auch: Pofel, Petiten, Schabbesdeckel, nappezen.
pofel oder Bowel hat die Bedeutung: schlechte Ware, Schund (auch in
der Nebenform Bafel gebräuchlich). Auch in den Mundarten ist das Wort
sehr verbreitet. Das Schwäbische Wörterbuch verzeichnet die Wendungen:
Er hat noch mehr so alten Pofel im Haus, hellen Pafel schwätzen. In der
Schweiz bedeutet Pofel auch Durcheinander, Gedränge, Getriebe, Hausgesinde
in lauter Tätigkeit (wo-n-i hei cho bi, han-i ne grüsliche Bofel a’troffe, si
chunnt der ganze Tag nie us-em Pofel use). In Tirol ist „der Pofel“ (auch
Nachpofl) das letzte Gras auf der Wiese, das dann die Tiere nach dem Mähen
abweiden. Im Steirischen wird auch Pofelwerk gebraucht, mit der Bedeutung
rohe Volksmassen, halbwüchsige, bengelhafte Jugend. Stark verbreitet in vie¬
len Bedeutungsnuancen ist das Zeitwort p o f e 1 n. Die Mucken thund mir viel
verpalieln, sagt bei Hans Sachs ein Krämer von seiner Ware. Bei Rosegger
bedeutet anpofeln: anlügen, betrügend Vorreden. Sonst bedeutet pofeln im
Steirischen: wimmeln, sich drängen, brummend schwatzen, qualmen (von Rau¬
chern). Im Berner Oberland bedeutet „es poflet“: es ist ein Gedränge, ein Ge¬
tue, ein Durcheinander. Der Umstand, daß der Ausdruck Pofel besonders viel
von jüdischen Hausierern gebraucht wurde, zur Bezeichnung von Schund, alter
ungangbarer Ware (daher: sich einboweln = schlechte oder überflüssige Ware
einkaufen, die Leute einboweln = den Käufern schlechte Ware anhängen) ver¬
leitete dazu, darin fälschlicherweise ein jüdisches Wort zu sehen. (Hans Rei-
mann weiß in seinem mit wenig; Witz und viel Behagen übel zusammengestop¬
pelten Büchlein über die deutsche Sprache anzugeben, daß das Wort Pofel vom
Namen der sündenreichen Stadt Babel kommt.) In Wirklichkeit ist jedoch
povel, bovel ein gutes mittelhochdeutsches Wort, das bis auf Luther keinen
verächtlichen Sinn hat, sondern schlechthin die Bedeutung: Volk. Es kommt
von lateinisch populus. Die erst nach Luther mit verächtlichem Sinn erfüllte
neuhochdeutsche Form P Ö b e 1 ist eigentlich nur die Nebenform des volkstüm¬
lichen oberdeutschen „Pofel“.
13 5
jüdisch mutet auch das Slangwort Petiten an, das die Bedeutung hat-
faule Ausflüchte, grundlose Einwendungen, Kniffe, Machenschaften. Castelli
bucht 1847 in seinem Wörterbuch des Niederösterreichischen (u. zw. im Haupt
teil, nicht etwa in dem der Gaunersprache, dem Jenischen, gewidmeten Nach'
trag) Batitn machen = betrügen. Das Wort ist nicht jüdischer, sondern ro¬
manischer Herkunft. Es geht zurück auf italienisch partita (zu lateinisch
pars) = Teil, Waren- oder Rechnungsposten. Verpartieren bekam im Deut¬
schen schon früh die Bedeutung: unredlich teilen, auf unlautere Weise ver¬
handeln, „packeln“, Machenschaften treiben. Die ältere Sprache kennt Partita
oder Partitahandlung im Sinne von Betrug, Gaunerei; Partitaspieler = Falsch¬
spieler. Bei Unger-Khull wird aus einem steirischen Dokument des Jahres 1690
angeführt: du tausend sacraments partitimacherischer bestialischer Hundsfud
Batiten ist also eine mundartliche Nebenform von Partiten. In der heute vor¬
herrschenden Form Petite ist vielleicht der Anklang an Petition (an eine Be¬
hörde gerichtetes Gesuch, Eingabe) wirksam.
Schabbesdeckel buchen das Grimmsche und das Weigandsche Wör
terbuch als deutschen Voiksausdruck mit der Bedeutung: breiter Hut
den die Juden am Samstag tragen (im Gegensatz zu den Mützen der Werk¬
tage). In erweiterter Bedeutung kann der Ausdruck Schabbesdeckel zunächst
auf jeden breitkrempigen, feierlich wirkenden und dann auf jeden Hut über¬
haupt angewendet werden. Den ersten Teil der Zusammensetzung Schabbes¬
deckel hält man allgemein für die jüdische Ausspracheform von hebräisch
schabbath. Vilmar erklärt Schabbesdeckel als „ein ursprünglich von Juden und
Judengegnern gebrauchtes Wort“, ohne die Behauptung beweisen zu können.
H. Platz hat aber neuerdings glaubhaft gemacht, daß man den ersten Teil der
Zusammensetzung bisher fälschlicherweise auf den hebräischen Namen des sie¬
benten Wochentags zurückgeführt hat. Der Ausdruck wird zuerst 1800 er¬
wähnt im Westerwäldischen Idiotikon, dann wird er 1812 auch bei Stalder
als schweizerisch gebucht. An keiner dieser beiden Stellen ist die Rede davon,
daß das Wort irgendwelche Beziehung zum Sabbath und zu Juden hätte.
Stalder schrieb „Schabisdeckel“. Loritza führt 1847 im Idiotikon Viennense
die Form Schappersdeckel an, die er — wie Stalder sein Schabisdeckl — von
alemannisch Schapper, Schäber (mittelhochdeutsch schappel) = Kranz als
Kopfschmuck (aus altfranzösisch chapel) ableitet. In der Tat, führt H. Platz
aus, ist chapel das Grundwort, aber nicht auf dem Wege des mittelhochdeut¬
schen schapel, sondern es wurde das neufranzösische chapeau von neuem
entlehnt. Chapeau für Hut ist in mehreren deutschen Mundarten lebendig ge¬
blieben (z. B. in der Pfalz, in Mecklenburg). Andererseits ist auch „Deckel“
eine scherzhafte Umschreibung für Hut. Der Schabbesdeckel — also eigentlich
„C hapeaudecke 1“, Schapohdeckel — ist eine scherzhafte tautologische
Zusammensetzung, wie Pläsiervergnügen, Jardingarten usw. Die Umwandlung
von Schabisdeckel, Schappendeckel usw. zu Schawesdeckel, Schabbesdeckel ist
eine auch begriffsumwandelnd wirkende Volksetymologie. Dabei möchte ich
136
noch zu bedenken geben, ob nicht auch eine andere Deutung des ersten Teiles
von Schabbesdeckel möglich wäre. Kabis, Kabbes (zu lateinisch caput) ist eine
Volksbezeichnung für den weißen Kopfkohl (Brassica oleracea capitata). Nun
werden die Bezeichnungen für Kohl und Kürbis in vielen Mundarten und auch
in vielen fremden Sprachen zur spöttischen und verächtlichen Bezeichnung des
menschlichen Hauptes verwendet. Meine Vermutung Schabbesdeckel
könnte vielleicht früher Kabisdeckel gelautet haben, ist daher nicht all¬
zukühn. Jedenfalls aber, ob nun der Schabbesdeckel ein Chapeaudeckel ist
oder ein Kabisdeckel, keineswegs enthält der Ausdruck einen Bestandteil jüdi¬
scher Herkunft, der erste Teil der Zusammensetzung ist jedenfalls romanisch.
Den Ausdruck nappezen = schlummern, leicht schlafen teilt das Wiener
Slang mit dem Judendeutsch, und daher ist mancher geneigt anzunehmen, daß
es sich um eine hebräisch-jüdische Wortwurzel handelt. Aber die Wortge¬
schichte zeigt, daß die bayrisch-österreichische Mundart und das Judendeutsch
hier ein altes germanisches Wort lebendig erhalten haben. Aus dem
Althochdeutschen kennen wir hnaffizan (in den Psalmen des Notker um das
Jahr iooo naffezen, naffzen) = schlummern, im Schlafen nicken, aus dem
angelsächsischen hnappian. Dazu gehört im Englischen das Zeitwort to
nap = schlummern, nickend schläfrig sein und das Hauptwort nap == Nicker¬
chen (z. B. to take a nap, after dinner’s nap). Noch im frühen Neuhochdeutsch
waren die Wörter naffatzen, naphizen und ähnliche Nebenformen schrift¬
sprachlich lebendig. Bei Sebastian Franck ist zu lesen: so etwas ernstlich in der
Predigt wirt gesagt, so nöfzens, schnorchens, da unwilt allen. In verschiedenen
deutschen Mundarten kommt noch das einfachere Zeitwort napfen = nicken
vor; nappezen ist anscheinend — und das gilt wohl schon für den althoch¬
deutschen Vorläufer — die Iterativform von napfen und bedeutet daher: wie¬
derholt napten, wiederholt nicken (die gleiche lautliche Beziehung wie bei
blicken-blitzen, schlucken-schluchzen, saufen-seufzen). Im Bayrisch-Österrei¬
chischen gibt es auch ein Hauptwort: der Naffezer (an Naffezer tan, jetzt
kirnt me der Naffezer). Im Steirischen hat Nappetzer nach Unger-Khull auch
die Bedeutung: schläfriger Mensch, langweilige Arbeit. Auch in Oberösterreich
wird der Ausdruck Napfezer auf einen Menschen schläfrigen Wesens angewen¬
det. (In Kaltenbrunners Oberösterreichischem Jahrbuch 1844 beginnt ein
„Napfezer“ überschriebenes Lied von L. Luber mit den Zeilen: Überall
mue-r-i- ’s hörn, Kim i wo de will hi, Da-r-i- wahrhafti de Napfeza bi. Die
48., letzte, Strophe lautet: Des Gsangl ha i dicht’, Un i sags meine Treu, Und
es derfst es a glabn, I ha gnafezt dabei. In einem österreichischen mundart¬
lichen Gedicht aus dem Jahre 1840 heißt es: In der Schul han ichs erst Jahr
gschlaffn, das annert und dritt hab ih g’nafetzt und d’ Dinten vaschütt. Jeden¬
falls kann die reingermanische Abstammung von nappezen nicht bezweifelt
werden. Von vornherein abzuweisen sind lächerliche Erklärungen, „nappetzen“
hänge zusammen mit (Ka-)napee oder komme von tschechisch na pecu = „auf
dem Ofen“ (nämlich: auf dem Ofen schlafen).
137
Schwindler
Von althochdeutsch swintan = vergehen, abnehmen, kommen die Wör¬
ter schwinden, verschwinden, Schwund, Schwindsucht, verschwenden (=zum
Verschwinden bringen), auch Ortsnamen wie Schwand, Schwenda, Ge-
schwende (wo ein Wald verschwunden ist, d. h. ausgerodet wurde, also
ähnlich den Ortsnamen auf -roda und -rode). Damit verwandt ist auch
Schwindel im Sinne von Taumel, nämlich das Gefühl, als ob man ver¬
schwinden würde, als ob einem Kraft und Leben schwände. Gesondert *u
betrachten ist aber — wenngleich die Verwandtschaft mit den bisher ge¬
nannten Wörtern nicht ganz abzuweisen ist — die Wortgruppe, die mit
Schwindel = Betrug zusammenhängt, also schwindeln, Schwindlet
usw. Das Wort Schwindler ist ziemlich jungen Alters und seine Herkunft
beschränkt sich nachweislich auf ein engbegrenztes Gebiet. Es läßt sich auf
ungefähr 160 Jahre zurückverfolgen; nur steht es nicht genau fest, ob es
aus Hamburg nach London gelangt ist oder ob es die Handelswelt der
Hansastadt aus London übernommen hat. Letzteres ist immerhin das Wahr¬
scheinlichere, denn der älteste Beleg (für swindler) ist für England be¬
zeugt, und zwar für das Jahr 1775. Demnach läge bei Schwindler, wie es
der schwedische Linguist Erik Wellander formuliert, eine Wortentlehnung
aus dem Englischen vor unter gleichzeitiger Assimilation mit einem schon
vorhandenen einheimischen Worte.
Als Lichtenberg 1794—1799 seine bekannten Erklärungen der Hogarth-
schen Sittenbilder veröffentlichte, konnte er zu jenem Kupferstich, der die
verführte Molly im Zuchthaus zeigt, schreiben die berüchtigten Per¬
sonen, die man in England Swindlers nennt (eines der Wörter, die der
große Doktor Johnson in seinem ebenso großen Wörterbuch vergessen hat).
Sie sind Betrüger, die durch fein ausgedachte Ränke, und zwar hauptsächlich
unter dem Schein eines Mannes von Stand und Vermögen, die Menschen
um ihr Eigentum zu bringen versuchen.“ Um diese Zeit wurde das Wort
Schwindler in Deutschland allerdings gelegentlich auch im Sinne von Phan¬
tast, Schwärmer, unbesonnener, leichtsinniger Mensch gebraucht. In den mei¬
sten Fällen waren aber doch unlautere Kaufleute, Wechselreiter gemeint, und
in dem 1806 erschienenen Holsteinischen Idiotikon von Schütze heißt es:
„Swindler, so nennt man in Hamburg und Altona die Negozianten, die
sich mit Wechselgeschäften zu sehr und über ihre Kräfte einlassen, um ihr
gefährliches Negoz zu bezeichnen.“ Während Schwindler hier noch als
hamburgisches Wort gekennzeichnet ist, führt das 1810 erschienene Cam-
pische Wörterbuch das Wort Schwindeier oder Schwindler bereits ohne
138
r
geographische Einschränkung und mit der Erklärung „ein Kaufmann, der
sich törichten Unternehmungen überläßt”.
Im Kreise Malmedy wird ein heiliger Schwindeier oder
Schwindelius verehrt. Von diesem Heiligen weiß man andernorts und auch
in der Kirchengeschichte nichts. Offenbar liegt eine Verderbung des Na¬
mens des heiligen Suindbert oder Schwindbert vor, der um die Wende des
6 und 7. Jahrhunderts bei den Friesen das Christentum verbreitet hatte.
p er Name Schwindbert weist die alte deutsche Wurzel swint = kräftig,
gewaltig, geschickt auf. Sie ist mit der obigen Wortgruppe schwinden, ver¬
schwinden, Schwund usw. nicht verwandt und ist heute nur noch in dem
süddeutschen Worte geschwind = schnell erhalten.
Schwul, Schwulität
Für schwül geben die Wörterbücher als erste Bedeutung an: beklemmend
und drückend heiß, wie die Luft vor dem Gewitter. Das Eigenschaftswort
(und seine Nebenform schwul) dürfte sprachgeschichtlich Zusammenhängen
mit althochdeutsch swilizon = langsam verbrennen, altnordisch svaela =
Rauch, Qualm und daher auch mit dem neuhochdeutschen (besonders nieder¬
deutschen) Zeitwort schwelen = langsam dampfend verbrennen. Im Hoch¬
deutschen ist (aus niederdeutsch swul = drückend heiß) seit Mitte des 17.
Jahrhunderts „schwul” nachweisbar, das sich nach Kluge-Goetze unter dem
Einfluß des Gegenwortes kühl anfangs des 18. Jahrhunderts zu schwül ver¬
wandelte. (Vereinzelt kommt aber „schwul” auch später noch vor, z. B. in
einer Stelle bei Arndt, die sich auf „Pfuhl” reimt: „September trüb und
schwul”.)
Vielartig ist die Verwendung von schwül in übertragenem Sinne. Bei
Eichendorff ist s. B. von schwülen Augen, schwülen Träumen die Rede.
Man spricht von einer schwülen (Erotik gleichsam wie einen Gewitteraus¬
bruch verheißenden) Atmosphäre, wenn Tanzlokale halb, verdunkelt und
rote Lampen eingeschaltet werden („schwüle Tangobeleuchtung”) usw.
Eine Rückwandlung aus schwül zum ursprünglichen u-Laut zeigt das
jüngere Slangwort schwul = homosexuell. Es dürfte in dieser Bedeutung
zuerst in Berlin aufgetreten sein, 1 doch ist es nicht klar, wie es zu dieser
i) Schon Carl Julius Weber bemerkte vor etwa hundert Jahren in seinem
Demokritos: „Erschlaffung und Ubergenuß bringt zur Unnatur der sogenann¬
ten warmen Brüder (Sprache Berlin s).“ Und noch früher bei Magister
Laukhard: „Die Geistlichkeit in Paris war besonders in Verdacht, Meister in
der Kunst zu sein, die man branler Pepine nannte — in B e r 1 i n nannte man
139
Bedeutung gekommen ist. Soll schwul = homosexuell sich erst aus dem
Ausdruck „warme Brüder" = Homosexuelle entwickelt haben? Aber
auch die Entstehung dieser Bedeutung von „warm" harrt noch der Aufklä
rung. Vielleicht weil die „Warmen" Männer sind, die ihren Geschlechts-
genossen gegenüber in erotischer Hinsicht nicht gleichgültig, sondern warm
empfinden.
Aus der Bedeutung beklemmend heiß entwickelt sich für „schwül" auch
die Bedeutung: bang. Es wird ihm schwül zumute ums Herz = er kriegt
Angst. Daraus schuf die Studentensprache im 18. Jahrhundert das makkaro-
nische Hauptwort (vgl. S. 214 ff) Schwulität = Verlegenheit, Bang-
nis, Not. Dann auch: in Schwulibus = in Ängsten, in Nöten.
Spitzel
Das Wort Spitzel im Sinne Spion taucht anfangs des vorigen Jahr¬
hunderts in Österreich auf. Hofers österreichisches Wörterbuch defi-
niert 1815 den Spitzel: „ein Späher, welcher das, was andere tun, einem
Vorgesetzten heimlich zuschwätzt“. Für Österreich begann ja mit dem Wie¬
ner Kongreß eine lange Periode der politischen Spitzelei, sie überdauerte
das jahrzehntelange Metternichregime * 1 und erlebte im Weltkrieg neue Glanz¬
jahre, über die in Jaroslav Haseks Schwejk einiges nachgelesen werden kann.
Der nicht erlahmende Eifer der metternichschen und nachmetternichschen
Polizei hatte zur Folge, daß die österreichische Umgangssprache und ihre
kriminelle Unterwelt sich eine üppige Auswahl von Ausdrücken für Denun¬
zianten und geheime Polizeiagenten zurechtlegte. Um hier nur einige zu
solche die warmen Brüder.“ Aus der 1790 erschienenen Autobiographie von
Karl Friedrich Bahrdt, einem gemaßregelten Aufklärungstheologen: „In Ber-
1 i n sind alle Arten der Wollust, selbst die scheußlichste, der warme Bruder.“
Der „Richtige Berliner“ (Meyer-Mauermann) verzeichnet übrigens auch die
Ausdrücke: er schwult nach mir = er sieht heimlich (verliebt) her und schwu¬
len, abschwulen = Schularbeiten von einem Anderen abschreiben. — Aus
der mitteldeutschen Kundensprache wurde gebucht: auf die warme (schwule)
Fahrt gehen == sich einen (zahlenden) homosexuellen Partner suchen; aus West¬
falen (F. E. Schnabel 1910): angewärmter Käl (Kerl) = Homosexueller; aus
der Seemannssprache: schwules Paket = Lesbierin. Für das Sächsische ver¬
zeichnet Müller-Fraureuth für „Webe“ (W. B., Abkürzung von warmer Bru¬
der) neben Päderast auch die Bedeutung Frauenfeind (besonders als Schelt¬
wort für alte Junggesellen).
1) Berthold Auerbach hat sich allerdings 1849 in seinem Wiener Tagebuch
beeilt, die Einrichtung der Spitzelei als bereits endgültig abgetan hinzustellen:
„Wem wäre das heutige Wien nicht lieber, als das alte mit seinen Spitzeln?“
T40
nenn en : Naderer, Verdeckter, Vigilant, Konfident, Schmierer, Schmieriger
(von Schmiere stehen zu neuhebräisch semira = Bewachung), Näscher, Gnei-
sterer (von wienerisch gneißen = wissen, erfahren, ahnen), Kieberer oder
Kiewerer oder Kiewisch (vom rotwelschen Zeitwort kiwitschen, kibitschen
spähen, prüfen, untersuchen, besonders auch Prostituierte ärztlich unter¬
suchen; von diesem Kiewisch und nicht vom Vogelnamen kommt auch „Kie¬
bitz“ = Zuschauer beim Kartenspiel), aus der Gaunersprache auch Spanner,
Spannjunge (man vergl. die Metapher: gespannte Aufmerksamkeit, gespannt
sein auf etwas), Slichner, Lampen („stieke, es sind Lampen da"), Wams,
Wämser, daneben noch allgemein für die Polizei: die Ziss, die Höh, die
Gwedsch, die Putz, für die Polizisten auch: die Mistelbacher; nur selten
Polente und Bulle, welche Ausdrücke in Wien als berlinisch empfunden
werden 1 . Dazu kommen mehrere Zeitwörter der Wiener Umgangs- und
Unterweltsprache mit der Bedeutung denunzieren, anzeigen, verraten: zün¬
den, verzünden, vermossern, verluachnern, verpetzen (vielleicht im Sinne von
verbellen, vom veralteten Worte Petze = Hündin), pezetten (von pezet =
„pe“ + „zett“ = Polizei, Buchstabenwort der jüdischen Gaunersprache),
verwamsen, verzinken, verslichnen, verslichern, Lampen machen, Lampen
reißen. Der Ausdruck aber, der die größte Geltung erlangt hatte und im
ganzen deutschen Sprachgebiet bekannt wurde, ist Sp it z el. Im Jahre 1848
sang man in Wien: Was macht die Spitzelei, was macht die Spitzelei, was
macht die lederne Spitzelei? (Es gibt eine Karikatur von K, Geiger vom
3. Mai jenes bewegten Jahres: Katzen singen dieses Lied, indes im Hinter¬
grund Hunde — nicht grade Spitzhunde — entsetzt die Flucht ergreifen.)
Dem Ausdruck Spitzel = Polizeispion hat die Wortgeschichte reichlich
vorgearbeitet. Auf zwei Wurzeln muß man zurückgreifen. Die eine ist das
althochdeutsche spioz (mittelhochdeutsch spiez), worunter die Waffe Spieß
zu verstehen war. Die andere ist das althochdeutsche spiz, das das Geweih
des Rotwildes, aber auch den Bratspieß bedeutete. (Man beachte, daß bei
beiden Etymons ein „Spitzen des Mundes“ zur Aussprache nötig ist; über
diese Gebärde siehe weiter unten Fußnote 1 auf S. 144.)
Schon aus dem Worte Spieß selbst entwickelten sich mit der Zeit ver-
i) Man glaube nicht, aus der großen Anzahl der Bezeichnungen für die Po¬
lizei besondere Folgerungen auf den Charakter des Wieners ziehen zu dür¬
fen. Die Üppigkeit solcher Synonymen scheint der städtischen Umgangs¬
sprache überall eigen zu sein. So hat z. B. das Berner „Mattenenglisch“ (ein
nach dem Stadtteil Matte bekanntes Lokalidiom, halb Gaunersprache, halb
scherzhafte Schülergeheimsprache) u. a. folgende Bezeichnungen für den Po¬
lizisten: Tschugger, Putz, Plutzger, Pfützg, Pflütz, Pflüder, Grüenspächt.
141
schiedene Ausdrücke mit verächtlichem Beigeschmack. Spießgeselle bedeu
tete ursprünglich zwar nur den Waffengenossen schlechthin, später aber be¬
sonders den Genossen im bösen Tun. Spießbürger hieß der zur Verteidigung
der Stadt mit Spieß und Schild bewaffnete Bürger; als aber die Feuerwaffen
aufkamen, bekam das Wort Spießbürger einen verächtlichen Sinn.
Aus dem Hauptwort Spieß entwickelte sich schon früh das Eigenschafts¬
wort spitz. Es bedeutete von jeher auch in übertragenem Sinne: schlau
listig. Schon im Mittelalter bedeutete spitz buobe einen verschlagenen, ver¬
schmitzten Menschen, seit dem 16. Jahrhundert besonders auch einen Falsch¬
spieler; an einen „Spitzbuben'* verliert z. B. in Hans Sachsens „Verspieltem
Reiter“ Klas Schellendans sein Hab und Gut. Spitzkaffer wurde im Badi¬
schen als Volksausdruck für einen verschmitzten Bauern gebucht. Jemand
der durch sein Handeln einen Spitz finden konnte, war spitzfindig. Das
Ostjüdische hat das aus der früheren südwestdeutschen Heimat mitgenom¬
mene Wort Spitz in diesem Sinne bewahrt; „a spitzl obtun'' bedeutet im
Jüdischen einen Streich spielen. Eine Spitzrede ist eine verletzende Rede
(sticheln), der Spitzname ein verletzender Namen (Spottname, früher Ekel¬
name) .
Neben spitz = spitzfindig = spitzbübisch ist für die Entstehung der
Wortbedeutung Spitzel = Polizeispion auch der Hundename Spitz
eine Voraussetzung 1 . Es ist nicht geklärt, ob der Spitz (niederdeutsch Spitt)
nach der spitzen Schnauze so heißt, oder nach seiner Wachsamkeit, d. h.
nach dem Ohrenspitzen. Die gereckten Ohren als Ausdrucksbewegung der
Aufmerksamkeit haben schon in dem klassischen Altertum ihren sprach¬
lichen Niederschlag gefunden; bei Vergilius z. B. stehen die Aufmerksamen
„arrectis auribus“ da. Die Rasse des Spitzes (die sich übrigens in Deutsch¬
land von Pommern aus verbreitet hatte und daher auch als „pommerische
Hundeart“ galt) wurde besonders wegen der Wachsamkeit geschätzt; zum
mindesten fiel am Spitz das häufige laute Kläffen auf. Schon Dante kenn¬
zeichnet im Purgatorio die Aretiner als bösartige Spitzhunde, die streitsüch¬
tiger seien als es ihrer Fähigkeit zu schaden entspreche. Voltaire nennt
die nörglerischen Kritiker les roquets de PHelicon, die Spitzhunde im Mu¬
senhain. Vermutlich ist es die auffällige Eigenschaft der Wachsamkeit oder
wenigstens der Bellbereitschaft, die den Namen des Spitzes dazu befähigt,
auch als Bezeichnung für den Polizeiagenten zu dienen 2 . Sonst müßte man
1) Man vgl. auch das elsässische Spitz = Gendarm. Das Elsässische Wör¬
terbuch (1907) verzeichnet: Gibt acht, dort is e Spitz. (Sollte eine Rückbil¬
dung von Spitzel vorliegen?)
2) Als die Grundlage für die Bedeutungsübertragung könnte man auch die
142
glauben, der Jagdhund, der das Wild aufzuspüren hat, eigne sich eher für
diese Bedeutungsübertragung. Tatsächlich bedienten sich die Sprachen auch
des Hundes im allgemeinen bei der Schaffung von Ausdrücken, die die
Tätigkeit der Polizei und der Spione bezeichnen sollen. Cicero nannte die
Helfer des Verres: canes, Spürhunde. Boccaccio sagt gelegentlich einfach
cane für Spion. Ein stark verbreitetes Wortspiel nannte die Dominikaner,
deren Orden anfangs des 13. Jahrhunderts zur Aufspürung des Ketzer¬
wesens gegründet wurde und vom Heiligen Stuhl die Übertragung der In¬
quisition erlangte, domini canes, Hunde, Spürhunde des Herren. (Der Stifter
des Ordens, der heilige Dominikus, hat übrigens neben der Fackel und der
Erdkugel den Hund zum Attribute.) In der englischen Diebs- und Bettler¬
sprache, im Dreigroschenopernmilieu, bedeutet bloodhound den Häscher.
Aus Schillers Wallenstein kennen wir die Stelle über den Kriegsrat von
Questenberg: „Wieder so ein Spürhund, gebt nur acht, der die Jagd auf
den Herzog macht“. Börne spricht — im Gegensatz zu dem „Polizeiwild“,
d. h. den von der Polizei bedrängten Bürgern — von den Polizeihunden
(ohne an vierbeinige zu denken). Die Gaunersprache hat den Ausdruck
Teckel oder Dackel für den Landjäger.
Zu den Vorläufern des wienerischen Wortes Spitzel zählt auch das Zeit¬
wort spitzen = auf etwas lauern, auf etwas gespannt sein, auch: etwas
für sich erwarten, erhoffen. I spitz scho' drauf, hört man auch heute noch
oft sagen. Borchardt-Wustmann erklären die Redensart: entweder weil man
unwillkürlich den Mund spitzt, wenn man etwas Leckeres für seine Zunge
erwartet (in Goethes Werther: „in der Hoffnung auf ein künftig Pfand
sein Mäulchen spitzen”) oder besser unmittelbar so von den Sinnen gesagt 1 ,
wie auch von einem Spannen der Sinne die Rede ist (man vergl. dazu das
schon angeführte Spanner als wienerisches Synonym von Spitzel). Auch im
Sinne von staunen wird das Zeitwort spitzen in Wien gebraucht: da wirst
aber spitzen. In einem Gaunerlied heißt es: „Wenn wir im Tschecherl (klei-
Zudringlichkeit des kleinen Kläffers ins Auge fassen. Ebenso heftet
sich einem auch der Spion an die Fersen. Als Analogie könnte man die in
Frankreich im 1 6. Jahrhundert auf gekommene Bezeichnung mouche oder mou-
chard für Denunzianten, Geheimpolizisten anführen; diese seien zudringlich,
verfolgten einen überallhin wie die Fliegen (mouches). Aber das Wort mouchard
soll nach anderer Deutung zuerst den Gehilfen des Inquisitors Mouchy gegol¬
ten haben; doch auch in diesem Falle wäre es die Vorstellung von der Fliegen¬
ähnlichkeit, die die Bezeichnung mouche = Geheimpolizist jahrhundertelang
lebendig erhalten hat.
i) Im Mittelhochdeutschen sogar: diu ougen spitzen gen ein; und: sin herze
unde al sin gedanc spitzen.
*43
nes Kaffeehaus) sitzen, tun dö Pülcher (Pilger, d. h. junge Angehörige der
Unterwelt) spitzen, wie auf unserem Griffling tun dö Gettern blitzen“ (si^
wundern, wie an unseren Händen die Brillanten glitzern).
Die Freudsche Feststellung, daß im Seelischen auch die winzigsten und
nichtigsten Erscheinungen „über determiniert"' sind, das Ergebnis vieler
Ursachen darstellen, gilt auch für die Wortgeschichte. Die Voraussetzun¬
gen für die Entstehung des Wortes Spitzel bieten so ein Beispiel von über-
determinierung: 1 ) spitz = listig, wie in spitzfindig und Spitzbube, 2 )
Spitz = der wachsame und durch sein Gekläff denunzierende Hund, 3 ) die
Ohren spitzen = lauschen, lauern oder allgemeiner erwartungsvoll den
Mund 1 , die Sinne überhaupt spitzen, — das sind alles Voraussetzungen für
das Zustandekommen des Wortes Spitzel. Übrigens dürfte der Anklang an
das Wort Spion (mittelbar auf deutsch „spähen“ fußend, im 17. Jahr¬
hundert aus den romanischen Sprachen rückentlehnt, im 18. Jahrhundert
ein deutsches Volkswort) für die Entstehung des Ausdrucks Spitzel nicht
ohne Einfluß gewesen sein 2 .
Noch mehr als das bei aller Verbreitung stets mundartlich anmutende
Spitzel fand eine Fortbildung dieses Wortes Eingang in den allgemeinen
deutschen Wortschatz. Das Wort Lockspitzel schuf der in der Schweiz
als Emigrant lebende deutsche freiheitliche Dichter Karl Henckell durch
sein sogenanntes Lockspitzellied, das am 2 . Februar 1888 in der Züricher
1) Die Gebärde des gespitzten Mundes im Zustande der interessier¬
ten, freudigen Erwartung geht auf die Wollust des Säuglings bei der Nah¬
rungsaufnahme zurück. Gebärdensymbolisch ist der Mund uns gleichsam als
Lustrüssel verblieben. Zu beachten ist auch, daß sich beim sogenannten süßen
Gesichtsausdruck der Mund darum spitzt, weil die für das Empfinden des
Süßen bestimmten Geschmacksnerven hauptsächlich an der Zungenspitze lie¬
gen und der gespitzte Mund gleichsam das Sichhindrängen dieser Teile zum
Empfang des freudig erwarteten Gastes darstellt (indes der sauere und der
bittere Gesichtsausdruck daraus entsteht, daß die für das Saure und Bittere
in Betracht kommenden und an den Zungenrändern, bezw. an der Zungen¬
wurzel angeordneten Nerven den unangenehmen Reizen auszuweichen versu¬
chen).
2) Aus dem Wienerischen sind noch zwei Verwendungen der Wurzel Spitz
zu verzeichnen: g’spitzt ausschaun heißt schlecht, kränklich ausschauen und
Spitz (auch Nobelspitz) ist ein kleiner Rausch; in dieser Bedeutung kommt
übrigens Spitz auch sonst gelegentlich im oberdeutschen Sprachgebrauche vor,
so heißt es 1535 in einem Fastnachtspiel des Hans Sachs: „ich glaub’, er hab
einen guten Spitz.“ Ein Beleg um 1562: „er hett ein spitzle gedrunken“.
Auch französisch pointe = Spitze bedeutet einen kleinen Rausch. Entschei¬
den d dürfte dabei die Vorstellung sein: Spitze = etwas Kleines, etwas We¬
niges.
144
post erschien und nach der Melodie des „kreuzfidelen Kupferschmiedes“
z u singen war. Die deutsche Regierung hielt damals in der Schweiz Geheim¬
agenten, die die „subversiven Elemente“ zu überwachen hatten. Wie zu
allen Zeiten die Geheimagenten, die gerne was zu melden haben und es
nötigenfalls auch selbst produzieren, betätigten sich diese deutschen Agen¬
ten auch als agents provocateurs. Minister von Puttkammer gab es im deut¬
schen Reichstag auch zu, daß er zum vertraulichen Überwachungsdienste
„allerdings keine Gentlemens verwenden könne“. Auf diesen etwas zyni¬
schen Ausspruch spielte Henckells satirisches Gedicht an und so schuf es
als seither eingebürgerte Verdeutschung des agent provocateur das Wort
Lockspitzel. Henckells — bewußtes oder unbewußtes — Vorbild bei dieser
Neuschöpfung war vielleicht der Ausdruck Lockvogel, der auf zwei Stellen
des Alten Testaments zurückgeht: „ihre Häuser sind voller Tücke, wie ein
Vogelbauer voller Lockvögel ist“ (Jeremias 5, 27) und „ein falsch Herz
ist wie ein Lockvogel auf dem Kloben und lauert, wie er dich fangen
könne“ (Jesus Sirach 11, 31).
Steckbrief
Der älteste Beleg ist ein Mainzer Text aus dem Jahre 1355, wo
„Hafft- oder Steckbrieffe" erwähnt werden. Zwei etymologische Erklärun¬
gen stehen zur Wahl. Die eine nimmt auf Stock = Gefängnis Bezug. Stock
war ursprünglich der Holzblock, in den man die Füße des Gefangenen
„steckte“; davon hieß der Gefangenenwärter Stöcker oder Stockmann, das
Gefängnis Stockhaus und abgekürzt Stock; daher auch stockfinster und viel¬
leicht auch verstockter Sünder; einstecken bedeutet verhaften, ins Stocken
geraten = festsitzen, nicht weiterkommen. Steckbrief war demnach der
schriftliche Auftrag, jemand zu stecken, d. h. ihn aufzuhalten, in den Stock
zu legen.
Die andere Erklärung, die die Autorität der Brüder Grimm auf ihrer
Seite hat, geht auf gewisse Arten der Vorladung vors Gericht zurück. Da
der Überbringer unangenehmer Botschaft an Herren heftigen Gemütes leicht
Gefahren ausgesetzt war, erfolgte die Vorladung vor die heilige Feme, wenn
der Schuldige auf einem Schlosse wohnte, „darein man nicht ohne Sorg und
Abenteuer kommen könnt", derart, daß der Bote nachts drei Späne aus dem
„Rennbaum" oder „Riegel" des verschlossenen Tores heraushieb, das La¬
dungsschreiben in die so entstandene Narbe steckte und dem Burgwächter
zurief, ein Brief sei in den Grindel gesteckt, er solle es dem sagen, der
in der Burg sitzt. Die Späne, die der Bote herausgehauen hatte, um den La-
145
10 Storfer • Sprache
dungsbrief hineinzustecken, mußte er dem Auftraggeber mitbringen, gewis¬
sermaßen als Empfangsbestätigung für den Steckbrief. In Städten wurde die
Vorladung in die Haustüre des Angeklagten gesteckt. Da man auf diese
Weise an ihn einen Brief ohne sein Wissen gelangen ließ, bekam die
Redensart „jemand etwas stecken“ auch die Bedeutung: heimlich Nach¬
richt zukommen lassen. Bei unbekanntem Aufenthalt des Angeklagten
wurde die Ladung öffentlich, in der Regel an Kreuzwegen aufgesteckt und
dies führte zu der jetzigen eingeschränkten Bedeutung des Wortes Steck¬
brief.
Stinken, stänkern
Das althochdeutsche stinkan hatte noch den allgemeinen, neutralen Sinn:
einen Geruch von sich geben (also auch: angenehm duften). Dementspre¬
chend hatte auch das Hauptwort stank die Bedeutung des Geruchs, des
Duftes im allgemeinen, nicht etwa nur den des üblen Geruchs. Wiederholt ist
in althochdeutschen Texten von süßem Stank die Rede; so heißt es z. B.
bei Notker: suozen stang tuve dir min gebet. Sogar vom süßen Stank
Christi wird in religiösen Schriften gesprochen. In der Paraphrase des
Hohenliedes von Williram (11. Jahrhundert) heißt es: der stank dines
mundes ist samo der suozon epfelo. Auch im Mittelhochdeutschen erhält
sich teilweise noch die neutrale Bedeutung von Stank. Eine für 1315 belegte
Straßburger „badestube zum stank" hatte offenbar parfümierte Bäder zu
bieten. In der mittelhochdeutschen Zeit beginnt aber schon die Bedeutungs¬
verschlechterung, sodaß die Bedeutung von stinken sich schließlich auf den
üblen Geruch beschränkt. (Über die Erscheinung des pejorativen Bedeu¬
tungswandels, der Anlaß gibt von einem Pessimismus der Sprache zu reden,
vgl. das Stichwort „niederträchtig" in „Wörter und ihre Schicksale".) Für
den ursprünglich neutralen Charakter des Begriffs stinken zeugen noch ver¬
einzelte Spuren. So bewahrt z. B. den alten Sinn die südbayrische Mundart
der Sprachinsel Lusern in den vicentinischen Alpen. In dänischen und nor¬
wegischen Mundarten werden die Büchsen, in denen Wohlgeruch verbrei¬
tende Mittel aufbewahrt werden, stinkekrukke (krukke = Krug, Büchse)
oder ähnlich genannt.
Daß im Angelsächsischen stincan neben allgemein duften und im Beson-
dern übelriechen auch „aufwirbeln" bedeutet (was vielleicht mit gotisch
stigqan = Zusammenstößen in Parallele zu stellen ist), läßt die Vermutung
aufkommen, daß stinken vielleicht mit s t e c h e n verwandt sei. Man könnte
an Gerüche denken, die erst wahrgenommen werden, wenn etwas aufge¬
stochen, aufgewirbelt, aufgerührt wird.
Die Berliner Redensart „stinken Se mal, wie det riecht“ dürfte eine auf
dem Wege des Austausches der Zeitwörter entstandene Scherzform sein und
läßt keinesfalls etwa den Schluß zu, daß stinken jemals auch den Sinn
riechen in transitiven Sinne gehabt hätte.
Merkwürdig ist auch die Redensart „erstunken und erlogen“. Sie
kommt von der Vorstellung der stinkigen Lüge, der faulen Lüge her, vom
Vergleich der Lüge mit einer schlechten, in Verwesung übergegangenen
Speise oder mit einem Aas. (Über die Ableitung von faul = träge und
faul = verwesend s. das Stichwort „faul“ in „Wörter und ihre Schicksale“.)
Über die Wendung vom „abgestunkenen“ Schauspieler, Redner
usw., der vom Bilde des unter Gestank abziehenden Teufels der Mysterien¬
spiele her genommen sein dürfte, vgl. das Stichwort „Teufel“ in „Wörter
und ihre Schicksale“.
Die Bedeutung des Zeitwortes stänkern gibt Sanders-Wülfing wie
folgt an: 1) Stank verbreiten, damit erfüllen, 2a) Unfrieden stiften, b) sich
müßig umhertreiben, c) schnüffelnd, stöbernd durchsuchen. Das Zeitwort
ist erst seit 1678 gebucht. Es dürfte zunächst hauptsächlich von Studenten
und Soldaten gebraucht worden sein, ebenso wie das Hauptwort Stänker,
Stänkerer (Zedlers Lexikon 1821: Stencker, Raisonneur heißt bei den Sol¬
daten derjenige, der murret und brummet.) J. J. Bode gebraucht in seiner
vortrefflichen Montaigne-Übersetzung Stänker für querelleur. Während im
oberdeutschen Gebiet heute die Form „Stänkerer“ die Vorherrschaft hat, ist
sonst „Stänker“ gebräuchlicher. (Bei Thomas Mann bezeichnet Johann Bud¬
denbrook jemanden als einen „ollen Stänker“.) Die Ableitung des Wortes
Stänker aus dem Namen des streitsüchtigen Theologen Franz Stancarus im
17. Jahrhundert, dessen dogmatische „Stänkereien“ berüchtigt waren, ist
falsch, mag man — dem Geschmack der Zeit entsprechend — das Anklin¬
gen seines Namen an das Wort Stank polemisch auch ausgewertet haben.
Daß stänkern nicht nur Gestank verbreiten, einen Streit aufwirbeln
bedeutet, sondern auch „schnüffelnd, stöbernd durchsuchen“ 1 , geht entweder
aut den Quereinfluß des Zeitwortes stechen (stöbern, wienerisch' stierin)
zurück oder ist eine Stütze der schon angedeuteten Hypothese, daß stinken
mit stechen, aufstechen form- und bedeutungsgeschichtlich verwandt sein
könnte. Zum Verständnis der Form stänkern muß man auch wissen, daß es
im Mittelhochdeutschen auch ein Zeitwort stenken gab; es war das Fakti-
tivum (die Bewirkungsform) zu stinken (Verhältnis wie zwischen sinken
i) Prof. Franz Blume (Jena) verweist mich auf eine Stelle bei Lessing: „Da
habe ich wohl meine alten Papiere durchstänkern müssen“.
io*
147
und sinken lassen, d. h. senken, zwischen dringen und drängen, schwimmen
und schwemmen, springen und sprengen, sitzen und setzen usw.). Stenken
bedeutet also: stinken lassen, Gestank verursachen. Und stänkern ist eine
die häufige Wiederholung ausdrückende Ableitungsform (das Iterativum
oder Frequentativum) von stenken, also: immer wieder Gestank verursachen.
Mundartlich hat sich übrigens gelegentlich neben stänkern auch noch die
mittelhochdeutsche Form stänken erhalten. So kommt dieses Zeitwort im
Steirischen vor, wo es neben stänkern im hochdeutschen Sinne auch bedeu¬
tet: durch Stichellieder auf dem Tanzboden zu Gegenliedern herausfordern.
Wir sehen hier wieder in der Vorstellung des Sticheins eine Gedanken¬
brücke zwischen stinken und stechen. Die Möglichkeit einer solchen Brücke
ist übrigens nicht nur in der Vorstellung von der Entstehung des Gestankes
zufolge Aufstechens von organischen Stoffen gegeben , 1 sondern auch in der
Vorstellung von physiologischen Wirkungen des üblen Geruches: er ist
stechend, er sticht in die Nase.
Strohwitwe
Das Wort Witwe (althochdeutsch wituwa) und seine Entsprechungen
im Englischen, Französischen, Lateinischen (widow, veuve, vidua) sind ver¬
wandt mit altindisch vidhus = vereinsamt, vidhava = die Vereinsamte 2 .
Man schließt auf eine indogermanische Wurzel vidh — trennen, berauben,
bezw. leer werden, Mangel haben, die wohl auch enthalten ist in lateinisch
di-videre = teilen (dazu unsere Fremdwörter Division, Dividende, Devise,
Individuum) und im deutschen Worte „Waise“. Die Bezeichnungen für den
Witwer sind erst aus jenen für die Witwe entstanden. Für den Mann,
dem seine Frau starb, gab es ursprünglich bei den indogermanischen Völkern
kein besonderes Wort; der Umstand war für ihn nicht bezeichnend, um-
1) Vielleicht darf hier auch an die Etymologie von Pfütze gedacht
werden: von lateinisch puteus = Brunnen, ausgestochene Grube zu putare =
stechen, schneiden.
2) Falsch ist die Deutung Witwe = witte Frau, weiße Frau (wegen der
weißen Trauerkleider). — Französisch vide und englisch void (beide bedeu¬
ten: leer) dürften von lateinisch vacuus abstammen und nicht von viduus =
beraubt, scheinen aber von diesem immerhin beeinflußt zu sein. — Die Bezeich¬
nungen der Witwe in den skandinavischen Sprachen gehören nicht zur Sippe
vidua — Witwe; die alte nordische Wurzel ist ekkja = die Einzige, die Ver¬
einzelte (daraus dänisch enke, schwedisch enka = Witwe); hier ist also das
Begriffselement „eins, allein“ wortbildend und nicht wie in anderen indoger¬
manischen Sprachen: „beraubt (des Mannes)“.
148
somehr war es für die Frau, wenn ihr Mann starb, ein wesentlicher Um¬
stand, mitunter auch ein folgenschwerer (Witwenverbrennung).
Nicht so einfach ist die Deutung des Wortes Strohwitwe. Heute be¬
deutet es die Ehefrau, die vorübergehend von ihrem Manne getrennt ist. Ein
scherzhafter erotischer Nebenton schwingt mit und dieser spielt entweder
auf die Sehnsucht der Frau nach dem Gatten an oder auf die ihr sich bie¬
tende Gelegenheit, sich freier zu bewegen. Eine Strohwitwe modernen Sin¬
nes setzt auch einen Strohwitwer voraus und auch dieser Begriff ist im
Sprachgebrauch meistens auf einen anzüglichen Lustspielton abgestimmt.
Mit der Silbe Stroh in den Wörtern Strohwitwe und Strohwitwer haben
sich Sprachforscher wiederholt beschäftigt. Am bequemsten ist die Erklä¬
rung von Behaghel, dem eine Analogie mit Strohmann vorschwebt. Der
Strohmann ist eine mit Stroh ausgestopfte Puppe, die Vögel zu verscheu¬
chen, er ist kein richtiger Mann und ebenso sei die Strohwitwe keine rich¬
tige Witwe. Dieser zweifellos unzulänglichen Erklärung hält Hohlfeld Bei¬
spiele aus anderen germanischen Sprachen entgegen, in denen die Bezeich¬
nungen für Strohmann und Strohwitwe so wesentlich voneinander abwei¬
chen, daß die Verlockung zu jenem falschen Analogieschluß ganz entfällt.
So ist der Strohmann im Englischen man of straw, im Schwedischen halm-
karl, dänisch straamand, aber die Strohwitwe heißt in diesen drei Sprachen
übereinstimmend Gras witwe, d. h. grass-widow 1 , gräsenka, gräsenke.
Andere haben für die Frage der Herkunft der „Stroh“-Witwe den Um¬
stand herangezogen, daß die Vorläufer dieses Ausdruckes Strohjungfer
(oberdeutsch Strohdirndl) und Strohbraut lauten. Das Stroh ist also im
zusammengesetzten Ausdruck Strohwitwe älter als das Element Witwe. Die
Bezeichnung Strohbraut führte man darauf zurück, daß es im späten Mit¬
telalter vielfach ländliche Sitte war, gefallenen Mädchen zur
öffentlichen Beschämung Strohkränze aufs Haupt zu setzen und daß solche
Mädchen, wenn sie zum Altäre geführt wurden, statt des Myrtenkranzes
einen Strohkranz tragen mußten. Auch ist einer solchen Braut am Polter¬
abend Häcksel, kleingeschnittenes Stroh, vor die Türe gestreut worden. Im
i) Grass-widow, das bereits für das 17. Jahrhundert belegt ist (zunächst
allerdings mit der Bedeutung verlassenes Mädchen, ledige Mutter), hat man
fälschlicherweise auch aus französisch gräce = Anmut, Gunstbezeugung ab-
leiten wollen. Das Englische hat übrigens für die Strohwitwe auch die Be¬
zeichnung mock-widow, Scheinwitwe. Weitere Synonyme steuert das Slang bei:
wife in water colours (Weib in Wasserfarben), im ältesten Slang widow-
bewitched (verzauberte. Witwe), im amerikanischen Slang California widow
(Anspielung auf die Zeit des kalifornischen „Goldrausches 46 , als viele Männer
ihre Familie für lange Zeit verließen).
149
Faust, im Gespräch mit Gretchen am Brunnen, droht das Lieschen dem
Bärbel: „Das Kränzel reißen die Buben ihr und Häckerling streuen wir
vor die Tür.“ Im Urkundenbuch der Stadt Chemnitz vom Jahre 1399 bedeu¬
tete strobrute zweifellos: Bräute, die keine Jungfrauen waren.
Neben der Bedeutung gefallenes Mädchen tritt aber schon früh auch die
der verlassenen Frau auf. Die „Dithmarsche historische Geschichte“
des Johannes Neocorus spricht von der Strenge der Dithmarschen gegen die
grasswedewen (Graswitwen), offenbar hier: gefallene Mädchen. Aber
schon 1543 bucht ein in Antwerpen erschienenes Wörterbuch des Nieder¬
ländischen haeckweduwe (haeck ist niederdeutsch Heuhaufen, Heuschober)
und erklärt diese Heuschoberwitwe wie folgt: veufe attendant son mari
estant en long voyage, Witwe, die auf ihren Mann wartet während seiner
langen Reise. In Zedlers Universallexikon 1744 finden wir neben den
Strohwittben („heißet man aus Scherz an etlichen Orten diejenigen Weiber,
deren Männer verreiset oder abwesend seyn“) auch den Strohbräutigam.
So „pfleget man in Nürnberg denjenigen zu nennen, welcher es hat kund
werden lassen, daß er vor der Hochzeit bei seiner Braut geschlafen hat. Und
es werden solchen Personen, wenn sie sich auf dem Lande befinden, Stroh¬
kränze aufgesetzet, in welchen sie auch zu Strafe bey der Trauung in die
Kirche gehen müssen“. Übrigens verstand die Moral auch hier, sich die
Unmoral tributpflichtig zu machen. In den Bayreuther Verordnungen von
1726 ist zu lesen, daß Brautleute, „die sich vor der Zeit verunkeuscht hat¬
ten“, bei der Kopulation Strohkränze tragen mußten „oder diese Strafe in
Geld redimieren“. Diese Buße war das sogenannte Strohkranzgeld. Übrigens
besteht in einzelnen schwäbischen Gemeinden noch heute der Brauch, daß
das gefallene Mädchen drei Sonntage hintereinander öffentlich vor der
Kirche einen Strohzopf tragen muß.
H. Schräder ist der Meinung, in den Ausdrücken Graswitwe, Strohwitwe
sei Gras und Stroh das Symbol des Hinfälligen, rasch Welkenden, Wert¬
losen. (Das Stroh als Symbol des Wertlosen z. B. bei Jesaia 33, 11: mit
Stroh geht ihr schwanger.) Daß zur Strafe für die voreheliche Verfehlung
das minderwertige Stroh die edle Myrte ersetzen mußte, erscheint ganz ein¬
leuchtend. Soll dieser Umstand aber auch die Bezeichnungen Strohwitwe,
Strohwitwer für die von einander getrennten Eheleute erklären? Aus dem
Bedürfnis nach einer anderen Erklärung schreibt 1841 die Ökonomisch¬
technologische Encyclopaedie von Krünitz: „von dem ausgedroschenen Stroh
hergenommen und hier gleichsam leer bedeutend, eine leere Stelle, also
eine Strohwitwe ist eine Frau, deren Mann fehlt, dessen Stelle im Bette, so
überhaupt an ihrer Seite, leer ist." Die Deutung Stroh = leer ist unhalt-
150
bar 1 und wir haben sie angeführt als Beispiel dafür, 2u welch gewaltsamen
Konstruktionen man in der Wissenschaft greifen muß, wenn prüde Hem¬
mung den Weg zu der natürlichen Ursache verlegt. Dabei mußte man sich
bloß nach dem etymologischen Wink richten, den Goethe im Faust gibt.
Marthe Schwerdtlein erzählt klagend von ihrem lieben Manne: „Er hat mir
nicht wohlgetan; geht da stracks in die Welt hinein und läßt mich auf dem
Stroh allein“. Das Stroh ist offenbar das Bettstroh, das übliche ländliche
Lager und daher ist Strohwitwe eine Frau, die nicht zufolge des Todes eines
Mannes ganz vereinsamt, sondern nur im Bett verlassen ist. Man beachte übri¬
gens die gedankliche Verknüpfung zwischen dem Stroh und der geschlecht¬
lichen Vernachlässigung der Frau durch den Mann in folgender Stelle bei
Weber-Demokritos: „Es ist bekannt, daß die schönsten Fräuleins.,., die schön¬
sten roten Wangen bekommen, sobald sie aufs Stroh gelegt werden,... auf
dem sie ohnehin Bürgers Lenore fast täglich spielen.“ (Anspielung auf fol¬
gende Zeilen der Ballade: „Lenore fuhr ums Morgenrot empor aus schwe¬
ren Träumen: bist untreu, Wilhelm, oder tot? wie lange willst du säu¬
men?“)
Stroh wird nicht nur allgemein für Bett, Lagerstätte gebraucht, sondern
im besonderen Sinne auch für das uneheliche B e i 1 a g e r. Diesen
engeren Sinn bestätigt im besonderen auch der Umstand, daß statt Stroh¬
witwe auch Graswitwe gesagt wurde (im 16. Jahrhundert niederdeutsch
grasswedewe, sowie die oben angeführten Beispiele aus dem Englischen und
Skandinavischen, und auch niederländisch haeckweduwe, Heuschoberwitwe).
Es liegt hier offenbar eine Anspielung auf den geheimen Verkehr vor,
auf den Verkehr nicht im Ehebette, sondern in der Scheune, auf dem Heu¬
schober, auf dem Felde. (Grienberger führt ein bezeichnendes kärntneri-
sches Volkslied an: I waß, wers verraten hat / daß d’ in Gras warst bei
mir / i hab an grüen A .. / und du hast grüene Knie.) Daß bei Wortbildun¬
gen die Anspielung auf das Außereheliche durch den Hinweis auf den Ort
des Verkehrs geschieht, ist in der Wortgeschichte auch sonst bekannt, man
denke z. B. an die Synonyme Bankert und Bastard (das auf der Bank, bezw.
auf dem basto, dem Saumsattel gezeugte Kind). Auch das Französische
bringt die Begriffe des Strohs und des außerehelichen Geschlechtsverkehrs
in sprachliche Zusammenhänge. Paillasse = Strohsack (von paille = Stroh)
bedeutet auch Dirne, paillasse ä soldats = Soldatendirne 2 ; brüler le pail-
1) Wäre das Stroh in Strohwitwe das Symbol der Leere, so müßte — in
Anbetracht der Etymologie von „Witwe“ (vidua = die Beraubte, die Ent¬
leerte) — „Strohwitwe“ eigentlich als Tautologie gelten: die leere Leere.
2 ) Man vergleiche damit in der österreichischen Soldatensprache des Welt-
lasse, den Strohsack verbrennen = eine Dirne um die Bezahlung prellen-
paillasson == Hurenkerl, Herzensfreund einer Dirne; paillard = unzüchtig
wollüstig; paillarder = Unzucht treiben; paillardise = Unzucht, Aus¬
schweifung * 1 .
Das Stroh in der Bedeutung Liegestätte kommt auch in anderen' deut¬
schen sprachlichen Bildungen vor. Der Strohtod (englisch straw-death)
war für den Ritter des Mittelalters der prosaische Tod, im Gegensatz zu
jenem auf dem Felde der Ehre. In Siebenbürgen ersetzt man im Bett des
Kranken die Federnmatratze durch einen Strohsack, auf dem es sich leichter
sterben soll. In Bayern heißt auf dem Stroh liegen (auch: auf dem
Marterstroh, anderswo: auf dem Peinstroh) soviel wie krank sein, beson¬
ders in den Wehen sein. Früher war es dort allgemeine Sitte, daß die
Bäuerinnen ihre Wehen auf dem Stroh verbringen und erst nach der
Niederkunft ins reine Kindbett gelangen. In Hermann und Dorothea heißt
es: „Hier auf dem Strohe liegt die erst entbundene Frau des reichen Be¬
sitzers“. Aufs Stroh kommen heißt ein Kind bekommen. In diesem Zusam¬
menhang sei auch ein Pflanzenname erwähnt. Unserer lieben Frauen Bett¬
stroh oder Liebfrauenstroh oder Marienstroh ist der volkstümliche Name der
Pflanze Galium verum, der übernatürliche Kräfte zugeschrieben werden. Sie
war in heidnischer Zeit der Freya, der germanischen Venus, der Göttin der
Liebe und der Fruchtbarkeit, heilig und Strohbündel dieser Pflanze wurden
schwangeren Frauen ins Bett gelegt, um die Niederkunft zu erleichtern;
trotz wiederholter Verbote von Seiten der Kirche wurde dieser Brauch auch
im Christentum beibehalten, allerdings auf die heilige Maria übertragen.
Zusammenfassend also: Strohwitwe (Graswitwe) ist ursprünglich das
(auf dem Stroh) verführte und dann verlassene Mädchen und später zu¬
folge scherzhafter Übertragung eine zeitweilig von ihrem Mann verlassene
Ehefrau. Stroh bedeutet also in dieser Zusammensetzung die Liegestätte.
Die Strohwitwe ist eine Bettwitwe, sowie man mit einer ähnlichen Kon¬
struktion eine Frau, deren Schönheit sich erst im entkleideten Zustande
krieges die Bezeichnung Feldmatratze für die sogenannten „weiblichen
Hilfskräfte 16 , die in den militärischen Kanzleien der Etappe für die Front
benötigte Soldaten abzulösen hatten.
i) Im Argot der argentinischen Dirnen bedeutet „im Stroh schlafen 66 : unvor¬
sichtig sein, nicht aufpassen (nämlich beim Geschlechtsverkehr); Vidor Borde
hat folgende Strophe aufgezeichnet: Qu6 te has creido medio zorzo / Que en
las p a j a s me he dormido? / Cuando vos me las pegaste / Pegados ya las
hetenido. (Du bist wohl halb verrückt, daß du glaubst, ich hätte im Stroh ge¬
schlafen? Als du mich anstecktest, da war ich bereits angesteckt.)
richtig herausstellt, eine Bettschönheit nennt. Viel jüngeren Datums ist der
parallele Begriff des Strohwitwers, ebenso der lüstern-ironische Beigeschmack
beider Begriffe, die Anspielung auf die Sehnsucht des verlassenen Ehe¬
partners nach dem abwesenden, bezw. auf die Neigung zur Ausnützung der
vorübergehenden Freiheit. Das Scherzhafte ist selbst dann nicht ganz aus¬
geschaltet, wenn ein Dichter, wie Goethe im Westöstlichen Diwan, das
Wort in gehobener Tonart verwendet: „Die Strohwitwe,.die Aurora, ist in
Hesperus entbrannt.“
Den romanischen Sprachen fehlen Wörter zur kurzen Bezeichnung der
Strohwitwenschaft. Sie müssen sich mit Umschreibungen behelfen, z. B.
italienisch moglie il cui marito e in viaggio, und ebenso französisch femme,
dont le mari est en voyage (Frau, deren Mann verreist ist), ma femme est
absente (meine Frau ist abwesend, d. h. ich bin Strohwitwer).
Ungarisch szalmaözvegy ist nur eine wörtliche Lehnübersetzung aus dem
Deutschen.
Toast
Das dem Englischen entnommene Fremdwort Toast wird im Deutschen
wie in der Ursprache mit zweierlei Bedeutung gebraucht: 1) Trinkspruch,
2) geröstete Brotschnitte 1 (daher auch gebräuchlich: tosten = Brot rösten).
Diese beiden Bedeutungen muten zunächst so unzusammenhängend an, daß
man annehmen möchte, es handle sich um eines jener Homonymenpaare,
die bei völligem Gleichlaut und völlig gleicher Schreibweise auf zwei ver¬
schiedene Quellen zurückgehen, wie es etwa der Fall ist bei Golf (das
Rasenspiel) von schottisch gowf == Schlag und Golf (der geographische
Begriff) von griechisch kolpos = Busen. Aber trotz der zwei einander
i) Toast = geröstete Brotschnitte kommt auch bei Shakespeare vor. In den
Lustigen Weibern sagt Falstaff: Go fetch me a quart of sack, put a toast in’t,
geh hol mir ein Quart „Sack 44 , leg ein Stück geröstet Brot hinein. (Dieses quart
of sack, das Falstaff öfters fordert, — auch in „König Heinrich IV.“ ist
von einem cup of sack die Rede, bei Schlegel-Tieck als „ein Glas Sekt 44 über¬
setzt, — wurde übrigens der Ausgangspunkt des deutschen Wortes Sekt, das,
von Berlin ausgehend, seit 1830 das vorherige „Champagner 44 teilweise ver¬
drängte. Bei Shakespeare hat sack die Bedeutung: trockener Wein, vino
secco, Wein aus am Stock getrockneten Beeren. Da aber der berühmte Charak¬
terdarsteller Ludwig Devrient, seine Falstaffrolle weiterspielend, in der Wein¬
stube Lutter und Wegner in Berlin Champagner mit den Worten „ein Glas
Sekt!“ zu bestellen pflegte, bürgerte sich schließlich das bis dahin nur selten
und jedenfalls nur für süßen Südwein gebrauchte Wort Sekt als Bezeichnung
für den Schaumwein ein.)
153
fernen Bedeutungen von englisch Toast handelt es sich diesmal tatsächlich
um das gleiche Wort. Zugrunde liegt das Zeitwort to toast = rösten, das
über das Altfranzösische auf lateinisch tostus, das Partizip von torrere z u .
rückweist. Der Zusammenhang zwischen Brotrösten und Trinkspruch erklärt
sich aus einem alten Brauch, der in England bestanden hat. Wenn jemand
an der Tafel einen Trinkspruch ausbrachte, tat er ein Stück geröstetes Brot
in seinen Becher, ließ ihn dann am Tisch herumgehen, so daß jeder Gast
etwas aus dem Becher trank; wenn der Becher zum Redner zurückkam
trank er den Rest aus und aß das Brot. So wurde toast allmählich zur
Bezeichnung jener Person oder jener Sache, auf deren Erfolg getrunken
wurde, später der Trinkspruch selbst. 1 Da es üblich war, in Trinksprüchen
der Schönheit einer gefeierten Dame zu gedenken, hatte toast auch die beson¬
dere Bedeutung „gepriesene Schöne". Im Jahre 1709 erzählte die Zeitschrift
The Tatler die Geschichte von einer schönen Dame zur Zeit Karls II., die
vor ihren Verehrern ein Bad nahm, wobei diese Herren sie so bewunderten,
daß sie schließlich aus Begeisterung unter lauter Lobpreisung ihrer Schön¬
heit nach und nach das ganze Badewasser austranken. Weil nun die mit
feierlichen Komplimenten apostrophierte Holde im Wasser so dasaß, wie
eine geröstete Brotscheibe in einem Getränke, habe man seither eine durch
einen Trinkspruch gefeierte Dame, später sogar den Trinkspruch selbst als
Toast bezeichnet.
Das Eintunken von Brot in Wein ist übrigens eine uralte Sitte. Sie ist,
wie Kretschmer hervorhebt, im Orient so verwurzelt, daß sie auf das Abend¬
mahl gegen die Darstellung der Evangelien übertragen wurde. In der arme¬
nischen schismatischen Kirche taucht der Priester bei der Kommunion die
Hostie in den Wein und reicht sie den Gläubigen. (Da bei diesem Verfah¬
ren leicht Wein verloren gehen kann, so werden in der griechisch-orientali¬
schen Kirche die Hostien in den Wein geworfen und dann für jeden einzel¬
nen mit einem Löffel herausgeholt.)
Veronal
Das überaus wirksame Schlafmittel Veronal, das in größeren Mengen
Lebensmüden sogar zum ewigen Schlaf zu verhelfen vermag, entstand 1903
aus gemeinsamen Arbeiten des Klinikers J. v. Mering und des Chemikers
Emil Fischer. Seither ist Veronal auch zum Ausgangspunkt vieler anderer
i) Nach Rudolf Kleinpaul habe aber englisch toast = Trinkspruch nichts
mit toast = geröstetes Brot zu tun, sondern komme von deutsch „s t o ß t
(an).“
r 54
_ - h i a f m ittel geworden. Wieso es dazu kam, daß die Diäthylbarbitursäure —
dies ist die eigentliche wissenschaftliche Bezeichnung dieses Mittels —
‘ a j e Veronal genannt wurde, erzählte dreißig Jahre später Prof. Müller-
Gnupa in einer Wiener Zeitschrift. Als Prof. Emil Fischer mit der Farben¬
industriegesellschaft in Leverkusen über die Einführung des neuen Mittels
geschäftlich verhandelte, konnte man sich lange auf keinen Namen einigen.
Da sagte schließlich Fischer, die Uhr in der Hand: „Meine Herren, in einer
halben Stunde geht mein Zug, ich habe schon in Verona Nachtquartier
bestellt". Und rasch einigte man sich auf den Namen „Veronal".
Zwilling
Riickert hat in zwei Verszeilen der „Weisheit des Brahmanen“ sieben
Hauptwörter, die aus „zwei” gebildet sind, untergebracht: „Die Zwei ist
Zweifel, Zwist, ist Zwietracht, Zwiespalt, Zwitter. Die
Zwei ist Zwillingsfrucht am Zweige süß und bitter.” Von zwei
kommt außerdem auch zwölf (gotisch twalif, wörtlich: zwei drüber), zwan¬
zig, zwischen, Zwieback, Zwielicht, Zwilch (zweifädiges Gewebe), Zwirn
(zweidrähtiges Garn, englisch twine), Zuber (Zweihenkliges, im Gegensatz
zum Eimer, dem Einhenkligen) und vielleicht auch Geweih (das „Gezweig”
des Hirsches); ferner zwei bayrisch-österreichische Ausdrücke: Zwie¬
sel = Gabelung, Spaltung (schisma) und Zwecken = Zacken, Zinken. (Im
älteren Steirisch hieß das Doppeljoch für Zugtiere: Zwilchjoch.) Das Wort
zur Bezeichnung eines von zwei gleichzeitig geborenen Kindern einer Mut¬
ter lautete althochdeutsch zwinilinc, daraus durch Angleichung Zwilling
(englisch twin, holländisch tweeling). Der Name des Züricher Reformators
Zwingli ist eine schweizerische Fassung von Zwilling. Die Bedeutung Zwil¬
ling hat übrigens auch der evangelische Name Thomas, er kommt von
aramäisch ta-ma = Zwilling. (Nach dem Evangelium führt Thomas den
Beinamen „Zwilling”: Thomas ho legomenos Didymos. Richtig ist aber,
daß Thomas selbst die Bedeutung Zwilling hat. Didymos = Zwilling ist ein
häufiger griechischer Name, ebenso lateinisch Gemellus von Geminus.)
Christian Morgenstern (der auch den Elefanten weiter entwickelt hat zum
Zwölefanten) war vom Worte Zwilling so beeindruckt, daß er aus ihm
einen neuen Begriff herausdestillierte, den „Zwi”, den Menschen mit zwei
Gehirnen: „ein Mensch, der selbst sich duzt, ein Mann, der Aug in Aug
sich sitzen kann.” Scherzweise nennt man einen Zwilling auch einen
Illing; wie wenn Zwilling die Bezeichnung für das Paar wäre.
155
kreuz und quer
Schweizerische Wörter im Hochdeutschen
„Ich bin ein Schweizer”, schrieb 1758 der aus dem Aargau stammende
berühmte Arzt und Philosoph Johann Georg von Zimmermann in der Vor¬
rede seines Buches vom Nationalstolz, „und von einem Schweizer läßt sich
die Reinlichkeit der Sprache ebensowenig fordern als vormals die athenien-
sische Annehmlichkeit von einem Böotier.” Das Sonderbare an diesem Aus¬
spruch ist, daß er eben zu einer Zeit getan wurde, als das Vorurteil, das
man durch viele Geschlechter hindurch gegen das Schweizerdeutsch gehegt
hatte, gerade zu schwinden begann. Luther, der der neuen Schriftsprache
hauptsächlich das Mitteldeutsche zugrunde gelegt hatte, dabei aber zur Be¬
reicherung des obersächsisch-thüringischen Wortschatzes Anleihen in ver¬
schiedenen Gebieten, darunter auch beim Plattdeutsch machte, hatte gerade
für den schweizerischen Ast des Alemannischen wenig übrig. Man kennt
seine geringschätzige Meinung über Zwinglis Sprache. Anderseits wieder
wehrte man sich in der Schweiz lange gegen das „sächsische” Bücherdeutsch.
