Die US-Politikwissenschaftlerin Kelly M. Greenhill sagt, dass Massenmigration in der Vergangenheit immer wieder instrumentalisiert worden sei. Dabei würden Flüchtlinge als Druckmittel gegen politische Gegner eingesetzt
Cicero: Frau Greenhill, Sie haben ein Buch geschrieben mit dem Titel „Weapons of Mass Migration“, das sich mit der strategischen Wirkung von Wanderungsströmen befasst. Was genau sind diese „Massenmigrations-Waffen“?
Kelly M. Greenhill: Das sind gewissermaßen Waffen nichtmilitärischer Art, die von staatlichen wie auch nichtstaatlichen Konfliktparteien genutzt werden. Konkret geht es um die massenhafte Bewegung von Menschen über Grenzen hinweg, die dazu genutzt werden, um den Gegner unter Druck zu setzen oder um ihm Konzessionen abzuringen. Das kann sich auf Konzessionen politischer, militärischer oder wirtschaftlicher Art beziehen. Es handelt sich um ein häufig übersehenes Phänomen, obwohl es sich praktisch auf offener Bühne abspielt.
Können Sie Beispiele nennen?
Der damalige libysche Staatschef Muammar al-Gaddafi zum Beispiel hat vom Jahr 2004 an mehrere Male Sanktionen gegen sein Land abmildern können, indem er sich der EU als Grenzwächter gegen afrikanische Migranten anbot und sie davon abhielt, über das Mittelmeer nach Europa zu kommen. Insofern hat Gaddafi den schon bestehenden Migrationsdruck zu seinen Gunsten instrumentalisiert. Vor zwei Wochen erst hat übrigens die selbsternannte islamistische Gegenregierung in Tripolis damit gedroht, sie werde hunderttausende weitere Migranten aus Afrika auf Booten über das Mittelmeer schicken, sollte die EU dieser libyschen Gegenregierung die Anerkennung verweigern.
Seit wann kennt man Massenmigration als politisches oder militärisches Druckmittel?
Vielleicht schon seit biblischen Zeiten. Meine Untersuchungen gehen allerdings nicht weiter zurück als bis ins Jahr 1951, als die Genfer Flüchtlingskonvention in Kraft trat. Aber schon für diesen verhältnismäßig kurzen Zeitabschnitt habe ich sehr viele Fälle identifiziert, in denen Migration zu strategischen Zwecken ausgenutzt wurde. Das betrifft Länder wie Uganda, wo Idi Amin Anfang der siebziger Jahre damit drohte, abertausende indischstämmige Briten des Landes zu verweisen, um Großbritannien militärische Unterstützung abzuringen. Aber auch Konrad Adenauer hat in den fünfziger Jahren den Zustrom von Menschen aus der DDR dazu genutzt, um mehr politische und wirtschaftliche Hilfe von den Vereinigten Staaten zu erhalten.
Wie geht ein Regime üblicherweise vor, wenn es Massenmigration als Waffe einsetzen will?
Unterschiedliche Szenarien sind möglich. Es gibt Fälle, da wollen sehr viele Menschen freiwillig aus einem Land ausreisen, und ihre Regierung nutzt das aus, indem sie damit droht, die Schleusen zu öffnen. Fidel Castro hat das mehrere Male getan, um die USA unter Druck zu setzen und wirtschaftliche Erleichterungen für Kuba heraus zu handeln. Ein Regime kann aber auch ethnische Säuberungen betreiben oder zumindest Teile der eigenen Bevölkerung stark unter Druck setzen und somit aktiv Flüchtlingsströme in Gang setzen. Eine andere Methode hat dagegen Erich Honecker Mitte der achtziger Jahre angewendet: Er hat damals die DDR als Transitland für tamilische Flüchtlinge instrumentalisiert, die alle nach Westdeutschland wollten. Im Gegenzug für einen Kredit der Bundesrepublik hat die DDR dann ein Durchreisestopp für die Tamilen verhängt.
