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Flüchtlinge EU-Staaten lassen Merkel mit Kontingentplan auflaufen

Kanzlerin Merkel will Flüchtlinge direkt aus der Türkei in EU-Länder umsiedeln. Nach zwei Wochen Verhandlungen ist klar, kaum ein Staat will bei dem Plan mitmachen. Keine gute Nachricht zum Start des CDU-Parteitags.
Merkel beim EU-Türkei-Gipfel: Kaum Unterstützung, wenn es um die Verteilung von Flüchtlingen geht

Merkel beim EU-Türkei-Gipfel: Kaum Unterstützung, wenn es um die Verteilung von Flüchtlingen geht

Foto: Stephanie Lecocq/ dpa

Der Termin immerhin steht. Bevor am Donnerstag die Staats- und Regierungschefs der EU im Brüsseler Ratsgebäude zu ihrem Gipfel zusammenkommen, trifft sich ein kleiner Kreis in der Ständigen Vertretung Österreichs in einigen hundert Meter Entfernung. Um 11 Uhr geht es los. Die Presse soll, bitte schön, draußen bleiben.

Auf der Tagesordnung steht ein Thema, mit dem Angela Merkel die Flüchtlingskrise endlich in den Griff bekommen und ihre Kanzlerschaft retten will: die freiwillige Verteilung von Flüchtlingskontingenten aus der Türkei. Merkel könnte positive Signale dringend brauchen. Am Sonntagabend beginnt der CDU-Parteitag in Karlsruhe. Der Streit, ob Deutschland feste Obergrenzen für Flüchtlinge ("Kontingente") braucht, stellt alle anderen Themen in den Schatten.

Zum ersten Mal hat Merkel die Kontingent-Idee im Kreis einiger EU-Mitglieder vor dem gemeinsamen Rat der EU mit der Türkei vor zwei Wochen getestet. Im Kern geht es um ein Geschäft, das Kritiker schmutzig nennen: Die Türkei hält die Flüchtlinge auf ihrem Weg nach Europa auf. Im Gegenzug bekommt sie von den Europäern Geld, um die Versorgung der Flüchtlinge zu verbessern, die vor allem aus Syrien in das Land kommen. Zudem bieten die Europäer den Türken an, eine gewisse Zahl von Flüchtlingen direkt aus der Türkei umzusiedeln ("Resettlement").

Doch Merkels Plan kommt kaum voran. Nicht nur um die Frage, wer die drei Milliarden Euro für die Türkei bezahlt, sondern auch um die Kontingente wird seit Wochen gerungen. Seit zwei Wochen tagen in Brüssel immer wieder die Verhandlungsführer der 28 Mitgliedstaaten. Auch Vertreter der Nicht-EU-Mitglieder Schweiz und Norwegen sowie Experten des Uno-Flüchtlingshilfswerks UNHCR sind dabei.

"Der Relocation-Prozess ist tot"

Doch Frankreich machte schon am Freitag vor einer Woche klar, dass es neben der bereits beschlossenen Umsiedlung von 160.000 Flüchtlingen keine weiteren Migranten aufnehmen werde. Ein Draufsatteln sei nicht drin, auch wenn Merkels Plan nun auf Freiwilligkeit setze, hieß es. Nach dem Wahlsieg des Front National bei den Regionalwahlen dürfte die Bereitschaft der französischen Regierung nicht gewachsen sein. Und Schweden, bisher einer der wenigen engen Partner der Deutschen, hat inzwischen darum gebeten, Migranten abgeben zu können, anstatt neue aufzunehmen.

Viele EU-Mitglieder betonen zudem, dass schon die bisher gegen den Widerstand von vier osteuropäischen Ländern beschlossene Verteilung von 160.000 Flüchtlingen aus Italien und Griechenland ("Relocation") nicht funktioniere. Gerade einmal 400 Flüchtlinge seien verteilt worden, beinahe genauso viel Politprominenz habe am Flugsteig gestanden, um sie zu verabschieden. "Der Relocation-Prozess ist tot", sagt ein erfahrener EU-Mann resigniert, der den Plan ursprünglich mit ausgehandelt hat.

Eine Idee, die der Luxemburger Außenminister Jean Asselborn ins Spiel gebracht hat, sieht nun vor, einen Teil der 160.000 Flüchtlinge "umzuwidmen". Statt sie aus Italien und Griechenland zu verteilen, sollen sie nun direkt aus der Türkei in andere Länder gebracht werden. Die Idee hat Charme, stößt aber auf rechtliche Schwierigkeiten. Immerhin ist der Verteilmechanismus für die 160.000 Migranten beschlossen und europäisches Gesetz. Außerdem brauchen vor allem die Griechen tatsächlich Hilfe, um mit dem Flüchtlingsandrang fertig zu werden.

Die EU-Kommission will nun, wie von Merkel und anderen Mitgliedern beauftragt, in der kommenden Woche neben den Plänen für einen gemeinsamen Grenzschutz ein Maßnahmenpaket vorschlagen. Es kursiert in Brüssel bereits unter dem Kürzel "HAP": Humanitarian Assistance Package. Darin wird dargelegt, nach welchen Kriterien jene Flüchtlinge ausgewählt werden sollen, die von der Türkei nach Europa kommen. Federführend dabei soll der UNHCR sein. "Wir dürfen kein Chaos in den Flüchtlingslagern veranstalten", sagt ein hochrangiger EU-Diplomat.

Merkel und die "Koalition der Unwilligen"

Bedingung ist, dass die Türken ihren Teil des Deals einhalten und die Zahl der Flüchtlinge aus der Türkei deutlich zurückgeht. Dies war vor dem EU-Türkei-Gipfel Ende November auch der Fall, in letzter Zeit verzeichnen EU-Experten aber erneut steigende Zahlen. Vergangene Woche waren es wieder etwa 16.000 Flüchtlinge. Ob dies mit dem Wetter oder mit dem türkischen Grenzschutz zusammenhängt, vermag in Brüssel derzeit aber niemand verlässlich zu sagen.

Angedacht ist, dass die Pläne auch für Jordanien und den Libanon gelten sollen, in denen ebenfalls Hunderttausende Flüchtlinge aus Syrien leben. Sie könnten über den bereits beschlossenen Resettlement-Mechanismus für 22.000 Flüchtlinge verteilt werden. Auf diesen haben sich die EU-Staaten bereits geeinigt und ist nicht auf ein Land beschränkt.

Die ursprünglich von der EU-Kommission gestreute Zahl eines Kontingents von 400.000 Flüchtlingen war in Brüssel und Berlin schon immer als utopisch eingestuft worden. Gut möglich, dass der Kommissionsvorschlag nun überhaupt keine Zahl nennen wird, um Merkel die Gespräche mit ihrer "Koalition der Unwilligen" nicht noch schwerer zu machen.

Wenn, dann könne es um etwa 20.000 bis 70.000 Flüchtlinge im Jahr gehen, heißt es an gut informierter Stelle. Eine höhere Zahl von Flüchtlingen, so haben Experten des UNHCR in Brüssel klar gemacht, könnten sie gar nicht bewältigen.

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Zusammengefasst: Mit einer "Koalition der Willigen" wollte Kanzlerin Angela Merkel Flüchtlinge direkt aus der Türkei in EU-Länder umsiedeln. Doch nach Verhandlungen kann von einer Koalition keine Rede sein - selbst Schweden zieht nicht mit.