Den zahlreichen Nachdrucken, die der Basler Buchdrucker Adam Petri von
Luthers Neuem Testament veranstaltete, mußte von der 1522 erschienenen
zweiten Auflage angefangen („so ich gemerckt hab, dass nit yederman ver-
stan mag etliche Wörter in yetzt gründlichen verteutschten neuwen testa-
ment") ein von Konrad Pellikan aus Rufach verfaßtes Wortregister beige¬
geben werden, das „die ausslendigen Wörter auf unser Teutsch anzeigt”.
So wird dort u. a. albern als nerrisch oder fantestisch, Anstoß als Ärgernis,
Aufschub als Verzug, bange als engstlich, besudeln als verunreinen, ernten
als schneiden, flehen als bitten, fühlen als empfinden, mieten als dingen,
plötzlich als gehlings, prüfen als mercken, Ufer als Gestade, wetterwendisch
als unstet veroberdeutscht. Noch 1671 befahl der Berner Rat den Geist¬
lichen, „sich beim Predigen eines ungewöhnlichen neuen Deutsch zu ent¬
halten”, es ärgere bloß die Hörer.
Dieser Widerstand gegen das gleichschalterische Schriftdeutsch ermöglichte
es, daß manche Wörter, manche Wendungen der älteren oberdeutschen Sprache
in der Schweiz noch lebendig blieben, als sie im Reiche schon verschollen
*59
waren. Und wenn 1706 ein deutscher Literaturhistoriker (Erdmann Neu.
meister) über einen Schweizer Dichter, den Züricher Pfarrer Johann Wil¬
helm Simmler, schrieb: dictio est helvetica, hoc est crassa, ridicula, minus
germana, der Stil ist schweizerisch, also plump, lächerlich, minderdeutsch
so ahnte es dem lateinisch Schreibenden gar nicht, daß all das, was ihm un¬
deutsch schien, in Wirklichkeit älteres und edleres, bodenständigeres und
unberührteres Deutsch war als die zum großen Teil durch abstraktionsver¬
sessenes Gelehrtenkauderwelsch und durch hemmungslose Sprachmengerei
barbarisierte neuhochdeutsche Schriftsprache des 17. Jahrhunderts. Um die
Mitte des 18. Jahrhunderts begann der Umschwung. Äußerungen von
Schweizer Seite, wie etwa die anfangs angeführte von Zimmermann, ge¬
hörten um diese Zeit schon zu den Seltenheiten. Die Schweizer Autoren
gingen jetzt gewissermaßen aus ihrer Verteidigungsstellung heraus. Es han¬
delte sich für sie nicht mehr nur um den Anspruch, auf eigenem Gebiete
Bewährtes und Geschätztes aus der eigenen Mundart in die Schrift aufneh¬
men zu dürfen. Sie gehen vielmehr zum Angriff über gegen die „diktatori¬
sche Dreistigkeit" Gottscheds 1 . Bodmer schreibt 1746: „Ich habe mit allem
meinen Nachsinnen noch keinen tüchtigen Grund ausfinden können, warum
eben der Meißner Dialekt die Herrschaft haben sollte". Die Schweizer nah¬
men den Kampf auf gegen die schulmeisterliche Schablone, wie sie vor allem
der norddeutsche Sprachpapst Gottsched vertrat, für den lebendigen Sprach¬
gebrauch gegen Drillgrammatiker und Lexikographen, für die sinnliche
Kraft der aus der Mundart „Machtwörter" schöpfenden Sprache an Stelle
einer papiernen. Die Sprache der Leidenschaft stehe über den Regeln; eine
These, würdig des Landes eines Rousseau, eines Haller. Dieses Sprach-
programm der Schweizer fand besonders bei Herder begeisterte Unter¬
stützung. Die deutsche Literatur begann auf die Vorzüge der schweizeri¬
schen Sprachsonderheiten aufmerksam zu werden, auf das alte Erbgut, das
sich dort in der Stille bewahrte, auf die sinnliche, anschauliche Art einzelner
Wörter und Wortweiterbildungen. Der Aufschwung der deutschen Schrift¬
sprache in der klassischen Periode der deutschen Dichtung ist ohne den
schweizerischen Spracheinfluß kaum denkbar. Dies wird heute von deutschen
Sprachforschern meistens auch anerkannt. „Durch die Schweizer wurde der
Volkssprache der Eintritt in die Literatursprache zurückgewonnen" (E. Wilke
in seiner Wortkunde) ; „daß aus der Sprache der Dichtung Freiheiten der
i) Der Gottschedianer Christoph von Schönaich kritisierte in seinem 1754
erschienenen Buche „Die gajize Ästhetik in einer Nuß 44 heftig die Sprache
der Schweizer. Von Haller sagte er in einem Epigramm: „Ach wollt* ihn
einer nur ins Deutsch erst übersetzen/'
160
Wortfügung, Kraft und Fülle des Ausdruckes nicht ganz verbannt wurden,
danken wir den Schweizern" (Stephan Wätzold).
In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts kann man geradezu von einem
Schub schweizerischer Einwanderer in das deutsche Wortreich sprechen.
Dieser Schub wurde begünstigt durch die Vorliebe deutscher Klassiker für
Reisen in die Schweiz (Klopstock, Wieland, Goethe), besonders auch durch
die brieflichen Beziehungen, die die Klassiker mit führenden Persönlichkeiten
des schweizerischen Geisteslebens (Bodmer, Lavater) pflegten. An der Ein¬
gewöhnung Schweizer Wörter ist begreiflicherweise auch Schillers Teildrama
wesentlich beteiligt. Eine zweite Hauptperiode der Beeinflussung des neu¬
hochdeutschen Wortschatzes durch das Schweizerische knüpft sich an die
Schriften von Gottfried Keller 1 und Conrad Ferdinand Meyer. Gering ist
hingegen die außerschweizerische Sprachwirkung Jeremias Gotthelfs. Wenn
auch bei ihm, wie Walter Muschg jüngstens in seiner meisterhaften Gotthelf-
Monographie zeigte, das ständige Ringen zwischen dem reinen Hochdeutsch
und dem reinen Bernerdeutsch mitunter ein harmonisches Gleichgewicht her¬
stellt, so wirkt das Mundartliche bei ihm doch im allgemeinen eben als
mundartliche Zutat und wird nicht wie bei Keller zur Bereicherung des
Hochdeutschen verwendet.
Und nun wollen wir einige Beispiele von Wörtern geben, die aus dem
Schweizerischen Eingang in die neuhochdeutsche Schriftsprache gefunden
haben. Wobei wir absehen wollen von jenen Wörtern, die sich auf die
Alpenwelt beziehen (wie A1 m und Senne, Firn und Kamm, Föhn
und Bise, Gletscher und Lawine, rodeln und jodeln usw.),
denn daß solche Wörter der Schriftsprache durch das Oberdeutsche geliefert
werden, ist ebenso selbstverständlich, wie daß das Plattdeutsche die auf
i) Die bei Gottfried Keller vorkomenden schweizerischen Wörter
hat Franz Blume 1928 zusammengestellt. Er führt auch zwei Äußerungen
Kellers über die Verwendung von Mundart in der Dichtung an. 1875 schreibt
Keller an Emil Kuh über Fritz Reuter: „Durch solche energische Geltend¬
machung der Dialekte wird das Hochdeutsch vor der zu raschen Verflachung
bewahrt.“ Drei Jahre später meint er — angesichts Theodor Storms „Renate“
— doch, „daß etwas Barbarisches darin liege, wenn in einer Nation alle
Augenblicke die allgemeine Hochsprache im Stiche gelassen und nach allen
Seiten abgesprungen wird, so daß das Gesamtvolk immer bald dies, bald jenes
nicht verstehen kann und in seinem Bildungssinn beirrt wird... Natürlich
gewinnt die gesamte Nationalsprache, wenn die Stämme und Provinzen ihre
Idiome kultivieren und festhalten; aber ich glaube, man solle die Übung den
Quernaturen überlassen, welche nicht anders können, selber in seinem Hause
alle möglichen Dialekte sprechen, aber schreiben in der einen und allgemeinen
Sprache, wenn man sich dieser einmal gewidmet hat.“
161
11 Storfer • Sprache
Meer und Schiffahrt bezüglichen Wörter wie Ebbe und Klippe, Flotte und
Flagge, Teer und Tran usw. beisteuert.
ABGLANZ wurde 1750 von Bodmer gebildet. In seinem Noah trägt
eine Bildsäule die Inschrift: Kniet vor dem Abglanz der Gottheit. Der schon
erwähnte Gottschedianer Schönaich fragte zwar höhnisch, was „Abglanz'*
denn sei, das Wort drang dennoch in die Schriftsprache, besonders in die
dichterische, ein und kommt auch bei Goethe vor („Am farbigen Abglanz
haben wir das Leben").
ABSCHÄTZIG, im Sinne von geringschätzig 1431 in Graubünden be¬
legt, in der Züricher Bibelübersetzung 1548 gebraucht, wurde durch Wie¬
land auf genommen, gelangte aber erst im 19. Jahrhundert in den allgemei¬
nen Gebrauch. (Nach Fritz Mauthner ist abschätzig eine Lehnübersetzung
von französisch deprecie.)
ABWASSER, das ursprünglich jedes von Mühlen, Brunnen, Teichen usw.
abgeleitete Wasser bedeutete und erst im 19. Jahrhundert abschätzig wurde,
d. h. hauptsächlich von Ortschaften, Fabriken usw. abgeleitetes Schmutz¬
wasser zu bezeichnen begann, wurzelt zwar nicht in schweizerischen Mund¬
arten allein, sondern in den alemannisch-schwäbischen überhaupt, jedoch ist
die Einführung des Wortes in die allgemeine deutsche Schriftsprache einem
Schweizer zuzuschreiben, dem Leonhard Thurneisser, der 1612 in Straßburg
ein Buch „Von Wassern" veröffentlichte.
ANHEIMELN gehört erst seit den 80er Jahren der hochdeutschen
Schriftsprache an. Im Jahre 1837 konnte der Appenzeller Mundartforscher
Tobler noch stolz fragen: „Wie gibt der Hochdeutsche das oberteutsche
heimelig, anheimeln, anheimlich wieder?" Die Grundbedeutung des schwei¬
zerischen Wortes heimeln, anheimeln ist: angenehmerweise an die Heimat
erinnern. Die Bedeutung der oberdeutschen Endung -ein ist: nach etwas
riechen oder schmecken (z. B. hundein, wildein, säuerlen, fischelen,
fleischelen, räuschelen, böckelen, füchselen). „Etwas heimelt mich an" be¬
deutet also: es wirkt mit seinem Wesen (seinem Geschmack, seinem Geruch)
so angenehm auf mich, daß ich mich wie zu Hause fühle. Die Vermittlung
dieses oberdeutschen, besonders schweizerischen Zeitwortes in die hochdeut¬
sche Schriftsprache dürften Auerbachs Schwarzwälder Geschichten besorgt
haben.
ANSTELLIG war in der deutschen Schriftsprache noch ganz unbekannt,
als Lavater 1772 in seinen Physiognomischen Fragmenten es empfahl: „Eine
brave wackere Tatfraue, entschlossen und fruchtbar . . . Eine Hauptfrau
<
162
anstellig und angriffig. Im Vorbeigehen zu sagen: dürfte ich nicht diese gut
schweizerischen Wörter zur Naturalisierung empfehlen, liebe mannhafte
Deutsche?” Und von „anstellig” sagt er noch: „ein Schweizerwort, die Ge¬
schicklichkeit mancherley Dinge gut einzurichten und anzuordnen und sich
in alles leicht zu finden.” Dieser Sinn deckte sich offenbar mit dem von
Luther verwendeten Eigenschaftswort ausrichtig, und daher eignete sich
anstellig dazu, das Fremdwort agil zu verdrängen und als Übersetzung von
lateinisdi habilis zu dienen. Schiller bedient sich bereits im Teil des neuen
Wortes und legt es dem Vogte in den Mund: „Das ist ein schlechtes Volk,
zu nichts anstellig, als das Vieh zu melken und faul herumzuschlendern auf
den Bergen.” Bei Jean Paul lesen wir von „der Frau feineren, zarteren,
anstelligeren Hand”.
AUFBEGEHREN ist erst im 19. Jahrhundert durch Schweizer Autoren
in die deutsche Literatursprache eingeführt worden. In der Schweiz aber ist
das Zeitwort bereits für das 16. Jahrhundert belegt. Die älteste Stelle datiert
1582: „wer aufbegehren wolle, solle zuerst seine Schulden bezahlen”. Man
unterscheidet zwei Bedeutungen: die Auflehnung des Untergebenen gegen
den Höheren, das Trotzen, Widersprechen, Sich-zur-Wehr-setzen gegen Zu¬
mutungen auf der einen Seite und anderseits das heftige Aufbrausen, das
Wettern des Vorgesetzten dem Untergebenen gegenüber 1 . Im Schweizer¬
deutsch ist „aufbegehren” zu unterscheiden von „auf begehren” = begehren,
auf zu sein, d. h. aufstehen wollen. Daher das Wortspiel: er bigert gern uf,
nur nüd ame Morge früh. Daß das Zeitwort aufbegehren mit „begehren”
verwandt ist und zur Sippe gern, gierig, Begierde, Geiz gehört, ist nicht
ganz sicher. Schmeller bringt es mit „gären” in Verbindung. In den bild¬
lichen Ausdrücken aufbrausen, auf wallen hätten wir schließlich auch Ana¬
logien. Man vgl. übrigens auch bei Goethe im Werther: „Ein Volk, das
unter dem unerträglichen Joch eines Tyrannen seufzt,... wenn es endlich
aufgärt und seine Ketten zerreißt."
ENTSPRECHEN im heutigen Sinne gehört noch keine zwei Jahrhunderte
dem Schriftdeutsch an. Es kommt zwar schon im Mittelhochdeutschen vor,
bedeutet aber dort einfach antworten, erwidern. Im Französischen hatte
repondre aber auch den abstrakten Sinn „gemäß sein” bekommen, und in
diesem Sinne gab es im Deutschen das Fremdwort respondieren. Das Ale¬
mannische schuf sich aber eine Übersetzung des französischen Ausdrucks,
und so entstand der moderne Sinn von entsprechen (Geiler von Kaisersberg:
i) Bei Jeremias Gotthelf kommt redensartlich vor: aufbegehren wie ein
Häftlimacher, wie ein Bürstenbinder.
I &3
u*
„die Getät und der Nam sollen einander entsprechen''). Den alemannischen
Ausdruck griff der junge Wieland während seines Aufenthaltes in der
Schweiz auf. „Nie hat eine Gestalt den inneren Vollkommenheiten mehr
entsprochen", sagt er über die Episteln des Horaz in der Zueignung seiner
Übersetzung. Gottsched und seine Schule bekämpften lebhaft das neue
Wort, es wurde als lächerliches Modewort mit dem Bann belegt, aber bei
Lessing fand es (1759) Schutz: „Dieses entsprechen ist itzt den Schweizern
eigen und nichts weniger als ein neu gemachtes Wort." Heute könnten wir
das Zeitwort entsprechen gar nicht mehr entbehren, es sei denn, wir hätten
ein anderes, das ihm genau — entspricht.
MACHENSCHAFT ist in der Schweiz bis in die Mitte des 18. Jahrhun¬
derts zurück verfolgbar, und zwar hatte es zunächst die Bedeutung: Kon¬
trakt, Vereinbarung, Vergleich. Vielleicht ist die weitere Bedeutungsent¬
wicklung durch lateinisch machinatio beeinflußt. Im Bernischen lautete das
Wort auch Machetschaft. Es bekam erst später den Sinn üble Praktiken,
böswilliges, heimliches Tun. (Für dieses Verhalten gebraucht übrigens
Jeremias Gotthelf den auch bei Hans Sachs und Thomas Murner vorkom¬
menden Ausdruck „unter dem Hütlein spielen", was vielleicht auf Prak¬
tiken von Betrügern im Karten- oder Würfelspiel zurückgeht.) An der Ein¬
führung des Wortes Machenschaft in das Schriftdeutsch sind besonders
Lavater, Gottfried Keller und Johannes Scherr beteiligt.
TAGEN im Sinne von „Tag werden" war von jeher allgemein deutsch;
im Sinne von „eine Verhandlung abhalten" ist das Wort aber schweizerisch
und gelangt erst Ende des 18. Jahrhunderts in die deutsche Schriftsprache.
In Schillers Teil kommt das Wort mehrmals vor (z. B. „so laßt uns tagen
nach den alten Bräuchen"). Aus der Schweiz kommt später auch vertagen =
den Zeitpunkt einer Verhandlung verlegen. Vertagen verdrängte das bis
dahin in der deutschen Amtssprache übliche ajourner. („Vertagen" gab es
allerdings auch im Mittelhochdeutschen, aber im Sinne „einen Gerichtstag
ansetzen", und dieses ältere „vertagen" war bereits verschollen, als das Wort
am Ende des 18. Jahrhunderts aus der Schweiz mit neuer Bedeutung in die
Schriftsprache drang.)
STAUNEN ist kaum zweihundert Jahre Schriftdeutsch, indes „erstaunen"
bereits 1529 im Züricher Neuen Testament vorkommt. Der berühmte
Schweizer Arzt, Botaniker und Dichter Albrecht von Haller gebraucht das
Zeitwort 1730 mit einer erklärenden Fußnote: „träumend vor sich hin-
blicken" („dieses alte schweizerische Wort behalte ich mit Fleiß; es ist die
Wurzel von erstaunen und bedeutet rever, ein Wort, das mit keinem anderen
164
r
eegeben werden kann.") Auch Hebel verwendet 1803 mundartlich stune
jm Sinne: träumend vor sich hinblicken. Das Schweizerische hatte das
Zeitwort offenbar aus Frankreich: neufranzösisch etonner, altfranzösisch
estoner (von vulgärlateinisch ex-tonare = herausdonnern, dem das grie¬
chisch-lateinische tonos, tonus = Ton 1 zugrunde liegt, der ursprüngliche Sinn
von etonner ist: erschrecken, gleichsam wie vor einem Donnerschlag). Ob¬
schon der vorwiegende Gebrauch von „erstaunen" im Deutschen eine Präpo¬
sition vorsieht („über etwas erstaunen"), bricht auch im Deutschen gelegent¬
lich der französische transitive Charakter durch, und „erstaunen" bedeutet
dann „jemand in Erstaunen versetzen". So schreibt z. Goethe einmal: „diese
Übereinstimmung, die einen jeden erstaunen muß." Und Rückert: „eines
hat mich oft erstaunt." Bei Mörike heißt es: „Des Mädchens Anblick hat
mich erstaunt." Und in jüngster Zeit Will Vesper in seiner Parzival-
Bearbeitung: „manch Wunder, das mich erstaunte." Der Grammatiker, der
gegen einen Satz in der Modebeilage der „Neuen Zürcher Zeitung" vom
11 . Juni 1933 („der Prinz erstaunte die Welt dadurch, daß er...") Ein¬
spruch erhob, dürfte durch den Hinweis auf jene klassischen Vorbilder
beruhigt worden sein. Bemerkenswert ist auch der Gebrauch von staunen
mit Dativ, z. B. bei Goethe („ich staune dem Wunder"), Voß, Uhland.
UNBILL kommt zwar schon 1573 in Fischarts Flöhhaz vor, setzt sich
aber erst dank Albrecht von Haller durch; „ein allerliebstes Wort", spottet
1754 der schon erwähnte Gottschedianer Christoph von Schönaich, „wir
sind noch nicht so weit, es zu verstehen".
UNENTWEGT, in Deutschland durch Jeremias Gotthelf (Schulden¬
bauer 1854) und Gottfried Keller (Züricher Novellen 1878) bekannt
geworden, kommt vom schweizerischen Zeitwort entwegen = vom Platze
bewegen. Um 1870 begann das schweizerische Wort unentwegt (zunächst
als Spottwort gegen spießbürgerliche Politiker) in die deutsche Zeitungs¬
sprache einzudringen, und es gehörte zum ständigen Repertoire säuerlicher
Pedanten, die unter dem Vorwand, Sprachdummheiten zu bekämpfen, über
alles Lebendige den Schulmeisterbakel schwangen, auch gegen das „lächer¬
liche Modewort unentwegt" unentwegt zu wettern.
i) Es darf nicht verschwiegen werden, daß einzelne deutsche Vertreter der
vergleichenden Indogermanistik sich dieser Ableitung von staunen aus dem
Französischen (zu griechisch tonos) widersetzen und sich lieber an eine indo¬
germanische Urwurzel stu = steif sein, starr sein halten, so daß dann staunen
zur großen Sippe stehen, gestehen, verstehen, Anstalt, starren, Stamm, stützen,
Stollen, Staude, Stall, Stunde gehören würde.
i6s
Aus der Fülle der Wörter der neuhochdeutschen Schriftsprache, die aus
der Schweiz stammen, seien zum Schluß noch angeführt: Abbild (wird
durch Hallers Ode „Doris“ 1730 bekannt 1 , aber das Deutsche Wörterbuch
von Hermann Paul nimmt das Wort auch in die Ausgabe 1935 noch nicht
auf), Abhang, sich aufbäumen (in der Zürcher Bibel 1530 „uf-
bäumen“ mit der eigentlichen Bedeutung: sich in die Höhe richten wie ein
Baum), aufwiegeln (Luthers „erregen“ verstand man in der Schweiz
nicht, das schweizerische ufwiggle gelangte in die Schriftsprache zuerst in
die Form auf wickeln, so auch in Bodmers Miltonübersetzung 1732, das
Zeitwort gehört aber nicht zu „wickeln“, sondern zu „Weg“, „bewegen“),
Augenschein, Ausmaß (fehlt in den meisten Wörterbüchern, so
z. B. bei Grimm, Heyne, Weigand und wird im Jahrgang 1936 der „Mut¬
tersprache“ — sowohl was die Verwendung im wörtlichen als die im über¬
tragenen Sinne anbelangt — als „Modewort“ abgelehnt), bildsam,
Ehrenmann (diese Lehnübersetzung von lateinisch vir honestus taucht
zuerst Ende des 15. Jahrhunderts in schweizerischen Texten auf und ver¬
breitet sich dann von dort zunächst nur im oberdeutschen Sprachgebiet),
erschweren, Faulpelz (s. dieses Stichwort in „Wörter und ihre
Schicksale“), Fehde (nach etwa zweihundertjährigem Todesschlaf 1732
von Bodmer neu belebt), geistvoll, Heimweh, kernhaft, Pro¬
porz, Putsch (vgl. dieses Stichwort im ersten Teil dieses Buches),
Stichentscheid, Töchterschule, verzetteln, Vorspie¬
gelung, Wächter, Zerwürfnis.
i) „Wie angenehm ist doch die Liebe / Erregt ihr Abbild zarte Triebe /
Was wird das Urbild selber sein?" — Von Börne wird das Hauptwort Ab¬
bild, das bei Adelung als „ungewöhnlich“ gekennzeichnet wird, mit Vorliebe
gebraucht.
166
Aus dem Wortschatz des Wieners
Abbetiteln
gebraucht der Wiener meistens im antiphrasischen Sinne. (Antiphrase
nennt man in der Stilistik die Ironie, die sich der gegenteiligen Aussage
bedient; sie liegt z. B. vor, wenn man jemand, dessen Gebaren alles eher
denn sauber ist, einen sauberen Herrn nennt, oder wenn man statt „fällt
mir nicht ein, es zu tun"' sagt: „ich kann mich beherrschen" oder „ich
bin nicht so vergnügungssüchtig".) Wenn der Wiener also sagt, etwas
könne ihm abgebettelt werden, so will er gewöhnlich ausdrücken, daß
er das Betreffende überaus gerne hergeben oder tun möchte. Die kunnts mir
ohbeddln, sagt der „Biez", der Vorstadt-Dandy, zu seinem Begleiter von
einem vorübergehenden Mädchen, das ihm gefällt; er darf es nur nicht zu
laut sagen, sonst könnte er bei der Dame, wenn sie den liebenswürdig
gemeinten Ausdruck als zynisch empfindet, sich selbst „ane ohbeddln", d. h.
sich eine Ohrfeige zuziehen. Auf Ohrfeigen bezieht sich auch die gebräuch¬
liche Wendung: wannst ka Ruah gibst, wirst mir no ane ohbeddln.
Äußerin
oder äußerl gehn (Hügel, 1847, schreibt: eiserl gehn) = den Hund ins
Freie führen, damit er seine Notdurft verrichte. Die Stunde des Äußerin
nennt man scherzweise die Zeit vor 10 Uhr abends, in der man gewöhnlich,
knapp vor Haustorschluß, die Hunde zum letztenmal auf die Straße führt.
Man sagt auch vereinfacht: der Hund hat geäußerlt (paradoxerweise: „der
Hund hat schon drinnen geäußerlt"). Es gibt auch die Scherzbezeichnung
„Ministerium des Äußerin" für jenen verschwiegenen Ort, in dessen man¬
nigfaltiger, euphemistischer Umschreibung alle Sprachen einfallsreich sind.
Gelegentlich gebraucht man „äußerin" scherzhaft übertragen auch vom
Menschen im Sinnne von: spazieren gehen. So sagte einmal die berühmte
Schauspielerin Gallmeyer, als sie anläßlich eines französischen Gastspiels
eine Zeitlang pausieren mußte: „Da können wir halt äußerin gehen."
167
Bahöll
oder Pachöll (meist in der Verbindung mit machen, z. B. „machens kan
Pahöir) bedeutet Lärm, Geschrei, Tumult. Der Bemerkung Prof. Hintners
„außer die Mauern der Stadt Wien scheint das Wort nicht gedrungen zu
sein", ist entgegenzuhalten, daß Unger-Khull das Wort in den Formen Pa-
hele, Pachöll, Bachöll 1903 auch als steirisch anführt. Nicht weniger als vier
Etymologien liegen für das wienerische Bahöll vor: 1. eine germanische,
2. eine romanische, 3. eine hebräische und 4. eine magyarische.
1. Grienberger sieht in Bahöll eine Versteifung des Fluches bi heile (bei
Hölle), ähnlich wie im Falle bigott (aus „bei Gott", wobei aber zu bemer¬
ken ist, daß diese Deutung von „bigott" mit Recht angefochten wird). We¬
der der vorauszusetzende Lautwandel von bi helle zu Bahöll, noch die Be¬
deutungsentwicklung von einer Fluchformel zur Bedeutung Tumult ist sehr
wahrscheinlich.
2. Eduard Pötzl, der Wiener Lokalhumorist der Vorkriegsjahrzehnte, der
sich über den Wortgebrauch des Wieners oft Gedanken gemacht hat, leitete
Bahöll von französisch bahuter = lärmen ab, aber auch hiefür müßten Be¬
weise erst beigebracht werden.
3. Hintner identifiziert Bahöll mit hebräisch behala = Schrecken, Be¬
stürzung, Lärm (Lev. 26, 16. Ps. 78, 33. Jer. 15, 8). Um diese hebräische
Herkunft des wienerischen Wortes glaubhaft zu machen, müßte das he¬
bräische Wort erst im Judendeutsch oder im Rotwelsch, der deutschen
Gaunersprache — das wären die beiden nächsten Vermittlungsmöglichkei¬
ten — nachgewiesen werden.
4. Vollkommen aus der Luft gegriffen ist die Angabe J. Jacobs in sei¬
nem 1929 erschienenen Wörterbuch des Wienerischen, Bahöll käme von
ungarisch päholni = hauen, prügeln.
Wir müssen uns damit abfinden, daß eine befriedigende Etymologie von
Bahöll noch aussteht. Es würde mich nicht überraschen, wenn bei fort¬
schreitender Erforschung der oberdeutschen Mundarten sich genügend Be¬
lege dafür einstellen sollten, daß es sich bei Bahöll einfach um ein laut¬
malerisches Volkswort handelt.
Blaazen
bedeutet (mit verächtlichem Beigeschmack) weinen, heftig weinen, plötz¬
lich in Weinen ausbrechen. Der ursprüngliche Sinn in der österreichischen
Mundart ist: blöken (vom Rind und vom Schaf). Ein Sprichwort lehrt:
blatzete Küah vergeßn am liabsten eanere Kaibln. Im derb übertragenen
r
i
Sinne wird blaazen auch für singen gebraucht. So heißt es 1817 in den Brie¬
ten des neuen Eipeldauers: „schon blatzen’s d c Wäschertrampeln beim
Wäschaufhenken". Aus blaazen gebildet ist das Hauptwort G’blaaze und das
Eigenschaftswort blatzed. Ein leicht zum Weinen neigendes Mädchen ist a
blatzadi Gredl. .
Blad
bedeutet dick und wird besonders von Menschen gesagt. „A bladi Blunzen"
stellt eine doppelte Charakterisierung dar, denn schon Blunzen allein
(eigentlich Wurst, besonders Blutwurst) bedeutet im übertragenen Sinne
ein dickes Kind oder eine dicke Frau.
Die sprachliche Herkunft des Wortes blad ist nicht ohne weiteres erkennt¬
lich. Keineswegs ist es eine lautliche Variante von brat (breit), noch ist es
eine Abzweigung von blöd, zumal da blöd ursprünglich durchaus nichts
„Blades" bezeichnete, vielmehr die Bedeutung gebrechlich, zaghaft, unbe¬
haglich hatte. Blad ist nichts anderes als das Partizip „g e b 1 ä h t", das in
der Mundart sich zu einem selbständigen Eigenschaftswort verdichtet hat.
Für diesen Vorgang gibt es auch in der Schriftsprache reichlich Beispiele,
wie etwa dick aus gediehen, dünn aus gedehnt, drall aus gedreht usw.
Gflickt
oder gsteppt bedeutet blatternarbig. In dem sein Gsicht steckt an Arbeit,
sagt man spöttisch von einem Blatternarbigen. Gflickter oder Gsteppter
kommt häufig als Beiname in Unterweltskreisen vor („der gflickte Ferdl").
Eine Quelle aus 1905 verzeichnet für ein blatternarbiges Gesicht auch den
Ausdruck „jüdischer Friedhof" („nämlich nur kleine Hügel und Täler,
aber keine Kreuze"). Ein anderer wienerischer, der Herkunft nach wohl
ländlicher Ausdruck zur Bezeichnung eines Blatternarbigen: auf den hat der
Teufl Arwes droschen (Erbsen gedroschen 1 ).
i) Auch im Badischen: uff dem hett der Deufel Ärbse ussdrosche. Ähnlich
lautet ein in Ostpreußen übliches Gleichnis: er sieht aus, als wenn der Teufel
Bohnen auf ihm gedroschen hatte, — es wird aber mehr auf jemand bezogen,
der schlecht gelaunt ist. Man vgl. auch die berlinische Apostrophierung des
Blatternarbigen: dir hamse woll mit Kirschkuchen jeschmissen. Auch heißt es
dort von ihm, er] sei mits Jesichte ufn Rohrstuhl jesessen. In Schlesien: er hot
an Frotze wie a Berliner Steenflaster. Sächsich: der mit sein’ ausgeknaupelten
Kärschkuchengesicht. In Lützelflüh (Berner Oberland) heißt e plaaterigs oder
plaatere-hipflets Gsicht auch: es* bäsewuurfets. Man spricht sonst auch vom
abgeknabberten Kirschkuchengesicht, und in manchen Gegenden Deutschlands
heißt es vom Blatternarbigen, er sei mit dem Gesicht in die Erbsen gefallen.
169
I
Die Blatternkrankheit selbst heißt übrigens in Wien nicht nur Bladdern,
sondern auch Bockerl (von Pocken). Für heftig erschrecken sagt man: „die
Bockerlfraas kriagn" (Fraas von Freisen, althochdeutsch freisa = Gefahr,
Schrecken).
Gizzi
Ein sonderbares Wort ist das wienerische Hauptwort Gizzi = Ärger, ver¬
haltener Zorn. Mayr (1902) definiert: „Wort, das der Schuljunge anwen¬
det, wenn er einerseits bei dem andern einen im Entstehen befindlichen Un¬
willen vermutet, anderseits aber nicht ansteht, dieses aufkeimende Gefühl zu
Zornesflammen anzufachen. Er fragt ihn dann: Hast an Gizzi?" Mit
Recht stellt Schranka 1905 fest, daß zu dieser Neckfrage auch eine be¬
stimmte reibende Handbewegung am Kinn gehört. Der Sinn der Frage und
der Gebärde ist gewissermaßen: „Zeige doch deine Wut, es gelingt dir doch
nicht, sie zu verbergen!"
Wenig befriedigend sind die gewöhnlich vorgebrachten Etymologien für
Gizzi * 1 . Der Hinweis auf italienisch guizzo = Zappeln (z. B. bei Jacob 1929)
ist fast so unbegründet wie die Hypothese einer substantivierenden Ver¬
schmelzung von „gift(et) sich". Es wäre auch an das veraltete österreichi¬
sche Wort „der Gidi" = Aufregung, körperliche Verwirrung, zu denken,
das Höf er 1815 anführt („es kommt mir der Gidi, so oft ich in dem Thea¬
ter auf treten muß") und nicht nur neben englisch giddy = schwindlig, son¬
dern kühn auch neben griechisch gyion = Glied, gyioein == die Glieder
brechen, und neben hebräisch gid = Nerv stellt. Auch muß es auffallen,
daß Gizzi im Wienerischen ein Synonym hat, das lautlich anklingt: Der
Biez 2 oder Bitzl ist ein plötzlich auftretender, aber nicht gerade heftiger Zorn.
Er ist bitzli = er ist leicht reizbar; es steigt ihm gleich der Bitzl. Bitzlbalg
ist ein reizbares Kind. Bitzlgeher oder Bitzlreiter nannte man früher eine n
Soldaten, der stets unzufrieden ist und nörgelt. Dieses „Biez" leitet sic h,
Im französischen Argot ist das blatternarbige Gesicht: poele ä marrons
oder ä chätaignes, Pfanne mit Kastanien, grenier ä lentilles, Linsenkammer,
moule ä gaufres, Waffelkuchen oder morceau de Gruyere, ein Stück (löchri¬
ger) Schweizerkäse; auch ne pas s’etre fait assurer contre la grele (sich gegen
Hagel nicht versichert haben lassen) ist eine Metapher für das blatternarbige
Gesicht.
1) Die Vermutung von M. Mayr „Gizi könnte von dem alten gehiuze =
Lärm, Aufregung hergeleitet sein“ entbehrt jeder Grundlage.
2) Das auf S. 167 im Sinne von Vorstadt-Dandy gebrauchte Biez scheint
auch zu Biez, Bitzl = Zorn zu gehören. Den Übergang zum Begriff Stutzer
liefert wohl die Vorstellung des Schneidigen, Draufgängerischen.
170
r
ebenso wie das Wort „bitter", wohl vom Zeitwort „beißen“ ab 1 (man
denke an die übertragene Bedeutung von „bissig“ und „Bißgurn“), aber
zwischen „Biez“ und „Gizzi“ läßt sich schwer eine etymologische Brücke
schlagen.
Meines Erachtens geht der Ausdruck Gizzi auf den Zuruf zurück, mit
dem Kinder Ziegen rufen, locken, necken. Der süddeutsche Name der
Ziege ist Geiß, welches Wort mit „Ziege“ wahrscheinlich irgendwie ver¬
wandt ist. Das schweizerische Gitzi = Zicklein dürfte früher einmal im
ganzen oberdeutschen Sprachgebiet, also auch in Österreich, die Bezeich¬
nung der jungen Ziegen gewesen sein. 2 In der Schweiz ist auch noch der
Lockruf Gitzi erhalten geblieben. So verzeichnet z. B. das Schweizerische
Idiotikon aus Graubünden den Lockruf „gitzi gä gä“: bei entsprechender
Fingerhaltung, zunächst an die Ziegen, um sie zum Stoßen zu reizen, dann
aber auch, verbunden mit der Gebärde des Rübenschabens, an Menschen
gerichteter Zuruf oder Ausdruck der Schadenfreude. Die Ähnlichkeit in
der Anwendung jenes graubündnerischen Neckrufes und in der des wiene¬
rischen Ausdrucks ist augenfällig. Vielleicht darf man auch in der wiene¬
rischen Handbewegung am Kinn, die in der Reizfrage das Wort begleitet,
eine Spur der Ziegenbartverspottung sehen. Zur Stützung dieser Erklärung
des wienerischen Wortes Gizzi aus der Verspottung und Reizung der Ziege
sei noch daran erinnert, daß der Sprachgebrauch auch sonst noch Spuren
vom Necken und Verhöhnen der Ziege beim Volke aufweist. Man denke
an das Necken der Schneider durch den Zuruf Mekmek und ihre Darstel¬
lung mit Ziegenbart, auf den judenfeindlichen Ruf Hep Hep (aus Heppe
— Habergeiß) 3 , an den Gebrauch von „Ziege“ als Scheltwort für alte
Frauen im Berlinischen, vielleicht auch an die Bezeichnung „Ziegenpeter“
für die Erkrankung der Ohrspeicheldrüse, wenn nämlich Kluge damit recht
hat, daß dieser Namen sich auf das ziegenartig tölpelhafte Aussehen grün¬
det, das der Erkrankte vorübergehend annimmt.
1) Eine andere Ableitung führt Bitzl = Jähzorn auf das gleichbedeutende
italienische bizza zurück. Webinger meint, daß der Bitzl, der dem Jähzorni¬
gen aufsteigt (auch: „der Bitzl rent eam aufi“) körperlich aufzufassen ist.
Bitz bedeutet im Steirischen: Anschwellung, Stümpfchen und hängt wohl mit
Butz (Schreckgestalt) und Butze (Knospe, verdickte Stelle) zusammen (zu alt¬
hochdeutsch bozzan = stoßen s. S. 123 „Putsch“).
2) Gitzi (= Ziege) heißt im Emmental auch ein unbesonnen dreinfahren¬
des Kind; Übergitzi ein übermütiger junger Mensch; gitzisprung macht, wer
austollt (man vgl. damit die Herkunft von Kapricen und Kapriolen — und
daher auch von Kabriolett — aus lateinisch caper = Ziegenbock).
3) Vgl. das Stichwort „Hephep“ in „Wörter und ihre Schicksale“.
171
Keppeln
Daß keppeln in Wien nörgeln, keifen, einen Streit immer wieder neu be¬
ginnen, bedeutet, muß man dem „Zug’rasten“ aus dem Reiche erst erklären.
Und doch ist dieser Ausdruck altes gemeindeutsches Sprachgut, das der
Schriftsprache und den meisten Mundarten allerdings verlorengegangen ist.
In der Würzburger Landgerichtsordnung von 1618 ist noch zu lesen: Procu-
ratoren sollen sich vor Gericht alles Schmähens, Zankens oder Kippeins ent¬
halten. Und auch im Simplizissimus des Grimmelshausen: sie fingen an mit
uns zu kippeln. Eine niederösterreichische Strophe aus der Biedermeierzeit
lautet: Mein Weiberl ist g'sund, b'sunders 's Brüstel is guet, i g'spürs alle
Tag, wanns mi ankepeln tuet. Ein zänkischer Kerl ist ein Keppelmaster.
Das Wort keppeln hat nichts mit kappen und kippen = abschneiden
(Kapaun = verschnittener Hahn, Kipper = Geldbeschneider, Münzfäl¬
scher) zu tun, wie mitunter vermutet worden ist. Keppeln (mittelhoch¬
deutsch kibel, kivel) ist vielmehr urverwandt mit der Wortsippe kauen
(althochdeutsch kiuwan) und Kiefer (althochdeutsch kewa). Wahrschein¬
lich auch mit keifen; entfernt möglicherweise auch mit Kinn. Es handelt
sich offenbar um eine von der Bewegung des Gebisses selbst bestimmte
Wortwurzel. Keppeln scheint die Iterativform, die das Wiederholen der
Tätigkeit anzeigende Form von „kauen“ zu sein. Der Ausdruck Keppel-
zähne, womit der Wiener scherzhaft die Schneidezähne meint, besonders
diq oberen, wenn sie übermäßig ausgebildet sind und aus dem Mund heraus¬
ragen, scheint die Ableitung von keppeln aus kauen zu bestätigen.
Im Schweizerischen entspricht dem wienerischen keppeln die Lautform
chiben; z. B.: „er het albig eppes (alleweil etwas) z-chiben“; oder „der
Mueters Reden hilft mehr als des Vaters Chiben“.
Eine Nebenform des wienerischen keppeln ist kifeln == nagen; z. B. am
Hungertuch kifeln, oder an Baan o-kifeln (ein Bein abnagen); bei Abraham
a Santa Clara beginnt ein Volkslied mit den Worten: Es küffelt ein Schnei¬
der ein Gaisfuß ab.
Klachel
bedeutet heute einen starken, rohen Jüngling. Wie in vielen Fällen, hat das
Wienerische auch hier einen mittelhochdeutschen Ausdruck lebendig be¬
wahrt, den die neuhochdeutsche Schriftsprache verloren hat. Mittelhoch¬
deutsch kleckel, klechel bedeutete den Glockenschwengel, 1 von
welcher Bedeutung aus dann die Übertragung auf einen plumpen, robusten,
i) InTirol wird Klachö auch heute gebraucht mit der Bedeutung: Glocken¬
schwengel und Ohrgehänge in Tropfen- oder Klöppelform.
172
r
roben Menschen erfolgte. Das Wienerische verfügt auch über die Zeitwör¬
ter klacheln = sich plump bewegen, umaklacheln, umanandaklacheln =
herumschlendern, faul und untätig herumlümmeln, sich hinklacheln, z. B.
sich aufs Sofa hinklacheln. Sehr häufig finden sich alle diese Ausdrücke in
den zur Zeit des Wiener Kongresses vielgelesenen „Briefen des Eipel-
dauers", z. B.: „damit die ehrlosen Klacheln nit vom Volk san todtgeschla-
worden" — „endlich san m'r um ans hamklachelt" — „ein Mensch,
der ’s Ummerklacheln in der Stadt so gwont is" — „in den Theater führn
' nix als Mörder- und Galgenklachelnkomödien auf." Im Ausdruck Galgen-
klachel = Verbrecher spielt wohl angesichts der volkstümlichen Gleichung
Galgenschwengel = Gehenkter auch die ursprüngliche Bedeutung Klachel
= Glockenschwengel mit.
Nicht nur die „Roheit" des Glockenschwengels bietet eine Grundlage
zu einer Bedeutungsübertragung, auch ein anderer Umstand, das Herunter¬
hängen des Schwengels, führt 2u bildhaften Volksausdrücken: für das
bayrische Sprachgebiet verzeichnet Schmellers Wörterbuch für „Klachel"
noch drei Bedeutungen: Hoden (z. B. Widderklächeln 1 ), männliches
Glied 2 , Nasensekret (in Tirol: Rotzklachl).
Analogien für die beim wienerischen Worte Klachel wirksame Bedeu¬
tungsübertragung (von Glockenschwengel zu Rohling) bieten die zu Schelt¬
wörtern gewordenen Gegenstandsbezeichnungen: Bengel (ursprünglich
Knüppel, im Englischen mundartlich bangle = Knotenstock, und in der
deutschen Buchdruckersprache Bengel oder genauer Preßbengel als Bezeich¬
nung der Hebelstange, mit der die Spindel einer Presse angezogen wird),
Flegel (von lateinisch flagellum = Geißel zur Bedeutung Dreschflegel
entwickelt und dann auf einen groben Kerl übertragen) und schweizerisch
1) Mail beachte den holländischen Slangausdruck het Klohkenspel (Glok-
kenspiel) für Hoden. Ein englischer Slangausdruck vergleicht die Hoden mit
den Gewichten einer Pendeluhr: clock-weights. Aus dem Pariser Argot: caril-
lonner ä Pitalienne (nach italienischer Art die Glocken läuten) = sich päde-
rastisch betätigen.
2) Die sprachsymbolische Verknüpfung der Vorstellungen Glockenschwen¬
gel (= Klachel) und männliches Glied ist verschiedentlich belegt. So wird
schweizerisch Ginkel, Güngel, Gingel (für etwas baumelndes, sich hin- und
herbewegendes) auch im sexuellen Sinne gebraucht. Für Frankfurt verzeichnet
Kühlewein 1909 Bimbam = Penis, gleichbedeutend ist in Tirol Gimpelgam-
pel, in Ostpreußen Pimmel, in Waldeck Pümmel, im Elsaß Bimmel oder Klüp-
fel. Unter den Kosenamen, die bei Rabelais die Kinderfrau dem Glied des
jungen Gargantua gibt, kommt auch pendilloche (Pendelchen, Schwengelein)
vor. — Auch die Doppelbedeutung plumper Mensch und Penis, die im Worte
Klachel zu Tage tritt, ist für die Mundarten nicht untypisch. So hat z. B.
dieselbe Doppelbedeutung das bayrisch-österreichische Hallawachl.
173
Hegel (ursprünglich Hagmesser, grobes Klappmesser, geeignet z Um
Hag-, d. h. Strauchschneiden und im übertragenen Sinne Lümmel, Grobian
Fastnachtsnarr, übrigens auch Penis).
7
Pamstig
wird besonders von einer Frucht gesagt, deren Inneres ausgetrocknet
schwammig ist. Der nicht mehr junge Rettich ist pamstig. 1 Anfangs des vori-
gen Jahrhunderts bezeichnete man auch einen unbeholfenen Menschen ah
pamstig: der Kerl is pamsti wie an Radi. Daneben war wohl auch die Vor¬
stellung des Hohlen, lächerlich Aufgeblasenen im Spiel. Fürst Pamstig war
eine Possenfigur, eine Art Serenissimus in einer Komödie, die während des
Wiener Kongresses Abend für Abend im Leopoldstädter Theater gespielt
worden ist. Daher noch in den siebziger Jahren die Redensart: er glaubt
er is der Fürst Pamsti, d. h. so aufgeblasen ist er. Dem Eigenschaftswort
pamstig liegt vermutlich das mundartliche (z. B. bei Lexer als kärntnerisch
verzeichnete) Hauptwort „der Pampf" = teigartige Masse, dicker Brei zu¬
grunde. Daraus wird auch das Eigenschaftswort pampfet und das Zeitwort
pampfen, sich anpampfen = in sich hineinstopfen, beim Essen den Mund
vollnehmen, gelegentlich auch in dem Sinne: mit vollen Backen etwas Heißes
im Mund behalten, bis es abkühlt. Das in Schmellers Bayrischem Wörter¬
buch verzeichnete Pamfili = gefräßiger Mensch zieht wohl den Namen des
heiligen Pamphilius nur wegen des Anklangs an pampfen heran. Pampfen
oder mampfen = mit vollem Mund essen kennt auch das Schwäbische. Un-
ger-Khulls Steirisches Wörterbuch führt auch an: Pampferei oder Pampf-
werk = gieriges, überhastetes Essen. Dieses Dialektwörterbuch scheint übri¬
gens pampfet, pampfig (von Pampf = dicker Brei, der rasch sättigt) und
bamstig = schwülstig, auf geschwollen (von Bamst = Dickbauch) als etymo¬
logisch nicht zusammengehörig auseinanderzuhalten. Sonnleithner, 1824,
leitet pamstig — mehr nach dem Gefühl als mit Begründung — von
„Barns" ab, „einem ausgestopften Sitze oder einem dicken, vollhaarigen
Felle auf dem Sitze des Sattels",
Zu erwähnen wäre noch das berlinische pampig = widerspenstig, 2 das
vielleicht irgendeine weitläufige Verwandtschaft zum oberdeutschen pamstig,
pampfet hat.
1) In gewissen Zusammenhängen hat pamstig auch die Bedeutung weich,
schlapp. So bucht Reiskel 1905 in seinem wienerischen erotischen Glossar den
Ausdruck „bamstige Nudel“.
2) „Zu Anfang darf man nicht zu pampig sein im Bau, mit der Zeit
lernt man dann schon, wo man was riskieren kann“, heißt es in Falladas be¬
kanntem Gefängnisroman; das dort vorkommende Gauneridiom ist dem Nord¬
westdeutschen zuzuordnen.
174
Pflanz
.j t j em Wiener als lächerlich. 1 Dieses männliche Hauptwort bedeutet Prah¬
len oder „großartiges" Auftreten, und zwar ohne Rücksicht darauf, ob jener,
dem dieses verächtlich machende Wort gilt, mit Mitteln protzt, über die er
tatsächlich verfügt, oder ob er durch das „Pflanztreiben" hochstaplerisch
über seine Verhältnisse hinausgeht. Daß der Ausdruck mit „Pflanze" zu¬
sammenhängt, empfindet wohl jeder; nicht ohne weiteres durchsichtig ist
aber wie es zu dieser weitbogig erscheinenden Bedeutungsübertragung ge¬
kommen ist. Den Schlüssel bietet uns das schon abgestorbene alte Zeitwort
si^ pflänzeln" = sich mit Pflanzen schmücken, und allgemeiner: sich
schmücken, putzen überhaupt. In einer alten, in München bewahrten Hand¬
schrift heißt es: auch ire haubter sein gephlentzt, mit krautern, laub und
gras gekrenzt. Bei Sebastian Franck ist zu lesen: „so vil Geschmuck, so vil
Pflanzes." Und Abraham a Santa Clara predigte einmal in Wien zur Tür¬
kenzeit: Das Gotteshaus ist kein Haus, wo die Jesabel sich soll aufpflän-
zeln. In der Kongreßzeit spottet „der Eipeldauer" in einem seiner berühmten
Briefe: da san s' aufpflanzlt und frisiert, als wenn s* glei auf d’ Redutt gehn
wollten.
Im heutigen Wienerisch sind die Formen sich pflänzeln, sich aufpflän-
zeln schon abgestorben, es wird nur noch das Hauptwort „der Pflanz" 2
gebraucht, und zwar meistens in Verbindung mit machen oder treiben.
Daneben gibt es noch das Zeitwort jemanden pflanzen = necken, zum
besten halten. 3 (Damit verwandt ist vermutlich schwäbisch Pflounz = Tadel,
einem einen Pflanz anhenken = ihm einen üblen Ruf machen; in der
1) Felix Weingartner schreibt in einem musikgeschichtlichen Essay: „Der
Wiener hat ein urkräftiges Wort für alles, was etwas zu sein scheint, ohne es
zu sein; es heißt Pflanz.“ Und fügt hinzu, daß er die Absicht gehabt hatte,
eine „Geschichte des Pflanz in der Kunst“ zu schreiben.
2) Aus der Wiener Verbrechersprache: Pflanzmoß = falsches Geld,
pflanzen = Wahnsinn simulieren (nach Max Pollak 1904). Pflanz-
m u r r e r ist ein Scheinstreit, der ein den Taschendieben günstiges Gedränge
hervorrufen soll. In der Hantyrka, der Prager Gaunersprache, bedeutet flanc:
Schwindel, Betrug, Vortäuschung.
3) Mehr noch als im Wienerischen haben die Ausdrücke pflanzen und
Pflanz machen im Schweizerischen übertragene Bedeutungen ange¬
nommen. Zunächst kommt Pflanz oder Pflanz machen wie im Wienerischen
mit der Bedeutung vor: den Vornehmen spielen; z. B. „der macht den Pflanz
nicht übel“, oder „was will der so der Pflanz mache, man weiß ja, was er
isch“. In anderen Fällen sind in der Schweiz unter „Pflänz“ falsche Vorgaben
oder Flausen zu verstehen: mach mer keine Pflänz, si nützed di dermol nüd.
Der Wiener würde in solchen Fällen Faxen oder Schmeh sagen. Nit lange
Pflänz mache, gebraucht der Schweizer wie „nicht viel Federlesens“. In
175
Pfalz: jemand einen Flenzel anhengen, — an ihm etwas aussetzen. Hingegen
kommt das frankfurterische — u. a. bei Friedrich Stoltze belegte_fj aan
zeln, herumpflaanzeln = sich aus Langeweile faul herumtreiben, vermutlich
von flanieren.)
Ramasuri
bedeutet: lärmende Unterhaltung, Unordnung, Gepolter. Die ältere Form
ist Remisori. Sq heißt es z. B. 1814 in den „Briefen des Eipeldauers": Wer
ein rechter Siffling war, der hod sein Remisori tüchti habn kinnen, denn
d' Wein waren unvergleichlich. Eine Übergangsform zeigt das Wort in
einem Gedicht von Castelli in niederösterreichischer Mundart: Au'm Freid-
hof (Friedhof) soan an'm Ab'nd nach'n Sög'n (Segen) — dö Stück’ln
von sein'n Leib zafetzta (zerfetzt) g'lögn — Und voa da Kiachndia (Kir¬
chentür) hods bei da Nacht — durch vieli Jahr a Römassori gmacht. Hier
bedeutet Ramasuri: Spuk, Gespenstergepolter. (Übrigens bucht Josef Sonn¬
leithners 1824 anonym erschienenes Idioticon Austriacum auch ein Zeitwort
ramatten = poltern; Hügels Idiotikon Viennense 1873 bezeichnet dieses
Zeitwort bereits als veraltet.) Schmellers Bayrisches Wörterbuch erklärt
Remasuri: Ausgelassenheit der Kinder und des Gesindes in Abwesenheit
der Eltern.
Ramasuri gehört anscheinend zu jenen Wiener Volkswörtern, die — wie
Ambuschurl = Mundstück der Trompete (embouchure), Adrattär = Ver¬
ehrer (adorateur), schmafu = gleichgültig (je m’en fous) und viele andere
— französischer Herkunft sind. Es gibt ein französisches Hauptwort
ramas = Haufen, Plunder. Das zugehörige Zeitwort ist ramasser. Neben
dem Element re- (zurück, wieder) ist in diesen Wörtern enthalten das latei¬
nische massa = Klumpen, woher mittelbar auch unsere Fremdwörter Masse,
massiv kommen. Ramasser bedeutet französisch sammeln, einheimsen, zu¬
sammenraffen. (Ramasser toutes les cartes heißt alte Karten zusammen¬
raffen; daher auch der Name eines Kartenspiels Rams, Ramsch 1 oder
Ramschl: man hat in diesem Spiel möglichst viele Stiche zu machen.)
Sätzen wie „der Bueb hat nüt as Pflänz in Chopf“ oder „i will der dini
Pflänz scho ustribe“ hat unser Wort die Bedeutung: närrische Einfälle. Ein
Basler „Fastnachtzettel“ des Jahres 1935 beginnt mit der Verszeile: „Trotz
Liedli, Spiel und andere Pflänz..Mit „Mutwillen, Übermut“ ist die Be¬
deutung von „Pflänz“ wiederzugeben in der Redensart: us luter Pflänz nit
wüsse was a-fah (anfangen). Das Schweizerische Idiotikon bucht ferner die
Redensart „einem die Pflanz mache“ = einem schön tun (Graubünden), den
Text lesen, ihn zurechtweisen (Aargau, Schwyz).
1) Auch der in deutschen kaufmännischen Kreisen übliche Aus¬
druck Ramsch ist hier zu nennen. Im Jahre 1911 versieht Schirmers Wör-
Verwandte von „Ramasuri”, d. h. andere Abkömmlinge von französisch
ramas ramasser, finden sich in der schweizerischen Mundart. Man
braucht in der Schweiz ramussiere, ramissiere, ramüsiere (meist z'sämme-
ramüsiere) für zusammenraffen, meist mit scherzhaftem Beigeschmack. Aus
Luzern sind folgende Sprüche aufgezeichnet worden: Der g'hört au ned zu
^ S C henierte, der ramussierti alles mit enander, Dreck und Koriander...
D' Engländer sind nie ful, wenn's a's Ramassiere god. Auf den Namen des
Kartenspiels Rams, das früher, bevor es durch das Spiel Jass (Klaver-Jass)
verdrängt wurde, in der Schweiz stark verbreitet war, spielt die schweizeri¬
sche Redensart an: rams sin (sein) = im Rams verlieren, keinen Stich
nachen, in übertragenem Sinne: geschäftlich zugrunde gerichtet sein oder
schwanger sein.
Scheppern
ln seinem „Judas” schreibt Abraham a Santa Clara: „Herr, seynd wir
Joch dein Geschirr, und wann du an uns schlaegst, wollen wir nicht schep¬
pern, sondern einen guten Klang geben.” Dieses rasselnde Geräusch, das das
verbrochene Geschirr verursacht, scheint das lautmalerische Zeitwort scheppern
ursprünglich zu bezeichnen. Vor Kälte scheppern einem die Zähne, vor
Angst die Knie, vor Müdigkeit die Knochen, in Aufregung spricht man mit
gscheppreter Stimme. Ein altes Klavier, eine schlechte Schreibmaschine, ein
terbuch der Kaufmannssprache das Wort Ramsch mit dem Vermerk „fast
nur norddeutsch“. Aber schon Schmellers Bayrisches Wörterbuch führt das
Zeitwort ramschen (zamramschen) = raffen und das Hauptwort Ramsch =
ungeordneter Haufen. Den Eingang in die allgemeine Umgangssprache fand
aber dieses Volkswort wohl durch Vermittlung der Kaufmannssprache
und da mag es zutreffen, daß diese sich zuerst in ihrem norddeutschen Be¬
reiche des Ausdrucks bemächtigt hatte. Neuerdings hat das Wort im ganzen
deutschen Sprachgebiet Aufnahme in die Umgangssprache gefunden. In ein¬
zelnen Wirtschaftszweigen, z. B. im Buchhandel, ist es geradezu ein Fach¬
ausdruck geworden und selbst in gerichtlichen Entscheidungen ist davon die
Rede, ob und wann ein Verleger befugt sei, die Vorräte ohne Verletzung der
Interessen des Verfassers zu „verramschen“. Die Ableitung von Ramsch aus
französisch ramas, ramasser ist übrigens nicht unbestritten. Man hat auch auf
das hebräische Wort ramuz (= Betrug) hingewiesen, das in der deutschen
Gaunersprache, dem Rotwelsch, in der Form des Zeitwortes ramschen ==
betrügen fortgelebt haben soll (daher Ramsch = Diebserlös, Ramschkone =
Hehler). Eine andere Erklärung führt zum mittelniederdeutschen Ausdruck
*,in rampe“, das bedeutet etwa: in Bausch und Bogen. 1663 wird „Ramp“
jedenfalls definiert als „eine Menge bunt zusammengewürfelter Sachen“. (Mit
Kwimpe = Erdaufwurf, Auffahrt, das — zunächst als Fachausdruck des Fe-
M'ungbaus — aus dem Französischen entlehnt ist, hat dieses norddeutsche
„Ramp“ nichts zu tun.)
12 -Storfer . Sprache
177
ausgedientes Taxi scheppert, Münzen und Schlüssel scheppern in der
Tasche. In einem Schnadahüpfl heißt es: Zwo kuaschwarzi Rösser j a sche-
barnda Wagn / das ist ja mei Bueberl j i kenn erhm in Fahrn. Ein Geschep.
per auf dem Pflaster verursacht der lange Säbel („die Dragoner mit de
schebraten Säbel"), bei Hebbel heißt es auch: sie scheppern mit den Helmen.
Als steirisch gibt Unger-Khulls Wörterbuch an: Tschreappn = 1) alter
Topf, 2) zerbrochenes Geschirr, Scherben, 3) schwatzhaftes Weib; ferner
tschreappad = mißtönend, heiser; tschreappn = mit gebrochener, heiserer
Stimme reden.
Vergleichsweise erwähnen wir hier die Bezeichnung für „Scherben" i n
slawischen Sprachen: russisch tscherepok, tschechisch strep usw. (dazu unga¬
risch cserep).
Stier
sein heißt in der Wiener Volkssprache keine „Marie", d. h. kein Geld ha¬
ben (potz, blank, schwarz, neger, parterre sein). „Unsere Edelknaben", die
Deutschmeister, sangen: Mir san vom ka und ka Infantrieregiment Hoch-
und Deutschmeister Numro Vier — aber stier. Man spricht von stieren
(geldlosen, übertragen: langweiligen, ereignislosen) Zeiten, von einem stie¬
ren (schlechtbesuchten) Theater; auch ein Ball, eine Unterhaltung, ein
Wirtshaus kann stier sein, wenn dort „nichts los ist", wenn es öde und lang¬
weilig zugeht. Bei Mayr, 1902, wird das Wort „stier" erklärt als „der nach
seiner Bedeutung recht unangenehme Ausdruck, der zunächst das Leere in
der Brieftasche, im weiteren aber alles Öde und Unangenehme bezeichnet
und die Grundlage für ein eigentümliches Hauptwort, die Stierität, gebildet
hat, das in der Verbindung ,die höchste Stierität* den Inbegriff alles Grau¬
ens und der gähnenden Hoffnungslosigkeit darstellt".
Zum Eigenschaftswort stier gehört neben Stierität auch ein zweites Haupt¬
wort: „der Stier*’. Man sagt von jemand, der an Geldmangel leidet, den
rennet der Stier, er komme aus dem Stierkampf nie heraus, der Stier sei sein
Wappentier... Aber diese tierische Personifizierung der Geldnot ist bloß
ein Wortspiel, der Ausdruck stier ist mit dem Namen des männlichen Rin¬
des nicht in Verbindung zu setzen, auch wenn die Nähe der Redensart „der
schwarze Ochs hat seinen Fuß getreten" (the black ox has trod on his foot)
= er ist in Not geraten, leicht dazu verlocken könnte. Völlig unbegründet
ist es auch stier = geldlos in Verbindung zu bringen mit der „stierigen
Kuh, d. h. der Kuh, die „stiert", sich nach dem Stier sehnt.
Auch mit dem Sternbild des Stiers hat die Geldnot des Wieners nichts
zu schaffen, wenn es auch feststeht, daß eine andere oberdeutsche Mundart,
das Schweizerische, jenem Neumond, der eintritt, während die Sonne im
178
Frühling im Zeichen des Stieres steht, einen besonderen Einfluß auf den
Menschen zuschreibt. Es ist Stier-Nüw (d. h. Stier-Neumond) bedeutet: es
herrscht üble Laune; im Stier-Nüw gibore si = dumm sein.
Unbegründet ist auch der Einfall von Prof. Gaheis, das wienerische stier
ehe auf lateinisch sterilis = unfruchtbar zurück. 1 Wenig überzeugend ist
auch die Ableitung von stier •-= geldlos aus mittelhochdeutsch stoerare —
Störer (Leopold Höfer: „Geldlosigkeit, Unordnung, die sind eine Störung
zünftigen Wesens: der goldene Boden des Handwerks ist zerstört".)
Man muß zur Aufhellung der Herkunft des wienerischen Eigenschafts¬
wortes stier auf das mundartliche Zeitwort stieren zurückgreifen 2 , dessen
Urverwandtschaft mit stören und starren, und auch mit stark und griechisch
Stereos = hart, nicht unwahrscheinlich ist. Die vielerlei Bedeutungen von
stieren wollen wir (unter Anlehnung an Mareta, 1865) in vier Gruppen
ordnen :
a) Die greifbarste Bedeutung ist herumstochern, herumstöbern. In
einer 1605 im Kloster Bruck gedruckten Christlichen Postille heißt es:
Gäns stüren und wüten im Koth umb. Bei Abraham a Santa Clara: daß euch
der Henker die Zäehn stühr. Zahnstierer nannte man in Wien im 19 . Jahr¬
hundert den Zahnstocher, Pfeifenstierer das Gerät zum Reinigen der lan¬
gen Pfeife. Wer keinen rechten Appetit hat, tut mit der Gabel in den Spei¬
sen „ummerstieren" (herumstochern). Den Quark aufstieren, war eine häu¬
fige, bildlich gebrauchte Redensart. (Im Erzgebirge sagt man: in e Wespn-
Nast sterln, und der Stab, mit dem gebuttert wird, ist der Butter-Sterl.)
b) Eine Weiterentwicklung der Bedeutung von stieren führt zum Bilde
des Suchens 3 . In den „Briefen des Eipeldauers" ist zu lesen: Endli hat
er sein Beutl außerzogen, un da hat er lang mächti im Geld herumg'stiert
(1818), der junge Herr stiert alles auf, wo's a Tanzei gibt (1814). Alle
Kneipen aussterln (absuchen, besuchen) ist ein studentischer Ausdruck. Die
armen Leute, die Abfallhaufen nach verwertbaren Dingen (früher besonders
1) Derselbe Klassikophilologe treibt in den „Wiener Blättern für die Freunde
der Antike“ die Freundschaft zur Antike so weit, daß er z. B. auch im wiene¬
rischen „g’haut“ = gewitzigt (z. B. „g’hauter Kerl“, „o du g’scheidter, o du
ganz gehauter Fratz“) ein lateinisches Wort erkennt: cautus (zu caveo) =
vorsichtig.
2) „Die begierden des fleisches durch den bösen Geiste auffgestürlet wer¬
den“ (Caspar Schwenckfeld, Vom Artikel der Vergebung der Sünden, 1593).
„Es ist aber auch kein so strenges Gesetz,... daß du es alles so genau ausstier-
len und beschnarchen oder begautzen müssest“ (Johann Riemer, Der trunkene
Träumer, 1689).
3) Im Rotwelsch wird das Huhn auch Stier oder Stierche genannt, weil
es in der Erde „herumstiert“ (scharrend sucht).
12*
179
nach industriell verwendbaren Knochen) absuchen und dabei zum Herum-
stochern sich eines Stabes bedienen, heißen Baandlstierer. Ein Couplet aus
der Mitte des 19. Jahrhunderts: A Kaffeehaus war vor Zeiten bloß bestimmt
für noble Leut — Jetzt gibts drin, 's ist kein Schenierer, Schusterbubn und
Banerstierer.
c) Im übertragenen Sinn bedeutet stieren ferner: ärgern. Des stiert mi
(Schranka, 1905, schreibt: das stiert mir's) = das ärgert mich, das ist mir
zuwider. Ein Stierer ist daher nicht nur ein neugieriger Schnüffler (der in den
Angelegenheiten anderer herumstiert), sondern auch ein hartnäckiger Nörg-
ler, ein Stänkerer.
d) Seltener ist eine weitere übertragene Bedeutung von stieren: grü¬
beln, nachgrübeln. Vielleicht wirkt bei dieser Bedeutung das andere Zeit¬
wort stieren = unbewegt schauen mit, das von starren kommt und mit unse¬
rem stieren nicht unmittelbar zusammenhängt.
Das österreichische stieren deckt sich in seiner Bedeutung vielfach mit
dem wurzelverwandten englischen Zeitwort to stir = rühren, bewegen,
schüren (z. B. das Feuer). My blood was stirred bedeutet: mein Blut war
erregt. „Meine Seele ist verwirrt", heißt es bei Shakespeare, „like a fountain
stirred", wie eine aufgerührte Quelle. There is no money stirring = da
rührt sich kein Geld, da gibt es kein Geld unter den Leuten.
Diese letztgenannte englische Redewendung läßt uns zum wienerischen
stier = geldlos zurückkehren. Wie entwickelt sich diese Bedeutung des
Eigenschaftswortes aus den oben angeführten Bedeutungen des Zeitwortes?
Von stieren kommt der Ausdruck abstieren (sprich oh-schtieren oder oh-
schtierln) der Wiener Unterweltssprache im Sinne: einem Schlafenden oder
Schwerbetrunkenen die Taschen durchsuchen (durchstöbern), um ihn um
das ganze Bargeld zu erleichtern. Auch unter Kartenspielern heißt es, wenn
man jemandem, gleichsam wie einem wehrlos Schlafenden, alles abgenom¬
men hat, man habe ihn oh-gschtierlt.
Stier sein ist also eigentlich eine Abkürzung von abgestiert sein,
und stier ist ein zum selbständigen Eigenschaftswort verdichtetes Partizipium,
wie dick aus gediehen, dünn aus gedehnt, drall aus gedreht oder das wiene¬
rische blad aus gebläht.
Andere Erklärungen für das wienerische stier gehen von der allgemeinen
Wurzel starren aus; stier wäre demnach ein Synonym von starr = bewe¬
gungslos, und eine stiere Börse wäre wie ein stieres Gasthaus: leer und ohne
Bewegung. Aber die oben gegebene Ableitung aus stieren = stochern, su¬
chen und aus abstieren = absuchen, ausplündern gibt sich viel ungezwun¬
gener.
180
Tiernamen als Krankheitsnamen
Sprachliche Spuren der parasitären Dämonologie
(Pathologia animata)
Das Wort Krebs (althochdeutsch chrebazo, krebaz, krebiz) ist dunkler
Herkunft. Mit griechisch karabos, lateinisch carabus = Seekrebs ist es nicht
verwandt. Viel eher hängt Krebs mit althochdeutsch krapho = Haken zu¬
sammen, in welchem Falle der Benennung des Tieres der Hinweis auf seine
Scheren zugrundeliegt, oder mit dem Zeitwort krabbeln und dann wäre der
Krebs (und auch die Krabbe) nach der Fortbewegungsart benannt. Fran¬
zösisch ecrevisse ist germanischen Ursprungs und mit deutsch Krebs ver¬
wandt.
