Streit um “Gamerszene”: Warum es gefährlich ist, dass Horst Seehofer das Internet nicht versteht

Ein Neonazi erschießt zwei Menschen - und Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) stellt “die Gamerszene” unter Generalverdacht. Die Folge: ein Aufschrei. Ist aber auch blöd, 34 Millionen Menschen gleichzeitig zu verärgern. Denn das Problem ist nicht, dass Nazis auch Gamer sind. Sondern dass sie Nazis sind. Folge 39 der RND-Kolumne von Imre Grimm.

|
Anzeige
Anzeige

Ein Neonazi erschießt vor einer Synagoge zwei Menschen, und wichtige Funktionsträger in Politik und Gesellschaft diskutieren sich wund. Verleger schreiben große Essays, Minister sprechen in Kameras. Aber es geht nicht etwa um das dauerhafte Versagen des Staates beim Schutz seiner Minderheiten oder den eskalierenden rechten Terror, sondern um die Frage, warum Kuwait Airlines immer noch in Deutschland landen darf, welcher Name im Spielerpass von HSV-Stürmer Bakery Jatta steht, ob zu viel Toleranz den Extremismus befeuert und ob der Mörder von Halle möglicherweise zu viel gedaddelt hat. Das lenkt nicht nur massiv vom eigentlichen Problem ab. Das ist ein wiederkehrendes Muster: Vor lauter Angst vor den ganz großen, schmerzhaften Fragen verliert sich die deutsche Politik im Kleinklein, verwechselt Ursache und Wirkung und schiebt den schwarzen Peter im Kreis herum.

Seehofers Timing war miserabel

Bundesinnenminister Horst Seehofer hat in der Sache recht, wenn er sagt, Neonazis nutzten digitale Plattformen, um sich unterhalb des Radars der Sicherheitsbehörden zu vernetzen. Das Timing seiner Schlussfolgerung freilich war miserabel - und verriet die ganze Hilflosigkeit im Umgang mit den digitalen Gärtöpfen des Hasses. Man müsse genau hinsehen, befand der Minister, "ob es noch ein Computerspiel ist, eine Simulation - oder eine verdeckte Planung für einen Anschlag. Und deshalb müssen wir die Gamerszene stärker in den Blick nehmen".

Weiterlesen nach der Anzeige
Anzeige

Die Gamerszene stärker in den Blick nehmen? Das klang nicht nur wie ein fernes Echo der Ballerspieldebatte der Neunzigerjahre. Das klang erschreckend naiv. Was kommt als nächstes? Rückwärts abgespielte Schallplatten enthalten satanische Botschaften? Der Hüftschwung von Elvis sexualisiert die Jugend?

Es ist eine unselige Stellvertreterdebatte, die vom Kern ablenkt. Denn das Problem ist nicht, dass Nazis auch Gamer sind. Sondern dass sie Nazis sind.

Knüppel sind aus Holz, wir müssen den Wald verbieten

Anzeige

Damit da erst gar kein Missverständnis aufkommt: Jawohl, es gibt Antisemitismus, Rechtsradikalismus, Frauenhass und viele andere sehr schlimme Dinge in der "Gamerszene". Genau wie es Antisemitismus, Rechtsradikalismus, Frauenhass und viele andere sehr schlimme Dinge in der Gesellschaft gibt. Man muss darüber reden. Die Welt des Gamings hat eine Affinität zu Aggression und maskuliner Großklappigkeit, die das Spielerische oft hinter sich lässt. Das gilt aber auch für viele andere Bereiche der Gesellschaft, in denen Rechtsradikalismus ebenso andocken kann: bei Fußball-Hooligans, im Heavy Metal, unter Bikern.

Dass Seehofers Aussage ihm um die Ohren flog, wird trotzdem niemanden überraschen. Die Benennung von Symptomen entbindet einen Innenminister nicht davon, die Ursachen wirkungsvoll zu bekämpfen. Genau so gut könnte man sagen: Knüppel sind aus Holz gemacht, wir müssen den Wald verbieten. Wenn Seehofer "die Gamingszene in den Blick nehmen will", dann kann er genau so gut "die Vereinsszene" in den Blick nehmen. Und wenn Hobbygruppen gefährliche Parallelwelten begünstigen - was sagt das über Seehofers persönliche Radikalisierung im privaten Modelleisenbahnkeller? Trainieren Märklin-Fans nicht in Wahrheit Zugüberfälle?

