WELTGo!
Journalismus neu erleben und produktiver werden
Ihr Assistent Journalismus neu erleben und produktiver werden
WELTGO! ENTDECKEN
  1. Home
  2. Politik
  3. Ausland
  4. Türkei : 18 Millionen Stimmzettel mehr als Wahlberechtigte

Ausland Türkei

18 Millionen Stimmzettel mehr als Wahlberechtigte

Ministerpräsident Erdogan, hier mit seiner Frau auf einer Versammlung in Istanbul, ist klarer Favorit bei der ersten direkten Präsidentschaftswahl in der Türkei. Experten befürchten aber mögliche Wahlfälschung. Ministerpräsident Erdogan, hier mit seiner Frau auf einer Versammlung in Istanbul, ist klarer Favorit bei der ersten direkten Präsidentschaftswahl in der Türkei. Experten befürchten aber mögliche Wahlfälschung.
Ministerpräsident Erdogan, hier mit seiner Frau auf einer Versammlung in Istanbul, ist klarer Favorit bei der ersten direkten Präsidentschaftswahl in der Türkei. Experten befürchte...n aber Wahlfälschung.
Quelle: AP
Der türkische Ministerpräsident Erdogan will der erste direkt gewählte Volkspräsident werden. Zwar ist er der Favorit, aber Experten befürchten Wahlbetrug – falls er nicht genug Stimmen bekommt.

Am 10. August wählt die Türkei erstmals in direkter Wahl ihr Staatsoberhaupt. Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan will unbedingt dieser erste historische „Volkspräsident“ werden. Ein zweiter Staatsgründer nach Mustafa Kemal Atatürk, der die moderne Türkei schuf. Auch Erdogan redet ständig davon, dass er eine „neue Türkei“ schaffen will.

Er will als Präsident entgegen den Bestimmungen der jetzigen Verfassung aktiv regieren, wofür er zunächst ein „Mandat des Volkes“ braucht, also einen sehr hohen Sieg, und dann im nächsten Jahr einen weiteren sehr hohen Wahlsieg für seine Partei bei den dann anstehenden Parlamentswahlen. Dann erst kann er die Verfassung schreiben lassen, die er für seine Pläne braucht.

Was aber, wenn die Wähler ihm diese hohen Wahlsiege nicht freiwillig geben? Würde die AKP die Ergebnisse manipulieren wollen, und ginge das überhaupt? Die Gefahr jedenfalls besteht nach Meinung mehrerer westlicher Experten, und sie scheint so real, dass erstmals internationale Wahlbeobachter der OSZE sowie der PACE (Parlamentarische Versammlung des Europarates) die Wahl beobachten werden.

Diese Beobachter runzeln bereits die Stirn: 18 Millionen Stimmzettel mehr als Wahlberechtigte, total einseitige Berichterstattung der überwiegend AKP-treuen Medien, zehnmal mehr offizielles Geld für Erdogans Wahlkampf als für den der Gegner, Nutzung staatlicher Ressourcen in Erdogans Wahlkampf. Vieles davon ist nicht fair. Aber droht regelrechte Wahlfälschung? Zur Verdeutlichung: Erdogan, der angekündigt hat, er werde auf jeden Fall in der ersten Runde gewinnen, braucht dafür 50 Prozent und eine der abgegebenen Stimmen. Bei den letzten Kommunalwahlen im März errang die AKP rund 43 Prozent der Stimmen. Er braucht viel mehr als das.

Westliche Experten vermuten Wahlfälschung

Die AKP hoffte auf Rückenwind durch die erstmals mögliche Stimmabgabe für Türken im Ausland. Doch die Wahlbeteiligung blieb unter zehn Prozent. Von dort wird der große Schub also nicht kommen. Zudem gab es einige Unannehmlichkeiten in den letzten Wochen. Dengir Mir Mehmet Firat, ein AKP-Mitbegründer und der Mann, der für die AKP die Kurden ansprach, wechselte überraschend die Seiten und hilft nun dem kurdischen Präsidentschaftskandidaten Selahattin Demirtas. Das könnte ihm ein/zwei Prozent zusätzlich bringen und die AKP ebenso viel kosten.

Die Umfragen lassen jeden Wahlbetrug dennoch als überflüssig erscheinen. Fast alle sehen Erdogan bei mehr als 50 Prozent in der ersten Runde. Demirtas ist als Herausforderer begrenzt auf das Potenzial kurdischer Wähler, viel mehr als acht Prozent kann dabei eigentlich nicht herauskommen, mit Firats Schützenhilfe vielleicht neun.

Hauptgegner Erdogans ist Ekmeleddin Ihsanoglu, der Kandidat der beiden größten Oppositionsparteien CHP und MHP. Sein Name ist so kompliziert, dass seine Strategen es mit geistreichen Eselsbrücken auf „Ekmek“ zu verkürzen suchen (= „Brot“). Niemand in der Türkei kannte ihn vorher, er war Chef der Organisation Islamischer Staaten. Niemand mag ihn unter den Wählern der beiden Parteien, die ihn ins Rennen geschickt haben. Sie entschieden sich für ihn, weil er als frommer Muslim Erdogan-Wähler ansprechen könnte, aber die säkularen Anhänger der Opposition mögen ihn gerade deswegen nicht.