Der Tiername Krebs hat verschiedene Bedeutungsübertragungen erfah¬
ren. An der mittelalterlichen Rüstung bezeichnete man wegen der Ähn¬
lichkeit mit dem Panzer des Krustentieres den Brustharnisch und die Schutz¬
decke der Oberschenkel als Krebs. Auch Luther übersetzt das griechische
thorax (Epheser 6, 14) mit Krebs.
Aus der Beobachtung der sonderbaren Fortbewegungsart des Krebses 1
erwachsen die Ausdrücke krebslings, Krebsgang. Vom faulen
Schüler, dessen Leistungen „zurückgehen", heißt es, daß er krebst. Auch
der Franzose spricht vom marche de l’ecrevisse, wenn es statt vorwärts
zurück geht, italienisch heißt es fare il viaggio del gambero, spanisch andar
como uno cangrejo. Der Engländer hingegen spricht vom sidling walk
(Seitwärtsgehen) of a crab.
Seit ungefähr 1830 ist in deutschen Buchhändlerkreisen für unver¬
kaufte Bücher, die vom Sortimenter zum Verleger zurückwandern
(Remittenden), das Spottwort „Krebse" bekannt. 2 (Man vgl. damit das
1) Von einer wirklichen Rückwärtsbewegung kann eigentlich nur beim
schwimmenden Krebs die Rede sein, nicht beim gehenden.
2) Französische Buchhändler sagen r o s s i g n o 1 (Nachtigall), womit sie
aber nicht nur das an den Verlag remittierte Buch bezeichnen, sondern auch
das im Laden verbliebene, aber unverkäufliche Buch, Man versucht diese son-
bei freien Schriftstellern gebräuchliche „Bumerang" für Manuskripte, die
von Redaktionen oder Verlegern abgeiehnt, an den Verfasser zurückgelan¬
gen, ähnlich der Bumerang genannten Wurfkeule der Australier, die, wenn
sie ihr Ziel verfehlt, zum Werfer zurückschwirrt. * 1 )
Mit der Fortbewegungsart des Krebses hängt auch das Zeitwort kreb¬
sen zusammen, das außer Krebse fangen auch bedeutet: sich lebhaft bewe-
gend bemühen. (E. Friedli erklärt für das Berner Deutsch: So wie das
gefangene Tier, seines Lebens sich wehrend, zappelt, so heißt „chräbse"
auch: ohne Aussicht auf Erfolg sich abmühen.) Die Redensart mit etwas
krebsen gehen = etwas schnöde ausnützen verbindet man — nicht
sehr glaubhaft — mit einer Volkserzählung von einem Bauern, der mit
der Leiche seiner Frau Krebse fing.
Die bemerkenswerteste Bedeutungsübertragung, die sich am Worte Krebs
vollzieht, ist jene, die diesen Tiernamen als Krankheitsnamen erschei¬
nen läßt. Schon die Griechen hatten für die bösartige Geschwulst den
Namen des Krebses (karkinos) verwendet, womit Galenos, ihr großer
Arzt, auf eine Ähnlichkeit der Aderzeichnung, der strahlenförmigen Ader¬
schlängelung um das Krebsgeschwür herum mit den Füßen des Flußkreb¬
ses verweisen wollte. 2 Unwahrscheinlich ist die Vermutung einiger Wort¬
torscher, man habe die Röte der Geschwulst mit der Farbe der gekochten
Krebse verglichen. Hingegen mag die Vorstellung von der Gefräßigkeit
des Krebses für diese Krankheitsbezeichnung mitbestimmend gewesen sein.
Die böse Geschwulst sei gleichsam ein feindseliges, gefräßiges Tier, das
den Menschen schließlich ganz auf frißt. Der seit dem 13. Jahrhundert vor¬
kommende deutsche Krankheitsname Krebs (mittelhochdeutsch krebez)
ist eine Lehnübersetzung aus dem Griechischen.
Auch der lateinische Name des Krebses, cancer hat die Grundlage
für ein deutsches Wort abgegeben. Er hat auf Umwegen zum Worte
Schanker geführt, zur gemeinsamen (erst mittels der Voraussetzung des
Eigenschaftswortes hart oder weich unterscheidenden) Bezeichnung für den
syphilitischen Primäraffekt und für den Ulcus molle. Die Vermittlung von
derbare Bezeichnung des „Ladenhüters“ als „Nachtigall“ so zu erklären, das
unverkäufliche Buch hocke auf dem unzugänglichsten, dem obersten Fach,
wie ein Vogel auf dem Baum. Die Deutung ist nicht zwingend.
1) Im Argot der französischen Schriftsteller heißt ein oft zurückgewiesenes
Bühnenstück oder ein von Verlegern abgelehntes literarisches Werk: ours, Bär;
der Verfasser eines solchen: marchand d’ours, Bärenhändler.
2) Im Spanischen heißt die Hautflechte, die sich im Auftreten von gewun¬
denen Linien auf der Hand äußert: culebrilla, kleine Schlange.
182
zu Schanker besorgte das Französische, wo das lateinische cancer in
V^Formen fortlebt: erstens in unveränderter Schreibweise cancer für
- gjs gelehrter Krankheits- und Sternbildname, zweitens in halb-
A 1 ter Form cancre für die Krabbe und übertragenerweise für einen
Schlucker, einen Knicker oder einen Faulpelz und drittens, in
bereits ganz französischer Form, chancre für die Krebskrankheit und den
Schanker und auch in einer übertragenen Bedeutung, entsprechend dem
deutschen „Krebsschaden".
Neben Schanker besteht im Deutschen auch die volkstümliche Form
Kanker (ungarisch kankö) und das veranlaßt Höfler zur Annahme, daß
in Schanker-Kanker neben dem lateinischen cancer auch das griechische
eanßraina = um sich fressendes Geschwür sich sprachlich fortgepflanzt hat.
Als »gesetzlicher" Abkömmling des letzteren griechischen Wortes lebt im
Deutschen heute noch das Wort „Gangrän" als Bezeichnung für gewisse
brandige Erkrankungen.
Mit dem Ausdruck Polypen (griechisch: Vielfüße), dem früher
üblichen Namen der Tintenfische, bezeichnet man gutartige geschwulst-
törmige Wucherungen der Schleimhäute in Nase, Kehlkopf, Speiseröhre,
Harnröhre usw. Bei dieser Übertragung ist vielleicht daran gedacht wor¬
den, daß die personifizierte Krankheit wie ein Tintenfisch mit seinen Armen
in Aushöhlungen nach tiefliegenden, schwer zugänglichen Stellen hinreiche 1 .
Frosch (althochdeutsch frosk, wahrscheinlich mit der Grundbedeu¬
tung „Hüpfer") als Krankheitsname ist eine Lehnübersetzung von latei¬
nisch ranula = Fröschlein. Als ranula bezeichnte die mittelalterliche Medi¬
zin jede unter der Zunge zu beiden Seiten des Zungenbändchens, besonders
bei Kindern vorkommende Geschwulst, entzündete Drüsen, da solche
prall gefüllte, glatte Bälge unter der Mundschleimhaut schön durchscheinen
und den Vergleich mit dem glatten Froschbauch nahelegen (Höfler). Der
volkstümlichen Bezeichnung „Frosch" entspricht auch die offiziell-medizi¬
nische: „Fröschleingeschwulst". Als Froschblähen bezeichnete die ältere
Medizin eine Lymphdrüsenanschwellung am Halse, als Froschquaken ein
gewisses Geräusch bei organischem Herzfehler und bei Verwachsung des
Herzens mit lufthaltigen Organen.
i) L. Günther glaubt auch, daß die aus der Studentensprache in die Gau¬
nersprache übergegangene Bezeichnung Polyp für „Polizist“ nicht nur
eine scherzhafte Umgestaltung des letzteren Hauptwortes darstellt (wie im
Falle „Polente“ = Polizei), sondern daß auch „ein ganz leidlicher Sinn“ vor¬
liegt, wenn man an die Fangarme jenes Meeresungeheuers erinnert; aus dem
gleichen Gedankengang heraus heißt der Polizist in der polnischen Gauner¬
sprache pajok, d. h. Spinne.
183
Einen Frosch im Halse haben wird mit der Bedeutung
braucht: mit heiserer Stimme singen, 1 mit verquollener Stimme reden
Ähnlich im Amerikanischen: to have a frog in the throat; daher fro
= heiser. Im Venezianischen sagt man aver le rane, Frösche haben von
einem Schwermütigen oder einem Hypochonder. Pare che abbia una rana
nel corpo, es scheint, daß er einen Frosch im Leibe hat, sagt man in Itali e
nischen von einem, dem der Magen knurrt.
Die Vorstellung, daß ein Frosch sehr gut im menschlichen Leibe leben
könne, ist überhaupt ziemlich verbreitet. Es wird daher auch scherzhaft
davor gewarnt, zu viel Wasser zu trinken, es könnten sonst leicht im Magen
Frösche zur Welt kommen. 2 Hysterikerinnen haben sich nicht selten über
Frösche im Bauch beklagt.
So wie der Frosch auch in Wirklichkeit oft mit der Kröte verwech¬
selt wird, vermengt sich auch die übertragene Bedeutung dieser beiden Tier¬
namen. Auch die Kröte gehört zu den unheimlichen, elbischen Wesen
Hexen und böse Weiber stehen in Beziehung zu ihr. Von einem verkrüp*
pelten oder mißgestalteten, z. B. mit einem Buckel zur Welt gekommenen
Kinde heißt es, es sei verkrottet (vom Krötenalp gezeugt). Der Krampf
der Gebärmutter wurde im Volke als „Krot" bezeichnet und in
Bayern und Österreich wurde daher eine in Krötenform dargestellte Gebär¬
mutter an heiligen Orten als Opfergabe dargebracht. 3 Man bezeichnet im
1) Der Franzose sagt von solch einem Sänger, er habe eine Katze in der
Kehle, avoir un chat dans la gorge.
2) Tu attraperas des grenouilles, du wirst dir Frösche zuziehen, warnt
der Franzose scherzhaft den Wassertrinkenden.
3) Die kranke Gebärmutter wird auch als eine lebendige Maus
im Leibe aufgefaßt, d. h. als ein elbischer Dämon in Mausgestalt. Als Maus
bezeichnet man auch den sichtbar beweglichen und bei der Handbewegung
anschwellenden Handballen; auch der Franzose nennt ihn souris = Maus
(die Isländer vergleichen dieses Muskelspiel mit dem Zappeln eines Fisches
und nennen es Lebensfisch). Die Stelle am inneren Oberarm, wo der Muskel¬
ballen bei der Bewegung anschwillt (Biceps), ist die Stelle, „wo das Mäus-
lein läuft ; 1706 schrieb noch der Arzt Scheuchzer über den Anteil der
Muskeln bei der Fortbewegung: wenn die einten (einen) Mäuslein arbeiten,
andere können ruhen. „E par Müs ha“ wird in der Schweiz gebraucht für:
muskelstarke Oberarme haben. Lateinische Schriften des späteren Mittelalters
und der frühen Neuzeit bezeichnen den Oberarm als lacertus = Eidechse.
Auch das Wort Muskel ist nur eine Eindeutschung von lateinisch muscu-
lus — Mäuschen. Schließlich ist Maus und Mäuschen (Kammermäuslein) eine
stark verbreitete Bezeichnung für den weiblichen Geschlechts¬
teil. (Das Grimmsche Wörterbuch verzeichnet auch: mausen, blinde Maus
spielen für Geschlechtsverkehr.) Goethe gebraucht in seinem Tagebuch und
184
Volke daher solche in Kapellen auf gehängte oder als Amulett gegen
Frauenkrankheiten getragene Krötennachbildungen auch einfach als „Mut-
(Hovorka-Kronfeld). Auch wird überhaupt die Gebärmutter selbst
als Tier aufgefaßt. 1
Auf dem Vergleich der unebenen Krötenhaut mit gewissen Veränderun¬
gen der Menschenhaut bei der Erkrankung beruht wohl, daß im Lettischen
krvupis = Kröte auch zur Bezeichnung der K r ä t z e dient. (Man vgl. dazu
im Slovakischen rapuch, rapavy = blatternarbiger Mensch von rapucha
jCröte.) Vielleicht ist angesichts des gemeinsamen Anlauts auch an eine
Urverwandtschaft zwischen Krätze (kratzen) und Kröte zu denken.
In anderen Fällen wird Kröte oder Krott einfach statt Frosch (oder
Fröschlein) mit den bei diesen Tiernamen angeführten Krankheitsbedeu-
tungen gebraucht. Ausdrücke wie „Kröte im Hals", „Krott unter der
Zungen" sind schon für das 16. Jahrhundert belegt „Wann im Hals eine
Krott oder anderer Unflath wächst", heißt es in einer Quelle aus dem
Jahre 1740.
in seinen Briefen wiederholt das elsässische Misel = Mäuschen für junge
Mädchen, Miesein für Liebelei, „nicht ohne allen lüsternen Beigeschmack“,
wie H. Schräder sagt. Bei Shakespeare kommt mouse-hunt, Mäusejäger, im
Sinne von „Schürzenjäger“ vor. Auch das Wort Muschel (Venusmuschel!),
das ebenfalls von lateinisch musculus = Mäuschen kommt, dient zur Be¬
zeichnung der weiblichen Scham (vgl. das Stichwort „Porzellan“ in „Wörter
und ihre Schicksale“); daher auch der obszöne Berliner Ausdruck „in die
Muschel rotzen“ = coire. Hier ist auch anzuführen aus dem französischen
Argot: gaspard (Kaspar) = vulva. Dieser Ausdruck wird erst verständlich,
wenn wir wissen, daß gaspard im Argot eine Bezeichnung der Ratte ist.
Für diese Übertragung auf den weiblichen Geschlechtsteil ist nach Chautard
die Ähnlichkeit mit dem Fell dieses Nagetiers maßgebend. Schließlich erwäh¬
nen wir noch einen deutlichen Beleg aus 1466: Mautze = vulva, bei dem
allerdings nicht klar ist, ob der Schamhügel mit dem Mauspelz oder dem
Katzenfell verglichen wird. Die Gleichung Maus = vulva hindert nämlich
nicht die gleichzeitige Auffassung der weiblichen Scham als einer (mäuse¬
fangenden) Katze sprachsymbolisch zu wirken. (Vgl. im französischen Argot:
boulotter le chat, die Katze aufessen, für cunnilingus.) Noch mit einem ande¬
ren Tiernamen, dem des Kuckucks, wird die Behaarung des mons Veneris
belegt: in der Volkssprache werden die ersten Schamhaare als Gauch be¬
zeichnet (auch „der erste Gauch“). Allgemein wird auch für Flaumhaare
überhaupt („Milchhaare“) Gauchhaare verwendet.
1) Nach dem pfälzischen Arzt Tabernaemontanus (16. Jahrhundert) soll
schon Plato gesagt haben, „die Gebärmutter sei ein lebendiges Tier, des Ge¬
barens begierig, derohalben wo es unzeitig aufgehoben und lange unfruchtbar
bleibt, so wird es unwillig und ungeschlacht, erhebt sich, durchschleift den
Bauch . ..“ usw.
185
Die Augenkrankheit Star hat ihren Namen nicht vom Singvog e )
Star (althochdeutsch stara, verwandt mit lateinisch sturnus), sondern steht
zum Zeitwort starren in Beziehung. Im Althochdeutschen hieß es von
dem an dieser Augenkrankheit Leidenden, er sei staraplint, d. h. er sei
blind (schlechtsehend) bei offenen („starrenden") Augen. Hingegen hat
im Französischen eine andere krankhafte Erscheinung am Auge einen rich¬
tigen Vogelnamen: das „Gerstenkorn" wird außer orgelet (zu lateinisch
hordeum = Gerste) auch compere-loriot (Goldamsel, Pirol) genannt. Die
Vergleichsgrundlage für die Übertragung dieses Vogelnamens auf die eitrige
Entzündung am Augenlid scheint die gelbe Farbe zu sein.
Die Gicht heißt im deutschen Volksmund auch Bock. Es handelt sich
wohl um den Tiernamen, aber es liegen zwei Bedeutungsübertragungen
dahinter. Tiernamen werden häufig auf Waffen und Geräte übertragen
(vgl. das Stichwort „Tiger" in „Wörter und ihre Schicksale") und so ist
der Bock auch eine Bezeichnung für die Daumenschraube der Tortur
geworden. Wenn man nun die Gicht als Bock bezeichnet, so ist eigentlich
nicht der Tiername, sondern unmittelbar nur der Name eines Folter¬
geräts auf die Krankheit übertragen worden, um auszudrücken, der Kranke
habe das Empfinden, als wären seine Beine in einem „Bock", einem
Schraubstock.
Eine große Rolle spielt der Wolf auf dem Gebiete der Krankheits¬
namen. Die linsenförmige Geschwulst unter der Haut nannten die Römer
1 u p a = Wölfin, nach dem reißenden Umsichgreifen des Übels. 1 Daher
ist auch italienisch und spanisch lupia, französisch loupe Bezeichnung einer
gewissen runden Geschwulst. (In diesem Zusammenhang verdient eine son¬
derbare Bedeutungsübertragung angeführt zu werden. Bei der Übertragung
des lateinischen Tiernamens auf die Geschwulst ist das gierige Umsichgreifen
die Vergleichsgrundlage. Französisch loupe 2 wird aber nun auch weiter
übertragen, diesmal geht die Übertragung von einem anderen Merkmal
der Geschwulst, von ihrer flachen, runden Form aus und auf diesem Um¬
wege wird französisch loupe und daraus deutsch Lupe die Bezeichnung
1) Im älteren englischen Armeeslang hieß ein zu raschem Absterben von
Hautteilen führendes Geschwür, das sich britische Soldaten in Portugal hol¬
ten, b 1 a c k -1 i o n, schwarzer Löwe.
2) Im Französischen hat loupe auch noch weitere Bedeutungen: Knorren
des Baumes, Höcker des Kamels. Bei beiden Bedeutungen scheint von der aus¬
gebuchteten Gestalt der Geschwulst, vom Angeschwollensein ausgegangen
worden zu sein. Nicht klar ist die Bedeutungsgrundlage bei dem gauner¬
sprachlichen Ausdruck loupe = Faulenzerei (vielleicht ist bestimmend die
Vorstellung des Herumstreifens).
186
. gew i s ses rundes, flaches Glasgerät. 1 Wer würde ohne Wissen um
^Zusammenhang ohne weiteres erkennen, daß unsere Lupe, unter
^’^wir wörtlich und bildlich die genau zu betrachtenden Dinge nehmen,
* ntlich eine_ Wölfin ist? Der semasiologische Vorgang ist hier nicht
C *^3 wie wenn man in einem Dorfe einem Mann, der einen Schnurr-
bart^estimmter Art trägt, den Spitznamen „Ungar" gäbe, und man dann,
weil dieser Mann zufällig auch ein lahmes Bein hat, später einen anderen
Hinkenden ebenfalls „Ungar" nannte.)
Wolf 2 selbst diente in der deutschen Sprache im Laufe der Jahrhun-
.. rte 2U r Bezeichnung verschiedener Erkrankungen, was bei den
Engelhaften medizinischen Kenntnissen und der dadurch bedingten Ver¬
mengung der Krankheitsbilder nicht Wunder nehmen darf.
a) Eine Zeitlang bezeichnete man auch die sonst Krebs genannte Krank¬
ls a j s Wolf, weil sie sich gleichsam wie ein wilder unersättlicher Wolf
immer weiter in das gesunde Fleisch frißt.
b) Unter Wolf verstand man ferner feuchte Feigwarzen am After, die
die Haut wund machen und Erythema intertrigo verursachen 3 .
c) Diese wundmachende Eigentümlichkeit, die auch bei anderen Erkran¬
kungen vorkommt, erklärt nach Höfler, daß der Name Wolf sich auch
1) Fördernd für diese Übertragung von der runden, flachen Geschwulst
auf das runde, flache Glasstück war vielleicht auch die Metapher, die beim
Auge und in der Optik von einer Linse sprechen läßt. Französisch lentille
(von lateinisch lenticula, Verkleinerung von lens = Linse) bezeichnet außer
der Linsenfrucht im allgemeinen auch einen linsenförmigen Körper, im be¬
sonderen die Glaslinse. Der Engländer gebraucht lentil für die Frucht und
lens im anatomischen (Augenlinse) und im optischen Sinne. Das deutsche
Wort „Linse“ — das auch mit diesen drei Bedeutungen gebraucht wird —
dürfte übrigens nicht vom lateinischen lens kommen, sondern mit diesem auf
eine gemeinsame unbekannte Quelle zurückgehen.
2) Die Frage der Verwendung von Tiernamen für Krankheiten berührt
sich auch mit der Frage der Tiermetaphern zur Bezeichnung des Heißhun¬
gers und der krankhaften Unersättlichkeit (bayrisch: fressat Krankat). Ich
verweise auf das Stichwort „Hunger“ in „Wörter und ihre Schicksale“ und
auf das dort erörterte österreichische Mader (Marder) = Heißhunger.
Hungrig wie ein Wolf ist man übrigens nicht nur im Deutschen. He is
hungry like a wolf oder he has a wolf in his stomach, sagt der Engländer;
wolfish = gefräßig, wolfer = Fresser. Dem Italiener ist der Heißhunger
„die Krankheit der Wölfe“: il male della lupa; er sagt auch: avere una lupa
in corpo.
3) „Die Beschwerung des Hindern, welche die Latini intertrigium und
wir Deutsche den Wolf nennen“, heißt es 1591 im „Gifftjagenden Kunst vnd
Haussbuch“ des Pfarrherrn Michael Bapst.
187
1
übertragen läßt auf jede beißende, die entzündete Haut blutigrot eröff.
nende Hautkrankheit, wenn sie, wie z. B. die venerische Erkrankung oder
der Ruhrfluß, ihren Sitz am After, am Gesäß, an den Leisten usw. hat
Wie sehr der Name Wolf auch die Behandlung beeinflußte, zeigt, daß
man frisches Fleisch oder vier lebende Hühner auf den „Afterwolf” legte
um den hungrigen Wolf zu besänftigen. Die Bezeichnung Wolf für das
Auf geriebensein der Innenschenkel ist bereits für den Anfang des 16
Jahrhunderts belegt („Arswolff" oder „Wolff an den Schenkeln”). Man
unterscheidet, je nachdem ob man sich die Aufreibung beim Gehen oder
beim Reiten erwarb, einen ergangenen Wolf und einen Reitwolf. 1
d) Als Wolf oder fressenden Wolf bezeichnet das Volk auch jene Haut-
krankheit, die sonst auch der Laie heute meistens mit dem lateinischen
Namen Lupus bezeichnet; wissenschaftlich heißt dieser Wolf Narben¬
flechte oder Lupus vulgaris zum Unterschied von der Schmetterlingsflechte,
Lupus erythematosus.
Die zuletzt genannte Hautkrankheit, die Schmetterlingsflechte, gibt uns
hier Anlaß auch den Schmetterling unter den Tiernamen als Krank¬
heitsnamen anzuführen, wenngleich es sich bei diesem Tier nicht um deut¬
sche Krankheitsnamen handelt. Wir verweisen auf das Stichwort „Schmet¬
terling” in „Wörter und ihre Schicksale" (spätgriechisch psora = Nacht¬
falter = Krätze, rumänisch streligii di moarte = Todesschmetterlinge =
Nesseln, litauisch drugys = Schmetterling = Fieber). Entscheidend für die
Verwendung von Schmetterlingsbezeichnungen für Krankheiten ist jeden¬
falls die Auffassung dieses Tieres als eines dämonischen Wesens.
Noch unheimlicher und unheilvoller als das „was da fleucht", wie etwa
der Schmetterling, ist das „was da kreucht". Daher der große Anteil des
Wurmes an der „Pathologia animata" 2 . Als Würmer bezeichnete z. B.
die ältere Naturkunde lange Gewebefasern, z. B. abgestorbene Sehnen
1) In älteren Schriften ist scherzhaft von Reitern die Rede, die die Wölfe,
von denen sie angefallen werden, mit Hirschtalg füttern müssen.
2) Der „Urwalddoktor“ Albert Schweitzer berichtet von den Negern im
Ogowegebiet (Äquatorialafrika): „Der Wurm ist für sie die Verkörperung
des Schmerzes. Werden sie auf gef ordert, über ihren Zustand zu berichten, so
erzählen sie die Geschichte des Wurmes, wie er zuerst in den Beinen war,
dann in den Kopf kam, von hier nach dem Herzen wanderte, aus diesem in
die Lunge ging und sich zuletzt im Bauch festsetzte. Alle Medikamente sollen
gegen ihn gerichtet sein.“
188
Bindegewebspfröpfebeim sogenannten Fingerwurm (Panaritium),
oder die Volksmedizin durch bloßes Zusammendrücken wie ein belebtes
tötet”. Auch die madenähnlichen Talgpfröpfe der Haut werden
Würmer bezeichnet. (Auch der Ausdruck Mitesser, comedones,
jlt s j e gleichsam als parasitäre Lebewesen am Menschen dar.) „Würmer”
S -;nd ferner geschlängelte Gefäßknäuel, z. B. die Krümmungen der „Gold¬
gier” 1 Auch die wie eine Made in der Wabe im Zahnfleisch sitzende
Zahnwurzel wurde nach Höfler in der älteren Medizin als Wurm bezeich¬
nt (so übrigens auch bei den Negern im ägyptischen Sudan). Die Zahn-
Wurzelentzündung hieß: roter Wurm.
Im Faust, in Auerbachs Keller, heißt es: „Zieh ich wie einen Kinderzahn
den Burschen leicht die Würmer aus der Nase.” Die Würmer aus
der Nase ziehen war zu Goethes Zeiten nur mehr ein heiteres Gleichnis. Im
17 und 18. Jahrhundert heilten auf den Jahrmärkten herumziehende Quack¬
salber auf ihren schnell aufgeschlagenen Schaugerüsten Leute, die sie als
krank oder schwermütig vorstellten, dadurch von ihren Leiden, daß sie vor¬
täuschten, einen Wurm, die Ursache der Krankheit, aus dem Gehirn durch
die Nase herauszuziehen 2 , ähnlich wie die Hirten die Bremsenlarven aus
der Nase des Viehs entfernen.
Aber was im Zeitalter der Aufklärung nur mehr als Scherz wirkte,
war vordem einmal voller Ernst. Das kriechende Tier, in schlechtem Ange¬
denken seit dem Sündenfall des ersten Menschenpaares, hat eine besondere
Eignung dazu, krankheitsverursachende Dämonen zu personifizieren. So wie
dem primitiven Menschen als der natürliche Tod der Tod zufolge Einwirkung
äußerer Gewalt gilt und staunenerregend und Geheimnisahnungen hervor¬
rufend nur jener Tod ist, den wir als den „natürlichen” bezeichnen, so hat
auch das der Wortbildung zugrundeliegende primitive Denken die Neigung,
1) Für Hämorrhoiden kommt auch die deutsche Bezeichnung Schlange
vor. In einer Quelle aus dem Jahre 1482 wird dieses Leiden „Unterschlang”
genannt. Vielleicht ist auch die Vorstellung Verschlungensein hier wirksam.
2) Aus der ursprünglichen Bedeutung der Redensart vom Würmer-aus-
der-Nase-ziehen: jemanden von krankheitverursachenden Lebewesen, von pa¬
rasitären Dämonen befreien, entwickelte sich die heutige: jemandem stück¬
weise ein Geheimnis entlocken. Im Französischen: tirer ä quelqu’un les vers
du nez; englisch: to worm a secret out of a person; spanisch: sacar el gusano
(los Iombreos) de la nariz. Der Italiener zieht Spatzen aus der Nase: tirare
le passere del naso. Im Erzgebirge sagt man übrigens: dar tut os wullt ’r en
a Wermel aus’n Orsch ziehen = er zeigt eine Scheinfreundlichkeit, um etwas
abzulocken. Vgl. auch die Redensart: jemandem etwas aus dem Steiß ziehen.
Vielleicht ist die Nase in die Redensart von den herausgezogenen Würmern
überhaupt nur als euphemistische Ersetzung von After hineingeraten.
die Krankheit als das Ergebnis der unmittelbaren Einwirkung eines Dämons
als das Eindringen eines Lebewesens, eines Tieres in unseren Körper auf*
zufassen. Wenn man Sodbrennen hat, so nagt an einem der Herzwurm
erkrankt der Haarboden, so ist der H a a r w u r m am Werke, die Gürtel!
rose zeigt die Spuren des G ü r t e 1 w u r m e s auf der Haut. Den Kno¬
chenfraß verursacht der Bei n- oder G1 i e d e r w u r m, die Hämorrhoi¬
den der Blut wurm, die Zungenkrankheit des Rindes der Zungen¬
wurm. Die Bauchschmerzen werden einem Bauchwurm zur Last
gelegt, die Kopfschmerzen einem Kopfwurm. Das „Gerstenkorn' u hieß
früher auch Augenwurm.
In das sittliche Gebiet gehört der an einem nagende Gewissens¬
wurm (englisch worm of conscience, italienisch verme della coscienza
tarto del rimorso, spanisch gusano de la conciencia, französisch ver röngeur).
Auch die Redensart mich wurmt etwas 1 (== etwas nagt an mir)
erinnert daran, daß der Wurm nach altem Volksglauben die Metamor¬
phose eines elbischen Wichtes ist, der den Menschen oder das Tier nagend
„wurmt”, 2 der sich von seinem Opfer wie eine Fleischmade nährt. (Über
Würmer als Personifizierung von Sorgen, Marotten, Launen, „Grillen” wird
im nächsten Abschnitt die Rede sein.)
Natürlich gehören nicht hierher die Bezeichnungen jener Krankheiten,
die tatsächlich von „Würmern” (Bandwürmern, Finnen usw.) verur¬
sacht werden 3 ; sie sind, nebstbei bemerkt, so zahlreich, daß eine eigene
Wissenschaft, die Wurmkunde oder Helminthologie, sie behandelt.
Zur Vorstellung von den in einem und an einem nagenden Würmern
ist in Parallele zu stellen das Bild: M ü c k en (Mucken) oder Gril¬
len im Kopf haben. Wohl verstehen wir unter Mucken und Grillen heute
1) Im 18. Jahrhundert wurde das Zeitwort noch intransitiv gebraucht
(z. B. bei Schiller: das wurmte beim alten Karl; so wurmt es m i r oft, daß
ich nicht tugendhaft bin).
2) Auch der Engländer hat ein Zeitwort, das dem deutschen wurmen
entspricht: to worm. Übrigens sagt er auch: it gives me a snake, das gibt mir
eine Schlange.
3) Zu den Krankheiten, an denen wirkliche Würmer die Schuld tra¬
gen, gehört auch die vom sogenannten Gehirnblasenwurm (Coenurus cerebra-
lis) verursachte Drehkrankheit der Schafe. Ich nehme an, daß der Be¬
zeichnung des menschlichen Irrsinns als holo = Schaf in der Sprache der
Wanjamwesi in Ostafrika der Gedanke an jene Schafskranklieit zugrunde
liegt.
190
wunderliche Einfälle, seltsame Launen, trübe Gedanken, ursprünglich
nur ^b er m eine schwere Erkrankung im Gehirn gedacht worden. Es handelt
. bei den Mücken und Grillen im Kopf nicht etwa um dichterisch ange-
51 , Gleichnisse, sondern um echte Beispiele der parasitären Dämono-
UU . L ^ es Volksglaubens 1 . Es ist eine uralte, wohl den meisten Völkern
l0 f* e fee Vorstellung, daß sich im Kopf des Menschen Elben in Tier-
^--talt einnisten, die außer Krankheitszuständen, wie z. B. Kopfweh, auch
Störungen der Denktätigkeit oder des seelischen Gleichgewichts verursachen
f R Riegler). Für die mittelalterliche Medizin gab es wirklich eine musca in
cerebro (eine Fliege, Mücke im Gehirn) ; die quälenden Geister, die in
Mückengestalt Fieber verursachen, hatte man auszutreiben oder im Patien¬
ten zu töten. 2 Bei Bonaventura des Periers (16. Jahrhundert) ist von einem
Ritter die Rede, der seiner Frau die Grillen durch einen Aderlaß aus dem
Kopfe treibt.
Im 16 . und 17. Jahrhundert tritt bereits in der deutschen Sprache der
Gebrauch von „Grillen" und „Mucken" im übertragenen Sinne auf. Von
der 1558 erschienenen Schwanksammlung „Katzipori" des Michael Lindener
heißt es auf dem Titelblatt, daß „darinn newe Mugken, seltsame Grillen,
unerhörte Tauben, visirliche Zotten verfaßt und begriffen sind." Joham
nes Fischart („Bienenkorb" 1579) spricht von „spitzfündigen fremden
Grillen" und in Grimmelshausens Simplicissimus heißt es: „wann ihm die
Mucken ein wenig verflogen" (3, 406) und „wann ich meine alte Possen
und Grillen übe" (3, 190). Bei Fischart ist übrigens auch von „Hum¬
meln im Kopf" die Rede. Bei Scheffel heißt es einmal: „Es hat jeder
Mensch seine eigenen Mucken und Käfer und Grillen, doch ihr habt einen
H o r n s c h r ö t e r im Haupt" (Hornschröter = Hirschkäfer.)
Auch in anderen Sprachen werden Insektennamen zur Bezeich¬
nung von geistigen Störungen herangezogen. 3 He has his head full of
1) Obschon es sich ursprünglich um die Auffassung der Schrullen als wirk¬
licher Mücken handelte, hat sich dann der Sprachgebrauch dahin entschieden,
daß er die sichtbaren Insekten vorzugsweise als Mücken, die „im Kopfe 44
meistens als Mucken bezeichnet. (Bei Grillparzer begegnen sich einmal
diese beiden Formen: „Mücken seihen und Kamele schlucken, — Waren stets
des deutschen Geistes Mucken.“)
2) Geisteskranke, die sich über Insekten, Spinnen u. dgl. im Kopfe be¬
klagen, finden sich auch heute in Irrenanstalten.
3) Krankheitsbezeichnungen aus dem Bereich der Insektennamen, die sich
nicht auf geistige und seelische Störungen beziehen, sondern auf körper¬
liche Affektionen, sind: französisch teigne (== Motte) für Kopfgrind und ver¬
schiedene Tierkrankheiten, deutsch „Raupe“ für Räude.
191
wasps, sein Kopf ist voller Wespen, sagt der Engländer. Maggot = Made
bedeutet auch: Schrulle; maggot-headed, wörtlich madenköpfig, kommt i^
Sinne von grillenfängerisch auch bei Shakespeare vor.
Aus dem Französischen erwähnen wir: il a des grillons dans Ia tete ( er
hat Grillen im Kopf); papillons noirs (schwarze Schmetterlinge) fü r
düstere Gedanken (vgl. dazu portugiesisch borbetär = phantasieren, von
borbeta = Schmetterling) ; la mouche lui monte ä la tete (die Fliege steigt
ihm zu Kopf). Im Französischen heißt es von einem, bei dem es nicht rich¬
tig im Oberstübchen ist, auch, er habe Spinnen oder Maikäfer unter seiner
Zimmerdecke: il a des araignees (des hannetons) sous le plafond. Auch
fragt der Franzose: quelle guepe vous a pique le cerveau? welche Wespe
hat Sie im Hirn gestochen? In der französischen Seemannssprache bedeutet*
avoir un cancrelat dans la boule (eine Schabe in der Kugel haben) : ein
wenig übergeschnappt sein. Im Provenzalischen heißt es: a la testo pleno
de grasules, er hat den Kopf voller Hornissen. Eine andere provenzalische
Redensart von einem, der zu tollen Streichen aufgelegt ist: a uno toro
comme un coulounbre, er hat eine Raupe, 1 so groß wie eine Natter.
Auch der Italiener spricht wie der Deutsche von Grillen im Kopfe: ha il
capo pieno di grilli (cicale) ; levare i grilli dal capo ad uno = jemandem
die Grillen vertreiben. Im Spanischen heißt es von jemandem, der schlecht
gelaunt und leicht reizbar ist, er habe die Fliege, estä con mosca oder va
con mosca. Auch der Rumäne spricht von Käfern (a aveä gändaci in cap)
oder von Hornissen im Kopf (are gargauni in cap.)
Dem Wurm als Krankheitsnamen sind wir bereits oben begegnet.
Hier ist noch nachzutragen, daß er auch zur Benennung g e i s t i g e r und
seelischer Störungen herangezogen wird. In Fischarts Gargantua ist zu lesen:
„Hirn, das euch bringet so seltsame Wurm.“ Aver i bachi, Würmer haben,
bedeutet im Italienischen: unruhig, unstet, schlechter Laune sein. Tuer le
ver, den Wurm töten, bedeutet im Pariser Argot: ein Glas Schnaps trinken,
um ein unangenehmes Allgemeingefühl zu beseitigen. Im Englischen bedeu¬
tet das Hauptwort worm auch: Sparren, Marotte, Qual, Kummer.
Auch dem Fr o s c h und der Maus (s. oben S. 183 ff) sind wir
schon begegnet. Auch zu diesen Tiernamen ist in diesem — gleichsam psy¬
chiatrischen — Kapitel einiges nachzutragen: aus dem Italienischen aver
delle rane nella testa (Frösche im Kopf haben) = geistig nicht ganz normal
sein; aus dem Holländischen: muizennestern in dem kopp hebben (Mäuse¬
nester im Kopf haben) = von Sorgen geplagt werden. Auch im Deutschen
ist gebräuchlich: ihm steckt der Kopf voller Mäusenester. Mehr noch als
192
. der Maus, 1 wird der Name der Ratte zur Bezeichnung von Sorgen,
Schrullen, Verrücktheiten, herangezogen. „Wenn dir eine Ratte durch den
Kopf lauft", heißt es einmal bei Goethe. Der Engländer sagt von einem,
j er geistig nicht normal ist: he has rats in his garret, er hat Ratten im
Dachstübchen; der Franzose von einem, der verärgert, launenhaft ist: il a
ies rats, er hat Ratten oder un rat lui trotte dans la tete, eine Ratte steigt
ihm im Kopf herum. 2
Auch Vögel kann nach der Pathologia animata der geistig gestörte
Mensch im Kopf haben. Einen Vogel haben bedeutet im Deutschen: när¬
risch sein, eine Schrulle haben. Daher die ablehnende Frage: hast wohl
’nen Vogel? Im Berlinischen: dir pickt er wohl (nämlich der Vogel im
Schädel herum). Früher sprach man auch von Tauben im Kopf. (Vgl.
oben auf S. 191 das Zitat aus dem Titel der „Katzipori" des Michael Lin-
dener.) Ein Beleg aus dem 16. Jahrhundert: so ihm dann die Tauben aus¬
geflogen (Zimmerische Chronik, 3, 168); aus dem nächsten Jahrhundert:
wunderseltsame Tauben und kauderwelsche Grillen stiegn mir damals im
Hirn (Simplicissimus 1, 19.) Auch in den romanischen Sprachen weiß
man es gewöhnlich genau, was für Vögel die Narren im Schädel haben,
es sind Spatzen (französisch: avoir des moineaux dans Ia tete),
Schwalben (im französischen Argot: avoir une hirondelle dans le
soliveau) oder S t i e g 1 i t z e (rumänisch: a aveä stigleti in cap). Dafür,
daß ursprünglich nicht bloß ein sprachliches Bild vorlag, sondern daß die
animistisch-dämonologische Auffassung der Krankheiten an wirkliche Vögel
dachte, die im Kopf des Menschen nisten, sprechen ähnliche Vorstellungen
primitiver Völker. Nach Hovorka-Kornfeld wird z. B. auf der Sundainsel
Timor, in dem Glauben, es sitze ein Geist in Vogelgestalt im Wahnsin¬
nigen, zu Heilungszwecken eine künstliche Vogelfigur mit Pfeilen beschossen.
In die Reihe der Krankheiten, zu deren Bezeichnung der volkstümliche
Sprachgebrauch Tiernamen heranzieht, gehört auch die akute Alkoholvergif-
1) Aus der Mundart Hessen-Nassaus führen wir an: Mäuse machen =
Unsinn reden, Ausflüchte machen. (Auch bei Goethe: Sie macht Mäuse und
will sich nicht ergeben.)
2) Das Pariser Argot kennt übrigens auch eine „Ratte im Rüssel“, avoir
un rat dans la trompe = verärgert sein, erbittert sein. Es scheint hier ein
ähnliches Bild vorzuliegen wie in der deutschen Redensart: mit einer langen
Nase abziehen.
J3 Storfer« Sprache
193
tung, der Rausch. In vielen Fällen wird hier die Bedeutungsübertragung
von ähnlichen Vorstellungen gefördert, wie es jene sind, die der Bezeich¬
nung von seelischen Absonderlichkeiten als Grillen, Mucken, Mäusen im
Kopf zugrunde liegen. Dem Betrunkenen brummt der Schädel, irgend¬
welche Lebewesen treiben Unfug in seinem Kopfe. Daher wird der Rausch
als eigenes Lebewesen aufgefaßt und ein Tiername wird die Bezeichnung
des Rausches selbst.
In den romanischen Sprachen wird der Rausch oft mit einem Vogel-
namen belegt. Der Rausch ist eine Elster oder ein Hänfling im Französi¬
schen (pie, 1 linotte 2 ) und im Provenzalischen (agassa, ügnoto), eine
Eule im Italienischen (civetta) und im Provenzalischen (machola), eine
Lerche im Rumänischen (riocirlan) und im Provinzahschen (calandra), ein
Turmfalke im Spanischen (cernicalo), eine Nachtigall im Provenzalischen
(rosinhol), eine Wachtel im Rumänischen (prepelita) und sogar ein Trut¬
hahn 3 im Portugiesischen (perna). Im Spanischen und Provenzalischen
wird der Rausch auch als cigalo (Zikade) bezeichnet. Schuchardt sieht für
die Verwendung von Vogelnamen als Rauschbezeichung in der stimm¬
lichen Betätigung der Vögel die Vergleichsgrundlage; dem Betrunkenen
„singe" es im Kopf. Ganz abzulehnen ist jene Deutung, die vom Gedan¬
ken ausgeht, die Betrunkenheit lasse einen wie einen Vogel singen; diese
rationalistische Deutung vertritt z. B. Mistral für die angeführten proven¬
zalischen Ausdrücke.
Auch mit Namen von Säugetieren bezeichnet man mitunter den
Rausch, bezw. gewisse Rauscharten, Trunkenheitsgrade. Im Spanischen be¬
zeichnet man den Rausch als Fuchs, zorra 4 (auch englisch foxed = be¬
trunken, to catch a fox, einen Fuchs erwischen = sehr betrunken sein), als
Wolf, lobo (vgl. französisch louper = saufen), als Hund, perra,
1) Bei der Bezeichnung des Rausches als einer Elster dürften noch
zwei volkstümliche Vorstellungen mitspielen: daß die Elster ein besonders
durstiges Tier sei (vgl. in „Wörter und ihre Schicksale“ im Anschluß an
das Stichwort „Anger 46 die Ausführungen über das Brüssler Gasthaus „zur
hinkenden Elster“) und daß sie besonders schwatzhaft sei (vgl. in
„Wörter und ihre Schicksale“ das Wort „Gazette 46 , seine falsche Ableitung von
der „gazza“, der schwatzhaften Elster).
2) Auch redensartlich: französisch siffler la linotte, dem Hänfling etwas
vorpfeifen == über den Durst trinken; entsprechend provenzalisch carga la
lignoto, dauphinesisch soufler la linota.
3) Beim Vergleich des Betrunkenen mit einem Truthahn wird wohl an
die lärmende Gereiztheit des Vogels gedacht.
4) Daher desollar la zorra, den Fuchs häuten = den Rausch ausschläfen.
dv’cha 1 Der Italiener bezeichnet den Rausch als Bären, orso oder als
Katze, gatta. Die Katze dient zur Bezeichnung der Trunkenheit auch im
Katalanischen, gat und im Portugiesischen. Auch im Baskischen von Biskaya
und Guipuzkoa bedeutet katu = Katze auch Rausch, daher katutu = sich
{^trinken. Ob auch der deutsche Ausdruck Kater zur Bezeichnung der
Machwirkung des Rausches 2 hierher gehört, d. h. ob er ein übertragener
Tiername ist, gilt als strittig. Wohl kommen gelegentlich Vergleiche vor,
w ie etwa „besoffen wie ein Kater'" (bei Magister Laukhard), und auch
Forscher vom Range eines Hildebrand, eines Schuchardt vertreten die Auf¬
fassung, Kater im Sinne von Katzenjammer sei gleichsam eine Steigerung
von Katze = Rausch 3 ; man muß aber doch jener Deutung den Vor¬
rang geben, nach welcher Kater eine volkstümliche Eindeutschung des grie¬
chischen Wortes Katarrh (katärrhus = Herabfluß aus katä = herab,
rheo = fließe) ist 4 . Der Umstand, daß Kater ein Synonym des älteren
Ausdrucks Katzenjammer 5 ist, könnte allerdings dazu veranlassen, die
Möglichkeit eines Zusammenhangs zwischen dem Ausdruck Kater (im Sinne
von nachalkoholischem Zustand) und der Vorstellung der Felis domestica
nicht endgültig preiszugeben.
1) Deutsch Spitz = leichter Rausch, ist aber nicht von Spitzhund
liergenommen, sondern hängt wohl mit spitz = fein zusammen (ähnlich im
Französischen pointe = Spitze = leichter Rausch).
2) H. Schräder führt den Scherz an: „Ich bin ganz Menagerie. Gestern
abend habe ich Schafskopf gespielt, Schwein gehabt, Bock getrunken, Spitz
erwischt, Affen nach Hause gebracht, heute scheußlicher Kater!“
3) Eine andere Deutung von Kater = Katzenjammer knüpft nach Bor-
chardt-Wustmann an ein schweres Stader Bier an, das man Kater genannt
habe, weil es am nächsten Morgen den Menschen wie ein Kater kratze.
4) Noch mit einem anderen griechischen Worte wird der Name des
„Katers“ in wortgeschichtliche Beziehung gesetzt, mit griechisch katharos = rein,
das über den Namen der Sekte der Katharer auch zu den Wörtern „Ketzer“
und „Katzelmacher“ führen soll (vgl. S. 84 ff).
5) Katzenjammer (manchmal scherzhaft zu Lamentatio felium
übersetzt) taucht zuerst 1768 auf (Wichmann: „Es gibt eine Krankheit des Lei¬
bes, die zuweilen unglückliche Menschen mit den Katzen gemein haben und
die deswegen der Katzenjammer genannt wird.“) An der Verbreitung des
Ausdruckes dürften besonders Heidelberg und Frankfurt großen Anteil haben.
Er kommt auch bei Goethe, im Westöstlichen Diwan, vor (Welch ein Zustand!
Herr, so späte — Schleichst du heut aus deiner Kammer — Perser nennens
Bidamag buden — Deutsche sagen Katzenjammer). Ein anderer Frankfurter,
Börne, spricht von Katzenjammer als der Reue des Magens. „Katzenjammer“
ist vermutlich eine in studentischen Kreisen erfolgte Parallelbildung zu „Kat¬
zenmusik“, worunter man eine mit feindseliger oder verhöhnender Absicht
veranstaltete lärmende Kundgebung (Charivari, Poltermusik) verstand.
13 *
195
Das Säugetier, das am häufigsten den Alkoholrausch des homo sapiens
personifiziert, ist der Affe. Bei den Bezeichnungen des Rausches als
eines Affen, eines Bären, eines Wolfes usw., scheinen andere bedeutungs¬
geschichtliche Verhältnisse vorzuliegen, wie bei den Grillen, Vögeln, Mäu¬
sen im Kopf. Nicht um böse Elben oder lustige Schmarotzer, die im Schädel
in Vogel- oder Insektengestalt Unfug treiben, handelt es sich hier anschei¬
nend, sondern gleichsam um die Vorstellung von einer Verwandlung des
ganzen Menschen in ein Tier unter dem Einfluß des Alkohols. (R. Riegler;
„Diese Tiermetaphern hängen zusammen mit der auf jüdischer Tradition
beruhenden Vorstellung von der durch den Wein bewirkten Verwandlung
der Menschen in Tiere.") Auf einem Bilde von Caspar Scheit aus dem 16.
Jahrhundert, das ein Zechgelage darstellt, finden wir unter den zwölf i m
Gefolge des Bacchus auftretenden, in Tiere verwandelten Trinkern die
genannten, den Rausch symbolisierenden Tiere (Affe, Bär usw.) wieder. In
einem Gedichte auf einem „fliegenden Blatte" des 16. Jahrhunderts, das
von der verschiedenen Wirkung des Weines auf die vier Temperamente
handelt, heißt es, der Sanguiniker werde sanft wie ein Lamm, der Choleriker
grimmig wie ein Bär, der Phlegmatiker unflätig wie ein Schwein, der Melan¬
choliker närrisch und ausgelassen wie ein Affe. In manchen Gegenden
Frankreichs unterscheidet man Weine, je nach ihrer Wirkung, als Esels-,
Hirsch-, Löwen-, Elster-, Schweine-, Fuchs-, Affenweine (vin dane, de
cerf, de lion, de pie, de porc, de renard, de singe). Im Englischen bezeich¬
nen die Ausdrücke ape drunk, lion drunk, goat drunk, fox drunk (Affen¬
rausch, Löwenrausch, Bocksrausch, Fuchsrausch) verschiedene Trunken¬
heitsgrade.
Die Bezeichnung des Rausches als eines Affen tritt auch in mehreren
deutschen Redensarten in die Erscheinung. Einen Affen sitzen
haben bedeutet: betrunken sein; sich einen Affen kaufen: sich
betrinken; einen Affen loslassen („Traugott, laß den Affen los",
hieß es in einem alten Gassenhauer) oder seinem Affen Zucker
geben (u. a. bei Holtei und Fritz Reuter belegt): im Rausch lustig, aus¬
gelassen sein. Im Englischen bedeutet to suck the monkey (den Affen
saugen) : sich betrinken, in Matrosenkreisen besonders: sich hinter dem
Rücken der Vorgesetzten betrinken. 1 Als Affen bezeichnen den Rausch
auch die Italiener (monna, scimia, bertuccia 2 ), die Spanier und Portugie¬
sen (mona), die Tschechen (opice).
1) Im englischen Slang sagt man von einem, der in Zorn geraten ist:
his monkey is up, sein Affe ist auf.
2 ) Ha pigliato la bertuccia, la monna, er hat den Affen gekriegt; l cotto
196
Daß es sich bei der Bezeichnung des Rausches mit dem Namen des
*\ffen nicht einfach darum handelt, auf das im Betrunkenen in die Erschei¬
nung tretende Tierische schlechthin (die „Bestie im Menschen”) anzu¬
spielen, sondern daß gerade die Vorstellung vom Affen sich zu dieser Meta¬
pher gedrängt hat, ist begreiflich. Nicht in dem Sinne allerdings wie ein¬
zelne Wortforscher (Sainean u. a.) es meinten, die an die Vorliebe des
gefangenen Vierhänders für den Alkohol dachten. Maßgebend dürfte viel¬
mehr gewesen sein, daß der Betrunkene, wie Riegler ausführt,, durch die
Lebhaftigkeit seiner Gesten, seine Neigung zu allerhand Possen und nicht
zuletzt durch gesteigerte Reizbarkeit und daraus sich ergebende Streitlust
unwillkürlich an den Affen erinnert.
Im Anschluß^ an die Betrachtung der Tiernamen, die zur Bezeichnung
von Krankheiten und krankheitsartigen Zuständen verwendet werden, sei
schließlich noch erwähnt, daß die Sprache mitunter für einzelne pathologi¬
sche Erscheinungen zwar nicht gerade Tiernamen, aber Verweisungen auf die
Tierwelt verwendet, z. B. die betreffenden Erscheinungen am Menschen durch
Vergleiche mit Körperteilen von Tieren kennzeichnet. Das bekann¬
teste Beispiel dieser Kategorie ist Hühnerauge für die auch Leichdorn
genannte Verdickung der Hornhaut, besonders an den Zehen. Die Deutung,
Hühnerauge sei eine Volksetymologie aus „hürnen Auge“ (Hornauge) ist ab¬
zulehnen, der deutsche Ausdruck ist zweifellos eine Übersetzung des im
gleichen Sinne verwendeten mittellateinischen oculus pullinus (7. Jahrhun¬
dert). Übrigens kommt landschaftlich auch Elsterauge und Krähenauge statt
Hühnerauge vor. Der Franzose gebraucht neben oeil de poule auch oeil de
perdrix, Rebhuhnauge, der Spanier pata de gallo, Krähenfuß.
Die Bezeichnung Hasenscharte für die angeborene Spaltung der
Oberlippe beim Menschen ist ein Hinweis auf diese Eigenschaft des Hasen.
Auch das Angelsachsiche hatte haresceard, im Englischen wird von hare-lip,
Hasenlippe gesprochen; ähnlich italienisch labbro leporino, doch auch voglia
della lepre, Hasenmal, im Französischen bec du li£vre, Hasenschnabel.
Für die Spaltung des harten Gaumens, eine angeborene Mißbildung, ist
im Deutschen der Ausdruck Wolfsrachen üblich (englisch wolf’s jaw,
italienisch bocca di lupo, französisch gueule-de-loup), vielleicht, weil diese
Gaumenspaltung den Mund größer, als einen „tiefen Rachen“, erscheinen
läßt.
Bei einem schmalbrüstigen Menschen spricht man von einer Hühner¬
brust (der Engländer spricht von taubenbrüstigen, pigeon-breasted Men-
comme una monna, er ist gekocht (berauscht) wie ein Affe (Bezeichnung eines
besonders starken, eines „Kanonenrausches“). Spanisch: dormir la mona, den
Affen ausschlafen.
*97
1
sehen) und dünne Waden bezeichnen wir als H ü h n e r w a d e n (franzö¬
sisch pattes de coq, Hahnenfüße) oder Spatzenbeine. Andererseits be¬
zeichnet man als Elefantenfüße oder Elephantiasis eine Gewebe¬
erkrankung, die zur ungeheuren Vergrößerung der Extremitäten führt.
Die mit zunehmendem Alter stärker werdenden Furchen in der Schlä¬
fenhaut, die von den äußeren Augenwinkeln strahlenförmig ausgehen, nennen
wir auch Krähenfüße.
Hervorstehende Augen, wie sie besonders die Basedowsche Krankheit
zeigt, bezeichnet man als Froschaugen (spanisch ojos de sapo = Krö¬
tenaugen). Im Pariser Argot nennt man Augen mit geröteten Lidern: yeux
bordes d’anchois, mit Anchovis (Sardellen) umränderte Augen (scheint sich
auf das rötliche Fleisch der konservierten Sardellen zu beziehen).
198
Die Namen der fünf Erdteile
I) Europa
Vom Namen Europa ist mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit anzu¬
nehmen, daß er eine asiatische Prägung ist. Für die Ionier Kleinasiens mu߬
ten das Ägäische und das Schwarze Meer eine gewisse Trennung innerhalb
der ihnen bekannten Gebiete bedeuten und daraus erwuchs für sie ein
Bedürfnis nach einer gemeinsamen Bezeichnung der jenseits dieser Meere
gelegenen Länder. Nichts ist natürlicher, als anzunehmen, daß sie diese
Gebiete nach ihrer Lage im Verhältnis zum Sonnenlauf benannten und
daher zu versuchen, „Europa*' als „A b e n d 1 a n d" zu deuten. Man hat
daher Europa als eine Abwandlung von e r e b o s auf gefaßt, welches Wort
im Griechischen ein phönizisch-hebräisches Lehnwort ist mit der Bedeutung:
das Dunkel, Schattenreich, Unterwelt. Andere leiten „Europa" unmittelbar
aus semitisch ereb = Abend ab und setzen dabei als wahrscheinlich
voraus, daß die Vorstellung vom Erdteil Europa überhaupt zuerst von den
Phöniziern gefaßt worden sei.
Nach anderen Etymologen ist das erste Element in „Europa" das grie¬
chische euros = schwarzer Anlauf, Moder, Rost, Schimmel, schwarze
Farbe.
Man hat den Erdteilnamen Europa auch aus einem mythologischen Namen
deuten wollen, aus dem jener Jungfrau Europa, der Tochter des
Phönix oder des phönizischen Königs Agenor, die Zeus in Stiergestalt übers
Meer schwimmend nach Kreta entführt. 1 Aber die entführte Stierbraut hat
in der Mythologie ihren Namen wohl erst nach der Erdteilbezeichnung
und ihr z u f o 1 g e bekommen. (Aus guten Gründen, wenn auch ein wenig
i) Bei Horaz, Oden III, 27, 75 weissagt Venus der entführten Jungfrau
Europa, daß ihren Namen ein ganzer Erdteil führen wird, tua sectus orbis no-
mina ducet, und schon bei Herodotos, IV, 45 heißt es: ei me apo tes Tyries
phesomen Europas labein to ounoma ten choren (wenn wir nicht glauben
wollen, daß das Land seinen Namen von der Europa aus Tyros erhalten habe).
199
auf die Spitze getrieben, schrieb Hugo Schuchardt: Alle Mythologie beruht
im wesentlichen auf sprachlichen Mißverständnissen.)
Solmsen deutet das Wort Europa als „B r e i t g e s i c h t" — aus den
griechischen Wörtern eurys und ops. Der Ausdruck sei besonders in ebenen
weiten Gegenden gedacht, so auch in Böotien, als Bezeichnung für eine
Ebene und übertragen für ganz Böotien, 1 aber auch als Name einer
böotischen Erdgöttin. Das Böotien bezeichnende Wort sei dann der Name
ganz Mittelgriechenlands und schließlich des ganzen festländischen Grie¬
chenlands (im Gegensatz zu den Inseln und zu Kleinasien) geworden.
Obschon gegen die Ableitung des Namens für den ganzen Erdteil aus
der Bezeichnung der böotischen Ebene grundsätzlich nichts einzuwenden ist
(man denke daran, daß die Schweiz nach dem Kantone Schwyz heißt, daß
Italia ursprünglich nur der Name der äußersten Südwestspitze der Halb¬
insel war, daß die Franzosen Deutschland nach den Alemannen, einem
einzigen seiner Stämme, als Allemagne bezeichnen), so besticht andererseits
die Ableitung des Namens Europa aus semitisch ereb = Abend (unmittel¬
bar oder durch Vermittlung von griechisch erebos) durch ihre Einfachheit. 2
II) Asien
Das etymologische Gegenstück dazu wäre der Nachweis, daß der Name
Asien ebenfalls semitischer Herkunft sei und die ursprüngliche Bedeutung
1) Ich verweise auch darauf, daß nach der Sage die geraubte Europa die
Schwester des Phönikers Kadmos war, der über das böotische Theben
herrschte.
2) Neuestens (1936) hat allerdings Hans Philipp mehrere Einwände gegen
die Deutung von Europa aus ereb erhoben. Für die Griechen sei „Europa“
nie ein Westland, sondern ein Nordland gewesen. Hekatäus von Milet soll
als erster Erdteile unterschieden haben, u. zw. soll er, nach der Rekonstruk¬
tion seiner nicht erhaltenen Karte (517 v. Chr.) durch Sieglin, die Erdscheibe
in eine Nord- (Europa) und in eine Südhälfte (Asien) zerlegt haben. Nach
H. Philipps Gedankengang sei Europa nicht von Anfang an der Name eines
ganzen Erdteils gewesen, sondern er hafte ursprünglich allein im nördlichen
Randgebiet der Ägäis und in Nordgriechenland, an den thrakischen oder
mazedonischen Küstengebieten. Europa sei also — wie das ja nach gewissen
Deutungen auch für andere alte Erdteile gelte — der Name eines Rand¬
gebietes. So will z. B. nach Herodot VII, 8 der Perserkönig sein Heer zur Un¬
terwerfung der Griechen „durch Europa (also wohl: Thrakien) nach Hellas
führen“. Wenn nun Europa wirklich ursprünglich der Name einer thraki¬
schen oder mazedonischen Landschaft war, so ist unser Erdteil nach H. Phi¬
lipp von dem Makel, einen semitischen Namen zu führen, befreit. Das Wort
könnte dann der Sprache einer vorindogermanischen Bevölkerungsschichte in
Griechenland, der der Karer oder der Leleger zugeschrieben werden.
200
nland habe. 1 Man hat denn auch Asia mit dem akkadischen
^ylooischeri) Worte agu = Osten in Verbindung gebracht, aber dies
' ^- ne Hypothese neben anderen. Andere auf semitischen Ursprung
1>c . j enc j e Etymologien denken an hebräische Wurzeln, die dem Worte
Astn die Bedeutung „Mittelland" oder „Glanzland" gäben.
‘ ‘^ u £ ^j e Feststellung, daß als Asien ursprünglich nur ein Teil von Lydien
bezeichnet wurde, der zwischen dem Tmolus-Gebirge und dem Kayster-
floß gelegene, Solmsen Gewicht. Die an der kleinasiatischen Küste
wohnenden Ionier hätten die Bezeichnung dieses landeinwärts liegenden
Irischen Gebietes dann auf das Binnenland überhaupt ausgedehnt.
* Auf Asioi (Arshi), den einheimischen Namen der Tocharer in Osttur-
kestan (eines indoskythischen Volkes, d. h. eines indogermanischen Volkes
mit mongolischem Einschlag) führt Sieg den Namen Asien zurück (Sit¬
zungsberichte der Preussischen Akademie, 1911).
Der mythologische Personenname Asia — für die Tochter des Prome¬
theus nach Herodot, für eine Tochter des Okeanos und der Tethys nach
Hesiod — ist wohl erst aus dem Erdteilnamen entwickelt.
III) Afrika
Die verschiedenen Deutungen des Erdteilnamens Afrika bewegen sich
iast ausschließlich auf semitischem Sprachboden. Wir erwähnen
a) die Ableitung aus dem hebräischen Männernamen Epher; so heißt
nach 1 Moses 24, 4 einer der Enkel Abrahams aus seiner zweiten Ehe mit
Keturah;
b) die Ableitung aus dem hebräischen Männernamen Ophir; so heißt
einer der Nachkommen Sems nach 1 Moses 10, 29.
c) die Ableitung aus dem Namen des Landes Ophir, aus dem König
Salomon zu Schiff Gold und Edelsteine, Pfauen und Affen bezog, das man
aber heute nicht nur in Afrika (nach Peters und Frobenius in Südafrika),
sondern auch in Südarabien (Oman), in Ostindien (wo es am Indus ein
Hirtenvolk namens Abhira gegeben hat) und an verschiedenen anderen
Stellen Asiens sucht.
d) Eine andere Deutung denkt an hebräisch afar = trockene Erde, Staub.
i) Länderbezeichnungen mit der Bedeutung „Land des Sonnenaufgangs“
sind nicht selten. Wir nennen z. B. Anatolien (von griechisch anatole =
Anfang) und Nippon oder Japan (aus chinesisch jih-pen = Sonnen¬
ursprung). Man denke auch an die Bezeichnungen Orient (lateinisch oriens
sol = aufgehende Sonne, zu oriri = sich erheben), L'evante (zu italienisch
levare = sich erheben) und an den deutschen Ausdruck „Morgenland“.
201
e) Als Kuriosum sei die Ableitung von Afrika aus arabisch feriq
visionsgeneral angeführt.
f) Eine Etymologie von Afrika, die nicht auf semitische Wortwur*elQ
zurückgeht, sondern auf indogermanische, aber nur als Wortwitz gewertet
werden kann, findet sich in der Diderot-d’Alembertschen Enzyklopädie
wo französisch Afrique in a-phrike zerlegt wird und daher bedeuten soll¬
kältelos, Land ohne Kälte.
Daß im Namen Afrika semitische Sprachelemente stecken, kann als wahr-
scheinlich gelten, denn das Gebiet, das die Römer zunächst als Afrika be-
zeichneten, war tatsächlich ein semitisches. Das am Libanon beheimatete
Seefahrervolk der Phönizier gründete im Altertum an vielen Küsten des
Mittelmeeres (bis weit nach Spanien) Handelskolonien. In Nordafrika ent¬
wickelte sich aus den phönizischen Siedlungen um den Kern von Karthago
das mächtige punische Reich. Mit diesen Puniern (in Erinnerung an die
eigentliche phönizische Heimat am Libanon nannten sich die punischen
Bauern noch zur Zeit des heiligen Augustinus Kanaaniter), deren Herr¬
schaft sich auch auf die Inseln Sardinien und Sizilien erstreckte, kamen dann
vom 5. vorchristlichen Jahrhundert an die Römer in Berührung. Als die aus
dem Zusammenprall der beiden Großmächte schließlich als Siegel? hervor¬
gegangenen Römer die erste Provinz in Nordafrika, nördlich der großen Syrte,
errichteten, nannten sie diese nach den Afarika oder Awrighas, einem dort
ansässigen — und wie auch die sonstige Bevölkerung des engeren kartha¬
gischen Gebietes wohl semitischen — Volksstamme: Africa. Dann dehnen
sie diese Bezeichnung auf alle Länder der nördlichen Küste westlich von
Ägypten aus. Ägypten selbst und Äthiopien zählte noch nicht zu Afrika.
Die Griechen andererseits, denen Nord o s t afrika näher lag, hatten für
diesen Teil eine umfassende Bezeichnung L i b y e, nach dem Volke
der Libu oder Rbu in Cyrene, dem ersten Stamme, den sie dort ken¬
nen lernten. Auf dem Gebiete des heutigen Tripolitaniens und der Cyrenaika
überschnitten sich die Bezeichnungen Africa (der Römer) und Libye
(der Griechen). Während aber Libyen, die bei den Griechen übliche Be¬
zeichnung für den Erdteil Afrika, so weit es ihnen bekannt war, schlie߬
lich nur noch in eingeschränkter Bedeutung bestehen blieb, heute nur noch
als Bezeichnung für den italienischen Kolonialbesitz in Nordafrika (Tripoli-
tanien und Cyrenaika), hat sich die römische Bezeichnung Africa für den
ganzen Erdteil durchgesetzt, dessen ganzer Umfang den abendländischen
Völkern allerdings erst später bekannt geworden ist, als die Portugiesen ihn
als die ersten umschifften.
202
IV) Amerika
paß die von ihnen nacheinander entdeckten Küstenstriche mit dem vom
lmeer aus bekannten afrikanischen Kontinente Zusammenhängen und
1 , dem gleichen Erdteil zuzurechnen waren, konnten die Portugiesen
l cht und mit Recht annehmen. Weniger leicht hatten es zur gleichen Zeit
f! span ischen Entdecker, die nach dem fernen Westen segelten. Es ist allge-
fL bekannt, daß Kolumbus einen Seeweg nach dem asiatischen Indien
^chte und daß man, als die ersten Inseln in Mittelamerika entdeckt wurden,
von Westindien" sprach, noch immer in der Voraussetzung eines
ographischen Zus amm enhangs mit dem längst bekannten asiatischen In¬
dien (seither zur Unterscheidung Ostindien genannt). 1
Per neue Erdteil mußte sozusagen zweimal entdeckt werden. Zunächst
entdeckte ihn Kolumbus, als er am 12. Oktober 1492 seinen Fuß auf die
Insel Guanahani setzte. Aber es mußte auch noch der Umstand entdeckt
werden, daß ein neuer Erdteil entdeckt worden war. Dieses Verdienst wird
dem Florentiner Amerigo Vespucci zugeschrieben. Vespucci, 1451 geboren,
war viele Jahre im großen Kaufhaus des Lorenzo di Piero Francesco de Me¬
dici eines Vetters des berühmten Lorenzo, tätig. 1492 übersiedelte er nach
Sevilla, wo das Haus Berardi eine Filiale der großen Florentiner Firma war.
Im Jahre 1499, also sieben Jahre nach der weltgeschichtlichen ersten Fahrt
des Genuesen, nahm Vespucci (vielleicht in Vertretung der Handelsinter¬
essen des Hauses Berardi) an einer Expedition des Alonzo de Hojeda teil
und gelangte mit ihm nach Guyana, Venezuela, Nordbrasilien. In einem
ausführlichen Briefe, den Vespucci im Jahre 1503 an seinen Freund, Gön¬
ner und früheren Chef Lorenzo di Medici schrieb, und in einem Reisebericht,
den er an Soderini, den Gonfalonier von Florenz, schickte, stellt Vespucci
einige unwahre Behauptungen auf, indem er angibt, daß er an mehreren
Entdeckungs- und Forschungsreisen teilgenommen habe, insbesondere, daß
er bereits im Jahre 1497 eine Expedition nach dem fernen Westen unter¬
nommen habe. In Wirklichkeit lebte er in jenem Jahre noch als Schiffs¬
makler und „Heringverkäufer", wie die strengen Kritiker des Florentiners
höhnen, in Spanien. In Vespuccis Bericht an den Mediceer stehen aber ge¬
il Kolumbus hielt so eigensinnig an dem Gedanken fest, Teile des asia¬
tischen Kontinents gefunden zu haben, daß er auf der zweiten Fahrt die
Mannschaften seiner drei Schiffe am 12. Juni 1494 veranlaßte, eidlich und
schriftlich zu erklären, das entdeckte Land gehöre zu Asien, damit er dieses
feierlich beglaubigte Dokument den Zweiflern entgegenhalten könne. Als
Strafe sollte jedem Mitglied der Besatzung, das jemals das Beschworene in
Abrede stellte, die lügnerische Zunge auf geschlitzt werden.