Wie sehen Sie die derzeitige Situation mit den Flüchtlingen aus Syrien? Werden die auch instrumentalisiert?
Allein durch die Tatsache, dass sich um die zwei Millionen syrische Flüchtlinge auf türkischem Staatsgebiet befinden, hat die Türkei natürlich ein großes Druckmittel in der Hand. Und die Regierung wird dieses Potential gegenüber den Europäern natürlich auch geltend machen: Themen wie Finanzhilfe, Reiseerleichterungen oder Beitrittsverhandlungen stehen deshalb ja auch auf der Agenda. Allerdings wird man das den Türken kaum zum Vorwurf machen können, denn sie haben die Situation ja nicht ausgelöst und sind selbst betroffen.
Wenn Massenmigration als Waffe eingesetzt werden soll, setzt das ja voraus, dass einem anderen Land durch den Zustrom von Menschen Schaden zugefügt wird. Ist das notwendigerweise der Fall?
Nicht unbedingt. Natürlich spielen Zahlen eine Rolle. Es kommt aber auch sehr darauf an, welches Bild eine aufnehmende Gesellschaft von den Migranten hat. Ein Zielland kann also zum einen durch schiere Massenzuwanderung destabilisiert werden, indem es an die Grenzen seiner Aufnahmekapazität gebracht wird. Es kann aber auch destabilisiert werden, wenn die Bevölkerung des Ziellandes mehrheitlich kein Interesse an einer Integration der Zuwanderer hat. In Deutschland scheint derzeit die zweite Variante einzutreffen.
Was kann ein Land tun, wenn es mit Massenmigration unter Druck gesetzt wird?
Da gibt es natürlich viele Möglichkeiten. Es kommt darauf an, ob man den Migranten helfen will. Oder ob man einer Destabilisierung der eigenen Gesellschaft entgegenwirken will.
In Deutschland versucht man derzeit beides gleichzeitig.
Ich glaube, dann kommt es darauf an, das gesellschaftliche Narrativ über die Flüchtlinge zu beeinflussen. Man muss die Bürger davon überzeugen, dass Flüchtlinge auf lange Sicht einen ökonomischen Nutzen stiften oder zumindest die öffentlichen Haushalte nicht belasten. Die Erzählung muss ins positive gewendet werden. Und natürlich wird eine betroffene Regierung sich dann auch auf Zugeständnisse gegenüber den Herkunfts- oder Transitländern einlassen müssen. Was Deutschland angeht, muss es außerdem einen Lastenausgleich innerhalb der EU anstreben.
Wenn Sie die Beraterin der Bundeskanzlerin wären, was würden Sie ihr in dieser Situation empfehlen?
O je, das würde aber mehr als ein paar Minuten in Anspruch nehmen. Außerdem fehlen mir natürlich wichtige Hintergrundinformationen. Das kann ich also nicht so einfach beantworten. Es ist aber klar, dass Merkel in einer schwierigen Situation ist, bei der sie die historische Verpflichtung Deutschlands genauso berücksichtigen muss wie die Interessen ihres Landes und die ihrer Verbündeten. Eine Patentlösung sehe ich jedenfalls nicht. Klar ist aber auch, dass man durch Signale offener Grenzen und unbeschränkter Aufnahmebereitschaft auch solche Menschen mobilisiert, die normalerweise in ihren Herkunftsländern geblieben wären.
Haben Sie eigentlich den Eindruck, dass Russland mit seinem Eingreifen in Syrien absichtlich neue Flüchtlingsströme generiert, um die EU unter Druck zu setzen?
Ich habe diese Behauptung zumindest mehrere Male gehört. Aber ich verfüge über keine konkreten Hinweise, die eine solche These untermauern würden. Allerdings weiß ich mit Bestimmtheit, dass Russland in der Vergangenheit Massenmigration durchaus schon als Waffe eingesetzt hat.
Die Fragen stellte Alexander Marguier.
Kelly M. Greenhill ist Professorin für Politikwissenschaften und internationale Beziehungen an der Tufts University und Research Fellow in Harvard.
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