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Syrische Flüchlinge in der Türkei: Aus dem Krieg auf die Straße

Foto: BULENT KILIC/ AFP

Syrische Flüchtlinge in der Türkei Fluch der guten Tat

Jahrelang nahm die Türkei Flüchtlinge aus Syrien auf, knapp eineinhalb Millionen. Weltweit wurde das Land dafür gelobt. Doch immer öfter schlägt die Gastfreundschaft nun in Feindseligkeit um.

Samir hat seinen Hocker auf dem Fußweg aufgeklappt, einen Eimer mit Eisblöcken draufgestellt und Halbliterflaschen Mineralwasser reingelegt. "Nur fünfzig Kurus!", preist er seine Ware an. Überall sonst rund um den Istanbuler Galata-Turm kostet eine Flasche doppelt so viel.

Samir ist sieben Jahre alt, er trägt ein fleckiges Hemd mit Ärmeln, die ihm über die Hände reichen, und eine zerschlissene, ebenfalls zu große Jeans. Er ist barfuß, die Sohlen sind schwarz von Dreck. Mehr als den Satz, wie viel das Wasser kostet, kann er auf Türkisch nicht sagen. Seine Muttersprache ist Arabisch, er ist ein syrisches Kind. Zusammen mit seinen drei Geschwistern, den Eltern und einer Großmutter ist er aus seiner Heimatstadt Aleppo geflüchtet und nun mit der gesamten Familie auf der Straße in Istanbul gelandet.

Ein paar Minuten später ist Samir in eine Schlägerei verwickelt. Ein türkischer Junge, etwas älter als Samir, will ihn vertreiben. "Hau ab, hier ist mein Platz!", brüllt er ihn an. Samir packt seine Sachen und zieht weiter. Jetzt verkauft hier der andere Junge Wasser, zum ortsüblichen Preis.

Entwicklung in Syrien falsch eingeschätzt

Seit Beginn des Bürgerkriegs in Syrien im Frühjahr 2011 nimmt die Türkei Flüchtlinge aus dem Nachbarland auf, nach offiziellen Angaben bislang mehr als 1,4 Millionen, vermutlich sind es deutlich mehr, denn nicht alle haben sich bei den Behörden gemeldet. Und nur etwa 200.000 leben in den Flüchtlingscamps, die meisten haben sich in viel zu kleinen Wohnungen eingemietet oder leben, wie Samir und seine Familie, in Parks und auf der Straße.

Kein anderer Staat hat so bereitwillig Menschen aus Syrien aufgenommen wie die Türkei, hat Zeltstädte entlang der Grenze errichtet und Flüchtlingsunterkünfte mit Gebetsräumen und Familienzimmern in mehreren Städten gebaut. "Unsere Türen stehen diesen Menschen offen", sagte Premierminister Recep Tayyip Erdogan kürzlich bei einem Wahlkampfauftritt, am 10. August tritt er bei der Präsidentschaftswahl an. "Niemand, der um sein Leben fürchten muss, wird zurückgeschickt." Für diese Politik wurde Ankara weltweit gelobt. Er habe "großen Respekt" vor den "enormen Anstrengungen" der Türkei, sagte zum Beispiel Bundespräsident Joachim Gauck im Juni.

Doch das Beispiel von der Prügelei zwischen den Jungen zeigt, dass das Zusammenleben längst nicht mehr so reibungslos klappt. Die wachsende Gewalt und die Spannungen sind Folge von falschen außenpolitischen Annahmen und einer planlosen Flüchtlingspolitik. Denn die Regierung Erdogan setzte 2011 auf einen raschen Sturz des syrischen Präsidenten Baschar al-Assad. Doch der sitzt immer noch fest im Sattel und ließ sich gerade für weitere sieben Jahre vereidigen.

Bis zu 300.000 syrische Flüchtlinge in Istanbul

"Anders als erwartet bleiben die Flüchtlinge daher langfristig", sagt Sema Genel von der Menschenrechtsorganisation Support to Life in Istanbul. "Und wegen der andauernden Gewalt kommen immer mehr Menschen. Viele richten sich nun auf ein Leben in der Türkei ein, sie haben die Hoffnung auf einen Frieden in Syrien und auf eine Rückkehr dorthin aufgegeben." Zudem seien bei vielen die Ersparnisse aufgebraucht. "Jetzt müssen sie arbeiten."