203
wichtige Worte über die neu entdeckten Gebiete: „es ist angemessen sie
eine neue Welt zu nennen 1 '. Diesen (italienischen) Brief Heß Fra Gio
vanni Giocondo, Dominikanermönch, Schiffs- und Brückenbauer, ins Latei
nische übersetzen und 1504 in Paris veröffentlichen. Die Schrift fand
große Verbreitung, wurde oft nachgedruckt, und die Bezeichnung M u n d u s
Novus wurde allgemein. Im Sommer 1505 ließ der elsässische Dichter
Matthias Ringmann bei dem Straßburger Drucker Matthias Hüpfuff eine
neue lateinische Ausgabe des „Neue-Welt-Brief es" erscheinen. Im nächsten
Jahre ließ Ringmann bei demselben Drucker — ohne Angabe von Drucker
Übersetzer und Verlagsort — eine deutsche Übersetzung erscheinen unter
dem Titel „Von den nüwe Inseln und landen so yetz kürtzlichen erfunden
durch den Künig von Portugall." 1
Das Verdienst des Vespucci besteht darin, durch die erstmalige Ver.
knüpfung des Begriffes „neu" mit dem Begriffe „Welt" in seiner durch
Übersetzen und Nachdruck stark verbreiteten Schrift die Grundlage für den
stehenden Ausdruck „Neue Welt" geschaffen zu haben. Ähnliche Bezeich¬
nungen tauchten allerdings schon sofort nach Bekanntwerden der ersten
Entdeckungen des Kolumbus (z. B. schon 1494 in Sebastian Brants Narren¬
schiff) auf (im Deutschen z. B. Newes Land, Nüwe Insulen, Neugefun¬
dene Inseln). Die Wirkung des! Vespucci ist im Grunde genommen die eines
smarten Journalisten, der sich nicht scheut, den Mund möglichst voll zu
nehmen und von einer neuen „Welt" zu sprechen, und bei der Prägung
eines solchen Schlagwortes auch das Glück einer großen Publizität hat.
Dieses Glück ging aber noch weiter. Am Gymnasium zu St. Die, dem
Hauptort des Herzogtums Lothringen, das damals zum Deutschen Reich ge¬
hörte, bestand um jene Jahrhundertwende eine kleine Arbeitsgemeinschaft
einiger tüchtiger Gelehrten. Von den beiden Elsässern Walter und Johann
Lud war der erste, Sekretär des Herzogs Rene, ein wohlhabender Mann,
was ihm ermöglichte, 1494 eine Druckerei zu errichten. Die Mitarbeiter der
Brüder Lud waren die Kollegen: Matthias Ringmann, der als Übersetzer
des Vespuccischen Briefes bereits genannte Dichter und Schulmann, der aus
dem Badischen stammende Martin Waltzemüller, eigentlich Waldseemüller,
der sich nach Mode der Humanisten auch Martinus Hylacomylus (oder
Ilacomilus) nannte und der Kanonikus Jean Basin, der einzige Franzose in
der Gesellschaft. 1507 erschien unter dem Namen von Waldseemüller-
i) Vespucci stellte nämlich in seinem Briefe auch die unwahre Behaup¬
tung auf, er habe zwei Reisen im Dienste der portugiesischen Krone unter¬
nommen und daher ist auch im lateinischen Gedichte, das Ringmann dem Ves¬
puccischen Briefe hinzufügt, vom König von Lusitanien die Rede.
204
. omy ius in der Druckerei zu St. Die eine Cosmographiae Introductio,
V Einführung in die Kosmographie des Ptolemäus, wohl eine gemeinsame
A^eit der genannten Männer. Zu dieser Schrift wurde auch noch eine von
Waldseemüller gezeichnete Weltkarte herausgegeben und diese war die
erste gedruckte Karte, auf denen die überseeischen Entdeckungen der Spa¬
lier und Portugiesen eingezeichnet waren.
* Auf dieser Karte erschien auch zum ersten Male die Bezeichnung Terra
America für die neuentdeckten Gebiete. Zweifellos war eine Ehrung des
Amerigo Vespucci damit beabsichtigt. Es heißt in der Cosmographiae
Introductio: quam quin Americus invenit Amerigen, quasi Americi terra,
sive America. (Aus einer Fußnote geht hervor, daß im Akkusativ Amerigen
die griechische Wurzel ge = Erde gedacht war.) Es erscheint ziemlich son¬
derbar daß einige Schulmeister in einem Vogesenstädtchen sich anmaßten,
einen großen Erdteil nach eigener Willkür zu taufen und noch dazu nach
einem Manne, der an den Entdeckungen einen ganz geringen Anteil hatte.
Vielleicht waren dabei irgendwelche Sonderinteressen im Spiel. Ringmann
hitte sich besonders für die Verbreitung des Vespuccischen Neuweltbriefes
eingesetzt und vielleicht war es gleichsam ein verlegerisches Interesse, den
erfolgreichen „Verlagsautor" in der Öffentlichkeit mit allen Mitteln zu för¬
dern. Der Deutschamerikaner H. Charles führt in einem von affektiven
Übertreibungen strotzenden Buche, das die Überschrift „Urdeutsch — All¬
deutsch — Made in Germany" trägt, viele Gründe dafür ins Feld, daß es
Ringmanns Idee gewesen sein muß, den neuen Erdteil nach dem Vornamen
Vespuccis zu benennen. Als Dichter sei er eben „entzückt vom romantischen
Vornamen" gewesen 1 . Auch habe Ringmann damit einem urgermanischen
Namen 2 zur Weltgeltung verhelfen wollen.
Nach Veröffentlichung seiner „Weltkarte", scheint Waldseemüller doch
Zweifel darüber bekommen zu haben, ob es berechtigt sei, die neuen Ge¬
biete nach Vespucci zu benennen, da ihm mittlerweile bekannt geworden
1) „Ein gelehrter Pedant“, schreibt Oskar Peschei, „oder ein verknöcher¬
ter Bürokrat wäre nie auf so eine Idee gekommen.“ Wenn Vespucci nicht
den hochtrabenden und zugleich wenig bekannten Namen Amerigo geführt
hätte, meint Humboldt, oder wenn er in der Taufe, wie mehrere seiner
Vorfahren Michael oder Romulus oder Blasius Vespucci genannt worden
wäre, so würde man zu St. Die nicht daran gedacht haben, von diesem Na¬
men die Benennung des neuen Erdteiles zu entlehnen.
2) Im germanischen Namen Amalrich, Amalareik (so hieß der Sohn des
Gotenkönigs Alarichs II.) ist die letzte Silbe, —rieh, allerdings keltisches
Sprachgut (vgl. S. 40 f). Eine bekanntere Nebenform von Amalrich (Amerigo)
ist Emmerich (ungarisch Imre).
205
1
sein dürfte, daß Vespucci den größten Teil der Reisen, deren er sich rühmte 1
gar nicht unternommen hat. Auf der Karte, die Waldseemüller 1513 fü r *
die Ptolemäus-Ausgabe zeichnete, und auch auf seiner 1516 veröffentlichten
Seekarte (Carta Marina) erscheint jedenfalls der Name America nicht
mehr.
Aber es war bereits zu spät. Die in 1000 Exemplaren gedruckte Karte
von 1507 war mittlerweile schon stark verbreitet 1 .
Der große Anteil der Weltkarte von Waldseemüller an der Verbreitung
des Namens Amerika blieb lange unbeachtet und so konnte die (von
Hertslet zu den „Treppenwitzen der Weltgeschichte'' gezählte) Auffassung
Platz greifen, Vespucci hätte dem von anderen entdeckten Kontinent ab.
sichtlich durch schlaue Ränke den Namen Amerika verschafft. „Seit-
sam", schreibt Ralph W. Emerson 1856, „daß das große Amerika den Na¬
men eines Diebes tragen muß. Amerigo Vespucci, der Heringhändler
von Sevilla, der im Jahre 1499 als Untergebener von Hojeda ausfuhr und
dessen höchster seemännischer Rang der eines Bootsmannmaates 2 in einer
Expedition war, die niemals segelte, hat es in dieser lügnerischen Welt fer¬
tiggebracht, den Kolumbus zu verdrängen und die halbe Welt mit
seinem unehrlichen Namen zu taufen." Das ist eine Über¬
treibung. Vespucci, der, wie es scheint, als erster erkannt hat, daß es sich um
einen neuen Weltteil handelte, und den Begriff „Neue Welt" prägte, hat
durch seinen Bericht, in dem er auch Beobachtungen anderer über Land
und Leute der neuen Gebiete in großsprecherischer Weise als eigene Wahr¬
nehmungen ausgab, andere unbeabsichtigt dazu veranlaßt, wegen seines ver-
1) Zu bemerken ist, daß auf Waldseemüllers Weltkarte 1507 (und auf
den auf ihr beruhenden späteren Karten, z. B. auf der Weltkarte, die 1510
von Henricus Glareanus, dem späteren Freiburger Professor, gezeichnet wurde)
die Bezeichnung Terra America eigentlich nur dem südlichen Teil des
neuen Erdteiles galt. Die von Kolumbus entdeckten westindischen Inseln und
die spärlichen, damals schon bekannten Teile der Nordhälfte des Kontinents
waren im Begriff „Amerika“ noch nicht enthalten, da man eben immer noch
glaubte, man habe es bei diesen Gebieten mit Asien (Indien) zu tun. Auf der
Karte von Glareanus ist die Terra Americana von Westindien und den nörd¬
lichen Gebieten durch einen Streifen des Ozeans und durch ändere Farben¬
gebung geschieden (Solmsen).
2) Dem ist aber entgegenzuhalten, daß Vespucci — allerdings erst nach
Verfassung und Veröffentlichung seiner Briefe über die „Neue Welt“ — 1508
piloto mayor, Großlotse wurde, d. i. etwa Vorsteher eines hydrographischen
Amtes zur Herausgabe amtlicher Seekarten. In dieser Eigenschaft dürfte er in
seinen letzten Lebensjahren auch noch einige Reisen an die südamerikanische
Ostküste unternommen haben.
206
• tlichen großen Anteils an den Entdeckungen die neuen Gebiete nach
. Vornamen zu benennen, er selbst hatte sich aber keineswegs als
f te j er Neuen Welt auf gedrängt und scheint sogar bis zu seinem
1512 erfolgten Tode in keiner Weise die damals schon in Verbreitung be¬
findliche Benennung des neuen Erdteils gefördert zu haben. Sogar sein
N T effe J uan Vespucci, der nach ihm das Amt eines Großlotsen bekleidete
und im Jahre 1523 eine Weltkarte entwarf, hat auf dieser Karte nirgends
ja, Namen Amerika verwendet.
Daß der Erdteil zwischen dem Stillen und dem Atlantischen Ozean den
Namen Amerika wegen eines läppischen Zufalls bekommen habe, weil eben
einige Geographen und Kartenzeichner in einem kleinen Vogesenstädtchen
das Verdienst eines große Töne machenden Briefschreibers und „Journali¬
sten" höher einschätzten als die heroische Leistung des wirklichen Entdek-
kers oder weil buchhändlerische Interessen ihnen den Gedanken einer sol¬
chen kartographischen „Schiebung" eingaben, daß also Amerika nach dem
Vornamen des Vespucci seinen Namen trägt, ist aber nicht unbestritten. Es
gibt noch andere Etymologien des Wortes Amerika, die in ihm eingeborenen
amerikanischen Sprachstoff, also indianische Sprachwurzeln vermuten.
Drei solcher Deutungen nennen wir:
a) Karl Lokotsch gibt eine aus dem Toltekischen an; die Bedeutung von
Amerika wäre demnach: großes Gebirge (zu merik = Berg, ike = groß).
b) Im Jahre 1888 gab der Amerikaner Thomas de St. Bris folgende Deu¬
tung: Die Augsburger Handelsherren Welser, die von Karl V. das Land
Venezuela bekamen, fanden dort einen Ortsnamen Ameraca und nannten
diesen im Bericht an den Kaiser, der dann seinen Kartographen Mercator
beauftragte, den Namen Amerika über den ganzen Erdteil zu schreiben
(worunter damals nur Mittel- und Südamerika gemeint war).
c) Im Jahre 1875 stellte der französische Amerikanist Jules Marcou im
Bulletin der Geographischen Gesellschaft in Paris folgende Behauptungen
auf. Als Americ oder Amerrique wurde eine Bergkette östlich vom Nikara¬
guasee zwischen Juigalpa und Libertad bezeichnet; wie Thomas Belt 1872
feststellte, heißt ein goldführendes Gebirge in Nikaragua heute noch Sierra
de Amerique oder de Amerriques; ebenso nennen sich die dort lebenden
Indianer Ameriques oder Ammerisques. Das Land wurde von Kolumbus
auf seiner letzten Fahrt entdeckt, wenn auch weder er, noch irgend ein an¬
derer Entdecker und Schriftsteller im 16. und 17. Jahrhundert den Namen
verwendete. Kolumbus ließ sich von der Mosquitoküste Zu den Ammerisques
führen, welche Indianer besonders dadurch auffielen, daß sie ganz nackt
gingen, um den Hals aber goldene Spiegel trugen. Da dieses Land großen
207
Eindruck machte auf die Begleiter des Kolumbus, verbreitete sich sein Natu
Amerique, der in der Sprache der dortigen Indianer die Bedeutung „Gold
land" hatte, bald unter den Seeleuten über alle Häfen Westindiens und au^
Europas. Americus ist nach Marcou nicht der echte Vorname des Vespuccj
sondern Albericus 1 . Waldseemüller machte aus Versehen oder Mißverständ*
nis aus Albericus den Vornamen Americus, also hat der Erdteil Amerika
nicht seinen Namen nach Amerigo Vespucci, sondern umgekehrt, Vespucci
hat die Abänderung seines ursprünglichen Vornamens zu Amerigo dem
neuentdeckten Land zu verdanken.
Dreizehn Jahre später trat Marcou neuerdings für die indianische Her.
kunft des Namens Amerika ein, diesmal mit einer Modifizierung. Nicht Ko-
lumbus habe 1502, sondern Vespucci selbst 1497 die Küste von Honduras
entdeckt und folglich auch den Namen des Goldlandes Americ gehört.
Vespucci selbst habe nach dieser glänzenden Entdeckung um 1503 sich den
Namen Amerigo (Americus) beigelegt, ebenso wie römische Feldherren
sich Germanicus, Africanus oder Asiaticus nannten.
Marcous Hypothese wurde 1899 von S. Rüge bekämpft 2 . Daß Vespucci
den Vornamen Amerigo nicht erst nach den überseeischen Entdeckungen
angenommen habe, sondern bereits in der Wiege trug, wurde auch dadurch
bestätigt, daß nachgewiesenermaßen sich unter den Vorfahren Vespucds
1) Richtig ist, daß in einigen Ausgaben des Briefes über die Neue Welt
Vespucci nicht Americus, sondern Albericus genannt wird. Sogar auf der
zweiten Seite der von uns erwähnten ersten deutschen Übersetzung (durch
Ringmann, Straßburg 1506) heißt es: »Von der nüwen Welt Albericus
Vespotius sagt vil heils und guts laurentie petri de mediciis.“
2) Die Hypothese von der nichteuropäischen Herkunft des Namens
Amerika, d. h. die Hypothese, dieses Wort habe unabhängig von Amerigo
Vespucci und noch vor der Entdeckung des Kolumbus auf dem Erdteil der
westlichen Halbkugel bereits bestanden, hat neuerdings von unerwarteter
Seite Sukkurs erhalten. Wie ich aus Zeitungsberichten ersehe, wurde im Sep¬
tember 1936 in der Türkei auf dem Dil Kurultay, dem „Fest der Sprache", von
verschiedenen wissenschaftlichen Rednern in Gegenwart Atatürks,' des Staats¬
oberhauptes, die neue türkische „Sonnen-Sprachtheorie" ver¬
fochten. Die Sonne mit ihrer Wärme habe der menschlichen Kehle die ersten
artikulierten Laute, die ersten Vokale, Konsonanten und Worte entlockt.
Unter diesen Konsonanten gäbe es einige, die sich nur in der türkischen
Sprache finden. Die ersten Laute, die sich zu den ersten Wörtern verbanden,
seien türkisch gewesen, die türkische Sprache sei durch die Türken aus Zen¬
tralasien in die benachbarten Länder und schließlich in die ganze Welt ge¬
tragen worden. Das Wort Amerika finde sich als „Emerik" im Jakutischen,
das zu den Türksprachen gehört (P. Holzingers Kongreßbericht im Berliner
Tageblatt).
208
mehrere mit dem Vornamen Amerigo befinden. Im Jahre 1497 habe Ves-
• ne Entdeckung machen können, da saß er in Sevilla. Wohl hatte
P dann in seinem Briefe an Soderini angegeben, er habe bereits 1497, also
früher als Kolumbus Festland gesehen, aber bereits Las Casas, der berühmte
Apostel der Indianer“, erhob gegen Vespucci die schwere Anklage der be¬
sten Fälschung.
V) Australien
Schon im Altertum hatte man, wie manche Landkarte bezeugt, die Ver¬
mutung, es müsse sich südöstlich von Afrika noch eine „andere Welt“
(alter orbis), ein großer Kontinent befinden. Man nannte ihn lateinisch:
terra a u s t r a 1 i s incognita, unbekanntes Süd land.
Das Wort australis gehört zweifellos jener indogermanischen Wort¬
sippe an, aus der die sprachvergleichende Wissenschaft auf eine Urwurzel
ausos“ = Morgenröte schließt. Zu dieser Sippe gehören die Morgenröte¬
bezeichnungen im Altindischen, usas, im Griechischen, eos, im Lateinischen,
aurora (frühere Form ausosa 1 ). Da die Morgenröte im Osten erscheint,
entwickelten sich aus der gleichen Wurzel auch die Bezeichnungen für
diese Himmelsrichtung. Das althochdeutsche ostan führt zu unserem Osten,
das angelsächsische east nicht nur zum neuenglischen Wort, sondern
auch zu französisch est. Wortgeschichtlich wichtig sind auch die germani¬
schen Formen für „im Osten“: althochdeutsch ostar, angelsächsisch eastene;
„nach Osten“: althochdeutsch ostar, angelsächsisch eastan, altnordisch
austr; „von Osten“: althochdeutsch ostana, angelsächsisch eastan, altnordisch
austan. Hier ist auch die — allerdings nur bei Beda erwähnte und daher
umstrittene — angelsächsische Frühjahrsgöttin Ostara zu nennen. Auch
Ostern, althochdeutsch ostarun (die deutsche Entsprechung für hebräisch
passah, das zu kirchenlateinisch pasca, gotisch paska führt), der Name
jenes jüdisch-christlichen Festes, das bei den Germanen einfach nur die Stelle
eines vorchristlichen Festes einzunehmen brauchte, gehört zur gleichen
Wortsippe; schon das Wort Ostern selbst spricht dafür, daß es sich
ursprünglich um den heidnischen Kult der Morgenröte, im Besonderen um
die Feier der germanischen Tageslichtgöttin bei Frühjahrsanbruch handelte.
Bei den Italikern hatte aber, wie schon erwähnt, australis nicht die Bedeu¬
tung von östlich, sondern die von südlich. Auch bezeichneten die Römer
i) Uber die Verwandlung des s zu r (ausosa — aurora) s. den Abschnitt
Rhotazismus in „Wörter und ihre Schicksale" (im Anschluß an das Stichwort
„Hoffart").
14 Btorfer • Sprache
209
den S ii d wind als auster. Wie konnte es zu dieser Verwirrung der Himmels-
richtungen kommen?
Die Apenninische Halbinsel erstreckt sich von Nordwesten nach Sud-
osten. Das Unbewußte, das für Wortbildung und Namengebung nicht von
minderer Wichtigkeit ist als das genaue naturkundliche Wissen, läßt sich
aber nicht auf die Feinheiten „halber' Himmelsrichtungen ein. So wie wir )
wenn wir von Mailand nach Brindisi gefahren sind, nicht etwa sagen, wir
seien nach dem Südosten gefahren, sondern vereinfacht: nach dem Süden,
obschon wir uns auf dieser Fahrt erheblich weiter nach Osten, als nach dem
Süden entfernt haben, so vereinfachte sich der Italiker des Altertums sein Bild
von der Lage seiner Halbinsel derart, daß er sich schematisch sie von Westen
nach Osten erstreckt vorstellte. Auch auf den Karten des Altertums ( 2 . B.
auf jener des Ptolemäus, ungefähr um 150 n. Chr.) erscheint 2ufolge über¬
mäßiger Längeerstreckung des Mittelmeeres die Achse Italiens stark nach
Osten abgelenkt. Andererseits war in anderen Vorstellungen, die unmittel¬
bar vom Bild der aufgehenden Sonne ausgingen, die Richtung des Ostens
unverrückbar, so daß es naturgemäß dazu kommen konnte, daß die Vor¬
stellungen Osten und Süden einander näherrückten und daß man auch
den Wind, der tatsächlich aus dem Süden oder aus dem Südosten kam,
mit einem Worte bezeichnete, der von einer den Sonnenaufgang, also die
Richtung des Ostens bezeichnenden Wurzel stammt.
Aber auch einen zweiten Umstand möchte ich zu bedenken geben. Man
betrachte eine Karte des alten römischen Reiches. Im Westen reichte das
Imperium weit nordwärts bis nach Schottland, indes die südlichsten Aus¬
läufer des Reiches im Osten (in Südägypten) zu sehen sind. Dieser Expan¬
sion Roms nach Nordwesten und nach Südosten entsprechen auch ungefähr
die damaligen geographischen Kenntnisse. So begrenzte z. B. der Hadrians¬
wall die Kolonie Britannia ungefähr in 55 Grad nördlicher Breite, aber was
weiter ostwärts ungefähr so nördlich lag, z. B. die Gebiete der heutigen
Hauptstädte Kowno und Moskau, war den Römern völlig unbekannt und
schon weit draußen über die Grenzen der bekannten Welt. Andererseits
reichten im Osten die geographischen Kenntnisse verhältnismäßig weit süd¬
wärts, nilaufwärts weit über Theba hinausgehend, während im Südwesten
das Weltbild des Altertums in diesen geographischen Breiten bereits große
weiße Flecken aufwies.
Aus diesen Umständen erklärt sich hinreichend die Verlötung der Vor¬
stellungen Süd und Ost und damit die Bezeichnung „auster * (eigentlich
der „Östliche“) für den Südwind und die Bezeichnung terra australis
incognita für den vermuteten südlichen Erdteil.
210
Lange vor der Entdeckung Australiens mußte aber das Wort australis,
. w mancher seiner Abkömmlinge, vorerst für geographische Bezeichnun¬
gen
innerhalb Europas herhalten. Der Namen Ostarrichi (öster¬
lich) taucht urkundlich zwar erst 996 (in einer Urkunde Kaiser Ottos
HI) auf, aber schon das Fränkische Reich zerfiel seit 561 in einen west-
Phen Teil, Neuster genannt (oder Neustrien, wahrscheinlich aus niwester
- niederwestwärts) und in einen östlichen, Auster oder Austrasien. Jenes
•"imfaßte Nordwestfrankreich und das Land bis zur Schelde, dieses reichte
von Nordostfrankreich bis über den Rhein. Auch das langobardische Reich
kannte eine Scheidung von Oberitalien in Neustria und Austria, die Grenze
b : Uete die Adda. Aus deutschen Geschichtsquellen des 8. Jahrhunderts geht
hervor, daß damals der Name Austria im Sinne eines Teiles von Ostfran¬
ken gebraucht wurde, das ungefähr den jetzigen fränkischen Teilen Bayerns
entspricht. Es ist eine naheliegende Vermutung, schreibt Oberhummer, daß
Jie aus jener Gegend stammenden Babenberger nach ihrer Belehnung mit
der Markgrafschaft 976 den Namen Österreich in die Kanzleisprache ihres
neuen Landes einführten und ihm so neue Geltung verliehen. Die Bezeich¬
nung Österreich war jedenfalls bei der Erhebung der Mark zum Herzog¬
tum (1156) bereits vorhanden; „sie ist der Ausfluß eines gehobenen Macht¬
bewußtseins und einer neu erworbenen Machtstellung des bisherigen mark¬
gräflichen Landesherren" (K. J. Heilig). In lateinischen Geschichtsquellen
kommen bis ins 16. Jahrhundert die Bezeichnungen terra australis für
Österreich (oder marchia orientalis, Ostmark), australes für Österreicher vor.
Auch die lateinische Bezeichnung austrasii für die Bewohner der Ostmark
ist für das 13., 14. und 15. Jahrhundert mehrfach belegt. In der byzantini¬
schen Chronik des Johannes Kinnamos (um 1200) heißt Heinrich Jasomir-
gott: Errikos doux Ostrichion. Dante spricht vom Lande Ostric. Im Fran¬
zösischen wird Austriche zu Autriche. Der ungarische Nachbar nennt den
Österreicher: oszträk.
Demnach haben also die Namen Austria, Australia, Austrasia eine
doppelte Bedeutung: sie dienten der Bezeichnung der östlichen Teile euro¬
päischer (merovingischer, karolingischer, Iangobardischer) Reiche, entledig¬
ten sich aber dessen ungeachtet auch nicht jener älteren Bedeutung, die sich
auf den vermuteten unbekannten südlichen Erdteil bezog.
Mit Beginn der Neuzeit, der Auffassung der Erde als einer Kugel, mit
dem Einsetzen der großen Entdeckungsreisen nach allen Richtungen, bekam
das Interesse für die terra australis incognita neuen Antrieb. Es müsse dort,
meinte man, schon darum noch ein großer Kontinent vorhanden sein, weil
die schon bekannten Landmassen der südlichen Halbkugel nicht hinreichend
14*
211
seien, den Ländern der nördlichen das Gleichgewicht zu halten (Ober¬
hummer). Als Pedro Fernandez de Quiros, der seine Reisen im Dienste
Philipps III. unternahm, am 3. Mai 1606 eine zu der Gruppe der Neuhebri-
den gehörende Insel entdeckte, die er für das große unbekannte Südland
Terra australis hielt, nahm er mit großem Pomp „Besitz von dieser Bai,
genannt San Felipe y Santiago, und ihrem Hafen Vera Cruz... vmj
von allen Ländern, welche ich gesehen habe und sehen werde, und von die¬
sem großen Teil des Südens bis zum Pol, der von nun an heißen soll
la Austrialia del Esplritu Santo, mit allem, was dazu gehört." Quitos
gebraucht bewußt statt Australia: Austrialia, um noch deutlicher an Austria-
Österreich als die Heimat der habsburgischen Dynastie Spaniens zu erinnern,
wie auch aus seinen Worten in der 1607 veröffentlichten Denkschrift an
den König deutlich hervorgeht: por felice memoria de V. M. y por el
apellido de Austria. Man ist fast geneigt anzunehmen, schreibt Lodewyckx,
daß Quiros selbst das Wort austrial, anlehnend an Austria, als eine feierliche
Nebenform von austral geprägt habe. Trotz dieser Anlehnung an Austria
habe aber auch er bei der Benennung seiner Entdeckung in erster Reihe
einen Namen finden wollen, der dasselbe besagte, wie der Zu ersetzende
alte Name Terra australis. Die Form Austrialia setzte sich aber nicht durch
und selbst Australia blieb zunächst nur eine vage Bezeichnung für neu ent¬
deckte Gebiete südöstlich von China.
Gleichzeitig ungefähr mit den Entdeckungen des Quiros stießen hollän¬
dische Seefahrer an verschiedenen Punkten auf die Küste des australischen
Festlandes, aber es dauerte noch viele Jahrzehnte, bis die Umrisse dieses
Kontinents in groben Zügen einigermaßen festgelegt waren. Auch hatte
man die Hoffnung, einen ganz großen — etwa an Größe mit Asien wett¬
eifernden — Kontinent in der Südsee zu finden, noch nicht ganz aufgegeben
und den Namen Australien, der seit dem Altertum darauf wartete, einem
Erdteil verliehen zu werden, daher offiziell noch nicht verausgabt. Das
australische Festland hieß zunächst — seit der Entdeckungsreise Abel Tas-
mans — Neu-Holland. 1772—1775 widerlegte James Cook auf seiner
zweiten Weltumseglung endgültig die alte Vorstellung von einem die Süd¬
halbkugel ausfüllenden Festland. Unter seinen Begleitern befand sich auch
der deutsche Pfarrer Johann Reinhold Förster, der dann Professor der
Naturgeschichte in Halle wurde. Förster war es, der besonders nachdrück¬
lich dafür eintrat, man müsse die Insel „Neu-Holland" als einen selbstän¬
digen Erdteil ansehen, — aber diesmal wiederholte sich nicht der Fall
Amerigo Vespucci—Amerika, der neue Kontinent bekam weder den Namen
Johannia, noch den Namen Reinholdia, es setzte sich vielmehr der seit
212
n*ehr als anderthalb Jahrtausenden für jene terra incognita bereitgestellte
Australien schließlich durch, u. zw. ohne jenes zum höheren Ruhme
^ Hauses Habsburg-Österreich eingeschmuggelte „i".
Eine Zeitlang blieb Australien die zusammenfassende Bezeichnung für
Jjs Festland und für die Inseln im Stillen Ozean und in der Südsee,
neuerlich ist es aber üblich, unter Australien nur das Festland zu ver¬
stehen und für die mikronesische, melanesische und polynesische Inselwelt
jie zusammenfassende Bezeichnung Ozeanien zu gebrauchen.
213
1
Über Sprachmengerei
I) Makkaroni
Mit scherzhafter Anlehnung an das Wort Mausoleum erfanden froh-
mutige Soldaten im Weltkrieg den Namen Lausoleum für jene wohl¬
tuenden Anstalten, in denen sie — lauseamus igitur singend — Kleidung
und Wäsche von den „Bienen", den „stillen Marschierern", reinigen
ließen. 1 Vor einiger Zeit brachte in Wien eine Fabrik als Ersatz für Lino¬
leum einen Bodenbelag in den Handel, den sie Strapazoleum nannte; worauf
ein Pfarrer aus der Gegend von Efferding in einer entrüsteten Zuschrift an
eine Zeitschrift forderte, man solle dann in Hinkunft auch Tanzoleum für
Tanzboden und Wandoleum für Tapete sagen.
Dieser sprachlichen Methode, deutschen Wörtern griechische oder latei¬
nische Endungen anzuhängen, hat sich der Volkswitz stets gerne bedient.
Vor dem Krieg nannte man in Berlin einen mit Cadiner Kacheln belegten
Saal bei Kemp inski in der Friedrichstadt Kachilleion. Um den Witz zu
würdigen, muß man sich dessen erinnern, daß die Cadiner Porzellanfabrik
Wilhelm II. gehörte und Schloß Achilleion auf Korfu ebenfalls. 2
Das Versehen von Wörtern einer lebenden Sprache mit griechischen
1) Eine andere feldgraue Verquatschung von „Mausoleum“ ist das soldati¬
sche Scherzwort für den Fernsprecher: Mauscholeum (Synonym von
Plapperschlange, Meilenzunge, Flüsterholz, Quasselstrippe usw.).
2) Nebenbei bemerkt, klingt das scherzhafte Kachilleion nicht nur an das
Schloß Achilleion an, sondern auch an das au? dem Rotwelsch in verschiedene
deutsche Mundarten gedrungene Zeitwort a c h e 1 n = essen und seine Weiter¬
bildungen (z. B. Achill == das Essen, Achillsore = Eßware, achelkess = hung¬
rig, Achelputz = Gefängniskost). Acheliniken kommt, sagt man, wie schon
Zimmermann 1847 notierte, in Berliner Gefängnissen, wenn das Mittagessen
gebracht wird. Als Max Reinhardt einmal eine größere Gesellschaft Wiener
Journalisten auf Schloß Leopoldskron bei Salzburg geladen hatte und diese
durch die lange Besichtigung der baulichen Schönheiten schon ermüdet waren,
seufzte ein besonders Hungriger halblaut auf: Nun möchte ich aber endlich
schon das Achilleion sehen.
214
oder lateinischen Endungen geht auf einen Renaissancescherz zurück. Die
Literaturwissenschaft hat für Scherzdichtungen, in denen solche Sprach-
tnengerei vorherrscht, in denen also Wörter der eigenen Sprache grammati¬
kalischen Gesetzen einer fremden unterworfen werden, den alten Fachaus-
druck „makkaronische Poesie'* beibehalten. Der Erfinder dieser
Gedichtsgattung ist der 1488 verstorbene paduanische Dichter Tifi degli
Odasi (Typhis Odaxis). In seinem Carmen Macaronicum 1 erscheinen italie¬
nische Wörter lateinisch dekliniert und konjugiert. Bald nachher, in der
ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts, hat der Benediktiner Teofilo Folengo
von Mantua, mehr bekannt unter den Decknamen Merlin Cocai und Coc-
cajo Limerno Pitoco, durch parodistische Ritterepen das Makkaronisieren
volkstümlich gemacht. Andere italienische Makkaronisten sind Bassano von
Mantua, Alione von Asti, Fossa von Cremona. Durch die Neigung des
Cinquecento zur Parodie des Feierlichen und Erhabenen (Burckhardt) wurde
diese Kunstgattung, die auch poesia pedantesca 2 genannt wurde, jedenfalls
stark begünstigt.
Das in Italien gegebene Beispiel der Sprachmischung wurde in Frank-
1) Wie Tifi degli Odasi dazu kam, seine Kunstform als makkaronisch zu
bezeichnen, ließ sich bisher nicht aufklären. Es soll im letzten Jahrhundert des
Mittelalters eine secta maccaronea gegeben haben, eine Gesellschaft von grund¬
sätzlich groben Männern, und der Name dieser Gesellschaft, dem ein Ver¬
gleich mit der Grobheit jener Nudelart zugrunde liegen soll, mag vielleicht den
Anlaß zur Benennung der makkaronischen Poesie gegeben haben. Zu beachten
ist auch, daß viele Völker ihre komische Figur, ihren „Hans wurs t“, nach
einer Lieblingsspeise benennen. Man denke an die französische Gestalt des Jean
Potage, die ungarische des Paprika JancsL Auf entlegene Belege weist Fritz
Mauthner hin: guru paramantar („Lehrer Nudel“) heißt in einer Provinz In¬
diens der beliebteste Spaßmacher; Calderon nennt in seinem Drama „El gran
Principe de Fez“ den Hanswurst „Alkuskus“, nach dem Lieblingsgerichte der
afrikanischen Araber (al kuskus ist eine makkaroniartige Teigware). Vielleicht
also darf im Namen der „makkaronischen Poesie“ ein Niederschlag des bei
verschiedenen Völkern festgestellten Zusammenhangs zwischen der Benennung
der Spaßmacher und der Spaßmacherei und dem Namen von nationalen Lieb¬
lingsspeisen gesehen werden. — In vielen Ländern werden die Italiener als
„Makkaroniesser“ geneckt. Im Weltkrieg hießen bei den englischen Soldaten
die Angehörigen der verbündeten italienischen Armee: the macaronies. Früher
hatte macaroni im Englischen auch die Bedeutung: Stutzer.
2) P e d a n t ist hier nicht in der heutigen Bedeutung von Kleinigkeitskrä¬
mer, Splitterrichter zu verstehen, sondern im älteren italienischen Sinne: Schul¬
meister, von griechisch paideuein, Kinder erziehen. Der Übergang von Pedant
= Pädagoge zu Pedant == Kleinigkeitskrämer wird verständlich, wenn wir
daran denken, daß auch das deutsche Wort Schulmeister diesen zweifelhaften
Beigeschmack bekommen hat.
215
"1
reich besonders vom sprachgewaltigen Rabelais auf gegriffen; man sehe sich
im Gargantua das 19. Kapitel des I. Buches an 1 . (Viele Makkaronismen vo n
Meister Rabelais — z. B. sorbonicolificabilitudinissement — sind gleich¬
zeitig auch Beispiele für jene Wortmonstrosität, die wir im Abschnitt
„Aristophanische Wortzusammensetzungen'' behandeln.) Im 16. Jahrhun¬
dert faßte die Scherzgattung des Makkaroni auch in Deutschland Fuß. Das
älteste Erzeugnis des Makkaroni in Deutschland ist ein Heinrich Glareanus
zugeschriebener und aus sieben Verspaaren bestehender protestantischer
Mahnruf an die Führer des schmalkaldischen Bundes aus dem Jahre 1543 ,
Der Rabelais-Übersetzer Fischart (er schreibt einmal: sic jacet in drecko,
qui modo reuter erat) verlieh dann dieser Poesieart einen deutschen Namen:
Nuttelverse (Nudelverse) ; vielleicht hängt das später auftauchende
Wort Knüttelverse mit dieser Übersetzung von Makkaroni zusammen. 1593
erschien ein seither oft neu aufgelegtes deutsches makkaronisches Epos, die
anscheinend von einem Hamburger verfaßte F1 0 i a (Flohiade). Es handelt,
wie aus dem langen Untertitel ersichtlich, von flois, die die Menschos, Man-
nos, Weibras, Jungfras behuppere et spitzibus suis schnaflis stekere solent.
Besonders die deutsche studentische Literatur bediente sich gern makkaro-
nischer Wendungen. Im Trinkrecht (jus potandi) gibt es Paragraphen wie:
qui bibit ex neigis, ex frischibus incipit idem, wer zur Neige trinkt, fängt
von frischem an. 1772 veröffentlichte der Deutsch-Franzose J. Doucement
eine Lustitudo studentica. Es gibt ganze Balladen und Epen im studenti¬
schen Makkaroni. Da kommen Stellen vor wie: sterni leuchtunt, oder monus
scheinet ab himmlo, oder nachtwaechteri veniunt cum spiessibus atque
laternis, oder schlaxiut jam zwelfius ura. Auch Börries von Münchhausen
verschmähte nicht zu dichten: totschlago vos sofortissime, nisi vos benehmi-
tis bene.
Aber nicht nur in scherzhafter Gedichtform kommt das deutsche Wort
mit fremder Endung vor, gelegentlich ist dies auch ein normales
Wortbildungsprinzip. Die Anwendung ist in der Regel zuerst eine
scherzhafte, außergewöhnliche, improvisierte, oft verbleibt aber das so gebil¬
dete Wort dauernd im Wortschatz der Umgangssprache. Solche schließlich
in das Bürgerrecht der Sprache auf genommene Makkaroni Wörter sind z. B.:
amtieren, buchstabieren (bis Mitte des 17. Jahrhunderts hieß es noch buch-
1) Einige Beispiele aus diesem Gargantuakapitel (wir stellen neben die
Makkaronismen des französischen Originals die deutschen der Übersetzung
von Hegaur und Owlglaß): Date nobis clochas nostras (glockas unsras). Vu tis
etiam pardonos (ablassum)? Per diem, vos habebitis et nihilis payabitis
(zahlebitis).
216
ben) drangsalieren, grillisieren (seinen Grillen d. h. Launen, Verstim-
^ aen nachhängen), halbieren, 1 irrlichterieren, hausieren, inhaftieren,
h ttieren 2 , gastieren 3 , sinnieren, hofieren, stolzieren 4 , Harfenist, Hornist 5 ,
Lieferant, Schlendrian (bei Weber-Demokritos sogar Schlendrianist), Gro-
brn (schon 1494 bereichert mit ihm Sebastian Brant die Liste der Heiligen:
nuwer heyling heißt Grobian, den will yetz fyren yedermann). Meistens
vor es die Studentensprache, die den Übergang in die allgemeine Umgangs¬
ache ermöglichte. So entstanden Wörter wie Kneipant, Paukant, Moge-
lant Prellant, Bummelant, schnabulieren, erlustieren, tollisieren (Sebastian
Frank: was ist anders dollisieren denn irrgehen im Gemüt), anordnieren
(hei Fritz Reuter), schulmeisterieren, schlechtissime, sich verdünnisieren
(sächsisch: sich dünne machen, verschwinden), dorfatim, gassatim (daraus
mundartlich gassatengehen = nachts durch die Straßen bummeln, Unfug
1) Halbieren ist nach Kluge-Götze die älteste, schon im Mittelhochdeut¬
schen belegte Mischbildung auf -ieren.
2) Vor einiger Zeit schrieb der „Würzburger Anzeiger 46 , man solle in hei¬
ßen Tagen „die Pflanzen schattieren“, was nicht etwa eine Anweisung für
Zeichner war, sondern der Rat, den Pflanzen Schatten zu verschaffen. Eine
andere bayrische Zeitung leitartikelt über „Nordisierung“.
3) Gastieren tritt zuerst 1669 bei Grimmelhausen auf, und zwar im Sinne
von bewirten; noch bei Goethe wiederholt mit dieser Bedeutung, z. B. „gut
gastierte sie mich“ im Reineke Fuchs. Gastieren im intransitiven Sinne (als
Gast auftreten) erscheint zuerst bei Jean Paul, 1795.
4) Die Endung -ieren wirkt schon ganz deutsch, die fremde Herkunft zeigt
sich aber auch darin, daß die mit dieser Endung gebildeten Zeitwörter eben
auf dieser Endung und nicht, wie die echt deutschen, auf dem Stamme betont
werden. Kieseritzky sieht im Gebrauch von -ieren ein Mittel zur Pflege des
Satztones. Gelegentlich wird aber das -ieren abgestreift und durch das ein¬
fachere -en ersetzt; dieser Vorgang, fordert Th. Matthias, soll anerkannt und
nachgeahmt werden. „Kein volkstümelnder Darsteller sollte mehr auf einst
häufigere Formen wie wandelieren, schwänzelieren, dokterieren, schmausieren
statt wandeln usw. zurückgreifen... Schon Matthison sagt harfen statt har-
fenieren, die Grimm mit dem Volke drangsalen statt drangsalieren, die Süd¬
deutschen (wieder oder noch) buchstaben statt buchstabieren.“ — Die Endung
-ieren kommt übrigens von der französischen Infinitivendung -ier. „Es muß als
die roheste Auffassung anständiger Gestalt angesehen werden“, schreibt Grimm,
„daß der Deutsche in seiner Nachahmung das infinitivische Zeichen aufnahm
und charakteristisch überall bestehen ließ, sein eigenes Zeichen noch dazu an-
liängte: außer dem Fleisch des genossenen Apfels ließ er sich auch den Griebs
dazu wohlschmecken.“
5) Anfangs 1937 veröffentlichte ein Bremer Kreis eine besonders freie Ver¬
deutschung des Johannesevangeliums. Im Geleitwort von Bischof Weidemann
heißt es: „Alle Buchstabilisten dürfen sich über uns ärgern.“
217
und (angelehnt an gravitätisch) grobitätisch, Schwulität, Wuppdi^
Landratur, schluckzessive und zickzackzive (wie sukzessive), und das alle!
ist meistens auch „burschikos".
Wenn Schopenhauer aufwallte,, flössen ihm kräftige Zwitterwörter aus
der Feder, wie: maulschellieren, Schmierazius, Lumpazität. Franz von Lis*t
wandelte einmal den Spruch von der Welt, die betrogen werden will wie
folgt ab: Mundus vult Schundus. Heine makkaronisierte einmal in einem
Brief: Schnödität. Andere Autoren gelegentlich: Schiefität, Kühlität, Alber
tät, Filzität. Der Jungdeutsche Orden prägte kurz vor seiner 1933 erfolgten
Auflösung das Schlagwort Parteiismus, und sein Hochmeister erwiderte auf
Einsprüche, das Wort solle nur getrost häßlich sein, denn es bezeichne eine
häßliche Sache. In Fachzeitschriften findet man: kellnerieren, schneiderieren
(sich vorübergehend unzünftig als Kellner, als Schneider betätigen), gärtne-
risierte Landwirtschaft, altertümisierende Sprache. Das Hessen-Nassauische
Volkswörterbuch verzeichnet aus der Gegend von Homburg v. d. H. das
Sprichwort: Wo nicht ist Mistus, ist auch kein Christus (ohne Dung kein
Erntesegen). Das Wienerische verfügt über: Lagerist, Spurius (Spürsinn,
Ahnung, Verdacht) und über Schimpfwörter wie Blödist, Fadist, Schäbian,
Schmutzian, Fadian. Das niederdeutsche Wort Sammelsur = saures Gericht
aus Fleischresten wird durch Makkaronisierung zum allgemeineren Begriff
Sammelsurium erhoben. Ein Wörterbuch des Leipzigischen verzeichnet die
Zeitwörter schimpfieren, schändieren, schnabelieren; auch die scherzhafte
Wendung: sofortio berappio. Gelegentlich makkaronisiert auch die Solda¬
tensprache. Im Weltkrieg wurde in der Sammlung des Verbands Deutscher
Vereine für Volkskunde auf gezeichnet: bei Österreichischen Truppen Furzi-
bus für eine Mischung von gemeinen, übelriechenden Tabaksorten, bei säch¬
sischen Drückotismus für Drückebergerei.
Von makkaronisch gebildeten Scherz Wörtern mit griechischen En¬
dungen erwähnen wir die Krankheitsnamen Modernitis 1 und Dichteritis 2
und die Wissenschaftszweige Klistierspritzologie (Schopenhauer) und Hüh-
1) Modernitis soll von Adolf Bartels geprägt worden sein, Dichteritis (nach
dem Nekrolog Mählys) von Johannes Scherr.
2) Man vgl. das sächsische Schlabberitis = Geschwätzigkeit (zu mundart¬
lich schlabbern = schwatzen).
218
j e i (Die spanische Umgangssprache kennt die spanisch-griechischen
^karonismen holgazanitis, von holgazän = Faulpelz, und mundologia =
isheit; in den Vereinigten Staaten bezeichnet man gelegentlich die
L fihr liche Erörterung von Mord und Totschlag in der Tagespresse als
lUS derology.) Das noc ^ von J ust ^ nus Kerner eingeführte Makkaroniwort
** ksogra phie wird neuestens allen Ernstes auf das vom Schweizer
K schach geschaffene Verfahren psychologischer Diagnostik angewendet.
gemeint ist auch die deutsch-griechische Wortschöpfung eines Berliner
Geschäftes, das eine Sichtothek (gemeint ist eine Sichtkartei, eine rasch
durchsehbare Kartothek) ankündigt. Übrigens kann auch das Wort Tele¬
gen (und solcher moderner griechisch-deutscher Wörter gibt es genug)
T makkaronische Zusammensetzung gelten.
Daß in der Umgangssprache Zwitterwörter nicht nur durch das An¬
hängen von lateinischen oder griechischen Endungen gebildet, sondern daß
k französische Endungen nicht verschmäht werden, zeigten uns
sdion die vielen Zeitwörter auf -ieren. Auch andere französische Endungen
rweisen sich als ergiebig. Heine schrieb einmal augenscheinlichement. Der
Mecklenburger bildet nach der Art von justement, doucement Wörter wie
etrademang, reinemang; bei Fritz Reuter häufig knappemang; in Stindes
Familie Buchholz natürlichermang. In Thüringen ist schlampsermang (für
ingsam) verzeichnet worden. Im Vorkriegsösterreich trugen Damen und
Herren Stiefeletten. Bekannt ist das scherzhafte verstandez-vous. Häufig muß
die französische Endung -age herhalten; z. B. Schmierage, Kleedasche,
Bammelage (besonders für das Gehänge an der Uhrkette), Bummelage,
Schenkage, Fressage (im Sinne von Speise oder von Gesicht). Aus der
..'eutschen Pennälersprache ist das Wort Schiffoir; makkaronisch sind
auch dessen Synonyme Schifferade bei Helmstedter, Pinkulative oder
Pinkulatorium bei hessischen Schülern. Die Hochschüler französein mit
Jen Fachausdrücken Kneipier, Paukier, Wichsier 1 2 . Im Berlinischen kommt
Pumpier für Pfandleiher (der Geld pumpt), Kluftier für Kleiderhändler
und Schlappier für Schlappmacher vor. Mit der französischen Endung -euse
gebildete Eigenschaftswörter sind schauderös, pechös. Die „Neue Freie
Presse“ in Wien hat einmal einem englisch-französischen Mischling das Le¬
ben geschenkt; sie ließ sich aus London schreiben: „Österreichs Schützen
1) Diese Wissenschaft beschäftigt sich mit der „Brutalität“ der Hennen.
2) Im sogenannten „Prager Lied“, einem in der zweiten Hälfte des 1 9 .
Jahrhunderts vielgesungenen Studentenlied (es beginnt mit den Worten „Hin
nach Pragien, hin nach Pragien, sollst du Musengaul mich tragien), kommt das
^ort „Lustwandlör“ vor.
219
7
waren die jüngsten unter allen Matcheuren." Es gibt auch Makkaropj
Deutsch mit spanischen Endungen. So sagt man z. B. seit Gustav Fr
tags Verlorener Handschrift (1864) Stinkadores für übelriechende Zigarren*
gleichbedeutend ist Stinkomingo (im Pariser Argot werden schlechte Zig ar *
ren infectados genannt). Als wienerische Schimpfnamen für Zigarren
M. Mayr an: Ludros, Wegwerfos. Paul Lindau schreibt, daß zu seiner Zeit
spanische Tänzer als Schnorreros bezeichnet wurden. Castelli verzeichnet
1847 als österreichisches Spottwort für einen sehr mageren Menschen: Don
Stanglos. Spitzer notiert — anscheinend aus Wien — ein ebenfalls spanisch
makkaronisierendes Scherzwort für Diarrhöe: Cacarilla.
Im Osten des deutschen Sprachgebietes kommen auch slawische
Wortendungen vor, besonders wenn es sich um die Prägung von Schimpf.
Wörtern handelt. Vielfach belegt sind z. B. Faulak, Liederak, Böhmak, Da-
melack, Schofelinski; berlinisch ist Mitmachowski 1 , Quatschkowsky; i m
oberen Erzgebirge heißt ein plumper Mensch Klumpatsch; in Leipzig und
auch anderwärts in Sachsen sagt man Liederinsky, Schnüffelinsky, sogar
französisch-polnisch makkaronisierend Poverinsky; ungefähr gleichbedeu*
tend ist das Wiener Makkaroniwort Armitschkerl (hier wird der slawischen
Verkleinerungsendung auch noch die bayrisch-österreichische angehängt).
Castelli verzeichnet als österreichisches Spottwort für einen übelriechenden
Menschen: Stinkowitz 2 . Im alten k. u. k. Heer schuf sich die Mannschaft
für die „länger dienenden Unteroffiziere" den respektlosen Ausdruck
Suppak (d. h. einer, der um der ärarischen Suppe willen freiwillig beim
Militär verbleibt). Aus dem „Pennälerdeutsch" der deutschen Mittelschüler
in Prag führen wir an: Schulka für Schularbeit, Hauska für Hausarbeit,
Füllka für Füllfeder. Bekannt sind die beiden Polen in Heines Gedicht
„Zwei Ritter" im Romanzero: Waschlapsky und Krapülinsky (letzterer
Name ist französisch-slawisches Makkaroni, crapule bedeutet Lump). Hier
sind auch Heines Eselinsky und Schnapphansky und Christian Reuters
Schelmuffsky 3 zu nennen. Der slawischen Endung -insky bedient sich auch
1) In Berliner homosexuellen Kreisen heißt es von jenen, die zwar nicht
a. s. („auch so 44 ) sind, aber andererseits auch nicht t. u. („total unvernünftig“,
d. h. der homosexuellen Betätigung vollkommen abgeneigt), also von den An¬
gehörigen der mittleren Kategorie m. m. („machen mit 44 ), daß sie zur Familie
Mitmachowski gehören.
2) Das Argot der Budapester Falschspieler (sipista) makkaronisiert ein
deutsches Wort mit einer slawischen Endung: nimandovics = jemand, der so
wenig Geld hat, daß es sich nicht lohnt, ihn im Spiel auszuplündern.
3) Ein Jahr früher als Reuters Schelmuffsky (1695) erschien Weises „Ver¬
folgter Lateiner“, in dem die erlogenen Grafennamen Hahnefussicolpilaminofi-
cowsky und Ziegenbeinicoelkoribicirkulausimufsky Vorkommen.
220
hlechtsnamen Piccolomini; Piccolomini selbst hingegen ist in der Sprache
ßgfiiners ein Mensch mit unreiner Gesichtshaut.)
^uch die satirische Kriegslyrik bediente sich nicht selten des Makkaroni-
ierens als Kunstmittels, und der Parmesan dieser Sprachmischung war nicht
^hr zart. So zeitigte z. B. der Kriegseintritt Rumäniens bequeme makkaro-
nische Reime wie „in den kleinsten Winkelescu fiel ein Russentrinkgel-
descu", „Siebenbürginescu mechten wir erwürginescu", „haite noch auf stol-
zem Roßcu, murgens eins auf den Poposcu".
Eine besondere Abart von Makkaronismen gedeiht in gewissen Wiener
Anekdoten zur (übrigens ungerechtfertigten) Verspottung der Czerno-
witzer deutschsprachigen Theaterkritiken, in denen der Eifer, im ent¬
legnen Osten mit den geistigen Bewegungen des Westens Schritt zu hal¬
ten, angeblich kuriose Blüten treibt. In diesen Anekdoten werden Czerno-
v/itzer Rezensenten Äußerungen angedichtet, wie „der Hauptrollist ist als
Versteller ein großer Vorzugist, mangelhaft ist nur seine Betonierung", —
was jedenfalls richtige Makkaronismen sind. Muß man aber in die Buko¬
wina schweifen? Vor einiger Zeit schrieb in einer Wiener Zeitung der Mu¬
sikkritiker Balduin Bricht allen Ernstes von buffonesker Operistik. Und der
Theaterrezensent einer Danziger Zeitung verteidigte vor kurzem erstaunten
Publikumszuschriften gegenüber sein Lieblingswort Spielastik. (Spitzer er¬
wähnt übrigens in seiner Rabelais-Studie das „im Schauspieler-Argot ge¬
bräuchliche ,Spielastik' = hohl-pathetische Gestikulation, wohl nach ,Gym¬
nastik"'.)
II) Barbaroiexis
Bei der „makkaronischen Sprache" handelt es sich darum, daß Wörter
der eigenen Sprache scherzweise fremde Endungen bekommen (wie z. B. in
Mogelant, sofortissime, schauderös), was übrigens bei Verblassen der Scherz¬
färbung auch zu dauernden Wörtern (wie z. B. amtieren, Lieferant, Schlen¬
drian) führt. Bei der sogenannten Barbaroiexis handelt es sich aber nicht
um die Anlötung fremder Wortendungen, sondern um die Aufnahme gan¬
zer Wörter oder Wortgruppen fremden Sprachstoffes. Cicero schreibt in
seinen Tuskulanen, er sei stets darauf bedacht, in seinen lateinischen Schrif-
i) Der Stichling oder Stachelbarsch (Gasteroteus aculeatus) hat nach
Brchm auch den deutschen Namen Stachelinski.
221
ten kein griechisches, in griechischen Texten kein lateinisches Wort zu g e
brauchen. Kaiser Tiberius, obwohl ein großer Griechenfreund, entschuldigt
sich einmal im römischen Senat, als er sich mangels eines rein lateinischen
des dem Griechischen entlehnten Ausdrucks monopolium bediente, und ver-
langte ein anderesmal, daß das in einem Senatsbeschluß vorkommende gri e .
chische Wort emblema übersetzt oder umschrieben werde. Quintilianus be-
zeichnete es ausdrücklich als barbarisch, das Lateinische mit griechi.
sehen Wörtern zu spicken. So bekam die ursprünglich verpönte, seit dem
10. Jahrhundert immer mehr auftretende Sitte lateinisch-deutscher Sprach-
mengerei den Namen „Barbarolexis". In den französischen Mysterien des
späten Mittelalters wurde Sprachmengung bewußt als Kunstmittel zur Cha¬
rakterisierung der auftretenden Personen verwendet. Es redeten dort ge¬
wöhnlich Gott, Jesus, Maria, Engel, Päpste biblisches, Gerichtspersonen
juristisches Latein, Henker und Diener als Halbgebildete makkaronisches,
Bauern mundartliches Französisch (Patois) und Diebe französisches Rot¬
welsch (Argot). Mit Vorliebe bedienten sich gelehrttuende Quacksalber,
Magier und sonstige Nutznießer des Aberglaubens der latinisierenden
Sprachmengerei. (Auf dem Lande herumziehende Zauberkünstler tun es
wohl auch heute noch beim „Verschwindibus"). Die um die Mitte des 16.
Jahrhunderts niedergeschriebene Spruchsammlung des Werner Rolefink ent¬
hält Sprüche wie: qui semper vult borgen et nunquam sorgen, ille muss ver¬
derben et in paupertate sterben; oder, die Ohnmacht dessen lehrend, der
kein Geld hat, und den Vorteil dessen, der in der Lage ist, zu bestechen:
qui non habet in numis, dem hilft nicht, dass er frum is, qui dat pecuniam,
der macht wol recht das krum is. In einer Wolfenbüttler Handschrift des
17. Jahrhunderts ist der seither oft wiederholte Wahlspruch zu lesen: semper
lustich, nunquam traurich (immer lustig, nimmer traurig). Auch Andachts¬
bücher, z. B. die für die Nonnenklöster in Wöllingerode, Marienburg und
Steterburg, verschmähten mitunter nicht deutsche Brocken im lateinischen
Text, um die Berührung mit dem sprachlichen Volksempfinden nicht ganz
aufzugeben, und es entwickelt sich geradezu eine religiöse Mischprosa. Auch
kennen wir Liebeslieder in deutsch-lateinischer Mischsprache, besonders auch
Gedichte zur Verhöhnung der den Priestern und Mönchen zugeschriebenen
Liebesabenteuer 1 . Eine Sonderform der Barbarolexis besteht darin, daß in
einem Gedicht lateinische und deutsche Zeilen sich abwechseln. Derartiges
hat sich in der Studenten- und Pennälerpoesie bis auf den heutigen Tag
i) Deutsche Scherzgedichte mit eingemengten lateinischen Brocken sind
mancherorts selbst beim lateinunkundigen Landvolk beliebt; so z. B. bei den
siebenbürgischen Sachsen („ded ass det fuosnichlateinj“, dies ist das Fast¬
nachtlatein).
222
erhalten 1 - Beliebt war die Barbaroiexis besonders in solchen Versen, die
vudenten auf die erste Seite ihrer Bücher schrieben zur Abschreckung von
ßiieberdieben. Einer diese vielverbreiteten Verse beginnt z. B.: Quis vuit
hoc Übrum stehlen — Pendebit an der Kehlen — Deinde veniunt die
Raben — Volunt ei oculos ausgraben 2 .
Nicht schlechthin als Barbarolexis, die ja bewußtes Darstellungsmittel ist,
hat die unwillkürliche Sprachmengerei in zweisprachigen Gebie¬
ten zu gelten. Von der Sprachmengerei im Elsässerdütsch brauchen wir
keine Beispiele zu geben, sie ist allgemein bekannt, besonders in der Vor¬
kriegszeit wurden wirklich erlauschte oder erfundene Beispiele dieser heiter
wirkenden Wortmischung häufig in Witzblättern veröffentlicht. Eine
andere reale Grundlage für Entstehung von Sprachmengerei ist der Heimats¬
wechsel zufolge Auswanderung. Das mit englischen Brocken durchsetzte
Deutsch der Deutsch-Amerikaner, das sogenannte P e n n s y 1 -
vania-Dutch, treibt mitunter sehr bunte Blüten. „Wenn die Hose
berstet, wird die Kraut naß" bedeutet: wenn der Spritzenschlauch (hose)
platzt (to burst), wird die Menschenmenge (crowd) naß. Der Misch-
sprachler bürstet seinen Kot (coat = Rock), ißt Motten (mutton = Ham¬
melbraten), hat eine gute Sellerie (salary = Gehalt). Dabei ist der Binde¬
strich-Amerikaner stolz darauf, die Sprache der alten Heimat bewahrt zu
haben, und fordert dies auch für die Kinder: „Mei Eidie is, daß de Pärents
auch viel derbei tun könne, daß de Kinner mehr Pragreß im Deitsche
mache. Vor alle Dinge derf me ihne kee englische Expreschens (Ausdrücke)
durchgehe lasse." 3 Die deutsch-amerikanischen Zeitungen erzielen viel Hei-
B Ein Gedicht, das in vielen Varianten in österreichischen Gymnasien be¬
kannt ist, beginnt mit der Strophe: Exibat olim logicus — In einen grünen
Wald — Videbat pulchram virginem — Von reizender Gestalt. Offenbar leitet
sich dieses Gedicht von jenem Lied ab, das durch die berühmten „Dunkelmän¬
nerbriefe“ der Reformationszeit zur Verbreitung gelangte und mit den Zeilen
begann: Pertransivit clericus — Durch einen grünen Waldt, — Invenit ibi
stantem — Ein Mägdlein wol gestalt.
2) Ähnlich bei französischen Schülern und Studenten: Qui ce livre derobera
— Pro suis criminibus — Au gibet pendu sera — Cum aliis latronibus. —
Quelle honte ce sera — Pro suis parentibus — De le voir en ce Iieu-lä —
Pedibus pendentibus.
3) Die Hausfrau ärgert sich über die chambermaid; als diese ins Haus kam,
war sie grün (sie meint „bescheiden“, nach Art der Greenhorns, der Frischein-
gewanderten), jetzt ist sie independent (wörtlich unabhängig, gemeint ist aber:
nicht mehr so arbeitswillig wie früher). Der Gatte ist gut ob (well off, d. i.
m guten Vermögens Verhältnissen), gut gedreßt (to dress, kleiden), er eignet
mehrere Häuser (he owns, er besitzt) und belongt (gehört) zur society.
223
terkeitserfolg mit Parodien dieser Mischsprache. Auch Gedichte in *l
werden veröffentlicht; in einem Frühlingslied heißt es u. a.: L a ß t 41
spazieren walken und dabei sweet von Liebe talken. Ein Auswandere'
schreibt in die alte Heimat: Mir geht es sehr gut, ich habe zwei Lotten
eine Liese, ich gehe betteln und habe einen guten Stock in der Hand* *
meinte, er habe zwei Bauplätze (lots), ein Pachtgut (lease), er gehe hausie¬
ren (to peddle) und habe ein gutes Warenlager (stock). Ein anderer
rühmt sich, seinen Verwandten nach Deutschland am Jahresschluß eio
schönes Weihnachtsgift und einen Neujahrswisch geschickt zu haben
(gift = Geschenk, wish = Wunsch). Begreiflicherweise führt die Sprach-
mengerei am ehesten dann zu solchen Verwechslungen, wenn nahe V er .
wandtschaft zweier Sprachen vorliegt. Unter den in Dänemark lebenden
Deutschen hört man z. B. derartige Gespräche: „Wo sind Sie von?" _
„Ich bin Sie von Aarhus." Oder: „Fräulein Unschuld, ich bin den ganzen
Tag auf Ihnen gelaufen/* (Entschuldigen Sie, Fräulein, ich habe Sie den
ganzen Tag gesucht.)
Das Paradies der Sprachmengerei war begreiflicherweise die alte k. u. k.
Monarchie, besonders die österreichische Reichshälfte. Der Orien¬
talist Hammer-Purgstall hat 1852 in der Wiener Akademie der Wissen¬
schaften die Vielsprachigkeit des Habsburgerreiches in heute ziemlich abge¬
schmackt erscheinenden hohen Tönen gepriesen und das vielsprachige Reich
der zehnblättrigen Lilie der persischen Dichter verglichen. Wenn man auch
keinen Augenblick lang ernsthaft hatte erwarten können, daß es unter dem
Doppeladler zu einem Verschmelzen von Sprachen kommen werde, so hat
es immerhin Zeiten gegeben, in denen bestimmte allgemein-österreichische
sprachliche Einflüsse sehr wirksam waren und dabei genau bis zu den letzten
schwarzgelben Pflöcken gingen. Insbesondere schufen Eigenheiten der Amts¬
und Heeressprache Merkmale eines besonderen österreichischen Deutsch.
Mehr als das Schriftdeutsch war die Umgangssprache in Österreich sprach-
mengerischen Einflüssen ausgesetzt. „Uber der österreichischen Umgangs¬
sprache**, schrieb der große Sprachforscher Schuchardt, „schwebt gleichwie
ein wunderbarer Baldachin, an welchem Welsche und Slawen in lustiger
Weise gewebt haben, die österreichische Kanzleisprache." Zu den bekann¬
testen — in Witzblättern immer wieder abgedroschenen — Mischsprachen
der alten Monarchie gehörte vor allem jenes Kauderwelsch, das man
Kucheldeutsch oder Kuchelböhmisch nannte. Seit Ende des
18. Jahrhunderts erschien auf deutschen Bühnen Prags und Wiens immer
wieder ein Possenheld namens Hans Klachls von Przelantich, der mit
deutsch-tschechischer gegenseitiger Sprachverhunzung billige Lacherfolge
224
eien durfte. Oft zitiert ist der „deutsche" Satz aus dem Böhmer Walde:
[libt Ihr nicht gesehen die Prasatken (Schweinchen) über die Potutschken
gächlein) lafen? Ebenso bekannt ist der „tschechische" Satz: stuben-
tnadl pucovala fotrlinku na konku slafrok (das Stubenmädchen putzt auf
dem Gang Väterchens Schlafrock).
Schließlich seien noch einige schrifttumlose Notbehelfssprachen genannt,
;: s nach barbaroiexischer Art gebildet, eine gewisse Bedeutung im inter¬
nationalen Geschäftsleben erlangt haben. Eine dieser Kompromißsprachen
.. f d{ e sogenannte Lingua Franca, ein Gemisch aus Französisch,
Italienisch, Spanisch, Neugriechisch, Arabisch, eine mündliche Hilfssprache
jn der Süd- und Ostküste des Mittelmeeres. Sie geht bis auf das Mittelalter
zurück, erfreute sich in früheren Jahrhunderten einer großen Verbreitung,
jg i n der Levante fast schon zur Gänze verschwunden, beschränkt sich jetzt
jn der Hauptsache auf die Hafenorte von Algier, Tunis und Tripolis. Sie
heißt „franca", weil die Mohammedaner alle christlichen Völker West¬
europas Franken nannten. In Brasilien gedeiht eine Kreuzung des Portugie¬
sischen mit der eingeborenen Tupisprache, und diese Notmischung für den
Handelsverkehr mit halbzivilisierten Indianern (ebenso die Guaranimischung
in Paraguay) heißt Iingoa geral (geral = general, allgemein). In
Nordamerika entstand im Staate Oregon am Oberlauf des Columbiaflusses
eine englisch-indianische Zwittersprache, das sogenannte T s c h i n u k. Das
Kru-Englisch ist portugiesisch durchsetzt und wird von Negern an
der Westküste Afrikas, besonders in Liberia gesprochen. In Indien ist das
Babu-Englisch zu Hause (babu ist die hindostanische Ansprache
„Herr") 1 .
Auf den Südseeinseln dient ein mit Brocken eingeborener Sprachen durch¬
setztes vereinfachtes Englisch als Verkehrssprache zwischen Weißen und
Eingeborenen, es ist das Sandelwood-Englisch (Sandelholzenglisch) oder
Beach-la-mar. (Der Name hat nichts mit englisch beach = Strand zu
tun; er kommt von portugiesisch bicho de mar, was wörtlich Seewurm
bedeutet; es ist der Name des Trepangs, der von den Chinesen als Lecker¬
bissen geschätzten Seegurke; die Franzosen verderbten das Wort zu beche
de mer = Seespaten, woraus dann englisch beach-la-mar wurde.) Einige
Beispiele aus dem Wortschatz des Beach-la-mar: pisupo = Lebensmittel¬
konserve (von englisch pea-soup, Erbsensuppe), bulopenn = Schmuck,
i) Das Slangwörterbuch von Barrere-Leland nennt das „Baboo“ tbe drohest
dialect of English, und das von Farmer-Henley bezeichnet als seine Haupt¬
eigentümlichkeit „den Schwulst, als Ergebnis des Versuches, eine westliche
Sprache der Östlichen Vorstellungswelt und Übertreibungssucht anzupassen.“
225
15 Storfer. Sprache
Zierde (von blue paint, blauer Anstrich), nusipepa = Brief, Schriftstück
Druckwerk (von newspaper, Zeitung) ; he savee look along nusipepa ( e |
wissen schauen entlang Zeitung) = er kann lesen.
Die bekannteste von all diesen Not- und Handelssprachen, ist das sei*
mehr als einem Jahrhundert blühende Pidgin-Engiisch (frühe-
auch Pigeon-English, „Tauben-Englisch" genannt). Es ist ein primitives
Englisch, wie es sich in den ostasiatischen Häfen im Verkehr zwischen Chi.
nesen und Europäern herausgebildet hat. Zufolge Überflutung der Kolonien
durch chinesische Kulis und Gewerbetreibende ist es jetzt aber weit über
den Stillen Ozean verbreitet und durch Zutaten sowohl aus dem Portugiesi.
sehen und dem Holländischen, als auch aus den eingeborenen Sprachen
Melanesiens und Polynesiens gewürzt. Der Namen Pidgin dürfte die chine-
sische Aussprache des englischen Wortes business = Geschäft darstellen. Die
Abgrenzung zwischen Beach-la-mar und Pidgin ist angesichts der starken
Verkehrszunahme heute kaum noch durchzuführen und Pidgin-Engiisch ist
die vorherrschende und allgemeine Bezeichnung für das primitive Misch¬
englisch an der Küste Chinas und auf den Inseln des Stillen Ozeans und der
Südsee geworden. Neuerdings ist besonders der Einfluß der a m e r i k a n i.
sehen Handelssprache sehr stark, wie Mencken hervorhebt 1 .