Anzeige

Erschreckend analoges Weltbild

Die "Gamerszene" an sich ist keine homogene Brutstätte für Hass und Hetze, sondern eine komplexe Welt, in der es - wie überall sonst - auch gefährliche Idioten gibt. Solchen Idioten kann man keinen größeren Gefallen tun, als sie verbal in einer gewaltigen Masse von Menschen zu "verstecken", statt sie klar und wirkungsvoll zu identifizieren und zu isolieren. Dahinter steckt ein erschreckend analoges Weltbild, in dem alles, was diese Jungen Leute da im Internet treiben, irgendwie suspekt ist.

Es ist kein Wunder, wenn sich Deutschland mit den kulturellen, soziologischen und politischen Risiken und Nebenwirkungen der Digitalisierung so schwer tut, wenn seine politische Führung gerade die SMS für sich zu entdecken scheint. Das Problem ist nicht, dass Menschen digitale Dinge tun. Das Problem ist, dass deutsche Sicherheitsbehörden im Jahr 2019 offenbar nicht die geringste Ahnung haben, was Twitch, Steam und Discord sind, wie die Gamingwelt genau funktioniert, was Reddit oder 4chan sind, welche anonymen Schlupfwinkel problematisch sind und wo es Schnittmengen zwischen demokratiefernen Szenen gibt. Stattdessen prüft man Vereinsverbote. Als genüge es, ein Siegel auf eine Tür zu kleben.

"Unserer Gesellschaft fehlt das Vokabular"

Wie klagte gerade die frühere Piraten-Politikerin Marina Weisband bei Twitter: "Ich weiß nicht, wie ich in Talkshows über Radikalisierung reden kann, wenn ich Memes erklären muss, wenn ich Boards erklären muss, wenn ich Streaming erklären muss. Unserer Gesellschaft fehlt das Vokabular, um über aktuellen Terror zu sprechen."

Anzeige

Die Hälfte aller erwachsenen Deutschen spielt mindestens "gelegentlich" Videospiele. Das Durchschnittsalter dieser 34 Millionen Spieler liegt bei 36 Jahren. Natürlich ist es wehleidig, wenn sich jetzt "Minecraft"-Fans massenhaft als unverstandene Seehofer-Opfer stilisieren und über den digitalen Analphabetismus der Politik beömmeln. Aber die allgemeine Unwissenheit hat die Sphäre des Putzigen längst verlassen. Sie ist gefährlich. Es wird höchste Zeit zu verstehen, dass dieses "Neuland"-Ding kein exotisches Nerdparadies ist. Das Digitale ist das Analoge. Und umgekehrt.

34 Millionen Gamer als Radikalisierungshelfer?

Es muss Seehofers Kollegen dann schnell der Gedanke gekommen sein, dass es keine gute Idee ist, 34 Millionen Wähler über einen Kamm als potenzielle Radikalisierungshelfer zu brandmarken. Prompt gab's am Montag die Rolle rückwärts. Bayerns Innenminister Joachim Herrmann beeilte sich zu versichern: "Wir haben keinerlei Erkenntnisse, dass die Gamerszene stärker rechtsradikal unterwandert wäre, als wir das in unserer Gesamtgesellschaft feststellen." Und CSU-Chef Markus Söder versicherte, in der Gamingszene machten "viele, viele junge Leuten großartige Sachen", und sie sei ja auch "ein wichtiger Wirtschaftszweig". Wähler und Wirtschaftskraft. Da ist Söder verbal schnell zur Stelle.

Die CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer sprach nach dem Doppelmord von Halle von einem "Alarmzeichen". Seehofer will Computerspieler ins Visier nehmen. Es wird höchste Zeit, dass sich deutsche Politiker mit etwas mehr Empathie und Sachverstand ausstatten, bevor sie öffentlich in eine Kamera sprechen. Denn Scheindebatten mögen zwar kurzfristig vom eigenen Versagen ablenken. Den Rechtextremismus aber dämmen sie nicht ein.