Die Bürger wollen und können sich an der Debatte um Priorisierung in der medizinischen Versorgung beteiligen. Lübecker Bürger haben nach vier Wochenenden intensiver Beratungen ein gemeinsames Votum formuliert.

Die Lübecker Bürgerkonferenz fordert die Politik auf, das Thema Priorisierung aufzugreifen. Foto: Institut für Sozialmedizin
Die Lübecker Bürgerkonferenz fordert die Politik auf, das Thema Priorisierung aufzugreifen. Foto: Institut für Sozialmedizin

Seit einiger Zeit wird in Deutschland über Prioritätensetzung in der medizinischen Versorgung kontrovers diskutiert. Bislang findet die Debatte fast ausschließlich in Fachkreisen statt, obwohl das Thema die gesamte Gesellschaft betrifft. Denn Bürger sind nicht nur als Beitrags- und Steuerzahler für die Finanzierung der medizinischen Versorgung mitverantwortlich, sondern sie sind auch (potenzielle) Patienten. Vor allem zur Feststellung der Grundwerte und Kriterien, die den Priorisierungsvorschlägen zugrunde liegen sollen, bedarf es eines gesellschaftlichen Diskurses und gemeinsamen Abwägens. Ethische Wertentscheidungen können und dürfen nicht von Fachleuten allein getroffen werden. Aber: Können Laien überhaupt einen Beitrag zu komplexen und abstrakten Debatten leisten? Und wenn ja: Was sind aus Bürgersicht wünschenswerte Grundwerte und Kriterien zur Priorisierung?

Um diese Fragen zu beantworten, hat das Institut für Sozialmedizin der Universität zu Lübeck 2010 die erste deutsche Bürgerkonferenz zum Thema Priorisierung einberufen. Eine Bürgerkonferenz zeichnet sich dadurch aus, dass die Teilnehmer sich intensiv in eine Thematik einarbeiten und nach dem Austausch von rationalen Argumenten zu einer begründeten Bewertung kommen. Damit verwirklicht sie ein deliberatives Verfahren, bei dem alle Bürger im Sinne einer partizipatorischen Demokratie aktiv mitwirken.

Votum für Bürgerbeteiligung

Zur Vorbereitung der Bürgerkonferenz wurde zunächst eine postalische Befragung von 3 000 zufällig ausgewählten Lübeckern durchgeführt. Etwas weniger als die Hälfte der Befragten hat den hochstandardisierten Fragebogen ausgefüllt und zurückgeschickt. Erhoben wurden Einschätzungen zur medizinischen Versorgung insgesamt, Bewertungen inhaltlicher Priorisierungskriterien und Wünsche zu Entscheidungsprozessen im Gesundheitswesen. Die meisten Befragungsteilnehmer zeigten sich generell zufrieden mit der medizinischen Versorgung in Deutschland. Für die Zukunft erwarten jedoch mehr als die Hälfte der Antwortenden Leistungseinschränkungen in der gesetzlichen Krankenversicherung. Einer Priorisierung nach den Kriterien Krankheitsschwere, erwarteter Nutzen der Behandlung und wissenschaftlicher Wirksamkeitsnachweis stimmten jeweils deutlich mehr als 50 Prozent zu. Eine eindeutige Mehrheit lehnt eine Priorisierung nach den Kriterien Alter, Kosten-Nutzen-Verhältnis oder politisch-gesellschaftlicher Stellung ab. Ob der individuelle Lebensstil oder die Verantwortung für die Familie eine Rolle spielen und ob Kinder generell bevorzugt behandelt werden sollen, wurde kontrovers beurteilt.

Weitgehend einig waren sich die Befragten in der Frage nach einer Bürgerbeteiligung im Gesundheitswesen: Knapp 80 Prozent votierten dafür, dass Bürger an Entscheidungen über die Mittelverteilung im Gesundheitswesen beteiligt werden. 200 Personen bekundeten ein aktives Interesse an der geplanten Bürgerkonferenz zur Priorisierung in der Medizin. Aus dieser Gruppe wurden im Frühjahr 2010 die Teilnehmer der Konferenz – stratifiziert nach Alter, Geschlecht und Schulabschluss – per Zufall ausgewählt.

Am 7. Mai 2010 trafen sich schließlich 19 Frauen und Männer im Alter von 20 bis 76 Jahren zum ersten von insgesamt vier Konferenzwochenenden in Lübeck. Während ihrer Beratungen – insgesamt fast 60 Stunden – wurden die Teilnehmer von einem professionellen Moderator unterstützt. Zusätzlich waren neun ausgewiesene Experten unterschiedlicher Fachrichtungen zur Klärung von Fragen eingeladen. Zum Abschluss der Konferenz präsentierten die Teilnehmer ihr gemeinsam verfasstes Bürgervotum zur Priorisierung der Öffentlichkeit.

Transparente Debatte

Darin empfiehlt die Bürgerkonferenz eine breite, transparente und öffentliche Debatte über Prioritäten in der medizinischen Versorgung. Diese könne die Grundlage für eine sinnvolle und gerechte Verteilung der im Gesundheitswesen immer nur begrenzt verfügbaren Mittel sein. Bürger sollten an der öffentlichen Diskussion aktiv beteiligt werden, damit Entscheidungsprozesse und ihre Grundlagen durchschaubar und nachvollziehbar blieben. So schaffe Priorisierung in der Bevölkerung Vertrauen und Akzeptanz.