Einige Beispiele aus Pidgin und Beach-la-mar: allo plopa (mit chinesi¬
scher Ersetzung des r durch 1 in englisch all proper) = sehr richtig, joss-
house-man = Priester (joss = Gott, Götze von portugiesisch deos), cow-oil
= Butter (eigentlich Kuh-Öl, wörtlich übersetzt aus dem Chinesischen), kai
oder kaikai == essen, Speise (reines Eingeborenenwort), z. B. my betty no
got kaikai (mein Wanst nicht kriegen Essen) = ich bin hungrig, pickaninny
= Eingeborenenkind (nach spanisch pequerio, aus der spanischen Koloni¬
stenzeit in Amerika). On piecee man no-hop dolla dat man so bad inisy
as no-ho lifey bedeutet: wer kein Geld hat, ist so schlecht daran, als
wäre er tot (wörtlich: ein Stück Mann nicht haben Dollar ist so übel
unangenehm als nichthaben Leben). Jump inside, wörtlich: inwendig sprin¬
gen, bedeutet: erschrecken; die Frage you no sawy that fellow white man
coconet belong him no grass = kennst du nicht jenen kahlköpfigen weißen
Mann? (Wörtlich: du nicht kennen jener weißer Mann, Kokosnuß gehören
ihm kein Gras?) Ein Dampfschiff mit drei Masten und zwei Schornsteinen:
i) 1919 konnte die englische Zeitschrift „English“ schreiben: Nach 8jähri¬
ger Besetzung der Philippinen durch die Amerikaner sprachen schon 800.000
Philippiner, also 10% der Eingeborenen, das Englische (Amerikanische), wäh¬
rend nach 150 Jahren britischer Herrschaft in Indien erst 3 Millionen, d. i-
1 % der Eingeborenen, englisch sprechen.
226
three p iecee t> amt>0 ° **0 piecee puff-puff, walk-along inside, d. h. drei
Stack Bambus, zwei Stück Pöff-Pöff, Maschine („Geh-vorwärts") inwen¬
dig in Neuguinea wurde für Klavier folgender Pidgin-Ausdruck gebucht:
kiff fellow bokus you fight him he cry, großer Kerl Kiste, du sie schlagen,
je schreit. Und für Ziehharmonika: little fellow bokus you pull him he
cr y } kleiner Kerl Kiste, du sie ziehen, sie schreit. Allgemein verbreitet ist
die Bezeichnung pulumaku für das Rind und besonders für Büchsen¬
fleisch (Rindfleischkonserven). Man erklärt das Wort als eine samoanische
Verderbung von englisch „bull and cow". Der englische Seefahrer, der die
Zucht des Rindes auf Samoa einführte, indem er einen Stier und eine Kuh
hingebracht hatte, soll diese Tiere den Eingeborenen mit den Worten „this
is a bull and a cow" vorgestellt haben. (W. Churchill hält die samoanische
Entstehung von pulumaku für unwahrscheinlich, denn die Sprache der Sa-
moaner kennt keinen k-Laut, und bringt den Ausdruck mit der Einführung
des Rindes durch die Missionäre auf Fidschi in Verbindung.)
Häufig kommen Pidgindialoge in Jack Londons Südseegeschichten vor.
Übrigens hat man sich einmal auch amtlich des Pidgin-Englisch bedient.
Als das bis dahin deutsche Neu-Mecklenburg (jetzt Neu-Irland) im Bis¬
marck-Archipel im September 1914 von den Australiern für das Britische
Reich in Besitz genommen wurde, erließen sie eine Proklamation an die Ein¬
geborenen im reinsten Pidgin-Englisch. Den Hoheitswechsel drückte darin
folgender einprägsamer Satz aus: No moreKaiser (nicht mehr Kaiser).
*27
1
Verblaßte Verkleinerungsformen
Daß ein Bündel eigentlich ein kleiner Bund, Krügel ein kleiner Krug,
Knöchel ein kleiner Knochen, daß Märchen die Verkleinerung von Mär ist,
Zicklein von Ziege, daß die Fremdwörter Ballett, Bankett, Flottille, Kama¬
rilla, Lanzette, Mantille, Operette, Stilett Verkleinerungsformen von Ball,
Bank, Flotte, Kammer, Lanze, Mantel, Oper, Stil sind, bezw. Verkleine¬
rungsformen der fremden Vorbilder dieser Fremd- und Lehnwörter, dies
alles und vieles ähnliche ist auf den ersten Blick erkennbar. Weniger klar
liegt jedoch zu Tage, daß z. B. Sockel die Verkleinerung von Socke (n) ist,
Rakete von Rocken, daß Pinsel ein kleiner Penis, Vanille eine kleine Va¬
gina ist, daß die eigentliche Bedeutung von Perle „kleine Birne ist, von
Furunkel „kleiner Dieb", von Kartoffel „kleine Trüffel . Denn so ein¬
leuchtend es ist, daß eine Flottille eine Flotte geringeren Umfanges ist, so
sonderlich erscheint es, daß die Sprache das Gestell, auf dem ein Denkmal,
eine Büste, ein Gebäude steht, als eine verkleinerte Form eines kurzen
Strumpfes darstellt. Dennoch ist an der wortgeschichtlichen Gleichung
Sockel = Socke + Verkleinerungsendung nicht zu zweifeln. Als soccus
bezeichneten die Römer den niedrigen Schuh, in den man leicht schlüpfen
kann, im Gegensatz zum hochsohligen Kothurn. Auf dieses soccus geht
(über französisch socque) das deutsche Socke (althochdeutsch soc) zurück,
welches Wort ursprünglich nicht eine Strumpfart bezeichnete, sondern eine
leichte Fußbekleidung ohne derbere Sohle und ohne Absatz. Im Lateinischen
gehört zu soccus auch die Verkleinerungsform socculus. Daraus wurde ita¬
lienisch zoccolo, französisch socle, Fachwörter der Baukunst mit der Bedeu¬
tung Fußgestell, Säulenfuß, flacher Untersatz als Grundlage eines Gebäudes.
(Neben diesem socle aus der lateinischen Verkleinerungsform socculus hat
das Französische auch das Wort socque aus der lateinischen Grundform
soccus, an dessen Bedeutung es sich noch eng anlehnt, denn es bedeutet: nie-
dersohliger Schuh des Komödienspielers, Überschuh). Im Deutsdien ist
Sockel seit dem 18. Jahrhundert gebräuchlich; an der Einbürgerung ist nach
Kluge-Götze Goethe führend beteiligt.
228
^enn wir sagten, Sockel sei die Verkleinerung von Socke (n), ist dies,
a us obigen Ausführungen hervorgeht, nicht etwa so zu verstehen, als
habe sich der Verkleinerungsvorgang im Bereich der deutschen Sprache ab-
ielt, sondern aufzufassen in dem Sinne, daß wir aus dem Lateinischen
nicht nur ein Hauptwort, sondern auch seine Verkleinerungsform entlehnt
haben. Das lateinische Verkleinerungssuffix ist in diesem Falle: -ulus. Noch
in vielen anderen deutschen Wörtern begegnen uns Überbleibsel der Ver¬
kleinerungsendung . u i u s> - u 1 a, -u 1 u m. Wir geben einige Beispiele.
Pille, mittelhochdeutsch pillule, kommt von lateinisch pilula, Kügel¬
chen, Verkleinerung von pila, Ball (eigentlich Haarknäuel, zu pilus, Haar).
Rolle (mittelhochdeutsch rulle, rolle) ist entlehnt aus italienisch rotolo,
rullo, französisch röle. Diese romanischen Wörter fußen auf lateinisch ro-
tulus oder rotula = Rädchen, Verkleinerung von rota = Rad. Zur Bedeu¬
tungsentwicklung von Rädchen zu Rolle in übertragenem Sinne sei darauf
verwiesen, daß beschriebenes Pergament gerollt wurde; ähnlicherweise wurde
im 17- Jahrhundert der Anteil des einzelnen Schauspielers am Spiel auf
einen handlichen Streifen geschrieben, von dem man auf den Proben die
eben gebrauchte Stelle sichtbar hielt, das übrige aufrollte (Kluge-Götze).
Von lateinisch rotula kommt auch — ohne französische Vermittlung —
mittelhochdeutsch und teilweise noch mundartlich Rodel = Papierrolle,
Liste, Urkunde.
Spatel = kleines (besonders von Malern und Apothekern) verwende¬
tes Gerät zum Streichen oder Rühren und seine Nebenform Spachtel
kommen von lateinisch spatula, der Verkleinerung von spatha = Rührlöffel
(aus griechisch spathe = hölzernes Blatt, Ruder, Schwert, urverwandt mit
Spaten).
Skrofel = Drüsengeschwür ist die Eindeutschung von scrofula, der
Verkleinerung von scrofa = Zuchtsau. (Bergmann: „die Schweine leiden
nicht selten an geschwollenen Drüsen”).
Skrupel (seit 1537 belegt mit der Bedeutung: kleines Gewicht, seit
1580 mit der Bedeutung: Bedenken) kommt von lateinisch scrupulus,
Steinchen und scrupulum, kleinster Teil eines Gewichtes. Dies sind Ver¬
kleinerungsformen von scrupus (anscheinend urverwandt mit „scharf”) =
scharfer, spitzer Stein. Skrupel ist also „Genauigkeit, die so ängstlich ist wie
der Gang über kleine, spitze Steine” (Kluge-Götze) 1 . Es würde mich aber
nicht wundern, wenn es einmal gelingen sollte, eine andere Vorstellung als
die der Schmerzhaftigkeit spitziger Steinchen als die Grundlage der Über¬
tragung sicherzustellen, z. B. die Vorstellung von Steinchen, die zwar win-
i) Bergmann: „ängstliche Genauigkeit, die überall ein Steinchen findet/*
229
zig sind, dennoch ausreichen, eine empfindliche Waage — eben das Q e
wissen des Nicht-Skrupellosen — in eine gewisse Richtung zu lenken
Kalkül ist eigentlich ein „Kalksteinchen"; es kommt über französisch
calcule aus lateinisch calculus, Steinchen, Rechensteinchen 1 , das die V e -
kleinerung des Wortes calx ist, des Stammwortes des gleichbedeutenden
deutschen Wortes Kalk.
Perle bedeutet eigentlich: kleine Birne. Die Auswüchse gewisser Mu
schein wurden von Plinius wegen ihrer rundlichen Form der Birne ver
glichen, die lateinisch pirum heißt. Das althochdeutsche Lehnwort perala
berla läßt auf ein lateinisches pirula, kleine Birne schließen. Die französische
Bezeichnung perle en poire (Birnenperle) für eine längere Perlenart ist also
— etymologisch gesehen — eigentlich eine Tautologie 2 .
Buckel kommt von lateinisch buccula, der Verkleinerungsform des
lautmalenden bucca = aufgeblasene Backe, Mund (woher sich u. a. auch
italienisch bocca, französisch bouche = Mund und boucle = Ring, Öse
Schnalle, Locke herleiten).
Kuppel ist aus dem Italienischen (cupola) entlehnt und geht weiter
zurück auf mittellateinisch cuppula = umgestülpte kleine Tonne, Becher
die Verkleinerungsform von lateinisch cupa = Tonne, Becher, das nicht
nur mit englisch cup = Becher, sondern auch mit deutsch „Kopf" ver¬
wandt ist. (Nach anderer Deutung geht allerdings Kuppel und cupola auf
arabisch al-qubba zurück.) Aus der Verkleinerung von lateinisch cupa
mittels eines anderen Suffixes scheint „Kübel" hervorzugehen (s. S. 238),
Sichel (althochdeutsch sihhila) kommt vom gleichbedeutenden lateini¬
schen secula, Verkleinerung von seca = Messer (zu secare = schneiden,
woher unsere Fremdwörter sezieren, Sektion, Sektor, Insekt). Verwandt sind
Sech (— Plugschar) und Säge.
Vettel beruht auf der Verkleinerungsform eines lateinischen Eigen¬
schaftswortes. Vetus = alt (enthalten in Veteran) liefert die Verkleine¬
rungsform vetulus, ältlich, daraus ergibt sich das Hauptwort vetula, ältliche
1) Calculus ist auch in der Medizin gebräuchlich für (Gallen-, Nieren-,
Blasen-)Stein. Auch französisch calculeux, Steinkranker, englisch calculary,
die Steinkrankheit betreffend.
2) Eine andere Ableitung hält allerdings Perle, französisch perle, italienisch
perla nicht zu lateinisch pirum, Birne, sondern zu lateinisch perna, Muschel.
Daß die Perle in einzelnen italienischen Mundarten (im Sizilischen und im
Neapolitanischen) perna heißt, scheint diese Annahme zu stützen. Grimm
meint Perle mit „Beere“ in Zusammenhang bringen zu dürfen. Auch aus
lateinisch pilula (s. oben Pille), aus griechisch-lateinisch sphaerula, Kügel¬
chen, und sogar aus dem Mineralnamen Beryll versuchte man Perle zu deuten.
230
Formel, das wir eben gebraucht haben, gehört auch zu jenen Lehn¬
wörtern, in denen sich die lateinische Verkleinerungsendung -ula tarnt. Bis
Mitte des 16 . Jahrhunderts lautete es noch Formul; zugrunde liegt lateinisch
formula, Verkleinerung von forma.
Zettel beruht auf mittellateinisch cedula, lateinisch schedula, Papier-
hlättchen, Verkleinerung von scheda, scida, das von griechisch schide, abge-
' : ssenes Stück kommt (zu schizein, spalten, enthalten in unseren Fremdwör¬
tern Schisma, schizophren, urverwandt mit scheiden, vgl. das Stichwort
bescheiden" in „Wörter und ihre Schicksale").
Zwiebel (althochdeutsch cibolla und zwibolla) gründet sich (zufolge
Vermittlung durch italienisch cipollo) auf lateinisch caepula, cepulla, eigent-
’kh Zwiebelchen, denn der ursprüngliche lateinische Name der Pflanze ist
aepa. Das „w" im deutschen Wort (schon im Althochdeutschen: zwibolla)
erklärt sich durch Quereinfluß, durch volksetymologische Anlehnung an
.zwei" und „Bolle" (gleichsam: zweifache, d. h. mehrhäutige Bolle).
Zirkel (althochdeutsch zirkil) ist eigentlich ein kleiner Zirkus, denn
es kommt von lateinisch circulus, Verkleinerung von circus, rundes Gebäude.
Von circulus kommt auch — mit Umweg über das Französische — unser
Fremdwort Cercle.
Fackel (althochdeutsch facchela, faccala) ist die Verdeutschung von
lateinisch facula, Diminutivum des älteren Wortes fax, das schon selbst die
Bedeutung Fackel hatte.
Kachel, das im Althochdeutschen (chachala) noch die Bedeutung
irdener Topf hatte (auch heute mundartlich: schweizerisch Chachle, schwä¬
bisch Kachel = Kochtopf) geht zurück auf lateinisch cacabus = Topf, d. h.
auf die anzunehmende Verkleinerungsform cacabulus.
Kapitel aus capitulus, Köpfchen behandeln wir später, im Zusammen¬
hang mit Kapitäl (S. 237).
Daß Nudel von nodulus, Knötchen, Verkleinerung von lateinisch
nodus kommt, kann bloß als Vermutung gelten, aber es ermangelt einer
besseren Deutung.
*
Nun folgen einige Beispiele von deutschen Wörtern, in denen die
lateinische Verkleinerungsendung - c u 1 u s oder - n c u I u s fortlebt.
23 r
Furunkel kommt von lateinisch furunculus, kleiner Dieb, zu.
Dieb. Dem Gleichnis liegt die Vorstellung zugrunde, daß diese Blut!
geschwüre (wie etwa auch die „Mitesser”, comedones) dem Menschen ah
parasitäre Gäste einen Teil seiner Nahrung wegnehmen, stehlen 1 . (Ebene,,
ein „kleiner Dieb” ist wörtlich auch das Frettchen, s. S. 250).
Karbunkel 2 und (das daraus wohl unter Quereinfluß von Funke
althochdeutsch vunke entstandene) Karfunkel bedeuten sowohl: Granat
als auch in übertragenem Sinne: rotglänzendes Geschwür, Entzündung des
Unterhautzellgewebes. Zu Grunde liegt lateinisch carbunculus, Verkleine-
rung von carbo 3 , Kohle.
Tuberkel ist die Eindeutschung von tuberculum, Höckerchen, V er .
kleinerung von tuber = Höcker, Knollen (das auch zu „Trüffel” führt);
im Wiener Slang wort Tuberer (für Tuberkulotiker) entledigt sich das
lateinische Grundwort des Verkleinerungszeichens.
Floskel von lateinisch flosculus, Verkleinerung von flos, floris 4 , bedeu-
tet eigentlich Blümchen. Floskel kommt seit dem 17. Jahrhundert im deut¬
schen Schrifttum im Sinne von Wortblume, zierliche Redensart, Denk-
1) Andere deuten Furunkel aus fervunculus, von fervere, glühen.
2) Aitfranzösisch escarboncle und daraus neufranzösisch unter Anlehnung
an boucle (zu lateinisch bucca, s. oben S. 230 Buckel) escarboucle.
w 3) Enthalten auch in unseren Fremdwörtern Karbol, Karbid, Kar¬
bonpapier, Karbonade (ursprünglich für ein auf Kohlen gebratenes
Rippenstück gebraucht), Carbonari = Mitglieder einer geheimen poli¬
tischen Gesellschaft in Italien, wörtlich „Köhler“, weil sie ihr Ritual den
Gebräuchen der Kohlenbrenner entnommen hatten.
4) Von lateinisch flos, floris = Blume leiten sich mehr oder minder mit¬
telbar noch einige Fremdwörter ab. Flor ist ein dünnes Gewebe, ursprüng¬
lich ein geblümtes Gewebe, wobei allerdings der Gegenstand, der heute vor¬
zugsweise Flor genannt wird, der Trauerflor, alles eher denn geblümt ist.
Flor hat auch die Bedeutung von Blumenkranz, auch metaphorisch (z. B. ein
Damenflor umgab den gefeierten Meister). Die Pflanzenwelt heißt Flora
nach der römischen Göttin. Deflorieren heißt wörtlich: der Blüte be¬
rauben. (Dazu beachte man in vielen Sprachen die metaphorische Bezeich¬
nung der Menstruation als Blume: les fleurs, Monatsrose u. dgl.) Der Sto߬
degen heißt Florett (italienisch fioretto) wahrscheinlich wegen des blumen¬
förmigen Knopfes auf der Spitze der Klinge. Auch f 1 o r i d (z. B. floride
Schwindsucht), florieren, Floristik gehören zu unserem Fremdwör¬
terbestand. Erwähnt seien auch die Eigennamen Flora, Florian, Flo¬
renz (der lateinische Name von Firenze war Florentium), Florida. Der
achte Monat des französischen Revolutionskalenders, der größtenteils in den
Mai fiel, hieß F 1 o r e a 1 . Möglicherweise gehört zu dieser Sippe auch das
um 1890 aus England eingeführte Flirt; wenigstens läßt französisch fleu-
retter = blumenreich reden, schmeicheln, tändeln, diese Vermutung zu.
*3*
rach, Höflichkeitswendung, überflüssige, inhaltsleere Redensart vor,
euerHings nur noc ^ in dieser letzten, schlechten Bedeutung.
° Ranunkel ist begründet durch den lateinischen Pflanzennamen ranun-
fljus wörtlich Fröschchen, Verkleinerung von rana, Frosch 1 . Der eigent¬
liche deutsche Volksname vergleicht diese Pflanze nicht mit einem Frösch¬
ten sondern mit einem Hahnenfuß.
Aurikel ist ebenfalls ein Pflanzenname, der das lateinische Suffix
cu ] a enthält. Auricula, Öhrchen ist die Verkleinerung von auris, das urver¬
wandt ist mit unserem gleichbedeutenden „Ohr". Den Namen Aurikel
(Primula auricula) bekam die Pflanze wegen ihrer tierohrähnlichen Blätter.
(Hier sei auch erwähnt, daß französisch oreille = Ohr nicht unmittelbar
von lateinisch auris kommt, sondern von der Verkleinerungsform auricula.)
Onkel kommt über französisch oncle von lateinisch avunculus, Mutter¬
bruder, Verkleinerung von avus = Großvater, älterer Verwandte.
Tabernakel = Schutzdach über Altäre, Sakramentshäuschen kommt
von lateinisch tabernaculum, Zelt, Verkleinerung von taberna, Bretterbude,
Hütte, woher über das Französische unser Taverne = Schenke.
Artikel ist die Eindeutschung von mittellateinisch articula, das eine
Verkleinerung von ars, artis = Kunst ist. (Eine andere Verkleinerung des¬
selben lateinischen Grundwortes, provenzalisch artilla = Festungswerk und
dessen Bestückung, führt über das Französische zum internationalen und in
seiner Bedeutung den ursprünglichen Begriff der Verkleinerung, der Ver¬
niedlichung ganz verleugnenden Worte Artillerie.)
Sowohl die Muscheln als die Muskeln sind eigentlich „kleine
Mäuse". Beiden Wörtern liegt lateinisch musculus zu Grunde, Verkleine¬
rung von mus = Maus. (Vgl. dazu Fußnote 3 auf S. 183 und in „Wörter
und ihre Schicksale" die Stichwörter „Musselin" und „Porzellan".)
Faszikel (Aktenbündel) kommt von fasdculus und ist eigentlich ein
kleines Rutenbündel (fasces = das altrömische Rutenbündel mit dem Beil,
von den danach benannten Faschisten als Wahrzeichen erwählt).
Konventikel ist eigentlich eine kleine Zusammenkunft (Verklei¬
nerung von conventus, woher der Konvent).
Mehrere unserer Lehnwörter enthalten — mit verblaßtem Diminutiv¬
charakter — die lateinische Verkleinerungsendung - e 11 u s, - e 11 a,
* e 11 u m. Wir nennen einige Beispiele.
i) Eine weitere Verkleinerung von rana, die sich im Französischen mit
einem französischen Suffix vollzieht, s.: Renette - Apfel (S. 245).
233
Pegel (Wasserstaad eines Flusses, Kerbe zur Bestimmung des Standes
einer Flüssigkeit) fußt unmittelbar auf lateinisch pagina, Seite, dessen V er
kleinerungsform pagella, Spalte im Mittelalter zur Bedeutung Maßstab g e
langt. Von dieser Bedeutung des Diminutivums gehen aus: altfranzösisch
paielle (Holzmaß), englisch pail (Eimer), mittelniederländisch peghel
(Wasserstandsmarke). In Deutschland tritt Pegel zuerst im Mittelnieder¬
deutschen auf. Es entwickelt auch ein Zeitwort peilen = Wassertiefe messen
Kapsel sollte genau genommen die Bedeutung haben: „kleine Kasse"
Das Wort ist die Eindeutschung von lateinisch capsella, Verkleinerung von
capsa = Behältnis, das unverkleinert — aber mit Assimilation von -ps- 2u
-ss- — das Wort „Kassa" liefert, dessen französische Verkleinerung Kassette
demnach eine Doublette von Kapsel ist.
Schemel = Fußbank kommt vom spätlateinischen Diminutivum sca-
mellum; das Primitivum ist scamnum = Bank. Nebenformen sind scabnum
und scabellum = Stütze, Lehne, woher das in Mittel- und Westdeutschland
gebräuchliche Schabelle = Fußbank (französisch escabelle, italienisch
sgabello, holländisch schabel).
Karamell ist zurückzuverfolgen über romanische Zwischenstufen (spa¬
nisch caramelo 1 , französisch caramel, gebrannter Zucker) auf mittellateinisch
calamellus, Verkleinerung von calamus = Rohr 2 . Das mittellateinische cala-
mellus, Röhrchen ist aber auf anderem Wege nochmals ins Deutsche gedrun¬
gen. Es wurde im Altfranzösischen zu chalemie, das im 13. Jahrhundert ins
Deutsche entlehnt wurde und mittelhochdeutsch schalemie oder schalmi
ergibt, woraus dann unser heutiges Wort Schalmei. Also wieder ein
Beispiel einer sonderbaren Doublette: Karamell und Schalmei, beide eben¬
bürtige Abkömmlinge von calamellus. Ja es gibt sogar noch einen dritten
Sproß. Manchem ist aus der Lektüre von Indianergeschichten vielleicht noch
erinnerlich das Wort Calumet. Es hat folgende Geschichte. Das oben
angeführte altfranzösische chalemie ergibt neufranzösisch chalumeau, das
nicht nur die gleichbedeutende Entsprechung von Schalmei ist, sondern auch
einen Strohhalm oder ein Schilfrohr bezeichnet, dann die zum Vogelfang
verwendete Leimrute, ferner in der Musik gewisse tiefe Töne auf der Klari¬
nette, in der Technik ein Lötrohr oder einen Schmelzofen. In der Mundart
1) Caramelo aus calamellus ist eine Dissimilation zur Vermeidung der
1 -Wiederholung, wie — um im Bedeutungsbereich des Süßen zu bleiben —
portugiesisch marmelo (woher unser Marmelade) aus griechisch melimelon =
Honigapfel; vgl. über Dissimilation das Stichwort Hoffart in „Wörter und
ihre Schicksale“.
2) Eine andere Deutung führt spanisch caramelo und französisch caramel
auf lateinisch canna mellis, Zuckerrohr zurück.
*34
r
j ef Normandie hat chalumeau die Lautform ealumet. Dieses Wort ist von
französischen Kolonisten nach Nordamerika gebracht und auf die Pfeife
j e r Rothäute angewendet worden, so daß es von dort durch die Reiseberichte
unter der Sonderbedeutung „indianische Friedenspfeife" wieder nach
Europa gelangte. Das französische Wörterbuch führt daher neben chalumeau
vjch das Wort ealumet = Friedenspfeife. (In gleicher Form und Bedeu¬
tung auch im Englischen.) Es ist auch im Deutschen früher als Fremdwort
verwendet worden; so ist z. B. in der 1689 zu Nürnberg erschienenen deut¬
schen Übersetzung von Louis Hennepins „Beschreibung der Landschaft
Inuisiana" zu lesen, die Indianer „wären itzo gekommen, uns zu besuchen
und mit uns Calumet zu schmauchen/' 1
Pinsel (altfranzösisch pincel), wie auch das gleichbedeutende franzö¬
sische pinceau, kommt von vulgärlateinisch penicellus, Schwänzchen, Ver¬
kleinerung von penis 2 . Bezeichnenderweise heißt das männliche Glied des
Hirsches in der Weidmannssprache Pinsel 3 .
Wenn wir schon die drei Abkömmlinge von calamellus — Karamell,
Schalmei, Calumet — vorgestellt haben, wollen wir nicht versäumen
zu erwähnen, was alles noch zu dieser indogermanischen Sippe gehört. Aus
den älteren Sprachen: altindisch kalamo und griechisch kalamos = Ge¬
treidehalm, Rohr, Schreibrohr. Vom schon erwähnten lateinischen calamus
leitet sich calamitos ab, mit der ursprünglichen Bedeutung Halmschaden,
Mißbildung der Halmfrucht, woraus dann allgemein Kalamität = Mi߬
geschick. Da man auf Papyros und Pergament die Farbe mit einem feinge¬
spaltenen Rohr (calamus) auftrug (man verkaufte solche Rohre bündelweise,
fasces calamorum heißen sie bei Martial), nannte man im Mittelalter das
Schreibzeug calamarium. In Ungarn, wo der Gebrauch des Lateinischen in
Ämtern und Schulen noch weit ins 19. Jahrhundert hineinragt, ist der Aus¬
druck kalamäris für Schreibzeug, bezw. zufolge einer Verschiebung für Tin¬
tenfaß, auch heute noch volkstümlich. In diesem Zusammenhang seien auch
genannt tschechisch kalamär = Tintenfaß, italienisch calamajo = Tinten¬
fisch. Von lateinisch calamus kommt ferner italienisch, spanisch und portu¬
giesisch calamito, provenzalisch und katalanisch caramido, französisch cala-
mite, neugriechisch kalameta = Magnetnadel, Magnet, weil die Nadel in
einen Halm (oder in ein Stückchen Kork) gesteckt und so in ein Gefäß mit
Wasser gestellt wurde (Diez). Von lateinisch calamus kommt ferner franzö-
sich chaume = Stoppel und der Pflanzenname Kalmus (Acorus calamus).
Die germanischen Verwandten von calamus sind das deutsche Halm (schon
im Althochdeutschen so lautend) und das altnordische halmr = Stroh. Vom
altslawischen Zweig der Sippe (slama) leiten sich ab altpreußisch salme, let¬
tisch salms, russisch soloma, ungarisch szalma, alle mit der Bedeutung Stroh.
2) Penis hatte ursprünglich die harmlose Bedeutung Schweif, aber schon
Cicero konnte schreiben: hodie penis est in obscenis.
3) In der Zusammensetzung Einfaltspinsel ist nach Kluge-GÖtze
nicht jenes Wort Pinsel zu sehen, mit dem man ein mit Stiel versehenes
235
Bordell geht zurück auf mittellateinisch bordellum (italienisch bor
dello) == kleine Hütte, wobei allerdings die lateinische Verkleinerung e i ner
germanischen Wurzel, bort (Brett), zu Teil geworden ist. Die Bedeutung*
Verschiebung von kleiner Hütte zu Hurenhaus (auch englisch bordc-i
brothel) vollzieht sich erst später.
Säckel ist in althochdeutscher Zeit (seckil) entlehnt aus lateinisch
saccellus, Verkleinerungsform von saccus, das mit griechischer Vermittlung
(sakkos) aus semitischen Sprachen kommt (akkadisch sakku = Sack, Büßert
gewand, phönizisch und hebräisch sak = Sack, grobes Gewand, Hüften-
schürz) . * 1
Mantel beruht auf lateinisch mantellum, Verkleinerung von mantmn
das selbst keltischer Herkunft ist (s. S. 42).
Pupille, die Bezeichnung für den „Augenstern", d. h. für das Seh¬
loch am Auge, die Öffnung in der Regenbogenhaut, kommt von lateinisch
pupilla = Mündel, Pflegebefohlene, der Verkleinerungsform von pup a>
woher auch unser Puppe (französisch poupee usw.). Die eigentliche Bedeu¬
tung von Pupille ist also Püppchen, und jener Vorkriegsschlager, der verliebt
beteuerte: „Püppchen, du bist mein Augenstern", ist wortgeschichtlich
betrachtet eine selbstverständliche Gleichung. Was den Vergleich des Seh¬
lochs mit einem Püppchen anbelangt, so heißt es in etymologischen Werken
gewöhnlich, er sei wohl erfolgt, weil der Mensch, der hineinschaut, sich
darin winzig verkleinert erblickt. Richtiger scheint es mir anzunehmen,
daß das Sehloch, der kleine Kreis, als das Junge des großen Kreises (Iris)
aufgefaßt wird, in dessen Mitte er sich befindet 2 . (Man vgl. damit im Fran-
Haar- oder Borstenbüschel bezeichnet. Aus niederdeutsch Pinn = hölzerner
Schuhnagel und Suhl (althochdeutsch sula) = Schusterahle ist Pinn-Suhl,
Pinsule geworden, eine Spottbezeichnung für den Schuster (Werkzeugnamen
als Berufsschelte, wie auch im Falle von Meister Knieriem = Schuster). Das
Schimpfwort Pinsule ist später von der Vorstellung des Schusters abgelöst,
verallgemeinert und schließlich mißverständlich zu Pinsel vereinfacht worden.
1) Warum belehrt niemand jene Fremdwortgegner, die den Kassier zu
einem Säckelwart umtaufen, daß sie aus dem welschen Regen in die semitische
Traufe streben?
2) Die Bezeichnung des Sehlochs in der Iris als „Püppchen“, als Kind ist
stark verbreitet. In der wetterauischen Mundart heißt die Pupille Kindchen,
im Sarganserland, in der Ostschweiz, Augenmännli. Besonders in den roma¬
nischen Sprachen und ihren Mundarten wird die Pupille gerne als kleines
Mädchen, Kind u. dgl. bezeichnet. Wir erwähnen: spanisch niha del ojo,
Kind des Auges, portugiesisch menina, Mädchen, in der Romagna bamben
d’loc, Kind des Auges, istrianisch pupola, mazedorumänisch umsor, Mensch¬
lein. Um auch ein Beispiel aus einer exotischen Sprache zu nennen: im Ma-
layischen heißt der Augapfel: anak-mata, Kind des Auges.
236
fischen moyeu = Eigelb aus lateinisch mediolus, Verkleinerung von
flgdius, mittlerer).
Libelle = Niveauwaage, dann übertragen auf das bekannte Insekt
en seiner waagrechten Flügel beim Schwirren), kommt von lateinisch
rLha kleine Waage, Verkleinerung von libra, Wasserwaage. Da franzö-
• rb niveau aus der (gründlichen) Dissimilation von lateinisch libella her-
S ' S gegangen ist, muß auch unser Fremdwort N i v e a u zu jenen verblaßten
Verkleinerungswörtern gezählt werden, in denen das lateinische Suffix -ella
verborgen ist.
Li bell = Schmähschrift ist auch ein Diminutivum, doch nicht von
Ub r a = Waage, sondern von liber = Buch. Libellus, Büchlein hieß bei den
Römern ursprünglich ein aus einzelnen beschriebenen Papyrusblättern zusam¬
mengebundenes Buch, also gleichsam ein Buch im modernen Sinne, im
Gegensatz zu dem auf einem langen zusammengerollten Papyrusstreifen
geschriebenen liber.
Bazillus kommt von bacillum, Stäbchen (wegen der stabartigen Form
der Tierchen), Verkleinerung von baculum, Stab, woher auch unser deut¬
sches Bakel (meist nur noch in besonderen Ausdrücken gebraucht, wie:
den Bakel schwingen, Schulmeisterbakel). Ein älterer Autor hat sogar die
Grundform baculus selbst als eine Verkleinerung angesehen: von einem
Hauptwort bax (Ernout-Meillet: „ohne Zweifel eine Phantasie des Gram¬
matikers").
Juwel kommt von altfranzösisch joel (jetzt joyau), das mitsamt italie¬
nisch giojello auf lateinisch jocellum schließen läßt, auf eine Verkleinerung
von jocus, Scherz, aus dem die deutsche Studentensprache das später allge¬
mein gewordene Wort Jux bildete.
Kapital oder Kapitell (Säulenknauf) kommt von capitellum, Köpf¬
chen, Verkleinerung von caput. Capitellum wird außerdem im Gascogni-
schen zu capdet = Köpfchen, dann „Jüngerer unter mehreren Geschwi¬
stern", woraus dann über französisch cadet unser Kadett (vgl. das Stich¬
wort Hagestolz in „Wörter und ihre Schicksale"). Eine andere lateinische
Verkleinerung von caput (capitulus) liefert unser Kapitel, das über
„Hauptversammlung einer geistlichen Körperschaft" und „Hauptabschnitt
einer Schrift“ zur heutigen Bedeutung gelangt.
Tabelle kommt unmittelbar von lateinisch tabella, das über das Fran¬
zösische auch in der Form Tableau in unseren Wortschatz gelangt.
Beide sind verblaßte Verkleinerungswörter, denn tabella ist die Ver¬
kleinerung von tabula, Tisch woher unser Lehnwort Tafel und über das
Französische, mit dessen Verkleinerungsendung, Tablett.
2 37
Brezel kommt von mittellateinisch bracellum, Verkleinerung Vo
bracchium, Unterarm (enthalten in „Brachialgewalt"); die Form des (>
bäcks wurde mit der verschlungener Arme verglichen. Siegel kommt
lateinisch sigillum, Verkleinerung von signum, Zeichen; P a r z e 11 e
parcella, Teilchen, zu pars, Teil; Pustel von pustella, Verkleinerung von
pustula; Kastell von castellum, Verkleinerung von castrum = Festuno
Lager; Kanzel (althochdeutsch kancella) von cancelli, kleine Gitte^
kleine Schranken, Mehrzahl von cancellus, der Verkleinerung von cancer*
Gitter; Schüssel (althochdeutsch scuzzila) von lateinisch scutella, Ve r ,
kleinerung von scutra, flache Schüssel. Kübel dürfte die Eindeutschun
von mittellateinisch cupellus = Getreidemaß, Trinkgefäß sein, einer Ver
kleinerung jenes lateinischen Wortes cupa = Faß, Becher, das uns schon
früher — als Grundwort der verblaßten Verkleinerung Kuppel — begegnet
ist.
Wir sind unter den bisher behandelten verblaßten Diminutiven schon
mehr als vierzig deutschen Hauptwörtern begegnet, deren Endung auf -el sich
als Überbleibsel einer lateinischen Verkleinerungsendung erwiesen hat (Sockel,
Rodel, Spatel, Spachtel, Skrofel, Skrupel, Buckel, Kuppel, Sichel, Vettel
Formel, Zettel, Zwiebel, Zirkel, Fackel, Kachel, Nudel, Furunkel, Karbunkel,
Karfunkel, Floskel, Ranunkel, Aurikel, Onkel, Tabernakel, Artikel, Muschel,
Muskel, Faszikel, Konventikel, Pegel, Kapsel, Schemel, Pinsel, Säckel, Mantel,
Juwel, Kapitel, Brezel, Siegel, Pustel, Kanzel, Schüssel, Kübel) und werden
später noch ein Viertelhundert auf -el ausgehende Hauptwörter anführen, die
— wenn auch andere als lateinische Suffixe verschmelzend — ebenfalls ver¬
blaßte Verkleinerungsformen sind (Tunnel, Troddel, Knäuel, Klüngel, Kreisel,
Schaukel, Angel, Kegel, Pickel, Knödel, Gesindel, Gipfel, Kipfel, Stummel,
Trommel, Rudel, Hügel, Runzel, Eichel, Schenkel, Enkel, Rüpel, Wiesel,
Ferkel, Ärmel). Zu all diesen gesellen sich ferner jene mit -el endenden Ver¬
kleinerungswörter, die wir nicht aufgezählt haben, weil ihr Diminutivcharak¬
ter nicht als verblaßt bezeichnet werden kann (wie Bündel, Büschel, Gürtel,
Knöchel, Krügel, Ringel, Stengel, Tüpfel usw.). Diese Fülle darf aber nicht
etwa die Vermutung aufkommen lassen, alle deutschen Wörter, die auf -el
ausgehen, seien ursprünglich Verkleinerungsformen gewesen.
Vor allem gibt es viele deutsche Wörter, die die (unmittelbare oder auf
dem Umweg über die französische Endung -cle erfolgte) Eindeutschung solcher
auf -ulus, -ula, -ulum oder auf -culus, -cula, -culum ausgehender lateinischer
Wörter sind, bei denen diese Endung entweder überhaupt kein Suffix ist oder
mindestens kein verkleinerndes. Wir nennen z. B.:
Büffel (bubalus), Epistel (epistula), Fabel (fabula, zu fari, sprechen), Fistel
(fistula), Insel (insula), Klausel (clausula), Koppel (copula, vgl. weiter unten
238
Couplet)» Lavendel (mittellateinisch lavendula, zu lavare, waschen), Makel
/macula), Mandel (amandula, Latinisierung von griechisch amygdale), Mirakel
'miraculum), Monokel (-oculus, über französisch -ocle), Nebel (nebula), Orakel
(oraculum), Pappel (populus), Pendel (pendulus), Pöbel und Pofel (populus),
Regel (mittellateinisch regula), Schachtel (mittellateinisch scatula, woher auch
Schatulle)» Schindel (scandula), Seidel (situla), Spektakel (spectaculum), Spie¬
gel (speculum), Stoppel (stipula), Tafel (tabula, vgl. oben Tabelle), Tiegel
und Ziegel (tegula), Vehikel (vehiculum), Zimbel (cymbalum, griechisch
kembalon).
In einigen anderen Fällen sind auf -el ausgehende deutsche Wörter semi¬
tischen Sprachen entnommen; sie vertreten gewöhnlich einen Teil des
semitischen Vorbildes mit jener Endung, der daher jeder Diminutivcharakter
abgeht. Wir nennen z. B.: Jubel von hebräisch jobel (= Widder, welcher
Tiername wegen des Widderhorns, mit dem nach altjüdischem Gesetz jedes
fünfzigste Jahr eingeblasen werden mußte, in der christlichen Kirche des
Mittelalters die Bedeutung Freudenschall bekam und zum mittellateinischen
Zeitwort jubilare führte), Kamel über griechisch kamelos von hebräisch
gamal, Kabel aus arabisch habl, Kittel aus arabisch qutn = Baumwolle
(woher auch „Kattun“). Semmel (althochdeutsch semela, simila) geht über
lateinisch simila, griechisch semidalis auf akkadisch (babylonisch) samidu
=: feines Weizenmehl zurück. Bibel kommt über griechisch-lateinisch biblia
von griechisch biblion = Buch, und dieses griechische Wort ist abzuleiten
vom Namen der syrischen Hafenstadt Byblos, was wohl eine „rückschreitende
Assimilation“ des phönikischen Namens Gebal war; heute heißt jener Hafen¬
ort Dschebel, ein semitisches Wort, das die Bedeutung Berg hat und in un¬
zähligen geographischen Bezeichnungen (in Asien und in Afrika) vorkommt.
Fibel ist eine Dissimilation von „Bibel“ (Umwandlung des ersten b in f,
zur Vermeidung der Wiederholung des b). G a s e 1 (eine für den persischen
Dichter Hafis typische, in der deutschen Literatur u. a. von Schlegel, Platen,
Rückert, Leuthold verwendete lyrische Gedichtsform) kommt von arabisch
ghazal = Liebesgedicht, eigentlich Gespinst, weil der Reim durch viele Zeilen
weitergesponnen wird. Das von Lenz und Immermann aus dem Studentischen
in die allgemeine Literatursprache eingeführte Scheltwort Kessel = Dumm¬
kopf (das von der S. 82 behandelten Gefäßbezeichnung Kessel aus catinus
fernzuhalten ist) kommt von hebräisch kesil = fett, dumm. Das Slangwort
Schlammassel = Unglück (woher auch Schlamastik) ist auch kein
Diminutivum; es ist zusammengezogen aus deutsch schlimm und hebräisch
mazol = Stern, Glückstern, Geschick. Uber die möglicherweise hebräische
Herkunft von Janhagel s. dieses Stichwort in „Wörter und ihre Schick¬
sale“. Ein aus dem Semitischen abzuleitendes deutsches Wort auf -el ist ferner
Kümmel; seine Etymologie führt über lateinisch cuminum, griechisch
kyminon zu semitischen Formen: hebräisch kammon, arabisch kammun.
Im letzten Beispiel sehen wir, daß weder in den lateinisch-griechischen,
239
noch in den semitischen Vorläufern unseres Wortes Kümmel ein 1 Cnt ^
halten ist. Das deutsche 1 steht hier als Ersatz für das n der Vorbilder. Auf
diesem Wege gelangen auch andere deutsche Hauptwörter zu einer -el-Endung
die daher in diesen Fällen nichts von einem Diminutivcharakter hat. Wir
nennen: Kessel (die vom früher behandelten gleichlautenden Scheltwort
fernzuhaltende Gefäßbezeichnung) aus lateinisch catinus, Igel, verwandt mit
griechisch echinos, Esel (gotisch asilus) aus lateinisch asinus (wenn es nicht
doch von asellus, Verkleinerung von asinus kommt), Himmel (man vgl.
gotisch himins, altnordisch himinn, englisch heaven), Orgel (althochdeutsch
organa) aus lateinisch organa, Mehrzahl von organum (vgl. deutsch Organist,
nicht etwa Orgelist). Der Bergmannsausdruck Kumpel entwickelt sich an¬
scheinend aus Kumpan, das über altfranzösisch compain auf mittellateinisch
companio, Brotgenosse zurückgeht.
Eine große Gruppe unter den auf -el ausgehenden deutschen Hauptwörtern,
die keine Verkleinerungsformen sind, wird von Gerätenamen gestellt.
Sie sind vorwiegend aus Zeitwörtern gebildet worden durch Anfügung
der alten germanischen Endung -i 1 a oder -i 1 o. Wir nennen:
Bügel zu biegen, Deckel zu decken, Fuchtel zu fechten, Griffel vermut¬
lich zwar von griechisch grapheion, Schreibgerät, aber mindestens angelehnt
an greifen, Hebel zu heben, Henkel zu hängen, Klingel zu klingen, Klöppel
zu klopfen, Löffel zu einer mit lecken verwandten germanischen Verbal¬
wurzel, Nadel zu nähen, Schlegel zu schlagen, Schlüssel zu schließen, Schwen¬
gel zu schwingen, Senkel (ältere Bezeichnung für Anker, noch gebräuchlich in
Schnürsenkel) zu senken, Sessel zu sitzen, Spindel zu spinnen, Sprengel (ur¬
sprünglich Gerät zum Sprengen, d. h. Springen lassen des Weihwassers, dann
erst auf den Amtsbereich einer Pfarrkirche übertragen) zu sprengen, Stachel
und Stichel zu stechen, Stempel zu stampfen, Windel zu winden, Zügel zu
ziehen.
Weitere auf -el ausgehende Gerätenamen, die aber kein Zeitwort
durchscheinen lassen, sind z. B. Bengel (eigentliche Bedeutung: Knüppel,
s. S. 173), Deichsel, Flegel (s. S. 173), Gabel, Geissei, Haspel, Hechel, Hobel,
Knüppel, Knüttel, Kurbel, Meißel, Nagel, Paddel, Prügel, Raspel, Riegel,
Säbel, Sattel, Striegel.
Die alte Endung -i 1 o lassen auch erkennen: Büttel, eigentlich der „Ent¬
bietende“ und Weibel (woraus Feldwebel), eigentlich der sich „Bewegende“.
Zu Zeitwörtern zu halten sind ferner: Flügel zu fliegen, der auch als Schelte
verwendete Vogelname Gimpel zu mittelhochdeutsch und auch heute noch
mundartlich gumpen = hüpfen, springen, Scheitel zu scheiden, Schlingel zu
schlingen (= schlenkern, schlendern), Schnabel zu schnappen, Speichel zu
speien, Wirbel zu werben, Zwickel zu zwecken, zwicken.
Im Falle von Bettel, Bummel, Dünkel, Handel, Kitzel, Rappel, Rüffel,
Schmuggel, Taumel, Wandel, Wickel liegen Rückbildungen aus
Zeitwörtern vor, das -el ist kein hauptwörtliches Suffix, sondern ist
240
r
bereits in den zugrundeliegenden Zeitwörtern (bummeln, denken, handeln
usW .) enthalten.
Achsel und Nabel sind zwar verwandt mit Achse und Nabe, doch sind sie
nicht deren Verkleinerungen. Ebenso sind nicht als Verkleinerungsformen
anzusehen: Adel, Amsel, Apfel, Apostel, Bakel (s. oben Bazillus), Dackel,
pattel (von griechisch daktylos s. S. 17), Debakel, Distel, Drossel, Dusel,
Ekel (Nebenform von heikel?), Engel, Erpel (norddeutsch für Enterich),
Exempel, Fessel, Fiedel, Frevel, Fusel, Geisel (keltischer Herkunft, s. S. 41),
Giebel, Gondel, Greuel, Gurgel, Hagel, Hammel, Hummel, Hyperbel, Kalomel
(von griechisch kalos, schön und melas, schwarz), Klachel (s. S. 173), Kogel,
Krüppel (verwandt mit kriechen und Kropf), Kugel, Lümmel, Mergel
( s> S. 42), Mispel, Möbel, Morchel, Mörtel, Mündel, Nessel, Pantoffel,
Parabel, Paspel (entstellt aus französisch passe-poil), Pudel, Rubel (urverwandt
m it dem indischen Münzennamen Rupie), Rummel, Rüssel, Schädel, Schen¬
kel, Scharmützel, Schimmel, Schmirgel, Schwefel, Segel, Spargel, Spittel,
Staffel, Stapel, Stiefel (altfranzösisch estival, mittellateinisch aestivale =
Sommerliches), Strudel, Tadel, Tarantel, Tempel, Teufel (s. dieses Stichwort
in „Wörter und ihre Schicksale“), Trubel, Trüffel (dessen italienisches Vor¬
bild aber selbst Grundwort für eine Verkleinerung ist, s. S. 243 Kartoffel),
Tümpel, Vogel, Wachtel, Waffel, Wechsel, Wedel, Weichsel, Wimpel, Wipfel,
Wurzel, Zagei, Zobel, Zweifel.
Zu den verblaßten Verkleinerungswörtern zurückkehrend, wenden wir
uns jenen deutschen Hauptwörtern zu, in denen griechische Diminu-
tiva verborgen sind.
Basilisk, heute der Name einer amerikanischen Leguangattung, war
im Altertum (Plinius) und im Mittelalter ein bösartiges Fabelwesen, das
aus mißgestalteten Eiern des Haushuhns von Schlange und Kröte ausgebrü¬
tet worden sei. Basiliskos bedeutet eigentlich: kleiner König (zu basileos,
König).
Obelisk = Denksäule kommt von griechisch obeliskos, Verkleinerung
von obelos = Spieß.
Idyll kommt über lateinisch idyllium von griechisch eidyllion, Schil¬
derung des Ländlichen, das eine Verkleinerung von eidos 1 = Bild ist.
1) Zur Sippe dieses eidos, aus dem unsere Fremdwörter eidetisch, Eidetik
unmittelbar gebildet sind, gehören auch die Wörter Idee, Ideal, Idol und dann
auch das lateinische Zeitwort videre (visum), aus dem sich die Fremdwörter
Vision, revidieren, visieren, improvisieren, Visum, vis-ä-vis, Visage, Aviso,
evident, Provision, Revue, Bellevue, Belvedere usw. entwickeln. Urverwandt
mit eidos und videre ist ferner deutsch „wissen“ und was dazu gehört: wis¬
sentlich, gewiß, Gewissen, bewußt, weise, weisen, Verweis, Beweis, weis¬
sagen, Witz usw.
18 Storfer • Sprache
24 1
Opium kommt über das Lateinische von griechisch opion, Verklei¬
nerung von opos = pflanzlicher Milchsaft,
Podium, ebenfalls über das Lateinische von griechisch podion, Ver¬
kleinerung von pous (pod-) = Fuß,
Trapez (wegen der Form der geometrischen Figur) von griechisch
trapezion = Tischlein, Verkleinerung von trapeza = Tisch, das selbst dic-
Kurzform von tetrapeza = Vierfuß 1 ist.
*
Nicht gering ist die Zahl der deutschen Lehn- und Fremdwörter, i n
denen — mit verblaßtem Verkleinerungscharakter — italienische Di-
minutivsuffixe enthalten sind. Wir nennen einige:
S p i n e 11 (in der Musikgeschichte auch Kielklavier genannt) bedeutet
wörtlich „Dörnchen”. Es hieß italienisch spinetta (französisch epinette) und
das ist die Verkleinerung von lateinisch spina, Dorn. Dieser Name des
Instruments kommt vom Dorn (Federkiel), der die Saiten anreißt 2 .
Boilette bedeutet wörtlich kleine Bulle; italienisch bolletta, Berechti¬
gungsschein ist die Verkleinerung von mittellateinisch bulla, Urkunde. (Aus
einer zu lateinisch bulla gehörenden französischen Verkleinerung gelangen
wir auch zu unseren Fremdwörtern Billett und Bulletin.)
Palette hat die wörtliche Bedeutung Schaufelchen; das Grundwort ist
lateinisch und italienisch pala = Schaufel, Spaten.
Klarinette (italienisch clarinetto), der Name des 1690 erfundenen
Holzblasinstrumentes, ist die Verkleinerung von clarino (auch deutsch
„Klarin”) = hohe Solotrompete (aus der Sippe von lateinisch clarus =
klar, hell).
Rakete kommt von gleichbedeutendem italienischem rocchetta, das in
der Mitte des 16. Jahrhunderts zuerst in der Form Rogeten ins Deutsche
gelangt. Italienisch rocchetta ist die Verkleinerung von rocca = Spinnrocken
und dieses italienische Grundwort ist deutscher Herkunft. Die althoch¬
deutsche Spinngerätbezeichnung rocko ergab italienisch rocca, spanisch rueca.
1) Während das deutsche „Tisch“ (von griechisch diskos, Wurfscheibe) eine
auf dem Begriffselement des Runden aufgebaute Bezeichnung ist, fußt also
die griechische Benennung des Tisches wörtlich auf vier Füßen. Demnach ist
für das Griechische ein dreibeiniger Tisch eigentlich ebenso ein Widerspruch
in sich, wie für das Deutsche ein viereckiger Tisch.
2) Von lateinisch spina leitet sich auch der anatomische Fachausdruck
spinal = zum Rückenmark gehörig ab. Hingegen ist Spinat fälschlicher¬
weise zu spinatus = mit Spitzen versehen gehalten worden, der aus persisch
äspänah, arabisch isfinag entlehnte Pflanzenname hat sich an das lateinische
spinatus höchstens angelehnt.
242
Den Feuerwerkskörper bezeichnten die Italiener wegen der äußeren Ähn¬
lichkeit als „kleinen Rocken" (man beachte auch im Französischen fusee =
Rakete zu fuseau = Spindel). Aus italienisch rocchetto wird im Deutschen
in der Mitte des 16. Jahrhunderts zuerst Rogeten, dann wurde daraus
Racketlein 1 und schließlich — unter Verzicht auf die deutsche Verklei¬
nerungsendung, die zum Überfluß auf die romanische noch aufgepfropft
worden war — Rakete.
Kamisol = kurze Jacke, Unterjacke kommt über französisch camisole
aus italienisch camisciula, Verkleinerung zu mittellateinisch camisia (das
auch zu französisch chemise und anderen romanischen Wörtern führt und
vermutlich auch mit unserem „Hemd" urverwandt ist).
Kartell (ursprünglich die Kampf Ordnung beim Ritterturnier, jetzt
hauptsächlich als Bezeichnung gewisser Vereinbarungen mehrerer Geschäfts¬
firmen) kommt über französisch cartel vom italienischen Diminutivum car-
tello, dessen lateinisches Grundwort Charta, Urkunde, beschriebenes Papier
ist.
Pistole, die Münzenbezeichnung, die fernzuhalten ist vom Namen der
Handwaffe (s. S. 118 f), kommt von italienisch piastola, Verkleinerung von
piastra (mittellateinisch plastrum) = Metallplatte.
Banderole, von dessen verschiedenen Bedeutungen (darunter in
Malerei und Plastik: Spruchband) heute in Deutschland dank der sogenann¬
ten Banderolensteuer jene die bekannteste ist, die den um die Zigaretten¬
schachtel geklebten Steuerstreifen betrifft, kommt über das Französische von
italienisch banderuola, Verkleinerung von bandiera = Banner.
Kartoffel heißt die bald nach der Entdeckung Amerikas nach
Europa gebrachte Pflanze erst seit dem 18. Jahrhundert. Bis dahin lautete
der deutsche Name: Tartuffeln oder Tartüffeln, entlehnt von den Italienern,
die die Erdäpfelknollen nach ihrer Ähnlichkeit mit den Trüffeln tartufoli,
kleine Trüffeln nannten; das Grundwort ist tartufo = Trüffel (aus lateinisch
tuber terrae = Erdknollen, s. S. 232 Tuberkel).
*
Spanische Verkleinerungsendungen sind enthalten in folgenden
Wörtern :
Kar ave Ile (im Deutschen zuerst 1496: karuele, die Bezeichnung einer
bestimmten Segelschiffart) kommt, ebenso wie französisch caravalle, eng-
. x ) Vortoniges a für fremdes o wie in den Fällen von Gardine aus latei¬
nisch cortina, Halunke aus tschechisch holomek, lavieren aus niederländisch
loveren usw. (Kluge-Götze).
lfl*
^43
lisch caravel, carvel von spanisch carabela, Verkleinerungsform von arabisch
qarib = Barke.
Vanille kommt von spanisch vainilla, Verkleinerung von vaina =
Schote (aus lateinisch vagina = Scheide, Hülse).
Platin hat eigentlich die wörtliche Bedeutung Silberchen, denn es
kommt von spanisch platina, Verkleinerung von plata = Silber (Rio de la
Plata = Silberstrom). Man hielt nämlich das von Antonio de Ulloa 1736
im Goldsande des Flusses Pinto in Peru entdeckte Platin zuerst für eine
Silberart. (Zur Bedeutung „Silber“ gelangt spanisch plata durch Übertra¬
gung vom ursprünglichen Sinn „Metallplatte ; das "Wort gehört zur gleichen
Sippe wie griechisch platys = flach und deutsch platt.)
Die aus dem Spanischen herrührenden Fremdwörter Flottille, Kamarilla,
Mantille, Guerilla kann man nicht zu den verblaßten Verkleinerungen
zählen, da sowohl die Grundformen, als die zu ihnen führenden Bedeu¬
tungsbeziehungen leicht erkennbar sind.
*
Von den deutschen Fremdwörtern, die französische Verkleinerungs¬
endungen enthalten, ohne daß sie sofort als solche erkennbar wären oder
ohne daß es zufolge des Bedeutungsabstandes ohne weiteres erkennbar wäre,
welches Grundwortes Verkleinerung sie darstellen, erwähnen wir:
Parkett kommt von französisch parquet, das im engeren Sinne eine
Abteilung in einer Pferdeweide oder in einem Park bezeichnet und die Ver¬
kleinerung von parc = Gehege, öffentliche Anlage ist. Dieses französische
parc selbst kommt von deutsch Pferch (althochdeutsch pfarrih), das mit
Pfarre, Pfarrer verwandt ist.
Vignette, Druckverzierung kommt vom gleichlautenden französischen
Wort, mit der eigentlichen Bedeutung Weinranke, Verkleinerung von vigne,
Rebe, aus lateinisch vinea, Weinstock (aus der Sippe vinum Wein).
Etikette enthält eine germanische Wurzel; niederdeutsch sticke (ver¬
wandt mit Stecken) = Stiftchen ergibt nordfranzösisch verkleinert estiquete,
französisch etiquette, das sich kaufmännisch über „Stift zum Anheften eines
Zettels“ zu „Bezeichnungszettel“ entwickelt (Kluge-Götze). Am französi¬
schen Hof gab es Zettel mit der Hofrangordnung, was zur zweiten Bedeu¬
tung von Etikette führte: Inbegriff der höfischen Förmlichkeiten. Deutsch
so zuerst 1708 in Wien.
Kastagnette kommt vom gleichlautenden französischen Worte. Es
enthält den Namen der Kastanie. Zwar wi rd lateinisch castanea 1 im Fran-
i) Lateinisch castanea und griechisch kastanon beruhen auf der armeni¬
schen Benennung dieser Frucht: kaskeni. Andere leiten den Namen der Ca-
244
zösischen zu chätaigne, aber da das! Spanische die Tanzklapper mit einer
Kastanie vergleicht und sie als kleine Kastanie bezeichnet (castaneta zu
castana), ahmt das Französische den spanischen Vorgang in der Weise nach,
daß es der lateinisch-spanischen Grundform die französische Verkleinerungs¬
endung -ette anfügt.
Toilette ist die Verkleinerung von französisch toile == Schleier, das
zu lateinisch texere, weben gehört (woher unser Fremdwort textil).
Manschette ist eigentlich Ärmelchen; das Grundwort des Diminuti-
vums manchette ist manche = Ärmel (lateinisch manica).
Taburett, niederer Sessel ohne Lehne, kommt von französisch tabou-
ret, der Verkleinerungsform von altfranzösisch tabour= Handtrommel, das
auf das gleichbedeutende arabische tabl zurückgeht. Aus der gleichen semiti¬
schen Quelle kommt auch Tambur, dessen Verkleinerung Tamburin.
Kotelett (französisch cötelette) ist die Verkleinerung von cöte, Rippe,
aus lateinisch costa.
Feuilleton ist die Verkleinerung von französisch feuille (lateinisch
folium) = Blatt. Diese Bezeichnung des Unterhaltungsteiles einer Zeitung
als Blättchen geht darauf zurück, daß er ursprünglich wirklich eine „Bei¬
lage" des Hauptblattes bildete. (Man vgl. noch jetzt die im Halbformat
erscheinende Literaturbeilage zum Berner Bund: „Der kleine Bund" und
ebenfalls in Halbformat die Jugendbeilage der Basler National-Zeitung:
„Der kleine Nazi").
Couplet, heute im Deutschen angesichts der Vorherrschaft des „Schla¬
gers" nicht mehr häufig gebraucht, in der Vorkriegszeit jedoch als Bezeich¬
nung (selbständiger oder in Operetten eingebauter) aktueller satirischerKehr-
reimlieder sehr geläufig, geht auf das gleichlautende französische Wort
zurück, das die Verkleinerung von couple = Paar ist (aus lateinisch copula,
woher auch unser Koppel und kuppeln).
Billett und Bulletin haben wir als französische Verkleinerungen,
die zu lateinisch bulla, Urkunde gehören, schon neben Boilette erwähnt
(s. S. 242).
Der Name der Renette-Äpfel (sie bilden die 7. bis 12. Klasse des
Diel-Lucasschen Apfelsystems) kommt von französisch rainette, Laubfrosch,
an dessen grüne Farbe die Apfelgattung ihren unbekannten Taufpaten
anscheinend erinnerte. Rainette ist die Verkleinerung des veralteten Wortes
stania sativa von einer Stadt Kastana am Schwarzen Meere im Altertum ab,
doch empfiehlt es sich eher anzunehmen, daß die Stadt selbst nach den Ka¬
stanienbäumen jener Gegend benannt worden sei.
*4S
1
raine (zu lateinisch rana) = Frosch. Vgl. auch oben (S. 233) das Wort
Ranunkel.
Über Flanell, das eine Verkleinerung von altfranzösisch flaine =
Wolle ist und von dort auf keltischen Ursprung zurückzuführen ist, s. das
Stichwort „Flanell" (S. 36); vgl. auch unter den dort anschließend
behandelten Wörtern keltischen Ursprungs das Wort Tunnel, das eben¬
falls eine verblaßte französische Verkleinerungsform ist und eigentlich die
Bedeutung „kleine Tonne" hat.
Über Epaulette, Korsett, Culotte wird später (S. 252) noch die Rede sein,
im Zusammenhang der Kleidungsstückbezeichnungen, die Verkleinerungen
von Körperteilbezeichnungen sind.
»(.
In allen bisher als verblaßte Verkleinerungsformen behandelten Haupt¬
wörtern hat es sich um f rem de Suffixe gehandelt, deren Verkleinerungs¬
charakter in den betreffenden Wörtern mehr oder weniger unkenntlich
geworden ist. Aber auch unter jenen deutschen Wörtern, die deutsche
Verkleinerungsendungen enthalten, findet sich das eine oder andere, bei
dem es nicht ohne weiteres klar ist, ob eine Verkleinerung vorliegt, bezw.
welches das Grundwort ist, dem die Verkleinerung zuteil geworden ist.
In vielen Fällen ist das Grundwort bereits abgestorben. Troddel =
Quaste ist z. B. die Verkleinerung eines Grundwortes, das sich im Neuhoch¬
deutschen nicht mehr vorfindet: mittelhochdeutsch trade, althochdeutsch
trado = Saum, Fransen am Saum. Ähnliches gilt für Knäuel (mittel¬
hochdeutsch kniuwel, kniuel, kliuwelin, althochdeutsch kliuwilin), Verklei¬
nerung von mittelhochdeutsch kliuwe, althochdeutsch kliuwa, chliwa =
Kugel 1 . Die Bedeutung Knäuel hatte ursprünglich auch das Wort Klün¬
gel. Die Verkleinerung vollzog sich im Althochdeutschen: klungilin aus
klunga = Knäuel. Der Bedeutungsübergang von „Garnknäuel" zu „Clique,
Parteiwirtschaft" hat sich am Niederrhein vollzogen 2 . Auch Kreisel
(oder Kräusel) ist die Verkleinerungsform eines abgestorbenen Wortes
1) Daß der Diminutivcharakter von Knäuel nicht mehr empfunden wird,
bestätigt auch der Umstand, daß dieses Diminutivum noch weiter diminutiv
behandelt werden kann. In Wien wird das Doppeldiminutivum K n ä u 1 e r 1
schon darum nicht selten gebraucht, weil es gleichsam ein Schiboleth ist: eine
alte Scherzregel besagt, wenn andersmal nicht, bei der Aussprache dieses
Wortes müsse sich der nicht echte 'Viener unfehlbar als solcher verraten.
2) In Köln bedeutet Klüngel: Knäuel, Garnknäuel, ferner ein vom
Kleide herabhängender Fetzen, nachlässige Behandlung von Aufträgen, Mi߬
stände im öffentlichen Leben, dadurch, daß maßgebende Personen einander
durch die Finger sehen oder sich beeinflussen lassesn (E. Müllenbach). Die
2 46
(und nicht etwa die Verkleinerung von „Kreis"', obschon diese Ableitung
angesichts des sich im Kreise drehenden Kreisels sehr verlockend erscheint).
Kreisel bedeutet eigentlich: kleiner Krug. Die Grundform ist mittelhoch¬
deutsch krus = Krug. Entsprechend dem Vergleich dieses Kinderspielzeugs
Aut einem Krug hat der Kreisel auch den mundartlichen Namen Topf
(niederdeutsch dop).
Schaukel (bei Luther Schuckei) ist wohl die Verkleinerung von mit¬
telniederdeutsch schucke, welches Hauptwort bereits die Bedeutung Schaukel
hatte. Angel, althochdeutsch angul, ist die Verkleinerung von althoch¬
deutsch ango = Stachel, Türangel (vgl. das Stichwort „Angel, Anker" in
^Wörter und ihre Schicksale"). Kegel (althochdeutsch kegil = Pfahl,
Pflock) weist nach Kluge-Götze auf ein westgermanisches Diminutivum
kagila, das erschlossen wird aus schwäbisch-bayrisch Kag = Strunk, Kohl¬
stengel, englisch mundartlich cag = Stumpf, norwegisch mundartlich kage
= niedriger Busch. Pickel = Eiterpustel (fernzuhalten von Pickel in
Pickelhaube, das mit „Becken" verwandt ist) ist die Verkleinerung von
mittelhochdeutsch pic = Stück. Knödel bedeutet eigentlich einen kleinen
Knoten, denn es ist die Verkleinerung jenes mittelhochdeutschen Wortes
(knote, knode), dessen neuhochdeutsche Fortsetzung „Knoten" ist.
Gesindel bedeutet eigentlich „kleines Gesinde" und hat bei Luther
noch keinen verächtlichen Sinn. (Als ältesten Beleg für den Scheltencharak¬
ter des Diminutivums wird bei Kluge-Götze aus dem Jahre 1618 angeführt:
„Joseph hat nichts gemein mit dem übrigen Gesinde, das man eher Gesind-
lein nennen sollte.") Gipfel ist die Verkleinerungsform von mittelhoch-
Bedeutungsbrücke von Garn zu Clique bildet anscheinend die Vorstellung
„Anhang“ (was dem Kleide anhängt). Heine, der Rheinländer, gebrauchte
Klüngel öfters im Sinne von Clique. Im Elsaß hat Klüngel, Klüngel neben
Knäuel auch die Bedeutung: dicke Weibsperson. Ebenso Chlunge im Schwei¬
zerischen. Vielleicht sind „Klüngel“ und „Knäuel“ (d. h. die althochdeutschen
Grundformen klunga und kliuwa) untereinander auch etymologisch ver¬
wandt. Es ist auch hingewiesen worden auf englisch cling (aus angelsächsisch
clingan) = sich anklammern. Zwischen Klüngel und Clique dürfte hin¬
gegen trotz der Synonymität und der Übereinstimmung im Anlaut keine
Verwandtschaft bestehen. Unser dem Französischen entnommenes Fremdwort
Clique beruht auf lautmalerischen Zeitwörtern. (Cliquer ist die ältere Form
von claquer = klatschen, schnalzen; cliqueter = klirren, rasseln; clicher =
abklatschen, daraus unser Fremdwort C 1 i c h e, wegen des Geräusches beim
Abformen, beim Matrizieren; man vgl. das deutsche Hauptwort „Abklatsch“.
Die im Falle Clique zu Tage tretende Bedeutungsbeziehung zwischen den
Vorstellungen „Geräusch verursachen“ und „Klüngel“ dürfte ähnlich beschaf¬
fen sein, wie jene im Falle von englisch racket, das von der Bedeutung Tu¬
mult, Getöse zu der von Verbrecherbande gelangt.)