Lebten die Flüchtlinge anfangs noch zurückgezogen und entlang der Grenze, sind die meisten inzwischen weitergezogen in andere Landesteile. In Städten wie Istanbul, Ankara oder Izmir sind sie unübersehbar: Syrische Familien sitzen auf den Fußwegen, betteln oder verkaufen irgendetwas. Allein in Istanbul sollen es bis zu 300.000 Menschen sein, heißt es aus dem türkischen Innenministerium.

"Wir müssen versuchen, uns irgendwie durchzuschlagen", sagt Samirs Vater Bassam, der ein paar Straßen weiter ebenfalls Wasser verkauft. Samir hat sich zu ihm gesellt. Er wirkt jetzt eingeschüchtert und versteckt sich hinter dem Rücken seines Vaters.

Viele Syrer verdingen sich ohne Arbeitserlaubnis als Erntehelfer, arbeiten in Fabriken oder auf Baustellen - meist für deutlich weniger als den türkischen Mindestlohn, der bei 1000 Lira im Monat, etwa 350 Euro, liegt. Um davon leben zu können, muss die ganze Familie arbeiten, einschließlich der Kinder. Den Einheimischen ist das nicht recht.

Sorge vor Extremisten unter den Flüchtlingen

Wohlhabende Syrer eröffnen hingegen in türkischen Städten Geschäfte, sorgen also für Konkurrenz, mieten Wohnungen in guten Lagen und treiben damit die Mietpreise nach oben. Auch das passt vielen Einheimischen nicht.

Den Syrern in der Türkei schlägt deshalb immer häufiger Ablehnung oder gar Hass entgegen. In mehreren Städten demonstrierten in den vergangenen Wochen Einheimische gegen die Zugezogenen. In Kahramanmaras, im Südosten, kam es zu Übergriffen auf syrische Ladenbesitzer. Rufe wie "Syrer raus!" und "Die Türkei gehört uns!" sind keine Seltenheit mehr.

"Diese Leute nehmen uns die Jobs weg", sagt ein Süßwarenhändler in der Istiklal Caddesi, der Freiheitsstraße, der größten Einkaufsstraße von Istanbul. "Und die Bettler hocken vor unseren Läden und belästigen unsere Kundschaft." Manche würden auch stehlen und die Kriminalitätsrate nach oben treiben. Mitleid habe er aber schon. "Die haben ja nichts mehr." Aber mit wachsender Zahl würden sie zum Problem, findet er.

Sorge bereitet der türkischen Regierung zudem, dass sich immer häufiger Extremisten unter die Flüchtlinge mischen. "Wir wissen nicht, zu welchem politischen Lager Menschen gehören, die bei uns Schutz suchen", sagt ein Beamter im türkischen Innenministerium. "Wir können nicht ausschließen, dass darunter auch Dschihadisten sind, gehen aber davon aus, dass die meisten Flüchtlinge friedlich sind."

Um die Spannungen zu mildern, hat die Regierung die Polizei im ganzen Land angewiesen, die syrischen Flüchtlinge von der Straße zu holen und sie in die Camps zu bringen. So sollen wenigstens die Bettler aus den Innenstädten verschwinden.

"Die Angriffe gegen Flüchtlinge, die wir in den vergangenen Wochen erlebt haben, sind alarmierend", sagt Piril Ercoban von der türkischen Vereinigung für Solidarität mit Flüchtlingen der "New York Times". Die Regierung müsse etwas dagegen tun, was aber nicht bedeute, die Flüchtlinge aus den Städten zu verbannen und sie in Lager zu stecken. "Diese Leute in Camps zu zwingen und sie vom Rest der Gesellschaft zu isolieren, widerspricht den Menschenrechten. Es mag hart klingen, aber solche Aktionen führen dazu, dass die Camps aussehen wie Konzentrationslager."