Dass insbesondere Politik und Kostenträger bislang versuchen, eine öffentliche Debatte um Priorisierung in der Medizin zu vermeiden, ist für die Teilnehmer der Bürgerkonferenz unter anderem der Verwechslung der Begriffe „Priorisierung“ und „Rationierung“ geschuldet. In ihrer Definition orientieren sich die Lübecker Bürger eng an den Stellungnahmen der Zentralen Ethikkommission bei der Bundesärztekammer zur Priorisierung in der Medizin (2000 und 2007). Priorisierung sei ein gedanklicher Prozess, der Verteilungsentscheidungen vorbereiten und darüber informieren könne, diese aber nicht selbst treffe. Rationierung bezeichne das faktische Vorenthalten notwendiger oder zumindest nützlicher Leistungen aus Knappheitsgründen.

Die Lübecker Bürgerkonferenz greift den Vorschlag der Bundesärztekammer auf, einen Gesundheitsrat einzurichten, der unter Beteiligung relevanter Gruppen über Kriterien zur Priorisierung und über Prioritätenlisten für die medizinische Versorgung beraten soll. Sie reklamiert jedoch zusätzlich einen Platz für Bürger. Die entstehenden Prioritätenlisten sollten öffentlich diskutiert und regelmäßig angepasst werden. Sie sollten kein starres System, sondern eine Orientierung für die unterschiedlichen Akteure im Gesundheitswesen darstellen. Begründete Ausnahmen müssten in konkreten Behandlungssituationen immer möglich sein.

Nach schwedischem Vorbild schlägt die Bürgerkonferenz vor, zunächst Grundwerte festzulegen, die die Basis für weitere Überlegungen darstellen sollen:

  • Menschenwürde, Gleichheit und Solidarität – aus dem „unveräußerlichen Eigenwert“ jedes Menschen folge ein gleichberechtigter Anspruch auf medizinische Versorgung. Nachteile von Menschen, die nicht selbst für ihre Rechte einstehen können, sollen ausgeglichen werden.

  • Bedarf und Effizienz – Mittel für die medizinische Versorgung sollen, abhängig vom Bedarf, möglichst kosteneffizient verteilt werden. Je höher und dringender der Bedarf sei, desto mehr sollten jedoch Kosten-Nutzen-Überlegungen bei Priorisierung zurücktreten.

  • Information, Transparenz und Selbstbestimmung – Bürger und Patienten sollen durch ausreichende Information und Transparenz befähigt werden, ihr Recht auf Selbstbestimmung auszuüben. Dies gelte für den Priorisierungsprozess sowie für die individuelle Behandlungssituation.

Auf dieser Grundlage haben die Teilnehmer Kriterien zur Priorisierung identifiziert. Dies sind zuerst Dringlichkeit und mögliche Lebensbedrohung durch eine Erkrankung. Vor allem bei der Behandlung chronisch Kranker soll aber auch die Lebensqualität berücksichtigt werden. Weiterhin sind Kosteneffizienz, Evidenzlage und Wartezeit zu berücksichtigen. Innovationen und medizinisch-technischer Fortschritt sollen gefördert werden. Künftige Generationen sollen weiterhin von verbesserten Behandlungsmöglichkeiten profitieren können.

Das kalendarische Alter ist nach Meinung der Konferenzteilnehmer kein akzeptables Kriterium für eine Versorgungseinschränkung. Auch eine Benachteiligung von Patienten mit selbst verschuldeten Krankheiten wird abgelehnt. Eine gesunde Lebensführung und Verantwortlichkeit sollen jedoch gefördert werden.

Eine Bevorzugung von Patienten nach ihrer familiären Verantwortung oder Berufsfähigkeit wurde kontrovers diskutiert. Die Fürsorge für Angehörige sei eine wichtige Aufgabe, dürfe aber nicht zu systematischer Benachteiligung von Personen ohne familiäre Verpflichtung führen. Die Möglichkeit, wieder am Berufsleben teilzuhaben, könne als ein Aspekt der Lebensqualität berücksichtigt werden. Aber Patienten, die nicht (mehr) im Beruf stehen, sollen nicht nachrangig behandelt werden.

Die Empfehlungen der Bürgerkonferenz sind den Ergebnissen der schriftlichen Befragung zwar ähnlich, zeigen aber eine differenziertere Bewertung der einzelnen Kriterien. Insbesondere Selbstbestimmung und Fairnessargumente spielten im Votum der Bürgerkonferenz eine größere Rolle als in der standardisierten Befragung. Auch die Akzeptanz des Effizienzkriteriums folgte aus den intensiven Beratungen.

Neue Aspekte eingebracht

In ihrem Votum hat die Lübecker Bürgerkonferenz differenzierte und gut begründete Empfehlungen zum Priorisierungsprozess und zum zugrundeliegenden Kriterienkatalog abgegeben. Viele der bislang unter Fachleuten diskutierten Priorisierungskriterien sind demnach auch bei Laien fest verankert. Die Priorisierungsdebatte wurde aber auch um einige neue Aspekte bereichert. Damit hat die Bürgerkonferenz gezeigt, dass Laien einen substanziellen Beitrag zu dieser Debatte leisten können und wollen. Sie fordert die Politik auf, die Thematik aufzugreifen und unter breiter Beteiligung auch politisch über Priorisierung in der medizinischen Versorgung zu sprechen.

Sabine Stumpf

Prof. Dr. med. Dr. phil. Heiner Raspe

Akademisches Zentrum für Bevölkerungsmedizin und Versorgungsforschung der Universität zu Lübeck

@Bürgervotum im Internet:
www.aerzteblatt.de/11316