247
deutsch gupf (Nebenform von kupfe, neuhochdeutsch Kuppe) = höchste
Spitze, das zur Sippe cupa—Kopf—Kübel—Kufe—Giebel gehört, aus der
wir unter den verblaßten Verkleinerungsformen bereits das Hauptwort Kup¬
pel (S. 230) kennen gelernt haben. K i p f e 1, die österreichische und schwei¬
zerische Bezeichnung für das in Deutschland meistens Hörnchen heißende
Gebäck, ist die Verkleinerung von mittelhochdeutsch kipfe, althochdeutsch
kipfa, aus lateinisch cippus = Pfahl, woher auch das Wort Kippe = Spitze
(z. B. in der Wendung „auf der Kippe stehen"). Stummel scheint die
Verkleinerung von Stump (Stumpf) zu sein. Schon im Althochdeutschen
bestand neben dem Primitivum stumpf das Diminutivum stumbal. Anglei¬
chung von -mb- zu -mm- wie bei dumm, Lamm, Zimmer aus tumb, lamb,
zimbar. Der gleiche Assimilationsvorgang zeigt sich bei Trommel, dessen
spätmittelhochdeutscher Vorläufer trumbel = Trommel, Trompete, Posaune
anscheinend die Verkleinerung von althochdeutsch trumba ist, das auf dem
Umweg romanischer Verkleinerung auch zu unserem Trompete führt.
Rudel ist vielleicht die Verkleinerung von „Rotte"; erweisen läßt es sich
nicht. 1
Daß Nelke eigentlich die Verkleinerung von Nagel ist, bestätigen auch
die mundartlichen Formen niederdeutsch Negelken, oberdeutsch Nägelein.
Die Bedeutungsbeziehung zwischen dem eisernen oder hölzernen Stift und
der Blume erscheint sonderbar, klärt sich aber einfach auf. Es wurden zuerst
die als Gewürz verwendeten getrockneten Blütenknospen des auf den Mo¬
lukken heimischen Baumes Eugenia caryophyllata (Caryophyllus aromaticus)
als „kleine Nägel" bezeichnet; weil sie an die Gestalt der alten handge¬
schmiedeten Nägel erinnerten. Als nun der Name des Gewürzes feststand
(negelkin, nelichen usw.), wurde er — ungeachtet des Umstandes, daß
der Name eigentlich etwas über die äußere Form aussagt — auf die Garten¬
blume übertragen und bei dieser zweiten Übertragung war der Duft die
Ubertragungsgrundlage 2 . (Zur Not könnte allerdings auch von einer Form¬
ähnlichkeit zwischen der Blume und dem Nagel gesprochen werden.)
Hügel bedeutet eigentlich „kleine Höhe"; es ist die Verkleinerung von
althochdeutsch houg, mittelhochdeutsch houc, womit eine Anhöhe bezeich-
1) Im Falle von Achsel und von Nabel ist wohl eine etymologische
Beziehung dieser Körperteilnamen zu den Wagenteilnamen Achse und Nabe
einleuchtend, doch scheint nicht eine Verkleinerung vorzuliegen.
2) Man kann in solchen Fällen von Metaphern zweiter Potenz sprechen.
Man vgl. einen ähnlichen Übertragungsvorgang S. 186 f: Wolf (lupus, reißendes
Tier) — Lupus (reißend um sich greifendes Geschwür, das nebstbei linsen¬
förmig ist) — Lupe (Vergrößerungslinse) und auch das Stichwort Porzellan
in „Wörter und ihre Schicksale“ (Schwein — weiblicher Geschlechtsteil —
Muschel — Porzellan).
248
net wurde (aus der Sippe von „hoch", englisch high) .Runzel gehört auch
zu jenen deutschen Wörtern, die neuhochdeutsch nur in Verkleinerungsform
Vorkommen, deren mittel- und althochdeutschen Vorläufer aber die Grund¬
form noch nicht verdrängt hatten: althochdeutsch runza und runzala, mittel¬
hochdeutsch runze und runzel. Eichel (althochdeutsch eihhila) ist die
Verkleinerung von Eiche (eih); die Frucht wird als das Kind, als das Junge
des Baumes angesehen. Schenkel (verwandt mit Schinken) scheint die
Verkleinerung eines westgermanischen skanka zu sein, das aus den gleich¬
bedeutenden Wörtern shank (englisch), schank (flämisch), skonk (norwe¬
gisch mundartlich) erschlossen wird. Nichte führt zurück über mittel¬
hochdeutsch niftel 1 zu althochdeutsch niftila, Verkleinerung von nift, dessen
Bedeutung Enkelin oder Stieftochter war. Enkel bedeutet eigentlich Ahn¬
dien, denn althochdeutsch eninchili ist die Verkleinerung von ano. Da die
Verkleinerung von Ahne als Bezeichnung des Großvaters verwendet wird
(z. B. Ahnerl im Bayrischen), so mutet es sonderbar an, daß derselbe Aus¬
druck auch die Bedeutung Enkel hat. Bei Kluge-Götze heißt es: „Der Gro߬
vater gibt dem Enkel die Anrede ,Großvater' freundlich zurück." Anders F.
Harder (W. Schulze und J. v. Müller folgend): „Die Griechen benannten
die Söhne oft nach dem Namen des Großvaters, und man macht oft die Be¬
obachtung, daß sich die Eigenschaften der Großeltern mehr auf den Enkel
als auf die Kinder vererben."
Mannequin = Probierfräulein hat eigentlich die Bedeutung „Männ¬
chen". Diese Geschlechtsumkehrung erklärt sich daraus, daß das Wort im
Französischen, woher wir es haben, die allgemeine Bedeutung Puppe, Ma¬
rionette, Hampelmann (auch im übertragenen Sinne: Schwächling), Puppe
für den Fechtunterricht, den Zeichenunterricht, Probierpuppe des Schneiders
usw. hat, indes im Deutschen dieses Fremdwort hauptsächlich zur Bezeich¬
nung der „Probiermamsell" dient. Das Wort enthält eine niederdeutsche, ge¬
nauer gesprochen eine flämische Verkleinerungsendung: das ins Französi¬
sche entlehnte flämische Wort lautet mannekin = Männchen, niederdeutsch
Männeken. (Wir erinnern an das berühmte Brüsseler Brunnenbüblein Man-
neken-Pis.)
Von deutschen Personennamen, die in ihrer Verkleinerungsform (Kurz¬
form, Koseform) zu Gattungsnamen geworden sind, nennen wir: Rüpel
= Rohling, Verkleinerung von Ruprecht und Metze = Dirne, Verklei¬
nerung von Mechtild, Mathilde.
i) Analogien für die Umwandlung von -ft- in -cht-: Gerücht aus mittel¬
hochdeutsch geruofte zu rufen; sacht, das mit sanft eng verwandt ist; Schacht,
das die niederdeutsche Entsprechung von Schaft ist.
249
Zu den verblaßten Verkleinerungswörtern sind auch solche Wörter zu
zählen, die zwar unverkennbare Diminutivendungen haben, aber kein ge¬
läufiges Wort als Grundform erkennen lassen. Das Wort Scherflein,
von Luther 1 in die Schriftsprache eingeführt, das wir eigentlich nur in den
Wendungen „sein Scherflein beitragen" und „das Scherflein der Witwe"
gebrauchen, erklärt sich als Verkleinerung eines älteren Wortes Scherf (alt¬
hochdeutsch scerf, mittelhochdeutsch scherpf), das eine kleine Münze des
Mittelalters bezeichnete. Ebenso ungeläufig ist heute das seit dem 18. Jahr¬
hundert ganz abgestorbene Wort Veil, die Grundform von Veilchen.
Veil kam von lateinisch viola, das aber schon selbst eine Verkleinerung war,
u. zw. von ion, der griechischen Bezeichnung dieser Blume. Veilchen ist
also eine verkleinerte Verkleinerung, eine Verkleinerung der zweiten Po¬
tenz. Dasselbe gilt auch für Frettchen, den Namen einer Iltisart. Die
Grundform Frett kommt von italienisch furetto, Diebchen, der Verkleine¬
rung von lateinisch für. (Eine andere Verkleinerung von für ist der schon
behandelte Furunkel.) Das Frettchen wird als „Dieb" bezeichnet, weil es
schon von den Römern, wie es auch heute geschieht, zum Fangen („Steh¬
len") von Wildkaninchen 2 und anderen Schädlingen der Landwirtschaft
verwendet wurde.
Weniger als beim Frettchen verrät sich der Diminutivcharakter im Namen
eines anderen, naheverwandten kleinen Raubtieres. Hermelin kennt das
Neuhochdeutsche nur in dieser Form, während im Mittelhochdeutschen her-
melin und im Althochdeutschen harmili noch als Diminutiva empfunden
worden sind, da die Grundformen harme, harmo = Wiesel daneben noch
lebendig waren 3 . Aus dem Verblassen des Verkleinerungscharakters ergibt
1) Mark. 12,42, wo die arme Witwe allerdings zwei Scherflein in die
Büchse legt. Luther kannte die Münze Scherf aus seiner Erfurter Zeit. Seinen
oberdeutschen Zeitgenossen mußte das Wort verdeutscht werden: in Ingol¬
stadt mit „Haller“, „Ortlin“, in Basel mit „halber Heller“, „örtlin“, in Zü¬
rich mit „Örtly“ (Trübners Wörterbuch).
2) Unklar sind die Verhältnisse im Falle von Kaninchen. Ich möchte
es am liebsten — im Gegensatz zu den verblaßten Verkleinerungsformen —
als vorgetäuschte Verkleinerungsform bezeichnen. Mittelhochdeutsch küniklin
ist die Eindeutschung von lateinisch cuniculus, das jedoch kaum als Verklei¬
nerungsform gelten kann, sondern vermutlich die latinisierte Form eines
iberischen (oder baskischen oder semitischen) Wortes ist, das die Römer in
Spanien, vielleicht auf den Balearischen Inseln, in ihren Sprachschatz auf¬
genommen haben. Das Wort Kanin, mit dem man jetzt im Kürschnerge¬
werbe das Kaninchenfell bezeichnet, ist nicht etwa die Grundform zu Kanin¬
chen, sondern ist erst nachträglich aus diesem Worte gebildet.
3) Unbegründeterweise hat man „Hermelin“ mit „armenisch“ in Verbin¬
dung zu bringen versucht.
250
■
sich die merkwürdige Betonung des Wortes Hermelin. Die etymologisch be¬
gründete Betonung wäre nicht die auf der letzten Silbe (wie bei den Fremd-
und Lehnwörtern Anilin, Kamin, Pinguin usw.), sondern die auf der ersten
Silbe (wie auch bei anderen rein deutschen Verkleinerungswörtern: Mägde¬
lein, Vögelein usw.) 1 . Wiesel geht zurück auf althochdeutsch wisula, Ver¬
kleinerung von wiessa (verwandt mit englisch fitch = Iltis). Heimchen
= Grille ist die Verkleinerung von mittelhochdeutsch heime = Hausbewoh¬
nerin. Ferkel (althochdeutsch farhilo, mittelhochdeutsch ferhelin) ist die
Verkleinerung von althochdeutsch farah (in oberdeutschen Mundarten heute
noch Farch), das die germanische Verwandte von lateinisch porcus =
Schwein ist. Forelle ist assimiliert aus dem älteren Forenle, das die ober¬
deutsche Verkleinerungsendung -le noch gut erkennen läßt. Im Mittelhoch¬
deutschen hieß es noch unverkleinert forhe oder forhen (althochdeutsch
forhana). Auch mundartlich werden unverkleinerte Formen noch bezeugt:
schwäbisch Forhen, schweizerisch Forene, bayrisch Fehrne. Eule ist die
Verkleinerungsform eines nicht mehr feststehenden alten Namens des Uhus,
der größten Eulenart. Der althochdeutsche Vorläufer von Eule, uwila, läßt
den Diminutivcharakter noch erkennen. Den Tiernamen Libelle haben
wir bereits bei den verblaßten Verkleinerungen lateinischer Herkunft be¬
handelt.
Als Tiernamen mit verblaßtem Diminutivcharakter haben auch solche
Tiernamen zu gelten, die ursprünglich nur das kleine Tier, das Junge vom
Tier bezeichneten, jetzt aber für das betreffende Tier überhaupt verwendet
werden. So bedeutet Stier, althochdeutsch stior, eigentlich: Stierkalb, Jung¬
stier. (Englisch steer = junger Ochse). Auch Schwein bezeichnet eigent¬
lich nur das Junge dieses Tieres, Man nimmt eine indogermanische Wurzel
su an (zu der unser Sau gehört). So wie griechisch hyinos, lateinisch suinus,
altslawisch svinu hat daher ein erschlossenes germanisches swina die Bedeu¬
tung: vom Schwein kommendes. Die deutsche Form Schwein (althoch¬
deutsch swin) bedeutet also eigentlich: das Junge von der Sau. Sperling
ist: das Junge vom „sparo". (Die Koseform dieser althochdeutschen Grund¬
form sparo ist „Spatz", wie Ratz zu Ratte, Matz zu Matthias u. dgl.)
Einen besonderen Typus von verblaßten Verkleinerungen stellen gewisse
Kleidungsstückbezeichnungen dar, die eigentlich Verkleinerungen von ent¬
sprechenden Körperteilbezeichnungen sind. Ärmel (althochdeutsch armilo,
i) Den Maler B ö c k 1 i n ärgerte es stets, wenn man seinen Namen, wie
wenn es kein sinnvolles deutsches Wort („kleiner Bock 44 ) wäre, fremdartig
auf der Endsilbe betonte; einer Dame, die es hartnäckig tat, drohte er rei¬
mend, das Unterröcklin, das doch auch kein betontes -lin habe, auszuklopfen.
251
ermilo) ist die Verkleinerung von „Arm". Epaulette = Achselstück
kommt vom gleichlautenden französischen Worte, das die Verkleinerung von
epaule = Schulter ist. Ähnlich steht es mit Korsett; französisch corset
bedeutet eigentlich Körperchen, zu corps (altfranzösisch cors) = Körper.
Dasselbe Verhältnis besteht zwischen Leibchen und Leib. Französisch
c u 1 o 11 e = Kniehose (uns durch das Fremdwort Sansculotte vertraut) ist
die Verkleinerung von cul = Gesäß.
-J;
Die zuletzt behandelte Gruppe von Verkleinerungsformen sei zum Aus¬
gangspunkt einiger grundsätzlicher Erörterungen genommen. Schon bei man¬
chem der früher angeführten verblaßten Diminutiva mutete die Bedeutungs¬
beziehung zwischen dem Verkleinerungswort und dem aufgedeckten Grund¬
wort sonderbar an, denn z. B. an welches schrecklichen Riesen Spieß müssen
die Griechen gedacht haben, als sie die Gedenksäule, zu deren Spitze wir
hinaufschauen müssen, als einen kleinen obelos, als ein Spießchen bezeich-
neten. Im Falle der zuletzt behandelten Verkleinerungen (Arm-Ärmel usw.)
ist es aber sogar so, daß das, was mit dem Verkleinerungswort bezeichnet
wird, in Wirklichkeit nicht nur größer ist, sondern unbedingt größer sein
muß, als das, was das Grundwort bezeichnet; kann doch der Ärmel, in den
der Arm hineingeht, nicht kleiner sein als dieser, das Leibchen nicht kleiner
als der Leib, das Korsett nicht kleiner als der corps. Sichtlich kann also die
Bedeutungsbeziehung zwischen dem Grundwort und dem daraus gebildeten
Verkleinerungswort nicht rein geometrisch aufgefaßt werden, etwa
wie die zwischen einem breitkrämpigen Damenhut und einem Hütchen, das
mit Hilfe einer Schere aus jenem hergestellt werden kann.
Vor allem ist die Verkleinerung oft nicht räumlich, sondern zeitlich
wirksam, so daß wir in solchen Fällen eigentlich nicht von einer Verkleine-
rungs-, sondern von einer Verjüngungsendung sprechen sollten. Die¬
ses Ubergehen der räumlichen Verminderung in eine zeitliche erklärt sich
daraus, daß gewöhnlich das Jüngere — z. B. das „Junge" des Tieres — zu¬
nächst auch das Kleinere ist. „Jünger" ist aber auch, was später zu unserer
Kenntnis gelangt. Es ist also von zwei zusammenhängenden Begriffen der¬
jenige, der später entstanden ist und nur bei Vorhandensein des ersteren
entstehen konnte, ein „Junges" des ersten Begriffes. Es mußte erst die Be¬
griffe Arm, Leib geben, damit später die Begriffe der dazugehörigen Klei¬
dungsstücke Ärmel, Leibchen „zur Welt kommen" konnten. Das Diminutiv¬
wort dient also gleichsam zur Bezeichnung einer Neuheit, eines E r-
gänzungsbegriffes : was zum Begriff „Arm" später neu hinzu-
kommt, ist ein „kleiner Arm", ein Ärmel. Man könnte sich ein Volk vor¬
stellen, das zuerst das Streichholz kennen lernt, ihm einen bestimmten Na¬
men gibt und das dann später, als es auch mit dem Feuerzeug bekannt wird,
dieses mit einer Verkleinerungsform jener ersten Bezeichnung belegt, und
andererseits ein anderes Volk, in dessen Blickfeld die beiden genannten
Dinge in umgekehrter Reihenfolge treten und das daher das Streichholz als
Feuerzeuglein bezeichnet.
Aber auch durch das Heranziehen der Möglichkeit, den Verkleinerungs¬
vorgang nicht immer nur räumlich, sondern mitunter auch zeitlich aufzu¬
fassen, sind wir der großen Spannweite der Bedeutungsvorgänge, die sich auf
dem Wege vom Grundwort zum Verkleinerungswort abspielen, noch nicht
ganz gerecht geworden. Die Bedeutungsveränderung kann nicht nur in einer
räumlichen oder zeitlichen Begriffsverminderung bestehen, häufig sind es
G e f ü h 1 s Vorgänge, die die Bildung des neuen Wortes erzwingen. Ver¬
kleinerungsformen sind oft zugleich Koseformen 1 . Wenn der Franzose
von seiner petite amie spricht, stellt er sie weder als klein, noch als jung
hin, sondern läßt eine gewisse Gefühlseinstellung erkennen. In der gegen¬
seitigen Ansprache der Liebenden sind Verkleinerungswörter heimisch. Die
Liebenden verhätscheln sich gleichsam gegenseitig, wie wenn jeder und
jede etwas Kleines, Kindliches, Niedliches zur Partnerin, zum Partner hätte.
Aber nicht nur Zärtlichkeit, Schätzung kann das Versehen des Grundwortes
mit der Verkleinerungsendung ausdrücken, sondern auch das Gegenteil:
Geringschätzung, Tadel, Hohn. Brugmann hebt hervor, daß beson¬
ders die Römer das Diminutivum oft in dieser Weise verwendeten (furun-
culus, Diebchen, im Sinne von elender Dieb, homunculus, Menschlein, im
Sinne von kläglicher Wicht).
Jacob Grimm versuchte die Vielartigkeit des Verkleinerungsvorganges auf
einen Nenner zu bringen: Verkleinerung finde statt, wenn durch eine in
dem Wort selbst vorgehende Veränderung dem Begriff an seiner vollen
Kraft etwas benommen wird; es solle gleichsam nur ein Stück davon aus¬
gesagt werden. Dem gegenüber findet Wrede, daß das Diminutivum eher
eine Begriffssteigerung zu enthalten scheint, eine Isolierung
des Begriffes auf den einzelnen Fall, die im Affekte des Redenden begrün-
i) Dementsprechend dient die Vergrößerungsform oft zum Ausdruck des
Tadels, des Schimpfes; dies gilt z. B. von Wörtern mit der lateinischen
augmentativen (amplifikativen) Endung -aster (enthalten z. B. im heutzutage
sehr beliebten deutschen Scheltwort Kritikaster). Im Lateinischen bedeutet
z. B. parasitaster: elender Parasit. (Man vgl. italienisch filosofastro, poetastro,
medicastro.)
*53
det sei: „mein Dörfchen*' soll dem Begriff Dorf ganz und gar nichts von
seiner ursprünglichen Kraft und seinem Bedeutungsinhalt nehmen, es soll
vielmehr so etwas andeuten wie „mein Dorf kat* exochen**. Wir reden das
Ding gleichsam als etwas Personifiziertes an, wir treten mit einer persönli¬
chen Ansprache an das Ding heran, indem wir seinen Namen mit einer
Verkleinerungsendung versehen. Jetzt begreifen wir auch, schreibt Wrede,
weshalb der Schweizer selbst den großen Berg ein Bergli und das kräftigste
Donnerwetter ein Wetterli nennt; nichts vom Nachspuk eines spätlateini¬
schen monticulus, nichts vom euphemistischen Zug des Sprachlebens (Por¬
zin), es sind von Hause aus lediglich Personifikationen, mit denen der
Mensch auch gewaltigen Naturerscheinungen vertraulich näher rückt, und
die schließlich von dem Vorstellungskreise einer primitiven Mythologie nicht
allzuweit entfernt sind.
Zu den schweizerischen Verkleinerungswörtern für Naturerscheinungen
gehört auch Sünnli = Sonne. Vielleicht — bemerkt dazu L. Spitzer — fällt
jetzt auch Licht auf soleil = Sonne. Dieses französische Wort geht nämlich
auf eine Verkleinerungsform von lateinisch sol = Sonne zurück. Wie über¬
haupt viele französische (und auch sonstige romanische) Wörter sich von
Verkleinerungsformen herleiten, ohne die Bedeutung eines eigentlichen
Verkleinerungswortes zu haben (z. B. oreille, Ohr von auricula, Verklei¬
nerung von auris; oiseau, Vogel, von avicellus zu avis; taureau, Stier, von
taurellus zu taurus; cheville, Pflock, von clavicula zu clavis; vaisseau, Gefäß,
von vascellum zu vas). Vielfach haben die Verkleinerungen schon im La¬
teinischen die diminutive Bedeutung aufgegeben und sind ganz an die Stelle
der Primitiva getreten (Meyer-Lübke). Jedenfalls war die lateinische Vul¬
gär spräche, die doch die eigentliche Mutter der romanischen Sprachen ist,
viel reicher an Verkleinerungsformen als die klassische Schriftsprache der
Römer. Übrigens ist ja der Hang zur Verkleinerung auch auf dem Gebiet
der deutschen Umgangssprache und der deutschen Mundarten unverkennbar.
Die Vorliebe des Schweizers für die Verkleinerungsendung -li haben wir
bereits gestreift. Der Wiener fährt auf Brettln (Ski) oder auf dem Radi
(Fahrrad), wirft den Brief ins Kastl und wenn er im Gasthaus Ganserl
oder Kalbszüngerl bestellt und dazu ein Vierterl Wein, will er weder, daß
er vom Braten eine kleine Portion bekomme, noch daß es ein kleines Vier¬
telliter sein soll.
Der seelische Vorgang bei der Schöpfung eines Verkleinerungswortes
kann jedenfalls von so mannigfaltiger Art sein, daß die Bezeichnung einer
bestimmten Endung als Verkleinerungsendung nur als bequeme Verein¬
fachung gelten kann. Selbst zwischen Verkleinerungs- und V e r g r ö -
254
ß e r u n g s Vorgang ist die Grenze nicht scharf zu ziehen. Die Geschichte
der romanischen Sprachen zeigt uns ein bemerkenswertes Beispiel im Falle
der sich nach zwei entgegengesetzten Richtungen entwickelnden Endung -on
(-one). Während sie im Französischen eine Verkleinerungsendung ist, hat
sie vergrößernde (augmentative, amplifikative) Wirkung im Spanischen
und im Italienischen. L. Spitzer weist darauf hin, daß das Nebeneinander
von vergrößernder und verkleinernder Bedeutung einer Endung von den
slawischen Sprachen sogar beim selben Wort anstandslos geduldet wird.
So hat tschechisch tellcko (von telo, Körper) sowohl die Bedeutung „klei¬
ner Körper'", als auch die Bedeutung „sehr großer Körper".
*55
Aristophanische Zusammensetzungen
I
Wer im Geschmack der Achtzigerjahre eingerichtete Wohnungen noch
erlebt hat, erinnert sich jener Bündel aus getrockneten Pflanzen, Eicheln,
Schilfstengeln, Heidegraswedeln, Pfauenfedern, die fächerartig in die
Ecken der guten Stuben komponiert wurden, um dort Staub und bewun¬
dernde Blicke aufzufangen. Makartbuketts nannte man diese Prunkstücke
nach dem Wiener Maler, dessen üppige Dekorationskunst eine passende
Folie zum Getue der Gründerzeit schuf. Man empfand damals diese Makart¬
buketts als überaus schön und sinnenfroh, und wären sie nicht aus rasch
vergänglicher, heute längst zerfallener Materie gewesen, sondern etwa aus
Stein wie die Lanzen, Helme und Schellenbäume, Fahnen, Standarten und
Prunktücher, die sich erstarrt über den Barockportalen bauschen, gewiß wür¬
den auch sie noch einmal die Wiederaufnahme in die Gunst des Geschmacks
erleben.
Auch der Sprachstil hat seine Makartmoden. Als das klassische Vorbild
für das Staatmachen mit Wortbuketts ist Aristophanes anzusehen.
Seinen Stil nannte Aischylos kompophakelorremon, prunkbündelartig. Eines
der Wortungetüme des Aristophanes bringt es auf nicht weniger als 75 Sil¬
ben 1 . In der römischen Literatur finden sich bescheidene Ansätze zur Nach-
i) Die deutschen Übersetzer des Aristophanes haben mitunter versucht, das
griechische Wortfeuerwerk deutsch nachzuprasseln. In der Übertragung Lud¬
wig Seegers liest man z. B. in den Wolken von bettdeckenumwälzendem
Grübeln und wagenradzertrümmerndem Geschick, vom blitzschlängelndver-
heerenden Sturmschritt des Gewölks, von brillantringfingrigen Stutzern und
sternschnuppenbeguckenden Gauklern, in den W e s p e n von Pfefferkornund-
kümmelspaltern und dem MorgenschlafverstÖrungsrechtsverhunzerleben eines
Richters. Lysistrata, in der gleichnamigen Komödie, die anderen wider¬
spenstigen Weiber alarmierend, ruft: hallo, ihr Rübenkohlgemüsebutterweiber,
ihr Zwiebelkäsebäckerkneipenfrauen; im Frieden ist von leckerbissenver¬
schlingenden Forellenschnappern, bocksduftigen Fischmarktumwühlern und
256
ahmung des athenischen Komödiendichters nur bei Plautus (z. B. quodse-
melarripides, tedigniloquides, nunquamposteareddides).
Weit hinter dem 75silbigen Rekord des Aristophanes bleibt der Berliner
Humorist Glaßbrenner 2 urück, wenn er — bloßdreißigsilbiglitaneiend
— von treuhundsmurrknurrgutrufsboßigzahnloskeifigknochenleiberklapprig-
abgebuhltebetfrommhofquatschkaffeeklatschgen Weibern spricht. Man kann
viele solche Fettaugen aus der Glaßbrennerschen Brühe herausfischen. Zwei
weitere Beispiele sollen genügen: katzenpfotweichschleichgeheimvogelgiere
Polizisten und pudelwinselschwan2kriechmuckerspeichelleckig. Weniger
durch die Länge als durch den virtuosen Aufbau zeichnen sich die Wort-
zusammenziehungen N e s t r 0 y s, des Wiener Aristophanes, aus. Bei ihm
ist zu lesen: NichtbisfünfzählenkÖnner, Konvenienzüberhüpfer, Voneigenen-
mittelnleberer, Untervieraugenspassettein (Spassettel = Späßchen), Mitmir-
wasvorhaber, momentane Michhinwerfung, herrschaftsbusengenährte Schlan-
gin, venividivizisch gedacht. Mehr ins Quantitative geht das Nestroysche
WortKünstlerstolzbeleidigendeselbsteigeneidealschöpfungsverschandelungszu-
mutung. Den Amtsstil nachahmend gebraucht er Berücksichtigungswerdungs-
ansprüche und Hochverratsvorschubsleistungsteilnahme. Ganz nestroyisch
schreibt Karl Kraus von zwei Triebfedern des Stillstandes im Wiener
Volkscharakter: „der Schiebidenneteean-Wille paart sich mit der Stehtee-
nettafür-Skepsis" (schieb' ich denn nicht eh* an, steht eh' nicht dafür).
Bei Nestroy findet sich auch die Farbenbezeichnung vergißmeinnicht¬
katzenazurblau. Diese scherzhaft übertrieben verstärkende Zusammensetzung
ist einer alltäglichen Erscheinung der deutschen Volks- und Umgangssprache
und besonders der Mundarten nachgebildet. Wir sagen mutterseelen¬
allein oder mundartlich muttergottesseligallein * 1 , oder wie es in Bechstei ns
lenzluftdurchwogendsüßmelodischen Floskeln die Rede, in den Fröschen
von Blitzhageldonnerwetterkerls und Steineichenstämmenentwurzlern. In den
„Fröschen“ kommt auch die Szene vor, in der die Tragödiendichter Aischylos
und Euripides um den Dichterthron streiten. Euripides bezeichnet den Rivalen
als wortgebälkumklammerungskundigen Schöpfer der Ungeheuer, und Aischy¬
los erwidert mit den Schimpfwörtern Bühnenlumpensammler und Bettelbrut-
aushecker. Im Finale der Weibervolksversammlung fordert die
Chorführerin ihre schlanken Gespielinnen zum Tanze auf: „rüttelt den leeren
Bauch, denn es winken euch austernschneckenlachsmuränen-essighonigrahm-
gekröse - butterdrosselhasenbraten - hahnenkammfasanenkälber - hirnfeldtauben-
siruphering-larchentrüffelgefüllte Pasteten.“
1) Auch mutterallein (schwedisch moderallena), seelenallein, muttermensch-
allein usw. Alle diese Nebenformen widersetzen sich der Fabel von der Volks¬
etymologie mutterseelenallein aus moi-tout-seul.
257
17 Storfer • Sprache
Märchen pinmal heißt, mausmuttersternallein, wir sagen schneeblütenweiß
oder in Tirol schneeblührieselweiß, oder in Leipzig schneeschlohengelweiß,
und wir sagen brandkohlkesselschwarz oder pechrabenhöllenschwarz, wenn
wir „weiß" oder „schwarz" oder „allein" steigern wollen. Denn wir haben
es nicht so leicht, Superlative und Supersuperlative zu bilden, wie z. B.
die italienische Umgangssprache, die sogar Esel, Jesuiten, Neapolitaner
steigern kann (asinissimo, jesuitissimo, napolitanissimo) . Auch das Steige¬
rungsbedürfnis vieler Flüche befriedigt sich vielfach in ^Vortbündelungen;
z. B. Himmelkreuzdonnerwetter, Himmeltausendschockschwerenot. Dabei
haben die aristophanelnden Bildungen der deutschen Mundarten meist einen
scherzhaften Beigeschmack. Bei Fritz Reuter heißen die Festtagskleider „de
Sünndagsnahmiddagschen". Ähnlich im Leipzigischen: die Sonntagsnach¬
mittagsausgehweste. Der Leipziger Lexikograph, der dies in den achtziger
Jahren buchte, notiert u. a. auch die Whartkcttcn: saubohnenstrohgrob und
anvettermicheln (= sich einschmeicheln); man vgl. dazu bei Theodor Vi-
scher: Vettermichelgemütlichkeit. (Bei Vischer, im „Faust, III. Teil", fin¬
den wir auch: hetzkaplankläfflich, Höllenkochherdfeuer.)
Im Gegensatz zu dem scherzhaften Charakter der gelegentlichen Wort-
bündelung in der Umgangssprache und in den Mundarten war es den
Sprachreinigern, die um jeden Preis Ersatz für die Fremdwörter
schaffen wollten, bitter ernst, wenn sie mitunter für ein kurzes Fremdwort
ein wahrhaft aristophanisches Wortgebilde auf die Beine stellen mußten.
Kein Wunder, daß das geradezu kriechende Wort Lichtstrahleneigenschafts¬
wissenschaft für das aufrecht stehende Optik, oder das Starkschwachtastcn-
rührbrett für Fortepiano sich nicht einbürgern konnte. Bescheidener war
Beethovens Verdeutschungsvorschlag (1816) für Pianoforte: Hammerkla¬
vier. 1825 aber empfahl Beethoven für Konzert Tonstreitwerkversammlung,
für Trompeter Schmettermessingwerker, für Dilettant Kunstzeitvertreiblie¬
bender. (Beethoven dürfte dabei von der „Allgemeinen Musikalischen Zeit¬
schrift" beeinflußt gewesen sein, in der damals für Tenor Dünnsang, für
Bassist Grundsangwerker, für Fagottist Tiefholzwerker, für Flötenspieler
Sanftrohrwerker, für Instrumentalmusik Klangmachwerkerei vorgeschlagen
wurde; übrigens behauptet Schindler, die im Nachlaß Vorgefundenen Ver¬
deutschungen seien gar nicht vom Meister selbst; der Neffe Karl hätte sie
zur Unterhaltung des Onkels erfunden.) Gegner der Sprachreiniger haben
i) Bei großen Anlässen muß man den Superlativ noch übersteigern, sagt
Stendhal über die Italiener in seiner Geschichte der Malerei. — Die Steigerung
von Hauptwörtern kommt gelegentlich auch im Deutschen vor; z. B. in einer
alten "Wiener Operette: „Sie ist das Allerfraueste, was es gibt.
258
sich, um sie Zu verhöhnen, den Trick der Aristophanisterei jedenfalls nicht
entgehen lassen. Hoffmann von Fallersleben, der Dichter des Deutschland¬
liedes, sagte einmal statt Reaktionär: Freiheitsniedersdhmetterling * 1 . Und für
Jalousie schlug 1842 eine Zeitschrift vor: Fensterherabfalldunkelmachsonn-
abwehrleinwandslappen. Auf die Fremdwortscheu als Fördererin überwu¬
chernder Zusammensetzungen wies schon Jacob Grimm hin: „Deutschland
pflegt einen Schwarm von Puristen zu erzeugen, die sich gleich Fliegen an
den Rand unserer Sprache setzen und mit dünnen Fühlhörnern sie betasten.
Ginge es ihnen nach, die nichts von der Sprache gelernt haben und am we¬
nigsten die Kraft und Keuschheit ihrer alten Ableitung kennen, so würde
unsere Rede bald von schauderhaften Zusammensetzungen
für einfache und natürliche fremde Wörter wimmeln."
Eine vortreffliche Brutstätte für Wortkolosse war von jeher die Amts¬
sprache. Carl Julius Weber, der deutsche Demokritos, belustigte sich oft
über die „Wörterzusammenziehungsunausstehlichkeit" der deutschen Juri¬
sten. Und Jean Paul, der eine gelehrte Abhandlung in zwölf Briefen und
zwölf Postskripten über die deutschen Wortzusammensetzungen verfaßt hat
(hauptsächlich zur Bekämpfung des Binde-„s", in der ihm dann Maximilian
Harden gefolgt ist 2 ), gedenkt darin besonders der „Samwörter" der Wiener
Kanzlei- und Finanzsprache. Gegen diese Krankheit fordert er ein Wort¬
bandwurmabtreibmittellehrbuch. Ähnliche Gedanken vertritt ein 1899
erschienenes, anonymes Pamphlet („zusammengesetzt in seeschlangenartiger
Wehmut durch Pipin den Kurzen, Feind aller Langworte") unter dem Titel
„Zu Hülfe gegen den Wortzusammenziehungsbestrebungsbazillus". Die
Zeit der Jahrhundertwende war übrigens die Glanzzeit dieser Makartfestzüge
der Wörter in der Literatur sowie im Amtsstil. In einer amtlichen Bekannt¬
machung der Wiener Zeitung aus dem Jahre 1899 ist zu lesen: „Kaiser
Franz Josefs des Ersten fünfzigjähriges Regierungsjubiläums-Schüler-Stipen-
dien-Stiftung-Effekten-Lotterie-Unternehmen." (Bei diesem Wortungetüm
ist nebenbei auch nett, daß dieses offenbar zum 2. Dezember 1898 geschaf-
i) Bei Hoffmann v. Fallersleben kommt auch (im Gedichte „Allerhöchste
Kultur“, innerhalb der „Unpolitischen Lieder“) die Strophe vor: So werden
wir denn noch erleben / Ein Kleideranpassungsbureau / Und ganz gewiß
auch noch daneben / Ein Fußbedeckungsstück-Depot.
i) Der Kampf gegen das Binde-„s“ (Achtungerfolg statt Achtungserfolg!)
flackert auch seit Harden immer wieder auf. Hauptsächlich in Norddeutsch¬
land hält sich mancher an den gereimten Grundsatz: „Wo das s ist zweifei- /
Haft, da wirf’s zum Deifel.“ Indes im Süden die Parole vorherrscht: „Das
Bmde-s, das Binde-s / Ist etwas Hochzuschätzendes, / Es klebt, leimt, kittet
Jegliches, / Drum, wo du kannst, verwende es!“
17 *
259
fene Unternehmen 1899 als bereits fünfzigjährig hingestellt wird.) 1896
wird im Preußischen Abgeordnetenhaus eine Zentralgenossenschaftskassen¬
gesetzesnovelle behandelt und im Jahre 1910 brachte die preußische Regie¬
rung einen Abgeordnetenhauswahlvorschriftenabänderungsentwurf ein. Auch
die Amtstitel im k. k. Österreich ließen nichts zu wünschen übrig, wir er¬
wähnen bloß den Statthaltereikonzeptspraktikanten, den Hilfsämterdirek¬
tionsadjunkten und den Einreichungsprotokolldirektorialassistenten. 1905
nagelte der Deutsche Sprachverein u. a. folgendes in gedruckten amtlichen
Äußerungen fest: Pflegschaftsübernahmbereitwilligkeitserklärung, Mündel-
geldversicherungsnachweisungsangelegenheit, Weiterverpfändungsbenachrich¬
tigungsberechtigter. Ganz harmlos erscheinen daneben die Ausdrücke Zivil-
versorgungsberechtigungsschein, Lederverarbeitungsgewerbe, Rübensamenstop¬
pelauslesemaschine. Aus dem österreichischen Militäramtsstil, in dem beson¬
ders das Rechnungswesen glänzte: Rücküberrechnungszustimmung, Pferde¬
beköstigungsdurchschnittspreis. Das Schöffengericht der mecklenburgischen
StadtMirow verhandelte im Jahre 1911 gegen einen Geschäftsreisenden wegen
„Wandergewerbescheinsteuerdefraude". Eine Zeitschrift, die die Vorladung
zu Gesicht bekam, entdeckte in jenem Hauptwort einen daktylischen Tonfall
und baute es in einen Hexameter ein: „Strafe, o/Schöffe, die/Wanderge/
werbeschein/steuerde/fraude!" So üppig dieses Wort übrigens ist, macht es
sich doch einer Knauserei schuldig, indem es durch Benützung eines unbe¬
kannten Wortes „Defraude" die Endsilben des Wortes Defraudation unter¬
schlägt. Eine andere Zeitschrift erließ 1910 ein Preisausschreiben für die
Bildung von „Uberriesenbandwurmwortgebildepyramidenausdruckszusam-
menstellungen".
Die Angst vor der spöttischen Kritik der Tagespresse hat übrigens in den
letzten Jahren vor dem Krieg vielerorts auch Gesetzgeber und Behörden ver-
anlaßt, endlose Wortzusammensetzungen zu vermeiden, aber im Welt¬
krieg fühlte sich Sankt Bürokraz frisch gestärkt; Kritik an seinem Stil
wäre unvaterländisch gewesen, und so wimmelte es in den Verordnungen
und Erlässen von kreiseingesessenen kaffeeersatzbezugsberechtigten Personen
und Fleischbrühersatzwürfeln, von Herbstkartoffelanbauflächenerhebungen
und Zuckerrübenverfütterungsverboten. Im Sommer 1919 schrieb ein öster¬
reichischer Erlaß vor, daß Personen, die sich auf Sommerfrische begeben,
vorher bei ihrer zuständigen Brotkartenausgabestelle den Lebensmittelkarten¬
abmeldeschein zu beheben haben. Übrigens läßt sich auch die Nachkriegszeit
nicht lumpen; man führt Nichtangriffspaktverhandlungen, bezieht Haus¬
zinssteuerneubauwohnungen, genehmigt die Bevorschussung der bepfand-
briefungsfähigen Landgüter, fördert Stadtrandsiedelungsbestrebungen, prüft
Überstundenentlohnungsansprüche, erläßt Zündwarensteuerausführungsbe¬
stimmungen, stellt Notarbeitsbeschaffungsprogramme auf, das Berliner Po¬
lizeipräsidium zahlte 1928 Bekleidungsabnutzungsentschädigungen (dreimal
-ung). In der Bierwürzekontrollmeßapparateverordnung (13 Silben, 39
Buchstaben) des österreichischen Bundesministeriums für Finanzen vom 21.
November 1928 heißt es: „Die Schließung des Bierwürzeablaufhahnes und
das Herabschließen des Drehschieberiegels darf nicht unterlassen werden."
Im Sommer 1936 fand in Österreich ein Gendarmeriealpinersommerkurs
statt und wurden in einzelnen Tiroler Gemeinden für die Zeit des Fremden¬
verkehrs Interessentensaisonpostämter errichtet. Ganz jungen Datums ist
auch Gaubetriebsgemeinschaftsjugendwalter und aus Österreich: Kreisobst¬
bauwanderlehrer, Heimatschutzbezirksführerstellvertreter, Tapferkeitsmedail¬
lenbesitzervereinsmitglied. In der Stadt Wörgl waltet ein Arbeitsbestäti¬
gungsscheinausgabetreuhänderkomitee 1 .
Ein besonderer Typus der aristophanischen Wortungetüme ist jener, der
aus der Verwandlung eines Zeitwortes in ein auf -ung endendes Haupt¬
wort unter Mitraffung des redensartlich zum Zeitwort gehörigen Satzteiles
entsteht 2 . Besonders in Parlamenten, Gerichtsakten, Berichten der Gendar¬
men wütet die „Hauptwörterseuche" und zeitigt Krankheitsmerkmale wie
Habhaftwerdung, Außerachtlassung, Zuranzeigebringung, Inanklagezustand¬
versetzung, Zurabstimmungbringung, Zurverfügungstellung, Wiederinkraft¬
setzung. Selbst beim Sprachmeister Grimm findet sich gelegentlich ein
Hauptwort wie Wortuntereinanderwerfung. Bei Liliencron begegnen wir
1) Nicht selten sind Kongresse die Opfer des journalistischen Dranges nach
aristophanischer Wortraffung. So berichtet im Juni 1935 eine Zeitung über
eine in Homburg (Saar) stattgefundene „Gehirn- und Rückenmarkstagung“
und eine Zeitung in Glatz berichtet über eine „Edelmisttagung.“
2) Aber das -ung hat neuestens in Otto Briegleb einen überzeugten Ver¬
teidiger bekommen. In einer eigenen Schrift über „Das Recht der Endsilbe
-ung“ behauptet er u. a., die frevelhafte Ersetzung des -ung sei ganz jungen
Ursprungs. Aber schon Jean Paul trat für „Regiergewalt“, „Vergrößerglas“
ein. Schopenhauer poltert bereits lebhaft in den Parerga gegen die Zer¬
störungswut der Wortkürzer, die sich vorzüglich auf die Endsilben -keit und
-ung (z. B. Nachweis statt Nachweisung) richte. Behaghel weist darauf hin,
daß für den Vorgang des -ung-Schwundes zum Teil schon das 18. Jahrhundert
verantwortlich sei. Schon bei Goethe erscheint Zunahme für das ältere Zuneh-
mung; er hat auch nebeneinander Besitznehmung und Besitznahme. — Der
fakultativen Abschleifung des -ung verdankt der Sprachgebrauch in manchen
Fallen die Möglichkeit besonderer begrifflicher Unterscheidungen: für den
Unterhalt von Frau und Kindern zu sorgen ist etwas anderes als für ihre
Unterhaltung zu sorgen.
261
einer Ungdoppelung: Inordnunghaltung der Bibliothek. Ein Reichsgerichts¬
urteil vom 16. November 1934 spricht von der „Verbeiständung des Ange¬
klagten durch einen Verteidiger”; im gleichen Jahre die Barmer Kranken¬
kasse von der Leistungszurverfügungsstellung. Viermal kommt -ung in
einem Worte vor, das 1931 in der Juristischen Wochenschrift zu lesen
war: Berufungsbegründungsfristverlängerungsverfügung 1 . Bei derVerhaupt-
wortung des Zeitwortes „nehmen” wird wenigstens die -nehmung vermieden
und -nähme bevorzugt; z. B. Wiederinbetriebnahme, Inanspruchnahme,
Inempfangnahme, Inaugenscheinnahme. (Der 13silbige Satz „die Inan¬
griffnahme der Arbeit erfolgt heute” ist anscheinend vornehmer als der
7silbige „die Arbeit beginnt heute”.)
Ein erfolgreicher zeitgenössischer Autor schreibt: „Durch das Vertreten
der Meinung, daß man auf dem Wege einer durch demokratische Einrich¬
tungen erfolgten Zubilligung verfassungsmäßig größerer Rechte Menschen
befähigen kann..Statt dessen könnte es heißen: „Wer meint, daß man
Menschen, indem man ihnen durch demokratische Einrichtungen verfas¬
sungsmäßig größere Rechte zubilligt, befähigen kann...' Aber anschei¬
nend ist es wirksamer statt 17 Wörter 22 Wörter, statt 38 Silben 50 Silben,
statt 3 Hauptwörter 7 Hauptwörter zu gebrauchen. Es ist daher, mit spöt¬
tischer Übertreibung auch vorgeschlagen worden, der Bibel eine zeitgemäße
Fassung zu geben, in der dann der erste Vers („Am Anfang schuf Gott
Himmel und Erde”) wie folgt zu lauten habe: „Die Inangriffnahme der
Weltordnung nahm mit dem Umstand ihren Anfang, daß seitens Gottes die
Indiewegeleitung des Himmels, bezw. der Erde erfolgte”. Börries v. Münch¬
hausen ist der Meinung, daß die „Hauptwörterseuche” hauptsächlich durch
Rainer Maria Rilke in die deutsche Schriftsprache gedrungen sei, wobei er
jedenfalls das Alter dieser Ausdrucksweise unterschätzt und die Wirkung
Rilkes überschätzt. 2
1) Eine Wiener Tageszeitung schreibt 1936 über eine ungarische Regierungs¬
verordnung, die die deutschen Minderheiten betrifft: „Es wird nicht nur
keine Förder ung der deutschungarischen Bestreb u n g e n, sondern im Gegen¬
teil Duld ung ihrer Hemm u n g e n geübt.“
2) Ein Beispiel des zeitwortarmen und hauptwörterhäufenden Stils aus
Rilkes „Briefen aus Muzot“: „Da der Anschluß seines Herzens gestat¬
tet erscheint, wird das Maß aller seiner Beziehungen ein so besonderes
und persönliches sein, daß er im Augenblicke unbeschreiblichen E i n g e zö¬
ge n s e i n s etwas vor denen voraus haben wird, die aus leichteren
Bedingungen heraus ihre Anteilnehmung leistete n.“
Den Nebensatz „die aus leichteren Bedingungen heraus ihre Anteilnehmung
leisten“ übersetzt Münchhausen wie folgt ins Deutsche: „die leicht Anteil
nehmen.“
In anderen Fällen wird das -ung in der Weise vermieden, daß bei der
Verwandlung des Zeitwortes zum gespreizten Hauptwort die Infinitiv-
form erhalten bleibt. In gewissen Romanen und schöngeistigen Schriften
wimmelt es von Hauptwörtern, wie das Sich-vor-nichts-abschrecken-lassen,
das Sichnichtgenugtunkönnen. Zu den neueren Klassikern dieses Stils
des Infinitive-als-Hauptwörter-Gebrauchens gehören u. a. Rudolf Herzog
(die Kraft des Nimmerzugrundegehenkönnens, das Übernachtvomhim-
melfallen) und Richard Schaukal (das Insichselbstschönsein, das Vonder-
wahrheitüberzeugtsein). Übrigens finden sich solche Infinitivhauptwörter
auch bei Fontane (das Auch-draußen-zuhause-Sein, das Hutabziehen- und
Geradestehenmüssen), bei Heyse (das geschäftige Sich-den-Himmel-verdie-
nen-wollen, das Sich-dann-ohne-weiteres-zurückziehen), bei Hofmannsthal
(das Wieder-aus-der-Hand-legen der Bücher, das Miteinander-auf-der-Welt-
sein). Anzengruber versuchte es im Mundartlichen: weg'n m Miteinge-
sperrtg'westsein, das Besser-haben-Kinna. Im Frankfurterischen: das Ewig-
darnewedappe (danebentappen). Hier und da kommen solche Zeitwörter,
die dazu verurteilt sind, als Hauptwörter vermummt einen Rattenschwanz
von Wörtern nach sich herzuschleppen, auch bei Wilhelm Raabe vor:
er spricht vom So-nach-drei-Uhr-morgens-nachhause-kommen, vom seligen
Nichtmehrvonsichwissen, von einem mühseligen Wieder-auf-sich-besinnen,
von einem Fest-auf-die-vier-Füße-stellen, von der Annehmlichkeit des
Endlich-einmal-unter-sich-seins, von einem Den-Eierschalen-anderer-nach-
gehen, von einem Jahrhunderte langen Als-feuriger-Mann-herumgehen. Beim
Philosophen Heidegger (bei dem sich auch ein Hauptwort „das Un-zu-
Hause" findet) lesen wir vom Nicht-bei-sich-sein-können, vom Sich-vorweg-
Sein. Th. Matthias behandelt in seinem bekannten und geschätzten Buche
über Sprachschäden in einem eigenen Paragraphen den „substantivierten
Infinitiv als Quelle unschöner Zusammensetzungen". Der Fachsprache der
Wissenschaft könne man aber Bildungen wie das Nichtaufkommenlassen,
das Anundfürsichsein (Hegel) 1 zugestehen. Auch ein Humorist oder Spott¬
vogel dürfe manchmal versuchen, mit solchen Bildungen eben durch ihr
Absonderliches eine eigentümliche Wirkung zu erzielen (z. B. wenn Heine
über das Nebeneinandergehenktwerden spottet).
i) Wie weit es aber kommen kann, wenn Philosophen ihrem Drang nach
Aristophanismen die Zügel lockern, zeigen z. B. die Neuschöpfungen, von
denen es in den Schriften von K. Chr. Fr. Krause wimmelt, wie Seinheitur-
einheit, Vereinselbstganzweseninnesein, oder neuestens bei Stoltenberg, dem
Verdeutscher philosophischer Fachausdrücke, die Wörter Entsprechniskeit,
Vervollkommenbartum, Verstehsamnis.
26}
II
Die Neigung der deutschen Sprache zu langen Zusammensetzungen ist
einmal vom amerikanischen Humoristen Mark Twain verhöhnt worden. In
einem satirischen Bericht über eine Europareise erzählt er, daß bei einem
Patienten in der Nahe von Hamburg ein Wort von 13 Silben operativ ent¬
fernt werden mußte. Freundschaftsbezeugungen, Stadtverordnetenversamm¬
lungen seien keine Wörter, sondern Festzüge des Alphabetes; wer Phantasie
habe, könne die Musik hören und die Fahnen sehen. Mark Twains Spott
fand viel Widerhall in Deutschland. Ein Autor stellte öffentlich die For¬
derung auf, kein deutsches zusammengesetztes Wort dürfe mehr als fünf
Silben haben. F. Böckelmann verlangte, man solle statt Achtuhrladenschluß,
Offiziersgenesungsheim, Wiederherstellungsbestreben sagen: Ladenschluß
um acht Uhr, Genesungsheim für Offiziere, Bestrebungen, dies oder jenes
wiederherzustellen. Warnend trat diesem Auflösungsbestreben („Bestreben
zur Auflösung") W. Gensei entgegen; es sei leicht, häßliche Wörter an
den Pranger zu stellen, aber oft schwer, ja fast unmöglich, stichhaltigen
Ersatz zu schaffen. In der Tat, sollen wir statt Augenheilkunde, Strafgesetz¬
buch, Großmachtdünkel, Siebenmeilenstiefel schwerfällig sagen: Kunde der
Augenheilung (oder Heilkunde für Augen), Gesetzbuch über Strafen,
Dünkel, eine Großmacht zu sein, Stiefel für Schritte von sieben Meilen?
Der Satz „vom Fußballwettstreit fuhr der Männergesangverein mit der
Drahtseilbahn in die Kaltwasserheilanstalt" (11 Wörter = 26 Silben),
müßte dann wie folgt aufgelöst werden: „Vom Wettstreit im Spiel mit dem
Fußball fuhr der Verein für Männergesang mit der Bahn an dem Drahtseil
in die Anstalt für Heilung mit kaltem Wasser" (26 Wörter = 37 Silben).
Die Zahl der Silben ist also fast veranderthalbfacht, die der Wörter fast
Zweieinhalbmal so groß geworden.
Gegen die rücksichtslose Verurteilung aller zusammengesetzten Wörter
von mehr als fünf Silben hatte sich auch Böckelmann ausgesprochen. Wir
empfinden ja sechssilbige Wörter, wie Verfassungsurkunde, Sittlichkeitsver¬
brechen, Sicherheitsmaßnahme, Befähigungsnachweis, durchaus nicht als
schwerfällige Ungetüme, die man durch verzögernde Umschreibung ersetzen
müßte. Auch gegen die sieben Silben von Waffenstillstandsverhandlung,
Verbrechensbegünstigung und Meistbegünstigungsvertrag und die acht Silben
von Angestelltenversicherung, Arbeitslosenunterstützung oder Untersuchungs¬
gefangene ist nichts einzuwenden. Auch außerhalb des Verwaltungs- und
Rechtswesens verletzen uns nicht mit ihren sieben Silben die Wörter Unter¬
scheidungsmöglichkeit, Entwässerungsanlage usw. Die Fähigkeit zu Zusam¬
mensetzungen muß geradezu als ein Vorteil der deutschen Sprache angesehen
264
r~
werden; wir können z. B. mit einem Wort ausdrücken Handschlag,
Mondschein, wo der Franzose vierwörtig sagen muß: coup de la main,
clair de la lune. Auch im Auslande trat den deutschen Zusammensetzungen
ein Helfer auf. R. A. Williams hob hervor, daß der Spott gegen die
deutschen Zusammensetzungen oft auf falschen Grundlagen beruhe. Nur
der Fremde, der die Bestandteile nicht auseinanderhalten kann, komme
schwer zurecht, für das Gefühl des Deutschen ist das Wort instandsetzen
um gar nichts schwerer zu erfassen als die drei Wörter in Stand setzen 1 .
Mit der Frage, ob die besondere Fähigkeit zur Wortzusammensetzung
als Vorteil anzusehen sei, hat sich schon Jacob Grimm beschäftigt. Unser
himmelblau oder engelrein, schreibt er in seiner Schrift „Uber das Pedan¬
tische“, sei allerdings schöner als das französische bleu comme le ciel, pur
comme un ange, „aber ich stehe ebensowenig an, dem lateinischen malus,
pomus, dem französischen pommier den Vorzug vor unserem Apfelbaum zu
— -
' —-
i) Auch der Ungar, dem man Wörter wie legeslegmegengesztelhetetleneb-
beknek (= den Allerunversöhnlichsten) vorhält, findet sich in den Gliedern
dieses Defiliermarsches der e-Silben ohne weiteres zurecht. Agglutinierende
Sprachen, zu denen ja das Ungarische gehört, können überhaupt mit einem
Worte viel ausdrücken. Man sehe sich einen ungarischen Satz aus 2 Wörtern
an: holtomig (bis zu meinem Tode) vdrathatnälak (könnte ich dich warten
lassen). Also 9 deutsche Wörter entsprechen den 2 ungarischen. Dabei muß
diese ungarische Wortknappheit nicht etwa durch ein Mehr an Silben oder
Lauten erkauft werden, denn im angeführten Beispiel besteht die deutsche
Übersetzung aus 14 Silben = 38 Buchstaben (ch als 1 gerechnet) gegenüber
von nur 8 Silben =21 Buchstaben im Ungarischen. Fritz Mauthner führt ein
Prachtbeispiel der Agglutination aus dem Türkischen an: sev-isch-dir-il-e-me-
mek, „es ist ein Infinitiv von so reicher Nüancenfülle, daß wir mit all unseren
Sprechkünsten kaum heranreichen können, wir müßten es ungefähr übersetzen:
nicht genötigt werden können einander zu lieben“ (also 14 deutsche für 7
türkische Silben). Die Möglichkeit knapper Ausdrucksweise verdanken die
agglutinierenden Sprachen u. a. dem Umstande, daß sie neben dem Zeitwort
eines eigenen persönlichen Fürwortes entbehren können, z. B. ungarisch verlek
*= ich schlage dich, veretsz = du läßt mich schlagen. Es gibt über solche Für-
wortlosigkeit eine nette Bemerkung von Lord Byron (in seinen Gesprächen
mit Medwin): Alfieri habe vier Worte geschrieben, die mehr sagen als ganze
Bücher. Sie stehen im „Don Carlos“. Der König und sein Minister belauschen
eine Zusammenkunft des Infanten mit der Königin, worauf folgender Dialog
zwischen König und Minister die Szene abschließt: Vedesti? — Vedi —
Udisti? — Udi! In einer Übersetzung, sagt Byron, würde alle dramatische
Schönheit verlorengehen, — die Pronomina würden sie töten. Deutsch würde
der Dialog lauten: Hast du es gesehen? — Ich habe es gesehen! — Hast du
es gehört? — Ich habe es gehört. Aber ungarisch: Lättad? — Lättam. —•
Hallottad? — Hallo ttam.
265
geben" 1 . Die Leichtigkeit des Zusammensetzens im Deutschen, meint Grimm,
habe man ohne hinreichenden Grund zu der Fülle der griechischen Zusam¬
mensetzungen gehalten. „Schlechte ungebärdige Zusammensetzungen leimen
ist keine besondere Kunst" 2 . Grimm empfiehlt daher „Enthaltsamkeit im
Anwenden der Zusammensetzungen und Eifer für den erneuten Gebrauch
guter alter und neuer Derivative" 3 . Ableitungen sind, wie Oppermann aus¬
einandersetzt, kürzer als Zusammensetzungen, bieten also den Begriffsinhalt
bestimmter und schärfer als diese und entsprechen der vorwiegend ver¬
standesmäßigen Auffassung der Romanen, zusammengesetzte Wörter
hingegen geben den Begriff sinnenfälliger und anschaulicher
als einfache, abgeleitete Ausdrücke, entsprechen also der gemütvolleren
Art des deutschen Volkes. Daher seien „die Franzosen Meister der Prosa,
die Deutschen aber Führer auf dem Gebiete der Dichtung ; man versuche
nur Ausdrücke wie Muttersprache, Vaterhaus, Heimweh, Herzeleid, traum¬
verloren, Waldeinsamkeit in fremde Sprachen zu übersetzen 4 . Mit seinem
1) Man beachte auch die französischen, italienischen, englischen Simplizia
gant, guanto, glove gegen die deutsche Zusammensetzung Handschuh, oreiller,
origliere, pillow gegen Kopfkissen, d 4 , ditale, thimble, gegen Fingerhut, bücher,
rogo, stäke, gegen Scheiterhaufen, cr£dule, credulo, credulous gegen leicht¬
gläubig, patiner, patinare, scating gegen Schlittschuhlaufen usw.
2) Moszkowski weist im besonderen auch darauf hin, zu welchen Konso¬
nantenbegegnungen deutsche Wortzusammensetzungen führen können: Post¬
protestfrist, Geschwulstschwund, Wirkstrumpfknüpfung. Ich vermehre seine
Beispiele und verweise auf die Gruppe -ngstschw- in Angstschweiß (wo Fran¬
zosen und Engländer sich je zweier Wörter bedienen: sueur froide, cold sweat
— „kalter Schweiß“), auf -mpfpfl- in Sumpfpflanze (plante des marais), auf
-pfspr- in Kopfsprung (plongeon, header). Auf eine andere Beeinträchtigung
des Wohlklanges durch zu lange Zusammensetzungen lenkt uns Th. Matthias.
Die häßliche Wirkung beruhe zum größten Teil darauf, daß von einer stark
betonten Silbe am Anfang der Ton bis zum Ende sinkt. „Doppelt muß dies zu
fühlen sein, wenn das Grundwort gegenüber dem oder den Bestimmungswör¬
tern zu kurz und unbedeutend ist, als es jene durch einen oder mehrere
Nebentöne aufwiegen könnte.“ Man spreche sich nur solche unrhythmische Ge¬
bilde vor: Lebensatemzug, todesangstvoll, Sensationsnachrichtenbringer, Pen¬
sionsvorsteherinnenmoral.
3) Es ist besonders eine Überlegenheit der Mundarten, daß sie oft mit kur¬
zen Nachsilben neue Bezeichnungen bilden, wo sich die Schriftsprache umständ¬
licher Zusammensetzungen glaubt bedienen .zu müssen. Für das Bernerdeutsch
hat W. O. F. Hodler diese starke Fähigkeit zur Derivationsbildung erörtert;
z. B. Stündeler = Pietist, der viel in die Andachtsstunden läuft (die Schrift¬
sprache wäre da versucht, Andachtsstundenstammgast oder ähnliches zu sagen).
4) Der Franzose muß sich sehr über die im Deutschen jetzt so beliebten
Zusammensetzungen von Eigen- und Gattungsnamen wundern (Lutherworte,
Ibsencharaktere, Hamsunstimmungen, Italienreise, Wolgaschlepper, Russenaut-
2 66
Reichtum an zusammengesetzten Wörtern überflügelt das Deutsche selbst
das Sanskrit und das Griechische. Das von den Brüdern Grimm begonnene
Deutsche Wörterbuch weist z. B. 510 Verbindungen mit „Geist", 600 mit
Hand, 730 mit Land auf. Da bleibt das Griechische mit 305 Zusammen¬
setzungen, in denen das Wort theos enthalten ist, im Hintertreffen.
Zu erwähnen ist noch ein gelegentlich in Frage kommendes besonderes
stilistisches Motiv für längere zusammengesetzte Hauptwörter: man kann
durch die Zusammensetzung mitunter die bekannten peinlichen Bildungen
nach dem Schema der reitenden Artilleriekaserne, des kalten
Wasserdoktors, des roten Weintrinkers, des ausgestopften Tierhändlers, des
geräuschlosen Rolladenfabrikanten, des geriebenen Ölfarbenhändlers, der
verschmitzten Frauensrollen (Lessing), der ungeborenen Lämmerfelle
(Grimm) vermeiden. Es ist erfreulich, daß man Gelegenheit hat, statt „wil¬
der Schweinskopf" (so bei Goethe) Wildschweinskopf zu sagen, wenn
man auch dabei die Konsonantenhäufung — ldschw — in den Kauf neh¬
men muß, statt kleinem Gewehrfeuer (wie früher üblich war) Kleinge-
träge). Wustmann versäumte nicht, Shakespearedramen und Goethedenkmale
zu den Sprachdummheiten zu zählen. Solche Zusammensetzungen wurden in
der Schweiz immer besonders häufig gebraucht (Schweizergeschichte, Schwei¬
zerreise, Bernbiet, Baseldeutsch, Zürichputsch, Genfersee), und R. M. Meyer
bezeichnete sie daher als Schweizerkomposita. — Auf einen beson¬
deren Umstand, der bei der Beurteilung von Wert oder Unwert der Neigung
zu Zusammensetzungen zu beachten ist, macht mich W. E. S ü s k i n d, der
Herausgeber der „Literatur“, aufmerksam: die Wortzusammensetzung sei
besonders dort vom Übel, wo sie den im Deutschen überhandnehmen¬
den Schwund des Nebensatzes fördert. („Wegen meiner gebirgs-
luftbenötigenden Kinder bin ich zur Mietsvertragskündigung gezwungen“ oder:
„Da meine Kinder Gebirgsluft benötigen, bin ich gezwungen, den Mietsvertrag
zu kündigen“?) — Hier möchte ich darauf hinweisen, daß die u r a 1 a 1 1 a i -
sehen Sprachen, „wo irgend die uralaltaische Grundlage festgehalten ist“
(H. Winkler), keine Nebensätze, d. h. keine relative oder konjunk-
tionale Bindung haben. Den Gedanken „der Saum des Kleides, das mein
Bruder anzieht, geht nicht auf“ drückt z. B. der Japaner ungefähr so aus:
„das Nichtaufgehen des Saumes des Angezogenwerdens der Kleider des Bru¬
ders meiner Person“ (wa-ga seko-ga ki-seru koromo-no farime otsizu). Daß
die grammatikalische Struktur der uralaltaischen Sprachen einen günstigen
Boden für Riesenwörter abgibt, zeigten uns schon (Fußnote auf S. 265)
ungarische und türkische Beispiele. Auch wenn man auf einen finnischen
Text einen Blick wirft, fällt einem sofort die große Anzahl umfangreicher
Wörter auf. In einer Abhandlung des bekannten finnischen Sprachforschers
E. N. Setälä sieht man z. B. fast in jeder Zeile Wörter des Umfanges wie
murteentutkinnusmatkalla, oiteakielisysskanoissa, tartoituksenmukaisuuskan-
nassa.
267
wehrfeuer (denn es kann auch ein großes Kleingewehrfeuer geben). Eben¬
so ist Seidenstrumpffabrikant und Roheisenhändler, Armensünderglocke
und Kleinkinderbewahranstalt, Jungmädchenlektüre und Altweibergeschwätz
erfreulicher als der seidene Strumpffabrikant und der rohe Eisenhändler,
die arme Sünderglocke und die kleine Kinderbewahranstalt, die junge
Mädchenlektüre und das alte Weibergeschwätz.
Ferner ist auch festzustellen, daß die deutsche Eigenart, zusammengesetzte
Hauptwörter zu bilden dort, wo das Englische oder das Französische die
Hauptwörter durch Präpositionen oder durch das Genitiwerhältnis ver¬
knüpft, die Bildung eindeutig prägnanter Begriffe fördert. Wir zeigen dies
an zwei deutschen Lehnübersetzungen aus dem Englischen: Thronrede,
seit 1815 im Deutschen gebraucht, ist die unter bestimmten Verhältnissen
(z. B. vor der Volksvertretung) gehaltene oder verlesene Rede des Mo¬
narchen, indes das englische Vorbild des Wortes, Speech from the throne,
im wörtlichen Sinne auch eine unter anderen Voraussetzungen vom Throne
aus gehaltene Rede bezeichnen kann; das Englische hat sich daher auch die
prägnantere Bezeichnung King's (oder Queen's) Speech schaffen müssen.
Ebenso bedeutet Arbeitsteilung (deutsche Lehnübersetzung nach der
Überschrift des ersten Kapitels von Adam Smiths 1776 erschienenem
Hauptwerk) etwas Engeres, Besondereres als das allgemeine „Einteilung der
Arbeit'' (division of labour).
Die Betrachtung der Lehnübersetzungen im Deutschen ist über¬
haupt besonders geeignet, das Verständnis für die auffällige Bereitschaft der
deutschen Sprache zur Zusammensetzung und für die innerhalb gewisser
Grenzen zweifellos bestehenden stilistischen Vorteile dieser Bereitschaft zu
fördern. Groß ist die Zahl solcher deutschen Lehnübersetzungen, wo einem
zweiwörtigen lateinischen Ausdruck im Deutschen eine Zusammen¬
setzung entspricht. Wir nennen einige Beispiele. Für den Ausdruck malum
discordiae oder pomum Eridis, der auf den Apfel der Eris und das Urteil
des Paris anspielt, sagen wir seit 1570 Zankapfel. Für das ebenfalls my¬
thologisch begründete cornu copiae führte Christian Günther 1723 Füll¬
horn ein. Für libitinariorum vota (Seneca) haben wir seit 1591 Schaden¬
freude. Seit dem 15. Jahrhundert Ehrenmann für vir honestus. Aus
medium aevum wird Mittelalter, das zunächst allerdings erst ein be¬
stimmtes Alter des einzelnen Menschen bezeichnet und erst seit dem 18. Jahr¬
hundert eine weltgeschichtliche Epoche. Im 18. Jahrhundert entsteht auch die
Bezeichnung Völkerwanderung für migratio gentium. Erbsünde
und Schutzengel sind Lehnübersetzungen aus dem Kirchenlatein (pecca-
tum hereditarium, angelus tutelaris). Libertas conscientiae, die Prägung des
Boethius, vielgebraucht zur Zeit der Reformation und Gegenreformation,
268
führt über französische Vermittlung in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhun¬
derts zur deutschen Lehnübersetzung Gewissensfreiheit. Kepler be¬
reichert die deutsche Sprache mit Fixstern (1598) und Kegelschnitt
(1616), den Lehnübersetzungen von fixa stella und sectio conica. Gesichts¬
punkt für punctum visus verdanken wir Leibniz; dem Philosophen Chri¬
stian Wolf Schwerpunkt (1734) für centrum gravitatis. Aus der Fach¬
sprache der Grammatik erwähnen wir Fragezeichen, 1641 von Schottel
für signum interrogationis eingeführt, aus der der Medizin Kaiser¬
schnitt, seit 1777 für sectio caesarea. Die Sprache, die all diese Lehnüber¬
setzungen führen, durchaus Zusammensetzungen als Ersatz analytischer Aus¬
drücke im Lateinischen, wird noch deutlicher, wenn wir unsere Aufmerksam¬
keit auch auf die französischen und englischen Entsprechungen erstrecken.