Und dennoch. Das respektierte Meinungsforschungsinstitut Metropol kam zu anderen Zahlen – 42 Prozent für Erdogan, wie bei den Kommunalwahlen – und bezichtigt die Konkurrenz methodischer Fehler. Zudem könne es für Ihsanoglu nur besser werden, je mehr Wähler von ihm hören – vor einem Monat hatten nur 32 Prozent der Befragten überhaupt von ihm gehört, und es gebe einen klaren Trend bei ihm – je mehr Wähler seinen Namen erkennen, desto höher seine Werte.

Hier kommt die Furcht vor Wahlfälschung ins Spiel. Erdogan kann es sich einfach nicht leisten, hinter den geweckten Erwartungen zurückzubleiben. Westliche Experten haben den fundierten Verdacht geäußert, die AKP habe bereits bei den vergangenen Kommunalwahlen mit Mechanismen experimentiert, wie sie Wahlergebnisse diskret manipulieren könnte. Möglicherweise sei damit eine Niederlage in der Hauptstadt Ankara verhindert worden.

Ungültige Stimmen in umkämpften Städten

Anzeige

Wie aber geht das? Entgegen dem langjährigen Trend zu immer weniger ungültigen Stimmen verdoppelte sich deren Zahl plötzlich bei der letzten Kommunalwahl auf mehr als vier Prozent. Die ungültigen Stimmen waren gehäuft in Städten, die hart umkämpft waren – es gab weniger ungültige Stimmen in Wahllokalen, wo das Endergebnis sowieso voraussehbar war.

Sie kamen außerdem konzentriert vor in Wahlkreisen, in denen normalerweise die Opposition dominierte. Eine weitere Auffälligkeit: Überproportional viele ungültige Stimmen gab es in den größten Wahllokalen der umkämpftesten Wahlkreise. So würde es logischerweise jemand machen, der effektiv manipulieren will: Mit möglichst wenig Einsatz möglichst viel erreichen. Die AKP beherrscht mittlerweile die türkische Justiz – Appelle der Opposition, die vielen Regelwidrigkeiten bei der Wahl in Ankara zu überprüfen, wurden durch alle Instanzen abgeschmettert.

Es gibt auch europäische Experten, die die Vorwürfe für unbegründet halten. Die ungültigen Stimmen in Oppositionsbezirken hätten daran gelegen, dass die Oppositionsparteien weniger Aufklärungsarbeit bei den Wählern betrieben hätten als die AKP, sagt beispielsweise Ville Forsman vom Raoul-Wallenberg-Institut in Istanbul. Und die insgesamt mehr als verdoppelte Anzahl der ungültigen Stimmen liege daran, dass eine neue, komplizierte Wahlprozedur angewendet wurde.

An welchen Punkten könnten Wahlfälscher ansetzen? Die Opposition macht sich zuallererst Sorgen über die angeblich 18 Millionen Extrastimmzettel und dass diese missbraucht werden könnten. Dann kommt die Auszählung. Die Stimmen der Auslandstürken beispielsweise werden nicht dort gezählt, wo sie abgegeben wurden, etwa in Deutschland. Sie wurden in die Türkei geflogen und werden dann dort ausgezählt.

Zivile Wahlbeobachter fotografierten bei den letzten Wahlen die Auszählungsprotokolle in den einzelnen Wahllokalen und werden das auch diesmal wohl wieder tun. Beobachter aller Parteien kontrollieren die Auszählung. Freilich kam es bei den Kommunalwahlen vor, dass Wahlbeobachter von der Polizei daran gehindert wurden, die Wahllokale zu betreten.

AKP will Manipulationsvorwürfe loswerden

Die Ergebnisse der örtlichen Auszählungen werden in Ankara zentral in Computer eingegeben. Bei dieser Eingabe der Endergebnisse kam es bei den Kommunalwahlen vereinzelt zu erstaunlichen Diskrepanzen mit den fotografierten Angaben aus den Wahllokalen. Zudem wurden Urnen regelwidrig zur Auszählung zugelassen, die nicht mit dem Stempel und der Unterschrift des Wahlaufsehers vom Ursprungsort versehen waren. Insgesamt räumen aber auch die Kritiker ein, dass das landesweite Gesamtergebnis zugunsten der AKP nicht infrage steht, lediglich in Ankara könnte es einen Unterschied gemacht haben.

Unter den Augen der OSZE-Monitore dürfte es freilich schwer werden, allzu massiv zu schummeln. Sie wurden von der Regierung eingeladen, und das deutet darauf hin, dass die AKP die Manipulationsvorwürfe loswerden will. Andernfalls drohen schwere Konsequenzen, wenn die EU im Herbst darüber berät, wie es mit dem türkischen Beitrittsprozess weitergehen soll.

Anzeige

Andererseits: Unter Erdogan hat die Türkei wiederholt bewiesen, dass man wenig Gedanken daran verschwendet, wie die EU reagieren könnte, wenn es darum geht, die Macht der AKP zu retten. Im Zuge der Proteste gegen Erdogan seit dem vergangenen Sommer und dann der schweren Korruptionsvorwürfe gegen seine Regierung letzten Dezember ließ er die Ermittler verhaften, die Meinungs- und Versammlungsfreiheit einschränken und die Grundlagen der Gewaltenteilung einreißen.

Damit verstieß die Türkei klar gegen die „Kopenhagener Kriterien“, also die Bedingungen für einen EU-Beitritt. Begrenzte Wahlmanipulation wäre da durchaus denkbar, solange sie sich in so engen Grenzen hält, dass die EU nicht zu mehr als warnenden Worten gezwungen wird.

Mehr aus dem Web
Neues aus der Redaktion
Auch interessant
Mehr zum Thema