Die Entsprechungen der eben angeführten fünfzehn deutschen Zusammenset¬
zungen in den beiden Sprachen weisen in keinem einzigen Falle eine Zusam¬
mensetzung auf, wir finden durchwegs analytische Wiedergaben des lateini¬
schen Vorbilds (pomme de discorde, apple of discord; corne d’abondance,
horn of plenty; joie maligne, malicious joy; homme d’honneur, man of ho-
nour; moyen age, middle age; migration des peuples, migration of people; p£-
ch£ original, original sin; ange gardien, guardian angel; liberte de conscience,
freedom of mind; etoile fixe, fixed star; section conique, conic section; point
de vue, point of view; centre de gravite, centre of gravity; point d’interroga-
tion, sign of interrogation; Operation c^sarienne, cesarian section).
Anderen deutschen zusammengesetzten Lehnübersetzungen aus dem Latei¬
nischen stehen als französische und englische Entsprechungen einfache
Hauptwörter gegenüber. Fegefeuer für ignis purgatorius haben wir
bereits seit dem Mittelhochdeutschen; französisch und englisch purgatoire und
purgatory. Während bei diesen beiden Völkern patine und patina unbestrit¬
ten ist, wetteifert bei uns mit dem Fremdwort Patina seit Paul Heyse die
Zusammensetzung Edelrost, die Lehnübersetzung von aerugo nobilis.
Brennpunkt gilt seit 1636 für punctum ustionis (französisch foyer,
englisch focus), Wendekreis seit etwa 1700 für circulus tropicus (tro-
pique, tropic). Unserer Zusammensetzung Veitstanz nach mittellateinisch
chorea sancti Viti entsprechen die analytischen Bezeichnungen danse de
Saint-Guy und St. Vitus’ dance oder die einfachen Hauptwörter choree
und chorea. Im Falle von Eigenname und Stammbaum (seit
dem 17. Jahrhundert für nomen proprium und arbor generationis) hat nur
der Engländer die Wahl zwischen einer einfachen und einer analytischen
Bezeichnung (noun oder proper name, pedigree oder genealogical tree), dem
Franzosen stehen nur analytische Lehnübersetzungen zur Verfügung (nom
propre, arbre genealogique).
Schließlich nennen wir einige lateinische analytische Ausdrücke, deren
Lehnübersetzung nicht nur im Deutschen, sondern auch im Englischen durch
zusammengesetzte Wörter gebildet wird. Für lateinisch materna lingua (das
269
an Stelle des älteren patrius sermo tritt), dies caniculares, antlia pneumatica
(1654 von Otto von Guericke, dem berühmten Magdeburger Bürgermeister
für seine Erfindung geprägt), macula hepatica, dens sapientiae (selbst eine
Lehnübersetzung aus dem Griechischen, nach sophronister bei Hippokrates)
und locus communis ergeben sich die deutschen Lehnübersetzungen Mut¬
tersprache und Hundstage bereits seit dem 15. Jahrhundert, Luft¬
pumpe seit 1719, Leberfleck, 1657 durch eine Comenius-Ubersetzung
eingeführt, Weisheitszahn seit 1717 und Gemeinplatz, zuerst
bei Wieland 1770. In diesen Fällen sind auch die englischen Entsprechungen
zusammengesetzte Wörter: mother-tongue, dogdays (daneben allerdings auch
native language, canicular days), air-pump, liver-spot, wisdom-tooth,
commonplace. Das Französische verharrt auch in diesen Fällen in Treue zur
analytischen Ausdrucksweise: langue maternelle, jours caniculaires, pompe
ä air, ephelides h£patiques, dent de sagesse, lieux communs.
Nicht nur bei den Lehnübersetzungen aus dem Lateinischen, auch bei
denen aus dem Französischen widersteht die deutsche Sprache
meistens der Verlockung, das analytische Beispiel des Vorbildes zu befolgen
und schafft sich lieber Zusammensetzungen. Sie übersetzt haute trahison seit
Anfang des 18. Jahrhunderts mit Hochverrat, meurtre juridique (1770
von Voltaire geprägt) seit 1782 (Schlözer) mit Justizmord, presence
d’esprit seit J791 (Herder) mit Geistesgegenwart, theatre de la
guerre seit 1793 (Goethe: Belagerung von Mainz) mit Kriegsschau¬
platz. Die englischen Entsprechungen sind analytisch: high treason, judi-
cial murder, presence of mind, seat (oder theatre) of war. Weitere Beispiele
deutscher zusammengesetzter Lehnübersetzungen nach analytischen französi¬
schen Originalen sind: Schäferstunde, seit 1711 für heure du berger,
Spiegeleier seit etwa 1780 für oeufs ä miroir, Freudenmädchen
seit 1788 für fille de joie, Treppenwitz seit 1827 für esprit d’escalier.
In diesen Fällen hat das Englische keine genauen Entsprechungen, es behilft
sich mit Umschreibungen (happy hour spent by lovers), synonymen Ausdrük-
ken (gay woman, prostitute usw., poached eggs) oder mit dem unveränder¬
ten Zitat des Französischen (esprit d’escalier), gebraucht aber in keinem Falle
Zusammensetzungen. Im Falle von Siebenmeilenstiefel (Lehnüber¬
setzung seit 1770 aus französisch bottes de sept lieues) liegt auch im Engli¬
schen eine Zusammensetzung vor: seven-leaguers.
Schließlich seien einige deutsche Lehnübersetzungen aus dem Engli¬
schen angeführt, die ebenfalls das Verhältnis „analytischer Originalausdruck
— zusammengesetztes Wort als deutsche Lehnübersetzung 46 aufweisen: Ar¬
beitsteilung (nach division of labour) haben wir schon früher erwähnt,
ebenso Thronrede (nach speech from the throne) aus der parlamenta¬
rischen Sphäre (s. S. 268). Auch ein weiteres Fachwort des parlamentarischen
Lebens, Tagesordnung (seit 1773), ist Lehnübersetzung nach dem engli¬
schen Order of the day. Die drastischere Färbung der amerikanischen Politik
270
zeigt unser Stimmvieh (seit den Sechzigerjahren), die Lehnübersetzung
von voting cattle, mit welchem Schlagwort man in den Vereinigten Staaten
den nur bei den Wahlen wirklich bemerkbar werdenden und nur geringen
Anteil gewisser Schichten von eingewanderten Iren und Deutschen am politi¬
schen Leben kennzeichnen wollte. Auch Volkslied, 1773 von Herder
eingeführt, ist eine Lehnübersetzung aus dem Englischen (populär song).
Nach all den früheren Gegenüberstellungen ist es nicht überraschend, daß
der Franzose bei der Wiedergabe auch dieser Begriffe sich niemals, wie im
Deutschen, eines zusammengesetzten Wortes bedient, sondern division du
travail, discours du tröne, betail electoral, chanson populaire gebraucht.
Zu all diesen deutschen Zusammensetzungen, die Lehnübersetzungen aus
dem Lateinischen, Französischen oder Englischen sind, — die Beispiele ließen
sich beliebig vermehren, — gesellen sich noch viele geflügelte Wörter
im Deutschen, die wörtlich oder anspielungsweise auf Bibel stellen, also
auf hebräischem oder judengriechischem Sprachgut fußen und
zusammengesetzte Wörter sind, ohne daß die französischen oder englischen
Entsprechungen es wären. Auf Stellen des Alten Testaments beruhen u. a.
die Ausdrücke: Linsengericht (1 Mos 4, 49, potage aux lentilles,
pottage of lentils), Todsünde (5 Mos 22, 26, übrigens auch 1 Joh 5, 16.
17, pech£ mortel, deadly sin), Uriasbrief (2 Sam 11, 14. 13, lettre
d’Urie, treacherous letter), Jugendsünde (Psalm 25, 7, peche de jeunesse,
sin of one’s youth), Jammertal (84, 7, vallee des larmes, vale of tears),
Blutgeld (Arnos 55, 12, prix de la trahison, price of blood), Krämer¬
volk (Zeph 1, 11, nation d’epiciers, nation of shopkeepers). Auf Stellen des
Neuen Testaments beruhen u. a.: Judaskuß (Matth 2 6, 48. 49, baiser de
Judas, traitor’s kiss), Dornenkrone (27, 29, couronne d’epines, crown
of thoms), Weltklugheit (Luk 16, 8, prudence mondaine, wordly
wisdom), Donnerstimme (Apok 6, 1, voix tonnante, thundering voice).
In vereinzelten Fällen weist auch das Englische für solche biblische Begriffe
wie das Deutsche Zusammensetzungen auf, wie z. B. fig-leaf (Feigen¬
blatt, 1 Mos 3, 7), scape-goat (Sündenbock, 3 Mos 1 6, 21. 22), fire-
baptism (Feuertaufe, Matth 3, 10), aber das Französische vermeidet
auch in diesen Fällen die Zusammensetzung und hat: feuille de figuier, bouc
4 missaire, bapteme du feu.
Die Möglichkeit, daß der Geist einer Sprache dazu verführt wird, dem
einer anderen Konzessionen zu machen, ist nirgends größer als bei der Über¬
setzung. Im Kampf gegen das Fremdwort übersieht man leicht, daß man
fremde Art zu denken und zu fühlen mehr als mit dem Fremdwort im Wege
der Lehnübersetzung, also einer „Verdeutschung“ übernimmt. Wenn wir die
Erfindung des Deutschen Reis und des Engländers Bell mit griechischem
Wortstoff als Telefon bezeichnen, so bequemen wir uns in einem äußerlichen
Belang dem internationalen Sprachgebrauch an. Wenn wir aber die Juden
ein „Krämervolk“ heißen, so haben wir uns Gedankengang und affektives
27 1
Urteil vom Propheten Zephanja, also just von einem jüdischen Sitteneiferer
angeeignet, ebenso wie wir die Erinnerung an ein Ritual der Juden in der
Wüste heraufbeschwören, wenn wir von einem „Sündenbock“ reden. Und die
durchaus deutschen Bestandteile der zusammengesetzten Wörter Geistesgegen¬
wart und Treppenwitz (für presence d’esprit und esprit d’escalier) können die
Tatsache nicht verbergen, daß diese beiden Wörter eigentlich Denkmäler für
die französische Hochschätzung des „esprit“ darstellen: in dem einen Worte
schafft sich ein Gefühl der Befriedigung Ausdruck, durch das andere zittert
Bedauern und blinzelt Spott über verpaßte Gelegenheit.
Der Widerstand gegen das Fremde erweist sich im Formalen oft stärker
als im Inhaltlichen. Mehrere Dutzend deutscher Lehnübersetzungen haben
wir hier angeführt, die sich unangefochten von den Verlockungen des analy¬
tischen Vorbildes, dessen gedanklichen Inhalt sie doch leicht übernehmen, der
Ausdrucksform des zusammengesetzten Wortes bedienen, und dabei ist der
übernommene Gedankengang mitunter sogar stärker verankert im deutschen
Sprachgebrauch als in der ursprünglichen Sprache selbst. Der Umstand, daß
der Deutsche Begriffe wie Geistesgegenwart, Arbeitsteilung mit einem einzi¬
gen Worte ausdrücken kann, führt dazu, daß diese Ausdrücke ihm schließlich
fast geläufiger, lebensnäher sind, als dem Franzosen presence d’esprit oder dem
Engländer division of labour.
Es darf bei all dem freilich nicht übersehen werden, daß mancher analy¬
tische Ausdruck — und dies gilt namentlich für das Französische — sich fast
nur durch den äußerlichen Umstand, daß die ihn bildenden Wörter getrennt
geschrieben werden, von unseren Zusammensetzungen unterscheidet. Ch. Bally
weist z. B. darauf hin, daß im Falle von chaleur solaire (wörtlich: sonnliche
Wärme) — Sonnenwärme weder die Reihenfolge geändert, noch dem Eigen¬
schaftswort ein Umstandswort beigefügt werden kann, noch das Eigenschafts¬
wort zum Prädikat werden kann; solaire chaleur ist ebenso unmöglich, wie
chaleur tres solaire oder cette chaleur est solaire, während z. B. der Ausdruck
histoire romaine die Abwandlungen la romaine histoire, histoire vraiment
romaine, cette histoire est romaine ohne weiteres gestattet.
Auch ist, wenn man analytische Ausdrücke des Französischen und Eng¬
lischen den deutschen Zusammensetzungen gegenüberstellt, nicht zu vergessen,
daß nur von einer stärkeren Neigung der deutschen Sprache für Zusammen¬
setzungen gesprochen werden kann. Daß diese Neigung sich aber auch im
Deutschen nicht immer ausleben kann, zeigen unzählige deutsche stereotype
Wendungen, deren Einzelteile der Zusammensetzung widerstreben. Unsere Wör¬
terbücher lassen die Zusammensetzungen Objektstücke, Seligengefilde, Gerech¬
tenschlaf, Anstoßstein statt Tücke des Objekts usw. erfreulicherweise vermissen,
obschon die Analogie von Löwenanteil, Schulweisheit usw. solche rechtferti¬
gen könnte. Trotz Hiobsgeduld, Achillesferse, Pyrrhussieg sind wir vor
Homergelächter, Drakostrenge, Platoliebe, Catilinaexistenzen bewahrt geblie¬
ben. Das Beispiel Zweiparteiensystem ist noch kein Freibrief für ein Zwei-
Schneidenschwert. Trotz Faultier kein Faulbauch, trotz Nacktkultur keine
Nacktwahrheit, trotz Glanzleistung kein Glanzelend, trotz Lachtaube keine
Lacherben, trotz Falschmeldung keine Falschpropheten. Wir haben Gold¬
krone, Weißwurst, Schwarzbrot, Blaubeeren, Rotwein, Gelbscheibe und doch
nicht: Goldkalb, Weißtod, Schwarzhand, Blaubohnen, Rothahn, Gelbgefahr.
In vielen Fällen besteht analytische Form und Zusammensetzung nebenein¬
ander, wie z. B. Tagesgespräch und Gespräch des Tages. In
solchen Fällen ist es nicht bloß eine Sache des guten Stils, jeweilen zwischen
beiden Formen zu wählen, sondern es entwickelt sich gewöhnlich auch eine
gewisse Abweichung der Bedeutungen. Unter Töchter des Landes
(nach i Mos 34, 1) verstehen wir entweder die Töchter eines gewissen
Landes im Gegensatz zu jenen anderer Länder oder die Töchter eines
Landes, hervorgehoben gegenüber anderen Schätzen oder anderen Bewohnern
des betreffenden Landes, die Bezeichnung Landestochter gebrauchen
wir aber gleichsam in Gegenüberstellung zum Landesvater. Die Stimme
der Natur ist ein übertragener Begriff, wir sagen z. B. von ihr, sie lasse
sich nicht übertönen, man müsse ihr schließlich gehorchen, seine Natur¬
stimme läßt uns hingegen ein unausgebildeter Sänger hören. Beim
Kampf ums Dasein denkt man vor allem an Darwins natürliche Zucht¬
wahl, indes einen Daseinskampf auch der Einzelne im bürgerlichen
Sinne bestehen kann.
Daß es wirklich ein besonderer Charakterzug der deutschen Wortbildung
ist, der sich in den vielen zusammengesetzten Lehnübersetzungen nach ana¬
lytischen Originalen bekundet, bestätigt auch ein besonderer wortgeschicht¬
licher Umstand. Die Lehnübersetzung tritt nämlich nicht immer vom ersten
Tage an in der Fassung eines zusammengesetzten Wortes auf. In vielen Fällen
versucht der deutsche Sprachgebrauch zunächst, die analytische Ausdrucks¬
weise der Vorlage nachzubilden und erst, wenn das fremde Gedankengut
gleichsam schon seelisch verdaut ist, drängt der deutsche Sprachgeist zu der
ihm genehmeren Form der Zusammensetzung. Bei manchem der obigen Beispiele,
bei denen wir den Zeitpunkt für das erstmalige Auftreten der deutschen
Lehnübersetzung in Form eines zusammengesetzten Wortes vermerkt haben,
ging der Zusammensetzung ein zunächst noch analytisch übersetzender Aus¬
druck voraus. Für dies caniculares hieß es im Mittelhochdeutschen noch hunt-
lich tage. Für sectio conica und punctum visus gebrauchte Dürer vor Keplers
Kegelschnitt und Leibnizens Gesichtspunkt noch: des Gesichts Punct und
Schnydt durch ein Kegel. Nomina propria waren vor 1642 nicht Eigennamen,
sondern eygene Namen (1530) und eygentliche Namen (Opitz 1635). Für
centrum gravitatis schrieb Christian Wolf, bevor er selbst Schwerpunkt
prägte, 1716 noch Mittelpunkt der Schwere. Lessing schrieb noch „die mitt¬
lere Zeit“, Wieland noch „das mittlere Zeitalter“ für medium aevum, Mittel-
alter. Cornu copiae wurde im 17. Jahrhundert noch mit Horn der Fülle wie-
dergegeben. Die sectio caesarea bezeichnet der Chirurg Heister 1739 noch
18 Storfer • Sprache
273
nicht als Kaiserschnitt, sondern als kaiserlichen Schnitt. Bevor Herder das
Wort Geistesgegenwart, Goethe das Wort Kriegsschauplatz geprägt hatte,
waren die Übersetzungen „Gegenwart des Geistes“ und „Schauplatz des
Krieges“ für presence d’esprit und theätre de la guerre üblich. Der Lehnüber¬
setzung Freudenmädchen (1788) für fille de joie ging der Versuch Schillers
voraus, „Töchter der Freude“ einzuführen (1783). Vor Paul Heyses Edelrost
für aerugo nobilis schreiben Wieland und Börne noch: edler Rost.
Der Neigung und Fähigkeit der deutschen Sprache zu Zusammensetzungen
verdanken übrigens die Fremdwortbekämpfer ihre besten Prägungen. Wir er¬
wähnen z. B. von den Verdeutschungen Philipp v. Zesens (f 1681) Mundart
für Dialekt, Idiom, Trauerspiel für Tragödie, von denen Joachim Heinrich
Campes (t 1818) Stromschnelle für Katarakt, Bittsteller für Supplikant, von
denen Otto Sarazins (| 1921) Bahnsteig, Fahrkarte, Fahrgast, Fahrrad für
Perron, Billet, Passagier, Velociped. Daneben gibt es aber zahlreiche Verdeut¬
schungen in Form von zusammengesetzten Wörtern, deren Umständlichkeit
der Lächerlichkeit verfallen ist, wie Krautbeschreiber (Botaniker), Mordgru¬
benkeller (Kasematten), Gipfeltüpfel (Zenith), Meuchelpuffer (Revolver) bei
Zesen, Ordnungsaufsicht (Polizei), Nordweiserstein (Magnet), Zauberstreichel¬
kunst (Magnetismus), Gleichmutsweiser (Stoiker), Hundevernünftler (Zyniker)
bei Campe und — um auch zeitgenössische Verdeutschungsvorschläge zu nen¬
nen — Zukunftspinsler für Futurist bei Engel, Grünfleck für Oase bei
Rickmers. (Vgl. auch die auf S. 258 gegebenen Beispiele).
Bei dieser Abschweifung von den monströsen, den sogenannten aristopha¬
nischen Zusammensetzungen zu der Frage des allgemeinen, besonders auch
bei den Lehnübersetzungen zu Tage tretenden Hanges der deutschen Sprache
zu Zusammensetzungen verhehle ich mir nicht, daß es eine Unterlassungssünde
ist, stets nur allgemein von Zusammensetzungen zu sprechen, diese gleichsam
nur vom quantitativen Gesichtspunkt aus zu betrachten, eine Unterlassungs¬
sünde, die Arten der Zusammensetzungen je nach Verhältnis
der Bestandteile zu einander und die Unterscheidung von eigentlichen
Zusammensetzungen und uneigentlichen, die man genauer nur als Zu¬
sammen rückungen bezeichnen kann, durchwegs zu vernachlässigen. Aber
vielleicht ist es auch einigermaßen von Vorteil, wenn dem Leser nicht zuviel
zugemutet wird, wenn er, durch das „Dickicht der Sprache“ geführt, nicht
auf sämtliche Probleme aufmerksam gemacht wird, die rechts und links vom
ohnedies genug mühseligen Pfade im Gestrüpp noch lauern.
III
Aristophanische Zusammensetzungen entstehen nicht nur aus dem Be¬
dürfnis der behördlichen Sprache, verwickelte Tatbestände um jeden Preis
in ein einziges Hauptwort zusammenzuraffen oder aus dem Bedürfnis der
Wissenschaft nach Abstraktion und Detailfixierung, nicht nur als das Ergeb-
174
nis von Schwerfälligkeit und stolzierender Kramwut, es gibt nicht wenig
Fälle, wo sie als Schöpfungen des Sprachtempos und des Sprachtempera-
ments, jedenfalls als dichterische Ausdrucksmittel anzusehen sind. Selbst
Goethe baute Wörter wie Teufelsküchenjungenschar (im Gedicht „Der
Püsterich") oder Geschmäcklerpfaffenwesen (in „Dichtung und Wahr¬
heit") ; bei ihm finden sich auch die Wörter Brandschandmalgeburt, Bür¬
gernahrungsgraus (Meringer: „mutet mich senil an"), Knabenmorgenblü¬
tenträume, Pappelzitterzweig, Fettbauchkrummbeinschelme, fernabdonnernd,
Flügelflatterschlagen; in einem Briefe an Kestner, offenbar scherzhaft
gebildet: Nichtbriefschreibegesinnungen 1 . Besonders viele Neologismen
aristophanischer Art finden sich bei Bürger, z. B. Donnergaloppschlag,
enthalskrausen, entstaatsperückt, erdebewandelnd, Erzgeneraldummheit,
gründlichtiefstrudelnd, schenkelgeharnischt, Siebenbogenspanner, Tausend¬
tränenguß, windschnellfüßig. Beim schwäbischen Dichter Christian Schu¬
bartist zu lesen : Beinahvirtuose, benaserümpfen, blutausschauernd, Schlan¬
gengeschmeidigkeit, Sturmwindkarosse, Totenbeingeklüft, Wasserflutge¬
richt. Rückert war bei der Übersetzung der indischen Dichtung Nal
und Damajanti bestrebt, die langatmigen Zusammensetzungen der Vorlage
nachzubilden, und gelangt so zu Wörtern wie sanftlächelredewogig, glieder¬
zartwuchsrichtig, vollmondsangesichtig. Rückert bildet auch nach indischem
Muster: Gattensehnsucht-tränen-umflossen. (Dazu bemerkt Tassilo Schult¬
heiß, daß es die echt arische Freude an der sprachlichen Beseelung der
Natur ist, die in solchen poetischen Wortzusammensetzungen ihren Aus¬
druck findet.) Bei G r a b b e schilt der Teufel einen Schulmeister Kinder¬
ohrfeigenverfertiger. Bei Platen lesen wir: Demagogenriechernashorns¬
angesicht, Depeschenmordbrandehebruchtirolerin, Obertollhausüberschnap-
pungsnarrenschiff. Bei Mörike ist von Erstlingsparadieseswonnen die
Rede, bei Gutzkow von Nachneunuhrzubettgehen, von der Nuraufgott-
bezogenheit. °
Hauptsächlich das griechisdie Beispiel war in der Dichtkunst verführend.
Die 1781 erschienene Übersetzung der Odyssee von Voß hat die Verwen¬
dung von Partizipien, die mit Umstandswörtern und Hauptwörtern zu¬
sammengezogen wurden, in Mode gebracht. So finden wir bei Sc hi 11 er:
i) Behaghel weist darauf hin, wie gewaltig die Fülle der Zusammensetzun¬
gen bei Goethe und Schiller überhaupt ist. In Schillers Versdramen beträgt
die Zahl der Zusammensetzungen etwa ein Viertel bis ein Drittel von der
Zahl der einfachen Hauptwörter. In Goethes Faust kommen sogar etwa 1200
Zusammensetzungen auf 2200 einfache Wörter, d. h. mehr als ein Drittel
aller Hauptwörter sind zusammengesetzt.
18 *
27 S
himmelumwandelnde Sonne. Ähnliche Partizipia sind z. B. deckeentträu-
fend (Scheffel), dunkelpurpurprangend (K. F. Meyer), goldkorn¬
gartenüberdacht, unrastentbürdet, mittagsonnenüberglüht (Bierbaum),
raumundzeitwegraffend, menschenlärmdurchwogt (D e h m e 1). Besonders
häufig sind solche aristophanische Partizipia bei Spitteier: strahlen-
kranzumzuckt, farbentraumdurchmalt, siegessonnenlichtdurchglänzt. (Übri¬
gens kommen bei Spitteier auch nichtpartizipiale 'Wortzusammensetzungen
vor, wie Gießbachdonnerstampf, Ratsherrenschwatzgeplapper, Teufelstu¬
gendfrommgesichter, Quellenwirbelwalzer, Tugendheuchelseelen, Welten¬
scherbenküste, dämmerschattenschwarz, ziegelzimtzinnoberrot, das Tal
Warumdennicht, der Gipfel Könntichmöchtich.) Ein anderer Meister der
partizipialen Aristophanismen ist Arno Holz: schwülbrastgewitterdon-
nerdämonendruckbrüllgrülltobte Wolkenbruchszeit, eissteinhagelüberpeitscht,
tropenflackerheißlichtüberstrahlt 1 . (Auch bei Arno Holz beschränkt sich das
Aristophanisieren nicht auf Partizipia; wir finden bei ihm auch Höllen¬
pfuhlmarterqualenverdammnisnacht, Baumriesenwipfelblütengigantenschmet-
lerling, walroßwulstplumptannenhalsig, schmatzschlürfschnalzen, belechzgier-
trachten.)
Die Zeit um 1900 herum, das sogenannte fin du siede, war die Haupt¬
blütezeit der Aristophanerei in der Lyrik. Es wimmelte in den affektiert
ausg estat teten Gedichtbänden dieser Zeit von Wörtern, wie: schattenlöterig-
bizarr, dunkelheitsnächtiges Wettergewölk, stillgeheimes Granitkornzer-
lecken. Zu den Wortkopplern gehörten auch Dichter vom Range eines Deh¬
rn e 1 (Moosundkienharzschwelicht, sturmschwalbenscharendicht, Menschen¬
sehnsuchtsqual, Frühlingsknospenglut, Sturmpfeifengeschrill), eines Lilien-
cron (er nennt Amor den Herzenintrabbringer und spricht von Säbel-
schnittgesaus, Sechsuhrnachmittagssonnenschein und schornsteinrauchfried¬
licher Landschaft). Viel üppiger trieb es Otto Julius Bi er bäum, von
dem wir schon oben Proben geraffter Partipizia sahen; er ist auch mit
Hauptwörtern im goldenen Buche der Aristophanerei vertreten; wir erwäh¬
nen nur Schnurrbartesisterreichtigkeit, Spinnräderrockentanz, Rockentanzge-
schrammel. Von Hans von Gumppenberg wurde Bierbaum in einem
Gedicht parodiert, das „Sommermädchenküssetauschelächelbeichte" heißt.
Die ersten vier Zeilen dieser Nachdichtung lauten: „An der Murmelriesel-
plauderplätscherquelle / Saß ich sehnsuchtstränentröpfeltrauerbang / Trat
herzu ein Augenblinzeljunggeselle / In verwegnem Hüfteschwingeschlen-
i) Aus dem zeitgenössischen Schrifttum ist als „Partizipialaristophanist
der Romanschriftsteller Hans Heyck anzuführen (gartengebettet, geruten-
bündelt, würdegebändigt, eichengeblockt u. dgl.),
Ij6
dergang.” (Wirklich ein „Schmiegeschwatzeschwelgehochgenuß”, um ein
anderes Wort derselben Parodie zu gebrauchen!) Gumppenberg parodiert
übrigens mit üppigen Wortkuppelungen auch Paul Scheerbart (schlitz-
durchfächertes Sprühsprungspreizegerüst, Zipfelzapfelgezause, Kuppeltrau¬
bengeträne, Zickzackgetakel) und Theodor Däubler (Techtelmechtel¬
nächte, Feuerfauchgewalten, vernunftverdumpfter Wichte Knacksgeknaster,
aus Schmerzschleimschleiern wabbt Brunstdunstgewitter). Däubler selbst
dichtet von angeträumten Schlummerebbungsschleimen, und die Äste beträu¬
men bei ihm ein Taudiamantangebot. Christian Morgenstern spielt
auf eine Reihe beliebter Schlagwörter der Jahrhundertwende mit einem
Schlage an, wenn er von der Weltauffasseraumwortkindundkunstanschauung
spricht. Sein Gedicht „Die Fledermaus” hat den Untertitel: Kurhauskon¬
zertbierterrassenereignis.
In diesem Zusammenhang sei noch ein zeitgenössischer Autor angeführt,
für den die Verwendung aristophanischer Wortbildungen besonders kenn¬
zeichnend ist. Der eigenbrötlerische Basler Satiriker und Dialektdichter D o-
minik Müller sang nicht nur einmal „Des Nationalratswahlplakatsan-
klebers Lied”, wir treffen bei ihm auch sonst auf Schritt und Tritt Wen¬
dungen wie schwerhinschreitende abendschoppenlüsterne Bürger oder Wör¬
ter wie Straßenstaubaufwirbler, Tramschienenstöhnen, schulzwanggeknetet.
Es wäre ein Irrtum, zu glauben, daß solche Aristophanismen unter allen
Umständen als (beabsichtigte oder unbeabsichtigte) komische Übertreibun¬
gen gelten müssen. Was ein Künstler der Sprache vermag, zeigt am besten
das Beispiel Nietzsches, bei dem sich mitunter ganze Sätze zu einem
Wort versteifen. Man denke an nietzschische Schöpfungen wie: das Sich-
nicht-rächen-wollen, das Nicht-wieder-los-können, die Schlechtweggekom¬
menen, in-den-Tag-hinein-leberisch, Bausch-und-Bogen-Seelen. Trotz des
damals noch geringen Widerhalls seiner Philosophie folgten bereits einzelne
Zeitgenossen in ihrer Prosa dem Beispiele dieser Stilart. Johannes S c h e r r
schrieb z. B. in einer Satire auf die Goethe-Philologie, „das Kind” Bettina
habe den alternden Goethe „mittels Umdenhalsfallen und Aufdiekniesitzun-
gen” behelligt. Der genialische Oskar Panizza ruft einmal aus, hier
helfe nur das Selbstdiefederindiehandnehmen, und erwähnt ein andermal
das Sich-in-sein-Schwert-stürzen und das Von-einem-vornehmen-Senatsmit-
glied-mit-dem-Stuhlbein-Erschlagenwerden der beiden Gracchen; die Me¬
lancholie nennt er die RösIein-Röslein-rot-Krankheit oder die BÜtzblaue-
Äuglein-Krankheit. Eugen D ü h r i n g poltert über die Hundertundmehr-
uniformspieler. Selbst der sprachlich konservative und vorsichtige Wiener
Humorist Eduard P ö t z 1 spricht von KuItur-nach-Osten-Trägern.
277
IV
Diese im deutschen Schrifttum am kennzeichnendsten durch Nestroy und
Nietzsche geübte dynamische Zusammenfassung von ganzen Sätzen oder Satz¬
teilen in ein Wort, die sich von den Wortketten rein nebenordnender Art
deutlich unterscheidet, ist besonders im Englischen häufig anzutreffen.
Bei Dickens z. B. ist der Satz zu lesen: a little man with a puffy Say-
nothing-to-me-or-Hl-contradict-you sort of countenance, ein kleiner Mann
mit einer Art von aufgeblasenem Sagmirnichtsoderichwidersprechedir-Ge-
sichtsausdruck. William James schreibt in seinen Prinzipien der Psycho¬
logie, für das Huhn sei das Ei einfach ein never-to-be-too-much-sat-upon
object, ein Gegenstand des Niegenugdaraufgesessenhabens. Bernard Shaw
spricht von der life-or-death-intensity, der Auflebenodertodanstrengung,
von the not-quite-at-ease-manners, der nicht ganz unbefangenen Art, von
turn-the-other-cheek gentlemen, den die-andere-Wange-hin-hälterischen
Herren. Im Krieg sprach man von the peace-at-allprice apostles, den Frie-
denumj edenpreis-Aposteln, die bekämpft wurden von the fight-to-a-finish
statesmanship, der Politik des Biszumendkämpfens (französisch jusqu au-
boutisme). The at-my-time-of-life mood, wörtlich die Zumeinerzeitstim¬
mung, ist die Stimmung des rückschauenden Alters, a flash-in-the-pan re-
partee, eine Blitzindiepulverpfanne-Erwiderung ist ein ebenso bildhafter
Ausdruck für eine schlagfertige Antwort wie für einen Automaten the
penny-in-the-slot-machine, die Pennyindenschlitzmaschine. In der Blüte¬
zeit des englischen Puritanismus kam es vor, daß ganze Sätze zusammen¬
gerafft und als Vornamen verwendet wurden. Pimpleton, einer der Offi¬
ziere Cromwells, hieß Whatever-may-contrive-those-which-are-you-contra-
rious-praise-God Pimpleton („Was-auch-deine-Widersacher-gegen-dich-er-
sinnen-mögen-preise-Gott Pimpleton"). Nicht viel kürzer hieß sein Kame¬
rad If-Jesus-Christ-had-not-died-for-thee-thou-hadst-been-dasmned Barbone
(„Wenn-J esus-Christ- nicht-für-dich-gestorben-wäre-wärest-du-verdammt Bar¬
bone"). Großbritannien darf auch den Ruhm für sich in Anspruch nehmen,
den längsten Ortsnamen aufzuweisen: das Dorf Llanfair-pwllgwyn-gylloge-
rychwyrndrobwll-Llandisiliogogogoch liegt in Wales und sein Name be¬
deutet in der keltischen Landessprache: „die Kirche der heiligen Maria in
einer Vertiefung der weißen Haselnuß in der Nähe des reißenden Wirbel¬
stroms und des heiligen Disilio in der Nähe der roten Höhle. (Aber zur
Beruhigung diene: die Post befördert auch solche Briefe in jenen Ort, de¬
ren Anschrift nur kurz Llanfair angibt.)
In der französischen Literatur finden sich vor allem bei Rabe¬
lais aristophanische Monsterbildungen. Es bedarf aber jeweilen eines lan-
272
gen Kommentars, um darzulegen, was der sprachgewaltige Schöpfer von
Gargantua und Pantagruel mit Zusammensetzungen, wie supercoquelincan-
tique (aus lateinisch super = über, französisch coquin = Schuft, und einem
Teil des Namens der durch ihren Wein berühmten spanischen Stadt Ali¬
cante) , grignelignocopapopondrille oder tocpignemampenilleorifrizononfre-
sure ausdrücken wollte, um nicht noch längere und verzwicktere Beispiele
anzuführen. Das moderne Französisch hat wenig Neigung zu solchen Un¬
geheuerlichkeiten. Anzuführen wären hier höchtsens gewisse „Satzwörter",
d. h. Hauptwörter, die aus der Erstarrung eines Satzes hervorgehen, grö߬
tenteils nur ein kurzes Dasein führen, mitunter aber doch zu einer derart
allgemeinen Geltung gelangen, daß sie sich über die Nichtaufnahme in das
Wörterbuch der Akademie leicht trösten dürfen. Wir nennen z. B. die
Satzwörter je-m’en-foutisme, und je-m’en-fichisme für die Lebensphilosophie
der Wurstigkeit und die Argotausdrücke Marie-je-m embete für eine Frau,
die sich viel ziert, und Marie-mange-mon-pret (Marie-verzehr-meinen-Sold)
für ein leichtfertiges Mädchen, das sich bei den Kasernen herumtreibt. Vor
einiger Zeit schrieb Clement Vautel im Paris-Soir von der großen Partei der
fautquegachangistes (der Partei der Dasmußanderswerdenisten).
279
Von einsilbigen Wörtern
und deren Überhandnehmen
Der Sprachforscher hat nicht nur zu untersuchen,
woher die Wörter kommen, sondern auch, wohin
sie gehen.
Hugo Schuchardt
I
Einzelne Erscheinungen in der Wortgeschichte zeugen von einer Ver¬
schwendungssucht der Sprache. So zeigen sich verschwenderische Züge bei
gewissen Zusammensetzungen: bei den sogenannten verstärkenden Zusam¬
mensetzungen nach Art von pechrabenhöllenschwarz; bei den verdeutlichen¬
den, wie Auerochs, Maultier, Elentier, Eidergans, Turteltaube, Walfisch,
wo eigentlich schon der erste Teil allein das betreffende Tier bezeichnet;
und bei den tautologischen, wie Vorbedingung, Rückvergütung, Zwischen¬
pause, Selbstüberhebung, Schutzpatron. Unvergleichlich häufiger stoßen
wir jedoch auf Erscheinungen, die deutlich ein Streben nach Kürze als trei¬
bende Kraft im Leben der Wörter erkennen lassen. Eines der auffälligsten
Ergebnisse dieser Sparsamkeitstendenz ist das Uberhandnehmen
einsilbiger Wörter.
Oft führt die allgemeine Neigung zum Ausstößen unbetonter Endvokale
zur Einsilbigkeit. Viele französische Wörter, die sich dem Auge zweisilbig
darbieten, sind eigentlich einsilbig; nur in der gebundenen Sprache verhilft
das Versmaß dem „stummen e" zum bescheidenen akustischen Dasein. Dem
deutschen Dichter steht es frei, zu sehn und flehn, oder zu sehen und fle¬
hen. Auch daß bei der Biegung des deutschen Hauptwortes ein „e" oft
ausfallen kann, führt vielfach zur Einsilbigkeit. Selbst dort, wo die Beibe¬
haltung des e die Norm ist, regt sich der Kürzungsdrang. Man soll zwar
„Mannes' 1 und „Triebes" sagen, aber man ist „Manns genug", und bei
Goethe heißt es: „du bist dir nur des einen Triebs bewußt."
In althochdeutschen Texten fällt es auf, wie viele Hauptwörter
auf Vokale ausgehen. Anfangs unseres Jahrtausends lautete es noch herza,
zSo
hona, strala, zala, wo wir einsilbig Herz, Hohn, Strahl, Zahl sagen,
bäro, sterno und lenzo ist jetzt einsilbig Bär, Stern und Lenz, statt
giri, hirti, milzi, stilli, turi, wildi gilt jetzt Gier, Hirt, Milz, still, Tür,
wild und statt filu und sigu viel und Sieg, Vielfach schuf das Mittel¬
hochdeutsche den Übergang. Zwar hat es oft noch einen Endvokal
aber das a, o oder i ist zum neutraleren e verblaßt und bereitet so die
vollkommene Abstumpfung vor. So wird aus althochdeutsch herro und
frauwa mittelhochdeutsch herre und frouwe, was zu unseren Einsilbern
Herr und Frau führt. Ähnliche Schrumpfreihen sind z. B. finco—vinke—
Fink, hirni—hirne—Hirn, kerno—kerne—Kern, narro—narre—Narr,
netzi—netze—Netz, ora—ore—Ohr, salmo—salme—Salm, smerzo—
smerze—Schmerz, stucki—stücki—Stück 1 .
Nicht nur Abschleifung des Endvokals, auch Ausstoßung des tonlosen
Vokals aus der Mitte führt zur Einsilbigkeit. So wird althochdeutsch angust
zu Angst, hanaf zu Hanf, houbit zu Haupt, hengist zu Hengst, girob zu
grob, gilid zu Glied, stahal zu Stahl, weralt zu Welt usw. Hier sind
auch jene Einsilber zu erwähnen, deren „u" auf althochdeutsch „uo" zu¬
rückweist, wie Blut, Bug, Flut, Fuß, Gruß, Huf, Hut, Krug, Mus, Pflug,
Ruf, Ruhm, Ruhr, Schuh, Stuhl, Wut usw., deren Vorläufer bluot, buog,
fluot usw. lauteten. Manchem unserer einsilbigen Hauptwörter entsprechen
sogar Drei silber im Althochdeutschen, z. B. Amt aus ambahti, Bild aus
bilothi, Erz aus erizzi, Hemd aus hemidi, Krebs aus chrebazo, Mensch aus
mennisco. Glück war noch im Mittelhochdeutschen dreisilbig: gelücke. Aus
mittelniederdeutsch unlucke hat sich nicht nur Unglück, sondern auch der
Einsilber Ulk entwickelt 2 .
Merkwürdige Beispiele für Zusammenschrumpfung eines Mehrsilbers
zum Einsilber finden sich unter jenen Fällen, die man verdunkelte
Zusammensetzungen nennt. Hier verschmelzen nicht mehrere
Silben eines Wortes zu einer einzigen, vielmehr sind es zwei selbständige
Wörter, die sich so innig vereinigen, daß sie unkenntlich werden. Solche
verdichtete Einsilber, die die Etymologie als Zusammensetzungen enthüllt,
1) Beachtenswert ist, daß manches ungarische Wort, das dem Deut¬
schen entlehnt ist, das deutsche Vorbild zu einem Einsilber vereinfacht hat;
ich nenne z. B. csür aus Scheuer, p£k aus Bäcker, ceh (== Zunft) aus Zeche,
frigy (= Friedensbund) aus Friede.
2) Nach anderen Auffassungen kommt Ulk von Ulrich (vom Scheltwort
„dummer Ulerch“) oder von althochdeutsch urliugi (altnordisch orlog) =
Krieg, Schicksal (dazu vielleicht elsässisch Ulk = Feuerbrunst) oder von Uleke
= Ulenspiegel, Eulenspiegel. Für alle Fälle ist aber der Einsilber Ulk aus
einem längeren Wort entstanden.
281
sind z. B.: zwar aus ze wäre (zu Wahrheit), nur aus niwari, d. h. (wenn
es) nicht wäre, Nest zu altindisch ni-sad (Niedersetzung), Arzt aus grie¬
chisch arch-iatros (Erzheiler). Ein scharf ausgeprägtes Beispiel von Ver¬
dichtung bietet das Wort Pferd, das aus der griechisch-spätlateinischen Zu¬
sammensetzung paraveredus (Neben-Postpferd) hervorgegangen ist. Der
Drang zum Silbensparen ist deutlich zu verfolgen: mittellateinisch parave¬
redus hat 5 Silben, daraus althochdeutsch pfarifrit mit 3, mittelhochdeutsch
phärit mit 2 und schließlich unser Pferd, das mit seinen Synonymen Roß
und Gaul die Einsilbigkeit teilt.
Der Schrumpfprozeß, bei dem meist wesentliche Bestandteile der Wurzel
geopfert werden, ist um so weniger gehemmt, je ungeläufiger die ursprüng¬
lichen Bestandteile dem sprechenden Volke geworden sind. Daher kommt
solche Verdichtung besonders bei der Entlehnung fremden Wort¬
stoffes häufig vor. So sind die Einsilber Zoll, Forst, Halm, Wams,
Föhn, Sold, Vogt, Pelz, Pfalz, Propst, Zimt, Pilz, Pult, Schrein, um nur
einige dieser Art zu nennen, Abkömmlinge von drei- oder viersilbigen
lateinischen Wörtern (toloneum, forestis, calamus, wambasius, favonius,
solidus, vocatus, pellicia, palatium, propositus, cinnamomum 1 , boletus, pul-
pitum, scrinium 2 ). Die griechischen Viersilber sarkophagos, hexamiton wer¬
den im Deutschen einsilbig: Sarg, Samt. Das Wort Mönch muß mit einem
nur dreisilbigen griechischen Vorfahren (monachos) vorlieb nehmen. Aus
einem vermuteten griechischen genomos (Erdbewohner) entsteht wahr¬
scheinlich der Einsilber Gnom. Der italienische (mittelbar ebenfalls griechi¬
sche) Viersilber astrologo verdichtet sich zum kraftvollen deutschen Ein¬
silber Strolch 3 . Hier sei auch erwähnt, daß mehrere einsilbige deutsche
Ortsnamen auf vielsilbige lateinisch-keltische Namen zurückgehen, so ent¬
wickelt sich z. B. Mainz, Metz, Worms aus Magontiacum, Mediomatricum,
Borbetomagus. Selbst bei der Entlehnung aus slawischen Sprachen,
für die doch Konsonantenhäufung und Vokalarmut überaus bezeichnend
ist, bringt die deutsche Sprache noch eine Entvokalisierung bis zur Einsil-
1) Das lateinische Wort selbst geht über Griechisch auf das Semitische
zurück (Herodotos III, in: „Dünne Späne, die wir von den Phöniziern
kinnamomon zu nennen gelernt haben“); hebräisch: qinnamon. Dem semitischen
Wort liegt angeblich malayisch kayumanu zu Grunde (kayu = Holz, manu
= süß).
2) Auch im Französischen entsprechen oft einsilbige Wörter lateinischen
Mehrsilbern: z. B. doigt = Finger und de = Fingerhut, oeil = Auge, vingt
= zwanzig, ble = Getreide, sou (Kupfermünze) aus digitus, oculus, viginti,
ablata, solidus.
3) Vgl. das Stichwort „Strolch“ in „Wörter und ihre Schicksale“.
282
bigkeit fertig, wie die Beispiele Dolch aus polnisch tulich, Schöps aus
tschechisch skopec, Quark aus russisch tvarog, Nerz aus kleinrussisch noryza
zeigen.
Eine weitere Gruppe einsilbig gewordener Wörter bilden jene Eigen¬
schaftswörter, die aus Partizipien der Vergangenheit derart entstanden sind,
daß eine lautliche Zusammenziehung sie grammatikalisch vom Zeitwort los¬
gelöst hat. Solche Einsilber sind z. B. blind aus geblendet, dick aus gedie¬
hen, dünn aus gedehnt, voll aus gefüllt.
II
Alle bisher angeführten Typen der Entwicklung zur Einsilbigkeit könnte
man unter dem gemeinsamen Namen eines organischen Schrumpf¬
vorganges zusammenfassen. Abweichend sind jene Fälle, wo ein Teil des
Wortes, gewöhnlich der Anfang oder das Ende, als Opfer des Strebens
nach Bequemlichkeit so spurlos verschwindet, daß man von einer mecha¬
nischen Kürzung des Wortes, gleichsam von seiner Beschneidung spre¬
chen möchte. Wissenschaftlich spricht man von einer Aphairesis, wenn
der Anfang des Wortes abfällt (z. B. Butike und Bodega aus Apotheke,
Orange und italienisch arancia aus arabisch narandsch, spanisch naranja,
Gurke aus tschechisch okurka, italienisch storia und englisch story aus grie¬
chisch-lateinisch historia, der Ortsname Saloniki aus Thessalonike 1 ), von
einer A p o k o p e, wenn das Ende abgestoßen wird (wie Sarg aus Sarko¬
phag, Pneu aus Pneumatik, Zepp aus Zeppelin, Proporz aus Proportional¬
wahlrecht). Beide Vorgänge, die nicht selten zu einsilbigen Wörtern füh¬
ren, sind in der Hauptsache moderne Erscheinungen, vornehmlich das
Sprachtempo der Neuzeit fördert diese Verstümmelungsarten. Die Ent¬
rüstung eines Voltaire, c’est le propre des barbares d’abreger les mots, es
sei Barbarenart, die Wörter zu kürzen, findet zwar bis in unsere Tage
immer wieder Erneuerung 2 , vermag aber in Wirklichkeit der fortschreiten-
1) Zur Aphairesis, zur echoartigen Wiedergabe des Wortendes neigt beson¬
der das kleine Kind. Daher finden wir auch viele Einsilber in der Kinder¬
sprache. Clara und William Stern verzeichneten bei ihren Kindern u. a. Pot
für Kompott, lein für allein, put für kaputt, Hant für Elefant, Ssell für
Karussell.
2) Besonders oft bei S c h o p e n h a u e r, z. B. „Es ist, als ob jeder Schrift¬
steller, mit einer Schere in der Hand, hinter der Sprache herlaufe, um ihr
einen Buchstaben abzuknapsen 44 — „Silben wegschneiden erfordert gerade so
viel Verstand, wie der Dümmste hat“ — „Eine fixe Idee hat sich aller deut¬
schen Schriftsteller bemächtigt: sie wollen die Sprache zusammenziehen, sie
kompakter, konziser machen 44 — „Der schmutzigste Buchstabengeiz beherrscht
sie; sie beschneiden die Worte, wie die Gauner die Münzen.“
283
den Wortstutzung nicht Einhalt Zu gebieten. Die Entwicklung gibt jeden¬
falls Jespersen recht, der dem Voltaireschen Ausspruch gegenüber betont,
eher seien doch lange, schwerfällige Wörter als Zeichen von Barbarei anzu¬
sehen, kurze, flinke dagegen als Kennzeichen fortgeschrittener Kultur. Auch
im Französischen, zumal im lebendigen Sprachgebrauch jenseits der
wohlbehüteten Gehege der Akademiesprache und gar im Argot, zeigt sich
deutlich die moderne „unanständige Hast'*, der Zug zum Silbensparen.
Aus dem Pariserischen erwähnen wir z. B. Boul Mich für Boulevard Saint-
Michel und Maub für Place Maubert, aus der Soldatensprache Batt Daff
für bataillon d’Afrique, perm für permission (Erlaubnisschein), aus der
Schülersprache chi (mit obszönem Anklang) für chimie (Chemie), aus
der Buchdruckersprache grat für gratification, aus der Gaunersprache mac
für maquereau (Zuhälter), nap für napoleon d’or (Goldstück), — lauter
einsilbige Volkswörter.
Das Englische, das uns unzählige Beispiele gelungener organischer
Verdichtung zeigt (z. B. die Einsilber Lord aus hlaford = Brotwart,
clown aus colonus, crown aus couronne, alms aus 6silbig griechisch eleemo-
syne == 3silbig deutsch Almosen) liefert uns auch am reichlichsten Beispiele
von Wörtern, die durch Anfangs- oder Endstutzung zu Einsilbern gewor¬
den sind. Einige einsilbige englische Rumpfwörter, die international bekannt
sind: brig, cab, bus, mob, gin, gent, rum aus brigantine, cabriolet, omnibus,
mobile, geneva (Wacholder), gentleman, rumbullion 1 . Von den neuesten
Weltmarktschöpfungen amerikanischer Vereinsilbigung nennen wir: Champ
aus Champion, Vamp (im Sinne eines Frauentypus der Filmdramatik) aus
Vampir 2 . Bemerkenswert sind solche englische Einsilber, bei denen sowohl
1) In vielen Fällen besteht im Englischen die volle Form und die durch
Aphairesis auf Einsilbigkeit gekürzte Form nebeneinander, oft mit Bedeutungs¬
unterschieden, z. B. mend = ausbessern neben amend (meist nur in juristi¬
schem oder politischem Sinne), fend = abweisen, fernhalten neben defend
= verteidigen, spy neben espy, beide bedeuten erspähen, espy aber auch:
spionieren.
2) Dazu kommen noch solche amerikanische Einsilber, die den Weg in
andere Sprachen nicht gefunden haben, z. B, in der Studentenspracne, dem
College-Slang (vielfach übereinstimmend mit der Schülersprache Englands):
prof, lab, dorm, trig, rep, prep, prom für professor, laboratory, dormitory,
trigonometry, repetition, preparation, promenade. Aus dem Slangwörterbuch
von Barr&re und Leland 1897 führe ich an: biz = business, cri = Criterion
(ein bestimmtes Londoner Restaurant), pav = pavillon, pops = populär
concerts, pug = pugilist. Aus dem amerikanischen Slang (nach Mutschmann,
Dorpat): bach = bachelor, cit = citizen, sis = sister, sal = Salvation Army.
To prog (z. B. to prog the winner of the Derby) bedeutet im Slang Voraus¬
sagen (prognosticate). The props sind im Theaterslang die Requisiten (pro -
284
vorne als hinten etwas weggefallen ist, z. B. van (= Vorhut) aus avant-
garde, oder in der Umgangssprache flu aus influenza. (Den Eindruck
eines zweiseitigen Stutzwortes macht übrigens auch der bekannte albanische
Einsilber mbret = König, ein Abkömmling von Imperator.)
Wenn wir von den an sich einsilbigen Sprachen absehen — wir lassen
hier das Chinesische absichtlich ganz außer acht —, so ist überhaupt das
Englische jene Sprache, die den größten Bestand an einsilbigen Wörtern
aufweist. Wir erinnern nur daran, daß es unter den vielen englischen Wör¬
tern internationaler Verbreitung geradezu wimmelt von Einsilbern. Wir
nennen Bar, Bluff, Boss, Boy, Cant, Clan, Club, Dock, Farm, Flirt, Girl,
Goal, Golf, Grill, Grog, Groom, Jazz, Lunch, Match, Mob, Plaid, Sketch,
Slang, Slum, smart, Snob, Spleen, Sport, Spurt, Star, Start, Stop, Team,
Tip, Tramp, Trick, Trust, Turf, — und es kann niemand schwer fallen,
diese Reihe zu verlängern. Bekannt sind auch die zu Einsilbern verkürzten
englischen männlichen Vornamen Jim, Jack, Tom, Bill, Bob, Dick,
Ned, Noll, Pat, Ted, Dan, Al, Fred usw., sowie die weniger zahlreichen
weiblichen, wie Bess (Queen Bess war die Königin Elisabeth), Nell, Nan,
Betts, Griggs, Cat, Maud, Meg, Vic usw. Einsilbige Nebenformen der Vor¬
namen kennt auch das Deutsche seit langem: Hinz, Kunz, Götz, Lutz, Fritz,
Hans, Bernd, Rolf, Sepp von Heinrich, Konrad, Gotthard, Ludwig, Fried¬
rich, Johann, Bernhard, Rudolf, Josef sind nicht erst moderne Erscheinun¬
gen. Die heiligen Könige Melchior und Balthasar heißen im Schweizer
Volksmund Melk und Balz * 1 . Auch viele einsilbige Familien namen
sind eigentlich Kurzformen von Vornamen: z. B. Drews von Andreas,
Löns von Apollonius, Arndt von Arnhardt, Niels von Kornelius, Dirks,
Dietz und Tietz von Dietrich, Jahn und Jentsch von Johannes, Manz von
Mannhard, Menz von Meinhard, Benz von Bernhard, Pietsch von Peter,
Seitz von Siebert oder Siegfried, Uhl von Ulrich, Johst von Jodocus, Bartsch
von Bartholomäus.
Das Uberhandnehmen der einsilbigen Wörter im; Englischen ist darum
perties). Aus dem Slang der englischen Buchdrucker: mos statt animosity
(also gleichzeitig Aphairesis und Apokope), z. B. to shout no mos = keinen
Groll hegen. Ich erwähne noch das familiäre pub für public-house (Wirtshaus).
i) Sehr gebräuchlich sind zu Einsilbern gekürzte Knabennamen in Hol¬
land, wie z. B. Bram (Abraham), Dolf (Adolf), Ad (Adriaan), Bert, Ab
(Albert), Lex (Alexander), Ton (Antonius), Nol, Arnd (Arnold), Gust
(Augustus), Bart (Barthelomeno), Chris, Kris (Christian), Cor (Cornelius),
Henk (Hendrik), Jaap, Jack (Jacobus), Jas (Jasper), Jan, Jo, Joop, John,
Han (Johannes), Kas (Kaspar), Mau (Maurits), Rein (Reinhart), Ru, Dolf,
Rud (Rudolf), (Sebastian), Wim (Willem),
285
von allgemeinem Interesse, weil man gewohnt ist, die englische Sprache
als die höchstentwickelte anzusehen und daher aus ihren Eigenheiten Fol¬
gerungen für das Schicksal der anderen Kultursprachen ziehen zu dürfen
glaubt. Die englische Einsilbigkeit ist zwar ganz besonders ein Kennzeichen
der Umgangs- und der Vulgärsprache, aber — um vom anderen Extrem
zu reden — selbst die Sprache der englischen Dichter und der besten Pro¬
saisten ist noch überaus reich an Einsilbern. Philipp Aronstein hat in einer
150 Wörter umfassenden Stelle aus Macaulays Geschichte Englands 75
Prozent einsilbige Wörter gezählt, in einer Dickensstelle (Christmas Carol,
174 Wörter) 72,5 Prozent; fünf Strophen eines Shelleyschen Gedichtes
weisen 76 Prozent und ein 248 Wörter umfassendes Stück aus Tennysons 1
Königsidyllen sogar 82,4 Prozent einsilbige Wörter auf 2 . Es ist vornehm-
1) Auf die Vorherrschaft der Einsilber in Tennysons Idyll „The
Princess“ weist L. Magnus hin; die Vorteile dieser Stileigenheit seien: die
Bedeutung ist von durchsichtiger Klarheit, der Ton nicht unmittelbar auf
dem Gefühl, wie reine Musik, die nicht in Sprache umgesetzt ist, und die Seele
fühlt sich durch heimliche und vertraute Worte geschmeichelt. Es ist auch
wiederholt hervorgehoben worden, daß die englischen Einsilber zumeist ger¬
manischen, die Mehrsilber romanischen Ursprungs sind. Daraus ergibt sich
wie Heinrich Spies ausführt, das Überwiegen der Einsilber bei der wurzel¬
haft-englischen Dichtkunst gegenüber der von ausländischen Vorbildern
beeinflußten (so haben z. B., im wesentlichen Unterschied von Tennyson,
Dryden und Pope ein Vorliebe für Vielsilber griechischen und lateinischen
Ursprungs).
2) Ich habe dieses Experiment auch auf Byron ausgedehnt; um nicht in
Versuchung zu geraten, Stellen auszusuchen, wo der Anteil der Einsilber über¬
durchschnittlich ist, habe ich mich genau an die ersten 100 Wörter von Byrons
bekanntesten Dichtungen (Korsar, Parisina, Manfred, Cain, Don Juan, Childe
Harold, Der Gefangene von Chillon) gehalten: an jeder dieser sieben Stellen
zählte ich unter 100 Wörtern 70—80 Einsilber. Während diese Berechnung des
Einsilberanteils im Englischen sich nur auf einzelne Textstellen bezieht, liegt
eine umfassende Angabe über den deutschen Sprachgebrauch vor. Nach
Kaedings 1897 erschienenen Häufigkeitswörterbuch beträgt die Häufigkeit der
Einsilber in der deutschen Schriftsprache 49,8 Prozent. Das heißt, daß
die in deutscher Sprache gedruckten Texte zur Hälfte aus Einsilbern bestehen.
Da aber nur ungefähr ein Zehntel der Wörter des deutschen Wortschatzes
Einsilber sind, so bedeutet das, daß ein einsilbiges deutsches Wort in der
Schriftsprache durchschnittlich neunmal so häufig gebraucht wird wie ein
mehrsilbiges. Jugendpsychologen haben diese Feststellung des Einsilberanteils
im Sprachgebrauch im besonderen auch zur Untersuchung der k i n d 1 i c h e n
Entwicklungsrhythmik herangezogen. In der frühen Kindheit sind
es die Lebensjahre der „Trotzphasen", in denen der Einsilberanteil am höch¬
sten ist. Eine Untersuchung an einer großen Anzahl von Schulaufsätzen in
einer Mädchenschule in Oldesloe (bei Hamburg) zeigte bei 12jährigen Mäd¬
chen einen 60,5%-igen Einsilberanteil.
286
lieh Otto Jespersen, dem genialen Kopenhagener Linguisten, der Nachweis
gelungen, daß die allgemeine Neigung sämtlicher Sprachen, sich immer
kürzeren Formen zuzuwenden, im Englischen am wirksamsten und am
weitesten vorgeschritten ist 1 . Bezeichnend ist, daß das Matthäus-Evange¬
lium, das im Griechischen ungefähr 39.000 Silben umfaßt, in der schwedi¬
schen Übersetzung etwa 35.000, in der deutschen 33.000, in der dänischen
32.500, in der englischen nur 29.000 Silben aufweist 2 . (Das Chinesische
findet allerdings schon mit 17.000 Silben sein Auslangen.) Bei einer niedri¬
geren Gesamtsilbenzahl muß wohl der Anteil der einsilbigen Wörter höher
sein 3 .
Das Feld der Einsilber in der Sprache erweitert sich in jüngster Zeit
manchmal auch durch die bekannte Tendenz, aus Anfangsbuchsta¬
ben einer Wortfolge ein neues Wort zu bilden. Wir erwähnen z. B. die
englischen Handelswörter cif (= cost, insurance, freight, d. h. Preise ein¬
schließlich Spesen, Versicherung und Fracht) und fob (= free on board,
frei an Bord) und die österreichischen Wörter Wust (Warenumsatzsteuer)
i) Jespersen weist z. B. darauf hin, daß der englischen Hilfszeitwortform
had im Gotischen nicht allein habaidedeima, sondern auch andere Biegungs¬
formen, wie habaidedu, habaidedjan, habaidedeits entsprechen.
z) Zu dieser Gegenüberstellung der Silbenlänge des griechischen und des
englischen Evangeliums bemerkt H. Spies mit Recht, daß das Ergebnis ganz
anders wäre, legte man nicht die vorwiegend in „Saxon“ abgefaßte „Autho*
rized Version“ der Zählung zugrunde, sondern eine Bibelübersetzung des 20.
Jahrhunderts.
3) In der französischen Sprache ist der Anteil der einsilbigen Wör¬
ter nicht so groß wie im Englischen, immerhin war es Rabelais möglich,
im Pantagruel (V. Buch, 28. u. 29. Kap.) ein aus 128 Fragen und Antworten
bestehendes Zwiegespräch derart führen zu lassen, daß ein Mönch auf die
Fragen Panurgs jedesmal, d. h. I28mal nur mit einem einsilbigen Worte ant¬
wortet. Rabelais will dort die Wortkargheit scheinheiliger Mönche verspotten:
nur „mit Menschern sprechen sie aus einem andern Ton, da äußern sie sich
polysyllabisch“, sonst sprechen sie mit den Laien nur einsilbig. Auch die
deutschen Übersetzer haben versucht, die Antworten des Mönches einsilbig
wiederzugeben. Wo sind denn die Menscher? fragt Panurg, der neugierige
Besucher. Da, antwortet der Mönch (in der Übersetzung von Gelbcke). —
Habt Ihr viele hier? — Nein — Wieviel denn? — Zwölf. — Aber wieviel
mochtet Ihr haben? — Mehr... usw. Selbst die obszöne Beschreibung der
einzelnen Reize der „Menscher“ erfolgt durch einsilbige Antworten: gros,
frais, creux, chauld, poil, roux (dick, frisch, hohl, heiß, Haar, rot). Auch die
Großsprecherei des Mönches über seine erotischen Leistungen erfolgt durchaus
durch Antworten von je einem einsilbigen Worte. Über die ästhetische
Seite der Frage der Häufung von Einsilbern im Französischen s. weiter unten
die Fußnote 2 auf S. 293.
287
und Wök (Wiener öffentliche Küchen). Aus dem Weltkrieg sind künst¬
liche Einsilber nach Art von Flak (Flugzeugabwehrkanone) und Kofi
(Kommandeur der Fliegertruppe) noch in Erinnerung.
Die Sprachentwicklung zeigt nach Jespersen eine fortschreitende Nei¬
gung, von untrennbaren unregelmäßigen Zusammenhäufungen weg- und
zu kurzen Bestandteilen hinzustreben, die ungezwungen und regelmäßig
verbunden werden können. Wenn es wahr ist, daß das Englische, als die
entwickelteste Sprache, die Entwicklungslinie aller Sprachen erkennen läßt,
so kann kein Zweifel darüber bestehen, daß wir auf dem besten Wege zur
Vorherrschaft der Einsilber sind. Prof. Edward L. Thorndike
hat in mühevoller Arbeit eine Liste der 500 gebräuchlichsten englischen
Wörter zusammengestellt und es zeigte sich, daß etwa 400 von diesen ein¬
silbig sind. Auch Charles Bally stellt fest, daß das Englische entschieden
auf eine Einsilbigkeit nach Art des Chinesischen lossteuert, sieht allerdings
in den ständigen Wellen von Entlehnungen aus dem Romanischen eine
genug wirksame Ablenkung von jenem Kurs.
Man hat übrigens gelegentlich den Einwand erhoben, es könne von einer
Vereinsilbigung der Sprache gar nicht die Rede sein, weil für die große
Anzahl der Begriffe, die zu bezeichnen sind, verschiedene Einsilber aus den
üblichen Lauten in ausreichender Anzahl nicht möglich wären. Herbert Spen¬
cer hat aber in seiner Selbstbiographie berechnet, wieviel „gute (d. h.
leicht unterscheidbare) Einsilber zu bilden sind durch den erschöpfenden
Gebrauch der guten Konsonanten und guten Vokale'* (nämlich: für eine
gedachte künstliche Weltsprache) und kam zu einer Anzahl von 108,264
möglichen „guten Einsilbern". Dabei hat er angenommen, daß das Wort
nur mit einem Konsonanten oder einer gut aussprechbaren Konsonanten¬
gruppe (wie bl, dr, tj, spr) beginne, einen Vokal enthalte und mit einem
Konsonanten oder einer guten Konsonantengruppe wie -pt } -dz, -kst, -nz
usw.) ende. Jespersen hat diese Berechnung verbessert und gelangt zu einer
Zahl von etwa 158.000 möglichen guten Einsilbern. Das würde ausreichen.
III
Es obliegt uns noch die Frage nach der ästhetischen Wertung der
fortschreitenden Vereinsilbigung. In der Poetik bezeichnet man Reime, wie
Wald — bald, Dach — Bach als männlich, im Gegensatz zu weiblichen
Reimen wie Walde — balde, Dache — Bache. (Bezeichnenderweise wider¬
fährt auch die schon erwähnte Kürzung der Vornamen zu einsilbigen
Nebenformen überwiegend männlichen Vornamen.) Der Antithese
männlich—weiblich einigermaßen analog heißt auch die kürzere Formen
288
ergebende Biegung des Zeitwortes die starke Biegung. Bismarck erzählte
von seinem Vater: „Wenn er von der Jagd kam und es dabei gemächlich
zugegangen war, sagte er, ich jagte, ging es aber toll her, so pflegte er
zu sagen, ich ) u g. Die Grammatik wird diese Bildung mißbilligen, aber ich
selbst habe meinem Vater recht gegeben." 1 Der berühmte Ausspruch des
Jesuitengenerals Ricci, mit dem er des Papstes Aufforderung zur Reform
des Ordens zurückwies: sint ut sunt, aut non sint (sie seien, wie sie sind,
oder sie sollen nicht sein) schöpft gewiß einen Teil seiner selbstbewußten
Kraftfülle aus der lapidaren Art seiner Einsilber. Max Meyerfeld weist
darauf hin, wie vom größeren oder kleineren Anteil der Einsilber der
inhaltliche Charakter eines Satzes abhängen kann. Einer berühmten Hamlet¬
stelle (doubt thou the stars are fire, doubt that the sun doth move, doubt
trudi to be a liar, but never doubt I love) stellt er die Schlegelsche Über¬
setzung gegenüber: Zweifle an der Sonne Klarheit, zweifle an der Sterne
Licht, zweifl’, ob lügen kann die Wahrheit, nur an meiner Liebe nicht.
„Bei Shakespeare fahren die einsilbigen Worte wie Messerspitzen nieder,
sie sind zerhackt wie das Geständnis eines Fieberkranken; bei seinem Dol¬
metsch schlingen sie sich zu einem anmutigen Vierzeiler zusammen." Aus
dem Englischen führe ich noch zwei Beispiele für die Ausdruckskraft der
gehäuften Einsilber an aus zwei verschiedenen Gefühlsgebieten; aus der
Bibel: in the sweat of thy face shalt thou eat bread; aus der „Internatio¬
nale": Work and pray — Live on hay; — You'll get pie — When you
die. Hier zitiere ich auch die ersten zwei Zeilen der deutschen Übersetzung
(Therese Robinson) eines berühmten Gedichtes von Baudelaire (Le Vin de
l'Assassin, „Der Wein des Mörders", aus „Les Fleurs du Mal") : „Mein
Weib ist tot, und ich bin frei! Nun trink' ich, bis ich nicht mehr kann." Mit
Recht ist bemerkt worden, daß diese Zeilen schon klanglich die dumpfe
Grausamkeit ausdrücken.
Es ist darauf hingewiesen worden, daß die abstrakten Begriffe Haß,
Groll, Zorn, Trotz, Grimm, Neid (alle männlichen Geschlechts) einen
kräftigeren Eindruck machen als die zwei- oder mehrsilbigen Feminina
Liebe, Treue, Gnade, Freude. Und es ist wohl kein Zufall, daß z. B. von
den 21 Synonymen für Hiebe, die F. Stroh für die nassauische Dorfmund¬
art anführt, etwa die Flälfte (Fäng, Fett, Flamm, Flabch, Flimms, Bimch
usw.) einsilbig ist. In einer Erzählung von Ganghofer sagt ein alter Kut¬
scher: „Alles was ein Wert hat im Leben, das spricht sich kurz: Tag,
Nacht, Weib, Mann, Geld, Fleisch, Brot, Haus, Gott. Da schauen S' an-
i) Den Feldmarschall Moltke nannte Bismarck in engerm Kreis stets Molk;
zweifellos lag eine Anerkennung in dieser Vereinsilbigung.
19 Storfer . Sprache
289
dere Wörter dagegen an: Grundsteueraufschlagsquittung, Staatsschulden¬
tilgungsfeiertag. Da wird man gleich gar nimmer fertig damit. Die kurzen
Wörtchen lassen einem Zeit zu leben." Bemerkenswert ist auch, daß ein¬
zelne Sprachen zweierlei Imperativformen nebeneinander be¬
sitzen: eine längere, die höflicher wirkt, und eine kürzere, oft einsilbige,
die strenger, energischer, gleichsam männlicher ist. So ist im Lateinischen
esto und vade (sei, gehe) weniger schroff als es und i. Im Ungarischen hat
irj = schreibe eindeutig den Charakter eines Befehls, indes der längere (bei
gewissen Zeitwörtern allerdings ungrammatikalische) Imperativ irjäl auch
als Ersuchen wirken kann. Für den Wohlklang der starken Befehlsform im
Deutschen setzt sich in einem Aufsatz der schwäbische Dichter O. Briegleb
ein: man müsse den Leuten einhämmern, daß es nicht nehme! esse! usw.
heißt, sondern nimm! iß! sprich! hilf! denk! 1
Auch in der Experimentalpsychologie (Marbe, Unser, Kullmann, Buse¬
mann) ist man dazu gelangt, den Anteil der Einsilber im Sprachgebrauch
als psychologisches Problem zu betrachten. 2 Kullmann wies nach, daß ge¬
fühlsbetonte Texte eine gesteigerte Häufigkeit von Einsilbern aufweisen.
Er hatte verschiedene Abschnitte aus Goethes Schriften je nach Stärke des
beim Leser hervorgerufenen Gefühlstons in verschiedene Klassen geordnet
und fand an den Stellen mit indifferentem Gefühlston eine mittlere Häu¬
figkeit von 45.2 Einsilbern unter 100 Wörtern, an den Stellen mit schwachem
Gefühlston waren 49.9 Prozent, an solchen mit mittelstarkem 53.7 Prozent
und an solchen mit starkem Gefühlston 64 Prozent der Anteil der Einsil¬
ber. Daraus läßt sich schließen, bemerkt Busemann, daß ein Text mit
viel Einsilbern einer relativ g ef ühls leb e n d i g en
Stunde seines Autors entsprungen sei. Busemann, der 240
auf die Zeit von anderthalb Jahren verteilte Briefe eines jungen Mädchens
untersucht hat, will auch einen Zusammenhang zwischen Einsilberhäufig¬
keit und Menstruationsperioden erkennen.
Der Gebrauch des kraftvollen, „männlichen" Einsilbers — selbst wenn
er gegen die Grammatik steht, wie das Bismarcksche „jug" statt „jagte" —
kann zweifellos als wirksames stilistisches Ausdrucksmittel dienen. Wie
1) Als Gegner einsilbiger Imperative zeigte sich im 17. Jahrhundert Fürst
Ludwig von Anhalt-Köthen (der Gründer der sprachreinigende Zwecke ver¬
folgenden „Fruchtbringenden Gesellschaft“ zu Weimar) in seiner Polemik ge¬
gen den berühmten Grammatiker Justus Georg Schottel.
2) Unter anderen sind die Tagebücher und Briefe Otto Brauns — aus dem
9. bis 20. Lebensjahr dieses „Frühvollendeten" — auf den Einsilberanteil ge¬
prüft worden. Dieser erwies sich am höchsten im 12. Lebensjahr (vgl. die An¬
gabe über Oldesloer Schulmädchen, Fußnote 2 auf S. 28 6).
290
empfinden wir aber stilistisch die starke Häufung einsilbiger Wörter
oder gar ganze lange Sätze, die nur aus Einsilbern bestehen? Oft fällt es
dem deutschen Ohr schwer, sich mit solch gestauter „Männlichkeit" abzu¬
finden. Stellen wie in Webers Freischütz, „täuscht das Licht des Monds
mich nicht?", oder in der Götterdämmerung, „wie liebt* ich dich, ließ ich
dich nicht (zu neuen Taten)", oder bei Johannes Schlaf, „nun zwar wohl
schon nur mehr noch Freude" haben Bezeichnungen wie Hackstil oder
Lallstil auf den Plan gerufen, und solche Asthmatikersätze finden fast so
viele Spötter wie die langatmigen Perioden aus berüchtigten Mammutwör¬
tern. Die Gerechtigkeit erheischt aber die Feststellung, daß in den ange¬
führten drei Beispielen nicht allein das Übermaß an Einsilbern störend
wirken mag, vielmehr ist in jedem Fall auch noch ein zweiter stilistischer
Umstand für das erzeugte Unbehagen mitverantwortlich. Im Satze aus dem
Freischütz stoßen Dentallaute aneinander (täuscht—das, Licht—des), die
Wagnersche Zeile ist ganz auf den Selbstlaut i eingestellt, und im Schlaf-
sehen Beispiel muß den Leser die absonderliche Häufung von Umstands¬
wörtern schon dem Sinne nach arg beunruhigen. Eduard Engel, der übrigens
in Nietzsches Zarathustra ein Stück mit 41 einsilbigen Wörter nebeneinander
aufgestöbert hat 1 , zeigt an einem Goethischen Beispiel, daß eine längere Folge
von Einsilbern nicht unbedingt unser Ohr beleidigen muß. „Wohl hast du
recht, ich bin nicht mehr ich selbst — Und bin's doch noch so gut, als wie
ich's war", heißt es im Tasso. „Der auf- und niederwogende Atem der
Verse, dazu der Wortgruppen bildende Sinn des Satzes lassen uns die 20
aufeinanderfolgenden Einsilber kaum als solche empfinden." Bei Grabbe
(im „Herzog von Gothland") unterstützt einmal das Staccato einer Einsü-
berfolge eine zugespitzte Antithese: „Das Weib sieht tief, der Mann sieht
weit. Euch ist die Welt das Herz, uns ist das Herz die Welt."
Wenn wir auf die stilistische Wirkung lauschen, die der Häufung einsil¬
biger Wörter eigen ist, dürfen wir natürlich nicht nur auf die Stellen achten,
die ausschließlich Einsilber aufweisen. Man beachte z. B. in einem Ge¬
dichte von Dr. Owlglaß, welche Ausdrucksmöglichkeit das zweisilbige Wort
erlangt, wenn es inmitten vieler Einsilber steht: „Starr schlief der Bach, tot lag
der Grund, / nun taut der Schnee, nun schwitzt das Eis. / Nun tut sich auf des
Lebens Mund / und atmet tief und lächelt leis.“ (Die Sperrungen
weist natürlich das Original nicht auf). Wie milde wirken die Zweisilber
Leben, atmet und lächelt nach den düsteren Einsilbern starr, tot, Schnee, Eis.
i) Im Abschnitt „Das andere Tanzlied“: „(Und lieben) wir uns nicht von
Grund aus —, muß man sich denn gram sein, wenn man sich nicht von Grund
aus liebt? Und daß ich dir gut bin und oft zu gut, das weißt du: und der
Grund ist, daß ich auf (Deine Weisheit eifersüchtig bin).“
19 *
291
Häufig finden sich in der erregten Sprache Friedrich v. Schillers Verszeilen, i n
denen sich nur je e i n mehrsilbiges Wort unter Einsilbern befindet, z. ß.
Schlank und leicht, wie aus dem Nichts gesprungen, steht das Bild vor dem
entzückten Blick. Einzelne Mehrsilber unter vielen Einsilbern finden sich oft
in den Schlußreimen des Angelus Silesius, z. B. „Ich weiß, daß ohne mich
Gott nicht ein Nu kann leben j Werd* ich zu nichts, er muß von Not den
Geist a u f g e b e n.“ — Ich bin so groß als Gott, er ist als ich so klein / Er
kann nicht über mich, ich unter ihm nicht sein / So ist Gott nicht mehr
Gott und fällt der Himmel ein.
Eine Strophe aus Stefan Georges „Stern des Bundes“ (Ein leib der
schön ist wirkt in meinem Blut / Geist der ich bin umfängt ihn mit ent¬
zücken: / So wird er neu im werk von geist und blut / So wird er mein und
dauernd ein entzücken) weist unter 35 Wörtern 30 einsilbige auf, eine Stelle
bei Beer-Hoffmann, sieben Zeilen aus seinem „Vorspiel auf dem
Theater zu König David“ (Euch dient mein Tun — und mehr, als ihr es
faßt / Euch dient es — doch verwehrt ward mir zu fragen, / Ob es euch
so gefällt, ob es euch recht! j Herr bin ich, der als Herr dient — nicht als
Knecht! / Mein Wort ist nichts, als meines Herzens Schlagen j Und euer
Herz zu gleichem Puls zu zwingen / Ist Amt — ist Dienst —, doch nie von
euch mir aufgetragen) unter 6 4 Wörtern 54 einsilbige. Ich führe auch ein
Gedicht von Karl Kraus an, in dem es eine Reihe von Zeilen gibt, in de¬
nen jeweilen nur ein einziges mehrsilbiges Wort vorkommt oder keines: Du
bist sie, die ich nie gekannt, — die ich nicht nahm, die ich nicht hatte...
Du bist ein Wahn und bist ein Wille.. . Du rufst und rings um dich ist Stille.
— Du schweigst und rund um dich ist Sturm... Du bist das Tier in seiner
Kraft... In jedem Traum bist du mir nah ... So steigst du wieder auf als
Mond .. . Du schwebst und fällst in Lust und Qual.
Beispiele vereinzelter Mehrsilber unter vielen Einsilbern finden sich auch
häufig unter den Sprichwörtern des Volkes z. B.: Auch der Wurm
krümmt sich, wenn er getreten wird — Man lebt nur einmal in der
Welt — Was nicht ist, das kann noch werden — Das Glück ist rund, dem
einen läuft es in den Arsch, dem anderen in den Mund — Wer ein¬
mal lügt, dem glaubt man nicht, und wenn er auch die Wahrheit
spricht.
Eigentlich hat in der Frage, ob im Deutschen größere Folgen einsilbiger
Wörter mit den Ansprüchen des Wohllautes vereinbar sind, der Ge¬
nius der Sprache bereits sein Urteil gefällt. Daß solche Stellen bei Goethe
und anderen Klassikern Vorkommen, müßte allein noch nicht ausschlag¬
gebend sein. Aber daß solche Einsilbersätze geflügelte Worte wer¬
den konnten, daß viele volkstümliche Sprüche und Redensarten
offenkundig gerade aus der gehäuften Einsilbigkeit ihre besondere Prägung
empfangen, muß den Einwand vom undeutschen Staccato-Stil ganz ent-
29z
p
kräften. „Ihr seid das Licht der Welt", heißt es in der Bergpredigt, und
aus dem Johannesevangelium wird zitiert: „was mein ist, ist dein und was
dein ist, ist mein." In den „Sinn- und Schlußreimen" des katholischen My¬
stikers Angelus Silesius (Johannes Scheffler) kommen immer wieder Ein¬
silberzeilen vor, wie „Gott ist mir Gott und Mensch, ich bin ihm Mensch
und Gott" oder „Was Gott ist weiß man nicht, er ist nicht Licht nicht
Geist". „Da pfeift es und geigt es und klingt es und klirrt", lautet eine
schöne Zeile in Goethes „Hochzeitslied". Und die Goethische Zeile
„Half ihm doch kein Weh und Ach" (Heidenröslein) verstößt nicht gegen
den Wohllaut und war gewiß wert, vertont zu werden. „Du weißt wohl
nicht, mein Freund, wie grob du bist" — „es irrt der Mensch, so lang er
strebt" — „hier bin ich Mensch, hier darf ich's sein" — „die Müh ist
klein, der Spaß ist groß" — „die Zeit ist kurz, die Kunst ist lang" — diese
oft heraufbeschworenen Einsilberzeilen aus dem Faust 1 sind wuchtig und
schmiegsam zugleich. 2 Nicht anderes gilt von Lessings Satz „Die Kunst
geht nach Brot" oder von den Schillerstellen: „spät kommt Ihr, doch Ihr
kommt" — „was rennt das Volk, was wälzt sich dort" — „der Wahn ist
kurz, die Reu ist lang" — „kühn war das Wort, weil es die Tat nicht
war"; oder von Heines „was schert mich Weib, was schert mich Kind".
Auch in der bekannten Zeile eines modernen Liedes „Du bist zu schön, um
treu zu sein" paart sich Wohllaut mit Volksmäßigkeit. Als Kronzeugen für
die volkseigene Art der Einsilberhäufung können wir auch Abraham a
Santa Clara anführen. Es wimmelt geradezu beim sprachlich urwüchsigen
„Pater Fabelhans" von Sätzen wie: Wers Glück hat, führt die Braut heim. 3
1) Auf eine Fauststelle bezieht sich auch die Bemerkung Leo Spitzers,
Schubert habe in Gretchens Lied am Spinnrad die Stelle „und ach sein
Kuß“, die die Spitze einer Klimax bildet, zu einem „Knalleffekt“ ausgenützt,
den allerdings das deutsche einsilbige Wort besonders ermöglichte.
2) Was die Häufung von Einsilbern im französischen Vers anbe¬
langt, so ist schon Louis Racine (1772 in den Bemerkungen zu den Tragö¬
dien Jean Racines) dem alten Vorurteil, das solche Häufung verdammt, ent¬
gegengetreten. Er führt u. a. folgende Verszeilen von Jean Racine ins
Treffen: Quand je fais tout pour lui, s’il ne fait tout pour moi (Bajazet
I, 3) — Le jour n’est pas plus pur que le fond de mon coeur (Phedre IV, 2).
Der letzte Vers sei „besonders süß für das Ohr.“
3) Der Spruch „wer’s Glück hat, führt die Braut nach Haus“ wird im
Volke auch mit dem (ebenfalls aus Einsilbern bestehenden) Zusatz gebraucht:
.. und wer’s kann, schläft bei ihr.“ Ein Lied aus einer Hanswurstkomödie
um 1740, das das Vorbild zum berühmten Hobellied in Raimunds Verschwen¬
der wurde, setzt die Zeile „wer das Glück hat, führt die Braut heim“ mit
folgenden Einsilbern fort: „doch daß ich mich zum Tod drum kränk, da
wär ich wohl ein Narr.“
293
— Was mich nicht brennt, das blas ich nicht — Spreizt sich wie die Katz
im Sack — Wasch mir den Pelz und mach mir ihn nicht naß — Lach
mich an und gib mich hin, das ist jetzt der Welt ihr Sinn. Zwei Bücher des
Pater Abraham haben Titel, die seine Vorliebe für Einsilber bezeugen:
Reimb dich oder ich liß dich — Huy und Pfuy der Welt. Nicht zuletzt
sei auch Martin Luther angeführt unter den Meistern der Sprache,
die Einsilber häufen können, ohne den Eindruck eines zerhackten Stils zu
erwecken. Er schreibt z. B. „Wer sehr schilt, der lobt und wer sehr lobt,
der schilt.” Oder: „Ach Herr, dein Grimm ist groß, wir sind fast nicht
mehr dein Volk, du stößt uns von dir und willst nicht mehr der Herr sein
der da hilft.” (28 Einsilber!)
Auf dem Gebiete der Volkssprichwörter und der volkstümlichen Redens¬
arten ist die Einsilberhäufung besonders heimisch. Man beachte die formel¬
haften Wendungen: in Acht und Bann, mit Fug und Recht, auf Jahr
und Tag, Schall und Rauch, schwarz auf weiß, Schuß auf Schuß, Schlag auf
Schlag, Zug um Zug, Zahn um Zahn, Hand in Hand, von Mund zu Mund;
viele unter ihnen weisen Alliterationen auf: durch dick und dünn, mit Herz
und Hand, mit Stumpf und Stiel, klipp und klar, frank und frei, Wohl und
Weh, Stock und Stein, mit Haut und Haar, mit Mann und Maus, auf Feld
und Flur, der Zahn der Zeit; andere gehorchen dem Endreim: mit Rat und
Tat, auf Knall und Fall, schlecht und recht, Lug und Trug, in Saus und
Braus, mit Ach und Krach, mit Sack und Pack, auf Schritt und Tritt.
Aus der langen Reihe der einsilberhäufenden Sprichwörter führen wir
an: Trau, schau wem — Selbst ist der Mann — Ein Mann, ein Wort — Der
Mensch denkt, Gott lenkt — Wie der Herr, so der Knecht — Wie der Koch,
so der Brei — Wie du mir, so ich dir — Was ich nicht weiß, macht mich
nicht heiß — Wer sich warnt, der wehrt sich — Kommt Zeit, kommt Rat —
Spar in der Zeit, so hast du in der Not — Wenn das Schwein satt ist, stößt
es den Trog um — Wer Glück hat, dem kalbt der Ochs im Stall — Glück
und Glas, wie leicht bricht das — Wer die Wahl hat, hat die Qual — Rast
ich, so rost ich — Wer lügt, der stiehlt — Aus nichts wird nichts — Wo
nichts ist, da fällt nichts ab — Wer zu viel spricht, irrt oft — Geld, das
stumm ist, macht grad, was krumm ist — Paßt, wie die Faust aufs Aug —
Ein Freund in der Not ist ein Freund in der Tat — Der Mann in den Rat,
die Frau in das Bad — Hilf dir selbst, so hilft dir Gott — Ein Schuft, der
mehr gibt, als er hat — Auf der Alm da gibts ka Sünd — Was sich liebt, das
neckt sich — Macht geht vor Recht — Wes Brot ich eß, des Lied ich sing —
In der Welt geht’s auf und ab — Dem die Kuh ist, der nimmt sie beim
Schwanz — Katz aus dem Haus, rührt sich die Maus — Wer viel kann, muß
viel tun — Was bald reif wird, wird bald faul — Wie der Baum, so die
Frucht — Der Gast ist wie der Tisch — Wie das Weib ist, so kocht sie den
Kohl — Geld im Sack duzt den Wirt — Hast du Geld, so spiel, hast du
294
keins, so stiehl — Ist leer der Bauch, taugt nichts der Gauch — Auf Freud
folgt Leid — Wer viel schwätzt, der lügt viel — Ein Wort ist kein Pfeil —
Hab ich was klingt, so krieg ich was singt — Arm ist die Maus, die nur ein
Loch hat.
Die Fülle solcher nur Einsilber aufweisenden volkstümlichen Sprich¬
wörter, von denen man Hunderte anführen könnte, zeigt jedenfalls, daß
der allgemeinen Entwicklungstendenz zur Wortkürze und zur Bevorzugung
der Einsilber von Seiten des volkstümlichen Sprachgebrauchs keine Hem¬
mungen entgegengesetzt werden.
295
REGISTER
Abbetteln 167
Abbild 1 66
Abendmahl nehmen auf
etwas 67
abgehen zur großen Ar¬
mee 60
Abglanz 162
Abhang 166
abhelligen 12
Abklatsch 247
ableugnen 95
abpaschen 113
abschätzig 162
Abstecher 9
abstieren 180
abstinken 147
Abwasser 162
acheln 214
Achse, -1 241, 248
acht 100
ächzen 9
Adrattär 1 76
Affen, einen sitzen ha¬
ben, einen sich kau¬
fen I9^f
Afrika 20lf
Ahm, ahmen, Ahming
95
Ahnerl 249
Ahorn, Ähre 99
Akkord 90
akkurat 91
Akme 99
Akribie 98
Akrobat, -polis, -sti-
chon usw. 99
Akustik 100
Alarich, Alberich 41
Alkuskus 215
Alm 161
Almosen, alms 284
Altbüsser 92
Amalrik 205
ambassade 41
Amboß 123
Ambuschurl 176
amend 284
Amt 41, 281, amtieren
216, 221, Amtsschim¬
mel 281
Anatolien 201
andrinople 77
Angel 247
Angst 281
anheimeln 162
anordnieren 217
anstellig 162
Apfel 44, -bäum 265
Arbeitsteilung 265,
270, 272
Armee, abgehen zur
großen 60
Ärmel 251, 252f
arme Ritter 22
Armitschkerl 220
Arndt 285
Arras, Artois 44
Arthur 39
Artikel, Artillerie 233
Arzt 282
Asien 20of
asticoter 51 f
Attila 108
Auerochs 280
auf bäumen sich 166,
-begehren 163, -put¬
schen 125, -wiegeln
166
Augenschein 166
Augur 90
Augustus 78
Auktion 78
Aurikel 233
Aurora 209
aus dem ff 31
auserkoren 90
ausdrücken 25
ausleeren 95
Ausmaß 166
ausmerzen 9f
äußerin 167
auster 210
Australien 209ff
Austria 211
Autor, -ität 78
Autriche 211
Auxiliär- 78
avaler sa langue; sa
cartouche usw. 63, 64
Aviso 241
Back 10, 11, -fisch nf
Bafel 135
Bahöll 168
Bajonett 117
Bakel 237
Balaclava-day 77
Ballast nf
Ballett 228
Balz 285
Banane 18
Banderole 243
Bankert 151
Bankett 228
Baon 13
Bär 281
Bartsch 285
Basilisk 241
bass 91
Bastard 151
Batt Daff 284
baver dans le paprika
109
Bazillus 237
Beach-Ia-mar 225
Becher 96
297
behelligen nf
beißen 55, 71, ins Gras
S 2ff
Bengel 173, 240
Benz 285
Beograd 91
bergopzoom 71
Bericht 41
Bernd 285
bescheiden 231
besser 91
Bettel 240
Betyar 108
Bibel 239
Biez i7of
biftecks 81
Bijou 38
Bild 281, bildsam 166
Billett 241, 245
Bise 161
Bismarck, bismarquer
I2ff
bissig 171
Bistum 13
bite the dust 57
bitter 171
Bitzl i7of
blaazen i68f
blackmail i6i
blad 169, 180
blau 40
bl£ 282
Blei 40
Blendling 123
blind 283
blitzen 9, 137
blöd 169
bluchers 72
Blut 281, -geld 271
boche 122
Bock 123, 186
Bockerlfraas 170
Böcklin 251
Bodega 12, 183
Bollette 241
Bordell 23 6
bouche, boucle 230
bougre 86
Boul Mich 284
bosseln 123
Boston 7of
bottes, graisser ses 59, 64
Bowel 135
298
bracken 9
bransqueter 49
braquemart 117
Brennpunkt 274
Brezel 238f
Brig 283
Brüder, warme 139^
brüler la paillasse 151 f
buchstabieren 217
Buckel 230, -insky,
-omini usw. 221
bücket, to kick the 65 f
Budget 37
Büffel 238
Bug 281
Bügel 240
Bulletin 241, 245
Bummel 240
Bündel 228, 238
Bus 12, 283
Büschel 238
Buserant 87
Buße, büßen 9if
Butike 283
Büttel 240
Butzen 123, 171, -schei¬
be 123
Cab 284
Cacarilla 220
Calumet 234f
canard 15
Cancan I4ff
cancer, cancre 18 2 f
caquehan 17
Carbonari 232
cargo 43
casse-gueule, -pattes 89
casser son crachoire, sa
pipe usw. 63
cattivo 23
Cercle 231
chaleur solaire 272
chalumeau 234
Champ 284
chancre 183
chantage, chanter 2jf
Charge, charger 43
charivari 16, 126
chätaigne 244, poele
& ch-s 170
Chauken 42
chelinguer 51
chemise 243
chetif 23
Chetzer 86
cheval, -eresk 43
cheville 254
chiben 172
chibis 51
chique, poser sa 63
choisir, choose 90
chopine 51
choubersky 63
chouflick 51
chtourbe 50
cif 287
cingler 51
circus 231
Clan 37
Cliche, Clique 247
cloche, clock 40
clown 284
coeur 90
cohors 91
Cortes 91
Cospoli 13
Couplet 245
courage 90
cour, -toisie 91
cracher son äme, ses
embouchures usw. 63
crown 284
crim£enne 76
Csardas io8f
culotte 252
cup 121, 230
Curriculum 89
Custor, Custos 91
cut the painter 65
Dachtel 19
dagger, dague 40
Dagmar 39
Daktylos 17
dasticoter ^2
Dattel I7ff
Davy Jones" locker 65
de 282
Deckel 240
defend 284
Defilee 102
deflorieren 232
Degen 40
Degout 90
Deichsel 240
Denkzettel 19
Devise 148
Diabetes 99
Dichteritis 218
dick 169 , 180, 283
didones 84
Dietrich 41, Dietz 285
Digitalis 1 9
dindon 107
Dirks 285
Diskurs 89
Dividende, Division
148
doigt 282
Dolch 283
domini canes 143
Dorf 44
Dornenkrone 271
drall 1 69, 180
Drama 20
drastisch, Drastikum 20
Drews 285
Drückotismus 218
dumm 248
Dünkel 240
dünn 169, 180, 283
dust, to bite the 57, 6 5
east 209
Ebbe 162
Ecke 99
krevisse 181
Edelrost 269, 274
eff eff 31
Egge 99
Ehrenmann 166, 268
Eichel 249
Eid 41
Eidergans 280
Eidetik 241
Eigenname 2 69, 273
eight 100
Einfaltspinsel 235
Eisen 40
-el 23 8ff
Elefantenbeine 198
Elend 21 ff, glänzendes
23f, graues 24f
Elentier 280
Elle 98
6mail 49
Emmerich 205
emporheben 95
endokard 90
Enkel 249
Ente 13, 77
entsprechen 163
Epaulette 252
Epistel 238
Erbe 42, Erbsünde 268
erkoren 90
Erpressung 2jf
erschweren 1 66
erstaunen i^f
erstunken 147
Erz 281
Esel 82, 240
espy 284
Essig 96, 99
essentia 127
est 209
eternuer dans le son 6 3
Etikette 244
etonner 165
Eule 251
Europa i99f
Exkurs 89
Fabel 238
Fackel 231
Fagune 115
faire chanter 2jf, les
kneipes 51, sa malle
6 4, le gaffe 50, chi-
bis, les schladros 51
Falkaune, Falkonett
n 5
fasces, Faszikel 233
Fatzke 47
faul 147, Faulpelz 1 66
Faxen 47, 175
Fegefeuer 209
Fehde 166
Feigenblatt 271
Feldmatratze 152
fend 284
Ferkel 251
fermer son parapluie,
son vasistas 6 3
Fettnäpfchen, ins —
treten 28
Feuer, Hand ins — le¬
gen, für jemd. durch’s
— gehen 6y , Feuer¬
probe, -taufe 67, 271
feurige Kohlen auf je¬
mandes Haupt sam¬
meln 28ff
Feuilleton 243
ff, aus dem 31
Fibel 239
Filet 102, ä la Welling¬
ton 72
Filigran 102
Fingerhirse, -tang, -zi-
trone 18, -wurm 189,
-hut 2 66
Fink 281
Firn 161
Fisel 33
Fisigunkes 33
Fisikapaperln 32
fisima 34
Fisimatenten 32ff
Fisipatenten 3 6
Fisperementli 32f
Fistel 238
Fixstern 2 69
Flagge 162
Flak 288
Flammeri 37
Flanell 3 6, 24 6
Flegel 173, 240
Flirt 232
Flor, -ett, -ida usw.
232
Floskel 232
Flotte 162, Flottille 228,
244
flu 283
Flut 281
fob 287
Föhn 161, 282
Forelle 231
Formel 231
Forst 282
foxed 194, foxtrot 231
Fraas 170
Fragezeichen 269
Fratz, -e 44ff
Frau 281
frichti 30
Frisco 13
Fritz 283
froggy 184
Frosch 183^ 192^ -au-
gen 198
F, Schema 31 f
299
Fuchtel 240
Füllhorn 268, 272
fünf, Fünftelsaft 127,
Fünffingerkraut 18
Furunkel 228, 232
Furzibus 218
fuseau, fusee 243
Fuß 281
Gabel 40, 240, -früh¬
stück 78
gafe, gaffe, gafre 50
Gaides 6z
Galopp 44
Gamin 47ff
Gangrän 183
Gardine 243
Garibaldi 73f
Garten 91
Gaspard 185
gassatim 217
Gassenhauer 48
gastieren 217
Gatzen, Gatzl 82f
Gauch 185
Gaul 42, 282
Gazette 194
Geisel, -her 41
Geiß 171
geistvoll 1 66, Geistesge¬
genwart 270, 272, 274
gellen 97
Geliert 41
Gemeinplatz 270
Gent 283
Ger, -hart, -trud 40
Geraball 126
Germanen 37, 39
Gerücht 249
geschwind 139
Gesichtspunkt 269, 273
Gesindel 247
Gespräch des Tages
273
Gessler 41
Geweih 155
gewiß 241, Gewissens¬
freiheit 269, -wurm
190
geflickt 169
g’haut 179
Gidi 170
Giebel 31, 248
Gier 281
Giesebrecht 41
Gift nehmen auf et¬
was 67
Gigolo 48
Gilbert 41
Gin 284
Gimpel 240
Gipfel 247f
giroflee ä cinq feuilles
19
Gisela 41
Gizzi i7of
glänzendes Elend 23f
Gletscher 161
Glied 281
Glocke 40
Glück 281
Gneisterer 141
Gnom 282
goddam 84
going aloft, west 6 5, to
grass 5 6
Golf 37
Götz 285
goüt 90
Gradiska 91
graisser ses bottes 59,
64
Gras, ins — beißen 5 2ff
grass, to go to 5 6
grass-widow 149
Graswitwe 1 $off
graues Elend 24f
Graz 91
Grete 12
Griffel 240
Grillen 191, grillisie-
ren 217
grob 281, Grobian 217
große Armee, abgehen
zur 60
Gruß 281
gesteppt 169
Guerilla 244
Gulden 38
Guillotine 13
Gurke 283
Gürtel 238
gusto 90
Hadumar 39
häl 12
Halberabendmahl 7g
halbieren 2x7
Hallawachl 173
Halm 235, 282
Halunke 66 , 243
Hand ins Feuer legen
67, Handschuh 2 66
Handel 240
Hanf 281
Hans 285, -wurst 197
hare-lip 197
Harnisch 40
Hasard 70,
Hase im Pfeffer mf
Hasenscharte 197
Haubitze 118
Haupt 281
Havelock 73
Hebel, Hechel 240
Hegel 174
Heimchen 251, heimeln
162, Heimweh 166
Heinrich 41
Held 41
Helferich 41
heilig 12
Helvetier 39
Hemd 243, 280
Hengst 281
Henkel 240
Hephep 171
herabsenken 95
Hermelin 250
Herr, Herz 281
hier liegt der Hase im
Pfeffer in
high 249
Himmel 82, 240
hinscheiden 57
Hinz 285
Hirn 281
hirondelle, avoir une
— dans le soliveau 193
Hirt 281
Hobel 240
hoch 249, Hochverrat
273
Hohn 281
homunculus 233
hongre 43
hop off, hop the twig
65
Hosen verlieren 67
300
Huf 281
Hügel 281
Hühnerauge, -brust 197,
-waden 198
Hühnerologie 2i8f
huit 100
Hundstage 270, 273
Husar 89, 108, 118
Hut 281, Hutschnur,
das geht über die 68
Idee, Ideal, Idol 241
Idyll 241
-ieren 217
Igel 82, 240
Illing 155
immensikoff 76
impfen 97
inaugurieren 90
Indianer 107
Individuum 148
Insekt 230
Insel 238
Isabellenfarbe 69f
Jahn 285
Jammertal 271
Janhagel 52, 84, 239
Japan 201
jardin 91
Jauche 78
jauchzen 9
Jauchwind, Jaugwetter
Jauk 79
Jause 77f
Jean Po tage 21 j
je-m’en-foutisme 279
Jentsch 285
jodeln 161
Johst 28f
Jubel 237
Judaskuß 271
Jugendsünde 271
Jugoslawien 78
juice 78
Justizmord 270
Juwel 237
Jux 237
Kabbes, Kabis 137
Kabel 239
Kabriolett 171
Kachel 231
Kachilleion 214
Kadett 237
Kai 42
Kaiserschnitt 269, 274
Kalamität 233
Kalk, Kalkül 230
Kalmus 235
Kalomel 241
Kamarilla 228, 244
Kamel 239
Kamisol 243
Kamm 161
Kanal 118
Kaninchen 250
Kanker 183
Kanon, -e 118
Kanzel 238
Kapital, -eil 237
Kapitel 231, 237
Kaprizen, Kapriolen
171
Kapsel 231
Kapsizin 107
Karamell 234f
Karavelle 243
Karbol, -id, -onade
usw. 232
Karbunkel, -funkel 232
Karenz 89f
Karikatur 43
Karosse 42
Karren, Karrete 42
Kartaune 116
Kartell 243
Kartoffel 228, 243
Kassa, Kassette 234
Kassier 236
Kastanie, Kastagnette
2 44 {
Kastell 238
Katarrh 85, 195
Kater 85, 195
Katharer 84#
katharos 85, 86, 19 f
Katze 195, Katzenbei¬
ßer 80, -jammer 195,
-musik 195
Katzelmacher 79ff
Katzipori 83, 191
Kauderwelsch 43
kauen 172
Kavallerie 42
Kegel 248, -schnitt 269,
273
keifen 172
Kelch 96
Kelter 96
keppeln 172
Kern 281, kernhaft 166
Kessel 81, 82, 239, 240
Kesselbüßer 92
Kessler 8r
Ketzer 84ff
Keule 88
kickeraboo 66
kick the bücket 6 5 f
Kieberer, Kiebitz 141
kiesen 90, Kiesewetter
9 l
Kiewerer, Kiewisch 141
kifeln 172
Kille, killen 88
Kipfel 248
Kippe 248
Kirschkuchengesicht
169
Kittel 239
Kitzel 240
Klachel i72f
Klafter 98
Klarinette 242
Klausel 238
Klecksographie 219
Klingel 240
Klippe 162
Klöppel 240
Klüngel 246f
Knäuel 246f
Knauf 50
kneipes, faire les 51
Kneipier 219
Knickebein 88f
Knöchel 228, 238
Knödel 247
Knopf 50
Knüppel 240
Knüttel 240, -vers 216
Kohlen, feurige sam¬
meln auf jemandes
Haupt 28ff, aufK.
sitzen 29, 67
kollern 88
Kommiß 71
Konkordat 90
Konkurs, Konkurrenz
89
Konvent, -ikel 233
301
Kopf 31, 51, 96, 121
230, 248, -nüsse 19.
-kissen 2 66
Koppel 238, 245
kordial 90
kornblau 13
Korsar 89, 108
Korsett 252
Korso 89
Kortege 91
kosten 91
Kotelett 245
Krabbe 181
Krähenfüße 198
Krämervolk 271
Krapülinsky 220
Krätze 185
Krawall 126
Krebs 181, 281, krebsen
mit etwas 182
Kreisel 246f
kriechen 241
Kriegsschauplatz 274
Krimstecher 77
Kritikaster 253
Kropf 241
Krot, Kröte i84f
Krug 281, Krügel 228,
238
Krüppel 241
Kübel 31, 121, 230,
238, 248
Kuddelmuddel 16
Kufe 31, 96, 248
Kugel 88
Kümmel 82, 239f
Kumpan, Kumpel 240
Kunz 285
Kupfer 114
Kuppe 31, 248
Kuppel 31, 230, 238,
248
kuppeln 245
Kur 89ff, -arzt, -haus,
-ieren, -ios usw. 91
Kür, -lauf 90
kurant 88
kuranzen 89f
Kurat, -or, -el usw. 91
Kürbis i2of
Kuren, Kurland 89
küren 90
Kurfürst, -kind, -mark
usw. 90
Kurie 91
Kurier 91
Kurrende 89
Kurs, kursiv 89
Kurtisane 91
Lamm 248
Lampen 141
Land 38, Landestoch¬
ter 273
Landauer 71
Lanzette 228
Larifari 16
Last iof
Latte 44
Lauer 96
Lausoleum 214
Lavendel 239
lavieren 243
Lawine 161
lawn 38
lazziloff 52
Leberfleck 273
Leibchen 252
leichtgläubig 260
lentil, lentille 187
Lenz 281
letzte Züge 59
Levante 201
Libell 237
Libelle 237, 251
Lieferant 217, 221
linotte, siffler la 194
Linse 187, -ngericht
271
Litewka 118
Loch 91
Lockspitzel I44f
Löffel 240, wegwerfen
55, 65
Löns 285
Lord 284
Lot 40
louche 97
loupe i86f, -r 194
Lücke 91, -n büßen 91 f
Luftpumpe 270
lungern 67
Lungenbraten 102
lupa 186, Lupe i86f,
248, Lupus 188, 248
Lust büßen 92
Lutz 285
mac 284
macaronies 215
Machenschaft 164
maffick 74
Magda 13
Magentarot 73
maggot, -headed 192
Magnet, Magnesium 114
Maharadscha 41
Mähre 43
mail, maille 26f
Mainz 282
Mais 10 6
maitre-chanteur 2 6
majority, join the 6 5
Makel 2 6, 239
Makkaroni 215
Malakoff, -torte 75
malle 2 6, faire sa 64
manger la salade 5 6,
l’herbe par la racine
56,
Mandel 239
Männeken, Mannequin
2 45 i
Manschette 245
Mantel 42, 236, Man-
tille 228, 244
Manz 285
maquereau 49
Märchen 228
Marder 187
marechal 49, M. Niel
73
Märend 77f
Marengo 72
Marie-mange-mon-pret,
Marie-je-m’embete
279
Marille 22
Marmelade 234
marode 133
Marschall 43
Masse, massiv 176
Matcheur 220
Matz 251
Maultier 280
Maus 184, 233, Mäuse
machen 193
Mauscholeum 214
Mautze 185
Mayonnaise 7if
Mazagran 73
mbret 285
302
Medaille 27
mediocris 99
Meißel 240
Melk 285
mend 283
Menegatta 80
Mensch 281
Menschikoff 75 f
Menz 285
Mergel 42
Metall 27
Metz 282
Metze 249
Milz 281
Mine, minieren,
Mineral 40
Mirakel 239
Mistelbacher 141
Mitesser 232
Mitmachowski 220
Mittelalter 268, 273
Mittelmum 218
Mob 92ff, 284
mobility 92ff
mock-widow 149
Modernitis 218
Mönch 282
monkey, to suck the
196
Monokel 239
mordre le poudre, la
poussiere 57
Most 96
mouche 143, 192, mou-
chard 143
moyeu 237
Mucken, Mücken i9of
Mus 281
Muschel, Muskel 184^
2 33
Muskete, Musketier 116
mutterseelenallein 33,
257
Muttersprache 273
Nabe, -1 241, 248
nachahmen, -ohmen 94 f
Nachjausen 78
Nacht 97
Nachtigall 48, 97, 116
Nadel 240
Nagel 240, Nägelein
248
nap 137, 284
Napfezer, nappezen 137
Narr 281
Naturstimme 273
Nebel 239
Nelke 248
Nerz 283
Nest 282
Netz 281
neu, neun 97ff
Neue Welt 204ff
neuf, new 98
Nichte 249
Niels 285
nightingale 75, 97
nihil, Nihilismus i02ff
nine 97
Nippon 201
Niveau 237
nobiüty 93
Nowgorod 91
Nudel 231
nur 282
Obelisk 241, 251
oeil 282, de poule 197
Ohr 233, 281, -feige 19
Ohm, ohmen 95
oiseau 251
Onkel 233
Operette 228
Opium 242
Orakel 239
Orange 283
Ordalien 67
oreille 233, 254
Organist, Orgel 240
orgelet 186
Orient 201
Ostara, Osten, Ostern
209
Österreich 211
ours 182
Pachöll 168
Paddel 240
Pafel 135
paillasse, paillasson
usw. 15 if
painter, to cut the 6 5
Palette 242
Pallasch 118
Palme 17, 19, palm-oil
17
Pampf, pampig, pam-
stig 174
Pappel 239, -stiel 13
Paprika i04ff
parc, Parkett 249
Parteiismus 218
Partiten 136
Parzelle 239
paschen 113
Paspel 241
Patsch^ 113, 123
Pedant 215
Pegel 234
pegrenne, etre en 6 4
peilen 234
Pekesche 118
pele-mele 16
Pelz 282
Pendel 239
Penis 235
pepper, -box 110
perdre son bäton, le
goüt au pain 6 3
perdreau 2 6
Pergament 114
perikard 90
Perle 228, 230
Petiten 136
petroleur 74
Pfalz 282
Pfarre, -r 244
Pfeffer i04ff, Hase im
mf, hinwünschen,
wo der Pf. wachst
II2f
Pfeffersack i04ff
Pferch 244
Pferd 43, 282
Pflanz 175, sich pflän-
zeln 175
Pflaster 118
pflücken 96
Pflug 281
pfropfen 96
Pfütze 148
Piccolomini 231
pickaninny 22 6
Pidgin 226
pinceau 235
Plaid 37
Plan, Planet 98
Platin, platt 244
Plombe 38
Pluzer ii9ff
303
Pneu 12, 283
Pöbel 135, 239
Podium 242
Pofel, pofeln 135, 239
pointe 144, 195
poivre 110
Polente 183
Polyp 183
Portefeuille 37
poudre, mordre la 57
poupee 236
pousser 123
poussiere, mordre la 57
Preiskurant 89
Profil 102
Prokura, -tor 91
propagieren 96
Proporz 1 66, 283
Propst 282
Prügel 240
Prussian, prussien 14,
72
psora 188
Pult 282
pulumaku 227
Puppe, Pupille 236
Puritaner 83
Purzelbock 123
Pustel 238
Puszta 108
Putsch i23f, -ist, -is-
mus 125
Quai 42
Quark 283
quendpe 50
quetschen 87
quinque 127
Quintessenz 127
Rabeneltern, -söhne
USW. I27ff
Rackermichdichtig 89
racket 39, 247
Radscha 41
Raglan 75
Ragout 90
raisonner 129t
Rakete 228, 242f
Ramasuri 176
Ramp 177
Rams, Ramsch i76f
ranula 183
Ranunkel 233
Rappel 240
raquette 39
räsonnieren 1 29 ff
Raspel 240
rat dans la tete, he has
rats in his garret 193
Rationalist 130
Ratz 251
Raupe 191
Rebell, rebellen 126
Recke 23
Recht, rechts 41
Regel 240
Reich, reich 4of
reiche Ritter 23
Rekord 90
Rekurs 89
Remasuri, Remisori 176
Renette-Apfel 233, 245
renommieren 131
rex 41
-rieh 41, 205
Richard 41
richten, Richter, Rich¬
tung 41
Riegel 240
Ringel 240
Ritter, arme, reiche 22f
Rodel 229
rodeln 161
Rolf 285
Rolle, role 229
roquets de l’Helicon 142
rossignol 97, i8if, 194
Roß 282
Rotwelsch 43
rouge andrinople 77
roule-par-terre 89
Rubel 241
Rückvergütung 280
Rudel 248
Ruf 281
Rüffel 240
Ruhm, Ruhr 281
Rum 283
Runzel 249
Rüpel 249
Rupie 241
Säbel 117, 118, 240
sacht 249
Sack 23 6
Säckel, -wart 236
Säge 230
salade, manger la 59
Salm 42, 281
Saloniki 283
Sammelsurium 218
Samt 282
Sandwich 13
sanft 249
Sansculotte 232
sapin, sentir le 6 4
Sarg 12, 283
Sattel 240
Sau 231
saumon 42
Schabbesdeckel i36f
Schabelle 234
Schacht 249
Schachtel, Schatulle
239
Schädel 31, 121
Schadenfreude 268
Schäferstunde 270
Schaft 249
Schale 31, 121
Schalmei 234
scharf 229
schattieren 217
Schaukel 243
scheiden 231
Scheitel 240
Scheiterhaufen 2 66
Schelmuffsky 220
Schema F 31 f
Schemel 234
Schenkel 249
scheppern 176
Scherflein 230
schicksaler 31
schieben 31
Schiffoir 219
Schimmel 32
Schindel 239
Schisma, schizophren
2 3 I
Schlabberitis 218
schladros, faire les 31
Schlammassel, Schla-
mastik 239
Schlampampe 33
Schlange 189
Schlegel 240
Schlendrian 217, 221
Schlingel 240
schlingoter, schlinguer
5i
3°4
Schlittschuhlaufen 266
schluchzen 9, 137
Schlüssel 240
schmafu 176
schmatzen 9
Schmeh 175
Schmerz 281
Schmetterling 188
schmieren 17
Schmiere stehen 141
schmuggeln 114,
Schmuggel 240
Schnabel 132, 240,
schnabulieren 217
schnalzen, schnappen,
schnarchen, schnar¬
ren, schnattern,
schnauben, schnau¬
fen 132
Schnapphansky 220
Schnaps 89
Schnauze 132
schnesse 51
schneuzen 132
Schnorre, -r, schnor¬
ren 13iff. Schnorre¬
ros 135, 220
schnoutse ji
schnüffeln, schnupfen
132
Schnur, hauen über die
69
Schnurr, -e, -er, -bart
-pfeifereien I32ff
Schnute 132
Schokolade 106
Schöps 283
Schorlemorle 33
Schrein 282
Schuh 281
Schurimuri 16
Schüssel 238
Schutzengel 268, -pa-
tron 280
schwärzen 114
schwarzhören, -fahren
usw. 27, 114
Schwein 251
schwelen 139
Schwengel 240
Schwerpunkt 273
Schwindler, schwinden
138
schwul iß9f, -en 140,
Schwulität 140, 218
schwül 139
Sech 230
secure, securite 91
Seidel 239
Seitz 285
Sektion, Sektor 230
Selbstüberhebung 280
Semmel 239
Senkel 240
Senne 16 1
sentir le sapin 6 4
Sepp 285
Sessel 239
setzen, ins Fettnäpf¬
chen sich 28
seufzen 9, 137
sezieren 229
Sichel 230
sicher 91
Sichtothek 219
Siebenmeilenstiefel 270
Sieben 285
Sieg 281
Siegel 238
Sigmar, -ingen 39
Sinekure 91
Skrofel 229
Skrupel 229
Slogan 37
Smitum 89
Sockel, Socken, socle,
socque 228
Sold 282
soleil 254
Solferinorot 73
sou 282
souffler sa veilleuse 6 3
Spachtel 229
Span, über den 64
Spanner, Spannjunge
141
Spaten, Spatel 229
Spatz 251, -enbeine 198
Speichel 240
Spektakel 239
Sperenzchen 32
Sperling 251
Spiegel 239, -eier 270
Spielastik 221
Spieß 14 if, -bürger,
-geselle 142
spinal, Spinett 242
Spinat 242
Spindel 240
Spion 144
spitz, -en i42ff, 195,
Spitz, -bube, -name
usw. 142, Spitzel
i4off
Sprengel 240
Spund 96
spy 284
Stachel 240, -inski 221
Stahl 281
Stammbaum 274
stänkern i47f
Star 186
Stargard 91
starr, -en 165, 179, 180,
186
staunen i^4f
stechen 9, i4^f
Steckbrief 145, stecken
jemandem etwas 146
Stecken 244
Stempel 240
Stengel 238
Stereos 179
Stern 281
St. Gallen 39
Stichel 240
Stichentscheid 166
Stiefel 96, 241
stier 50, i78ff, stieren,
stierin 147, ^f
Stier 251, -Nüw 179
Stilett 238
still 281
Stimmvieh 271
stinken 51, i46ff, Stin-
kadores 220
Stock 145
Stoppel 239
stören 179
storia, story 12, 283
Strahl 281
Strapazoleum 214
Streifen 44
Striegel 240
Stroh, auf dem 151 f
Strohmann 149
Strohwitwe i48ff
Strolch 282
Stück 281
Stuhl 281
Stummel, Stumpf 248
3 o$
20 Storfer . Sprache
Stündeler 266
Sukkurs 89
Sündenbock 27if
Sünnli 254
Supercargo 43
Suppak 220
sure, sür, -ete 91
Tabelle 237
Tabernakel 232
Tableau, Tablett 237
Taburett 245
Tafel 237, 239
tagen 164
Tagesordnung 270, -ge-
spräch 273
Tambur, -in 245
Tamtam 16
Tartuffel 243^
Tatarennachricht 77
Taube 116, 193
Taumel 240
taureau 254
Taverne 232
Teer 162
teigne 191
Telefon 272
Telefunken 219
Tenten 33
Terzerol 116
testa, tete 30, 121
textil 245
Theodorich 41
Thomas 155
Thronrede 268, 270
Tiegel 239
Tietz 285
Tisch 242
Titschkerl, -n 117
Toast 153f
Töchter des Landes 273
Töchterschule 1 66
Todsünde 270
Tohuwabohu 16
Toilette 245
tollisieren 217
Tonne 42
Tornister 118
Tory 37
tosten 153
town 42
Trabant 118
Trajekt 96
Tran 162
Trapez 242
Treppenwitz 270, 272
treten, ins Fettnäpfchen
28
Trichter 96
trinquer 49
Trocadero 73
Troddel 246
Trommel, Trompete
248
Trottel 112
Trüffel 241
Tuberkel, Tuberer 232
tuer le ver 192
Tunnel 42, 246
Tüpfel 238
Tür 281
turkey 107
türkischer Pfeffer,
Weizen 107
Turteltaube 280
twig, to hop the 6 5
Uhl 285
Ulk 281
Ulrich 41, 281
Umal 78
Unbill 1 6s
umwenden 95
unentwegt 165
-ung 26if
Unglück 281
Uriasbrief 271
Urteil 67
vache 49
vaisseau 255
Valet 4if
Vamp 285
van 285
Vanille 228, 244
Vasall 4if
vasistas 49, fermer son
63
Vehikel 239
Veilchen 250
veilleuse, souffler sa 63
vendre le calebasse 121
Vercingetorix 41
Veronal 154f
verpetzen 141
verpfeffert in
ver rongeur 190, tuer
le ver 192
versammelt werden zu
seinem Volke, seinen
Vätern 5 8
verscheiden 57
verschwenden 138
Verschwindibus 218
vertagen 164
verzetteln 166
Veteran 230
Vettel 230
veuve 148
viel 281
Vignette 244
vin d’äne, de cerf, de
lion usw. 196
vingt 282
Visament 35
Visegrad 91
Visipatenten 33
Visum, Vision, Visage
usw. 241
Vogt 282
Völkerwanderung 268
Volkslied 271
voll 283
vorahmen 95
Vorbedingung 280
Vorspiegelung 166
Wächter 166
Waise 148
Walachen, Wallach 43
Walfisch 280
Walnuß 43
Walstatt 90
Wams 282
Wandel 240
warme Brüder 139f
Waschlapsky 220
Waterloo, -day 72
Weg alles Fleisches 58
wegpaschen 113
Weibel 240
Wein 95, 244
weise, -n 241
Weisheitszahn 270
Weißbäcker 13
Wellington, filet ä la
72
welsch 43
Welt 281, -klugheit 271
Wendekreis 269
Wert 44
Whisky 37
30 6
Wickel 240
widerspiegeln 95
widow 148
Wiesel 251
wife in water colours
149
wild 281
Willkür 90
Windel 240
Winzer 95
Wirbel 240
Wirrwarr 16
wissen, Witz 241
Witwe 148, 151
wo der Pfeffer wächst
112
Wolf i86ff, 248
Wolfsrachen 197
Wolle 36
worm of conscience
190
Worms 282
Wrack 9
wretch 23
Wuppdich 89
Wurm 18 8 ff, wurmen
190, Würmer aus der
Nase ziehen 189
Wut 281
yard 91
Zahl 280
Zankapfel 268
Zaun 42
Zehnerjause 72
Zerwürfnis 166
Zettel 231
Zickzack 71
Ziege, -npeter 171,
-nglöckl 59
Ziegel 239
Zimbel 239
Zimmer 248
Zimt 282
Zirkel 231
Z’nüni 77
Zoll 98, 282
Zoo, Zolli 12
Zuber 155
Zügel 240
Zügen, in den letzten
5 ?
Züriputsch 124
Z’vieri 77
zwanzig 155
zwar 282
Zwecken, Zweifel,
Zweig, Zwi 155
Zwickel 240
Zwieback 155
Zwiebel 231
Zwielicht, -spalt, -sei,
-tracht 155
Zwilch, Zwilling,
Zwirn, Zwist, Zwit¬
ter 155
Zwingli 155
zwischen 155, Zwi¬
schenpause 280
Zwölefant 155
zwölf 155
307
Pressestimmen über das 1935 erschienene Buch
von Storfer, „Wörter und ihre Schicksale“
N.-S.-Erzieher: Man muß diesen fruchtbaren Versuch als restlos gelungen
als eine Höchstleistung bezeichnen ... Jedes Kapitel liest sich wie ein Ro¬
man . . . Eine solche im Geiste Rudolf Hildebrands geübte Betrachtungsweise
gibt dem Deutschlehrer neben der eigenen Wissensbereicherung ein methodisch
wertvolles Hilfsmittel an die Hand, schenkt darüber hinaus insbesondere den
Schülern die Freude eigenen Forschens.
Nat. Soz. B. Z. Es ist eines der lebendigsten Sprachbücher, das wir hier
erhalten haben. So muß Sprache gelehrt werden.
Frankfurter Zeitung: Der Verfasser ist nicht nur gelehrt, er ist auch unter¬
haltend; er zielt weit und deutet spannend. (Rudolf Geck.)
Berliner Tageblatt: Storfer hat mit Geschick solche Wörter ausgewählt, die
Appetit machen sollen und können, sprachliche Dinge überhaupt zu genießen.
Sozusagen philologische Hors-d’Oeuvres. (K. Korn.)
Münchner Neueste Nachrichten : Daß auch einmal psychologische Erkennt¬
nisse zur Erklärung und Deutung sprachlicher Vorgänge zu Hilfe genommen
werden, gibt Storfers Buch unter ähnlichen einen Vorzug.
Magdeburgische Zeitung: Eines der prachtvollsten Bücher über Wortge¬
schichte, die es je gab. . . Umfassende Kenntnis der Sprachgeschichte und
glänzende Darstellungskunst. .. Dieses so vergnügliche wie belehrende Buch
entkleidet Wissenschaft jeden Bartes und bleibt doch wissenschaftlich genau
bis in den letzten Satz.
Hamburger Anzeiger: Aus dem schlichten Titel des Buches läßt sich kaum
darauf schließen, welche erregende Schätze es vor dem Leser ausbreitet. Wer
einmal darin blättert, wird nicht eher zur Ruhe kommen, als bis er den treff¬
lichen Band auf dem eigenen Tisch vor sich liegen hat.
Neues Tagblatt, Stuttgart: Das Buch gehört zu jener bei uns seltenen Art,
die Wissenschaftliches in unterhaltender Form darzubieten versteht. Die
erfreulichste Wirkung wird das Buch dort entfalten, wo ein beschaulicher
Leser es zu dauerndem Umgang erwählt. (Herbert Nette.)
Neue Zürcher Zeitung: Es ist ein Vergnügen mit Storfer den Weg zu den
Quellen zu tun ... Es fällt dem Referenten schwer, nicht aus jeder Seite von
Storfers Buch eine Sprachrosine herauszupicken, aber diese angenehme Arbeit
mag der Leser besorgen.
Nadonal-Zeitung, Basel: . .. Über all das gibt Storfer Auskunft in stets
unterhaltsamen, zuweilen gepfefferten, aber gründlich fundierten und klar
entwickelten Artikeln.
Basler Nachrichten: Jeder der einzelnen Artikel ist eine kleine sprach-
und kulturgeschichtliche Monographie, wie wir sie amüsanter und bunter
nicht sobald gesehen und gelesen haben.
Express, Biel: Keine Mittelschule, keine zehn Semester deutschen Sprach¬
studiums auf der Universität haben uns soviel Erkenntnisse beizubringen ver¬
mocht, wie dieses ausgezeichnte Buch.
Pressestimmen über das 1935 erschienene Buch
von Storfer, „Wörter und ihre Schicksale“
Die Literatur: In Storfers Buch sind Gelehrsamkeit, Witz und Laune den
vorzüglichsten Bund eingegangen, und wir können versichern, daß wir ein¬
schließlich der sogenannten „schonen“ Literatur seit langem von keinem Buch
solch köstliche Stunden einer zugleich freimütigen und nachdenklichen Unter¬
haltung empfangen haben. (W. E. Süskind.)
Deutsche Rundschau: Der Verfasser versteht es meisterhaft, den philologi¬
schen Stoff lebensnah und lebendig zu machen.
Die Muttersprache: Ein glücklicher Gedanke . .. Umfassende Gelehrsam¬
keit .. . Lebendige Darstellungskunst. (Karl Scheffler.)
Monatsblätter des Deutschen Buch-Clubs Hamburg: Eine Lawine von Witz,
Wissen und Vermutung... So treibt das Buch allerorts den Teufel der wis¬
senschaftlichen Trockenheit aus... mit dem Erzengelsschwert einer lebendigen,
fröhlichen und freimütigen Bildung.
Imago: Immer wieder ist der Leitgedanke zu merken, die Brücke von der
Sprache zum Menschen zu schlagen, der sie schafft und spricht.
Nation und Schrifttum: Ich wüßte kein Werk auf diesem Gebiet, das uns
so tief in die Geheimniswelt unserer Muttersprache hineinführt... Allen denen,
die zu Hütern unseres deutschen Sprachgutes bestellt sind, sei dieses seltene
Werk angelegentlich empfohlen . . . (K. Burkert.)
Jüdische Rundschau (Berlin): In einer polyhistorischen Form, die im Gali-
schen so gut Bescheid weiß wie im Berliner Dialekt oder im Pariser Argot,
gibt er die Lebensgeschichte einer großen Anzahl von Worten, die dem Leser
eine Ahnung von der organischen Verflechtung allen Weltgeschehens vermit¬
telt.
Wiener Bildungsbriefe (Volksbildungsreferat der Stadt Wien): Ein ernstes
wissenschaftliches Werk, das zudem in einem derartig witzig-unterhaltlichem
Ton und in einer einfachen, aber wirklich edlen Sprache geschrieben ist, das
es geradezu als ein Muster eines volksbildnerischen, eines volkswissenschaft¬
lichen Werkes bezeichnet werden muß.
Neues Wiener Tagblatt: So flott und unterhaltlich erzählt, daß wir die
400 Seiten in vier Portionen rasch nacheinander verspeist haben. (Prof. R.
F. Arnold.)
Prager Presse: Die fesselndsten kultur- und zeitgeschichtlichen Essays...
Die glückliche Anlage und Ausführung macht aus Storfers Buch einen richtigen
Büchmann des Sprachlebens, für jedermann wertvoll.
Reichssender Köln: Wissenschaftlich zuverlässig und doch unbeschwert in
der Form.. . Ein erstaunlich vielseitiges anekdotisches und geschichtliches
Material ist mit Geschick verwertet. Der Leser dieses Buches wird sich wahr¬
lich sagen: warum habe ich mich nicht schon lange mit dieser kurzweiligen
Sache befaßt, die sich Wortgeschichte nennt.
E I N
STANDARD BUCH
O. Kurt — Schaab
MUSIKGESCHICHTE
von der Antike bis zur Gegenwart
in 600 Fragen
bearbeitet von Hans Gal
In Leinen RM 4.50, hart. RM j.jo
„Ein richtiges Volksbuch, dessen Wert auf den ersten Blick zu erkennen ist.
Auf die besondere Verwendbarkeit dieser originellen Musikgeschichte, die
auch ohne die Fragenbeilage zusammenhängend gelesen werden kann, sei
ganz besonders hingewiesen." Volkszeitung , Wien.
„Die Verfasserin wendet geschickt die Methode der Längsschnitte an, also
die gesonderte Behandlung der einzelnen Hauptzweige der Musik/'
Schweizer musikpädagogische Blätter.
„Ein für alle Kreise brauchbares Kompendium der Musikgeschichte liegt
hier vor/' Wiener Neueste Nachrichten.
„Sehr wertvoll ist, daß das Buch nicht zeitliche Querschnitte gibt, sondern
nach Gattungen auf gebaut ist/* Neues Wiener Abendblatt.
„Die Musikgeschichte kommt dem Bedürfnis nach knapper, fest umrissener
und möglichst erschöpfender Orientierung über musikhistorische Einzelfragen
entgegen/* Frankfurter Zeitung.
„Eine besonders glückliche Lösung der Vermittlung musikgeschichtlicher
Kenntnisse. Gegliedert in die Gebiete: Altertum, Mittelalter, Oper, Kirchen¬
musik, Lied, Klavier, Violine, Orchester, Nationale Schulen, wird von jedem
Abschnitt ein völlig zusammenhängendes Bild gegeben; denn die Fragen
sind nicht in die Darstellung einbezogen, sondern in einer Beigabe vereinigt,
die mit korrespondierenden Textzahlen versehen ist. Und darin liegt das
Besondere des Werkes, da es die Vorzüge einer ausgezeichneten Geschichts¬
darstellung mit dem eines gründlichen Lehrbuches vereinigt/*
Das Konzert, Hamburg.
„In großen Zügen werden die Wandlungen des Formideals der verschie¬
denen Gattungen und ihre Völker- und einzelpsychologischen Grundlagen
umrissen und trotz der Knappheit der Darstellung nie schief, sondern mit
einer unverkennbaren, das Buch hochqualifizierenden Tendenz zur Objekti¬
vität charakterisiert.** Allgemeine Musikzeitung, Leipzig.
VERLAG DR. ROLF PASSER, WIEN —LEIPZIG
DIE UNEINIGEN SCHWESTERN.
Zwei Schwestern kenne ich, — kannst du es fassen?
Die ganz zusammen passen,
Jed’ Werk gemeinsam tun
Und nachts mitsammen ruhn:
Doch, gilt’s in kleinsten Fragen
Ja oder nein zu sagen,
Wirst jedesmal du sehn,
Daß die zwei Schwestern auseinander gehn.
usddiq;
LOGISCHES MALHEUR.
Was ohne mich, steht so schon fest.
Was mit mir, sich erschließen läßt,
Doch keine Hoffnung fern und nah,
Gilt von mir der Satz: A ist A.
uiq
HOMOIONYM.
Säumt die Gefallenen nicht vereint,
Eh es am Himmel getrennt erscheint.
U3qT2J§nZUl3
CHARADOID.
Ein Schmerz, ein Ausruf und ein ewig Nein
Wird stets der Grund von aller Freundschaft sein.
aiuoiuj^i-j
CHARADOID.
Kleinste Zeit in kleinster Zeit
Genügt das zur Unsterblichkeit?
auaumuopg;
VERLAG DR. ROLF PASSER, WIEN —LEIPZIG
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OLGA KURT-SCHAAB
MUSIKGESCHICHTE
von der Antike bis zur Gegenwart
in 600 Fragen
In Halbl. RM 4.5 o, hart. RM j.jo
„Eine besonders glückliche Lö¬
sung der Vermittlung musikge¬
schichtlicher Kenntnisse. Geglie¬
dert in die musikgeschichtlichen
Gebiete: Altertum, Mittelalter,
Oper, Kirchenmusik, Lied, Kla¬
vier, Violine, Orchester, Natio¬
nale Schulen, wird von jedem Ab¬
schnitt ein völlig zusammenhän¬
gendes Bild gegeben; denn die
Fragen sind nicht in die Darstel¬
lung einbezogen, sondern in einer
Beigabe vereinigt, die mit korres¬
pondierenden Textzahlen versehen
ist. Und darin liegt das Besondere
des Werkes, daß es die Vorzüge
einer ausgezeichneten Geschichts¬
darstellung mit dem eines gründ¬
lichen Lehrbuches vereinigt.“
Das Konzert, Hamburg \
STEFAN — SOUREK
DVORAK
Leben und Werk
ln Lein . RM 6 , hart. RM 4.50
„Das lang entbehrte, ebenso fes¬
selnde wie wahrheitsgetreue Le¬
bensbild des großen tschechischen
Tondichters und eine lückenlose
Einführung in sein Schaffen. Das
Buch ist und bleibt ein Standard¬
werk. Nichts kommt ihm gleich
an Gründlichkeit der Darstellung.
Ein unendlich reiches Bild entrol¬
len die kunstgewandten Verfasser, ;
voller Klarheit und Wärme, ein
Bild, das der Leser gerne mit¬
schauen wird.“
Westfälische Zeitung 3
KARL KOBALD
JOSEPH HAYDN
Bild seines Lebens und seiner Zeit :
ln Leinen RM
„Das Buch schildert Leben und
Schaffen des Meisters der klassi¬
schen Tonkunst und verlebendigt
gleichzeitig die Kunst und Kultur
der Maria Theresianischen und
Josephinischen Zeit. Einzigartig
ist die Schilderung des Musik-
und Theaterlebens zur Zeit
Haydns.“ Berliner Tageblatt
VERLAG DR. ROLF PASSER
Leipzig — Wien
OLGA KURT-SCHAAB
MUSIKGESCHICHTE
von der Antike bis zur Gegenwart I
in 600 Fragen
In Halbl. RM 4.50, kart. RM j.jo
„Eine besonders glückliche Lö- J
sung der Vermittlung musikge- |
schichtlicher Kenntnisse. Geglie- |
dert in die musikgeschichtlichen |
Gebiete: Altertum, Mittelalter, |
Oper, Kirchenmusik, Lied, Kla- I
vier, Violine, Orchester, Natio- I
nale Schulen, wird von jedem Ab* I
schnitt ein völlig zusammenhän- I
gendes Bild gegeben; denn die J
Fragen sind nicht in die Darstel* J
lung einbezogen, sondern in einer I
Beigabe vereinigt, die mit korres- 1
pondierenden Textzahlen versehen §
ist. Und darin liegt das Besondere |
des Werkes, daß es die Vorzüge I;
einer ausgezeichneten Geschichts- *
darstellung mit dem eines gründ- l
liehen Lehrbuches vereinigt.“
Das Konzert , Hamburg J
STEFAN — SOUREK
DVORAK
Leben und Werk
ln Lein. RM 6 .—, kart . RM 4.^0 \
„Das lang entbehrte, ebenso fcs- ;
selnde wie wahrheitsgetreue Le- 1 \:i
bensbild des großen tschechischen
Tondichters und eine lückenlose !
Einführung in sein Schaffen. Das h
Buch ist und bleibt ein Standard- I
werk. Nichts kommt ihm gleich
an Gründlichkeit der Darstellung.
Ein unendlich reiches Bild entrol¬
len die kunstgewandten Verfasser,
voller Klarheit und Wärme, ein
Bild, das der Leser gerne mit¬
schauen wird.“
Westfälische Zeitung
KARL KOBALD
JOSEPH HAYDN
Bild seines Lebens und seiner Zeit
In Leinen RM
„Das Buch schildert Leben und
Schaffen des Meisters der klassi¬
schen Tonkunst und verlebendigt
gleichzeitig die Kunst und Kultur
der Maria Theresianischen und
Josephinischen Zeit. Einzigartig
ist die Schilderung des Musik-
und Theaterlebens zur Zeit
Haydns.“ Berliner Tageblatt
VERLAG DR. ROLF PASSER
Leipzig — Wien
T
A.J. STORFER
PASSER
VERLAG
A. J. STORFER
Ir
PASSER VERLAG
Der erste Teil des Werkes,
„Von A bis Z“, behandelt Ety¬
mologie und Bedeutungsentwick¬
lung bemerkenswerter Wörter und
Redensarten. Anders als gewöhn¬
liche Nachschlagewerke beschränkt
dieses sich nicht auf trockenes
Aneinanderreihen von Tatsachen
und Hypothesen, sondern nutzt
jeden Anlaß zu kulturgeschichtli¬
chen oder psychologischen Aus¬
blicken. Urgeschichtliches wird
ebenso berührt, wie Verhältnisse
der allerjüngsten Gegenwart be¬
rücksichtigt werden, und die so
sich ergebende Lebensnähe macht
diese Wortkurzgeschichten und
kleinen Wortromane zu einer
spannenden Lektüre. „Warum hat
man uns nicht früher gesagt, daß
Sprachwissenschaft eine so inter¬
essante Sache sein kann?“ schrieb
eine Zeitung zu Storfers früherem
Buch. Der Verfasser beschränkt
sich nicht auf die Schriftsprache,
weitgehend berücksichtigt er die
Mundarten, die Studenten-, die
Soldaten-, die Verbrechersprache,
das Slang der Großstädte.
Der zweite Teil, „Kreuz und
quer“, behandelt eine Reihe inter¬
essanter Sonderfragen. Der eine
Aufsatz beschäftigt sich z. B. mit
dem Hang der deutschen Sprache
zur Wortzusammensetzung, mit
Vorzug und Nachteil dieser Er¬
scheinung. Fesselnd und voll von
humorvollen Beispielen ist der
Abschnitt über Sprachmengerei.
Dem Einfluß des Schweizerischen
auf die neuhochdeutsche Schrift¬
sprache spürt eine andere Ab¬
handlung nach. Die Ausführung
über Tiernamen als Krankheits¬
namen machen uns mit wenig be¬
kannten Gebieten der alten Medi¬
zin und der heutigen Volksmedizin
bekannt. Verblüfft erfährt der
Laie, welche Fülle von Geheim¬
nissen die Sprache birgt, der er
sich täglich bedient, was alles der
Wissende aus ihren Erscheinun¬
gen herausdeuten kann, und auch
der Fachmann findet viel Neues,
Überraschendes. Zudem gewähr¬
leistet schon des Verfassers Dar¬
stellungskunst richtigen Genuß.
Seine Fähigkeit, schwierige Dinge
einfach, gleichsam plaudernd und
scherzend auseinanderzusetzen, ist
mit Recht als meisterhaft gerühmt
worden.