Einsatz der Bundeswehr Karlsruher Unschärfe
Berlin - Es ist eine ungewöhnliche Maßnahme. Seit Bestehen des höchsten deutschen Gerichts 1951 ist es dazu bislang in nur vier Fällen gekommen. Zum fünften Mal in ihrer Geschichte trafen sich in diesem Jahr acht Richter des Ersten und die acht Richter des Zweiten Senats gemeinsam zur Plenumssitzung, um über ein schwieriges, seit Jahren kontrovers diskutiertes Thema zu entscheiden: Wie weit darf der Einsatz der Bundeswehr im Inneren gehen?
Der Grund war ein Riss quer durch das Bundesverfassungsgericht. Der erste Senat wollte bei seiner bislang restriktiven Haltung zum Einsatz bleiben: Dass der Einsatz der Bundeswehr mit militärischen Mitteln in Friedenszeiten untersagt ist. Der Zweite Senat wollte sich offener zeigen und dort, wo die Bundeswehr zur Abwehr von Katastrophen handeln darf, ihr prinzipiell auch den Waffeneinsatz ermöglichen. Er musste über eine Normenkontrollklage der Länder Bayern und Hessen entscheiden, es ging um die Frage, inwieweit das Luftsicherheitsgesetz mit dem Grundgesetz vereinbar ist.
Nun wurde der Beschluss im sechzehnköpfigen Plenum, der im Juli fiel, in Karlsruhe bekanntgegeben. Nicht berührt bleibt dabei die bisherige restriktive Linie im Falle gekaperter Flugzeuge. Denn weiterhin nicht erlaubt ist der Abschuss eines von Terroristen entführten, mit Zivilisten besetzten Flugzeugs. Die Maschine darf danach nur von Kampfjets abgedrängt oder zur Notlandung gezwungen werden, auch Warnschüsse können abgegeben werden. Insofern wird das Urteil des Ersten Senats aus dem Jahre 2006, das das damalige Luftsicherheitsgesetz in Teilen für verfassungswidrig gehalten hatte, nicht verändert. Allerdings ergibt sich nun indirekt aus dem Urteil, dass der Bund den Abschuss von ausschließlich mit Terroristen besetzten Flugzeugen erlauben darf, dazu aber bedarf es einer Änderung des bestehenden Luftsicherheitsgesetzes.
Das Problem der höchstrichterlichen Entscheidung aber ist: Es hat einen neuen Begriff eingeführt, der in Zukunft interpretationsfähig sein dürfte. Nun kann die Bundeswehr bei einem Ereignis "von katastrophischen Dimensionen" auch mit Kampfmitteln im Inland zum Einsatz kommen. Doch was heißt das? Das Gericht versucht sich an einer Definition des Begriffes vom "Unglücksfall": Er muss nicht bereits erfolgt sein, es könne davon auch dann gesprochen werden, "wenn zwar die zu erwartenden Schäden noch nicht eingetreten sind, der Unglücksverlauf aber bereits begonnen hat und der Eintritt katastrophaler Schäden unmittelbar droht."
Wann kommt die Truppe zum Einsatz?
Was heißt das nun konkret für den Anti-Terror-Kampf? In Berlin wird darauf hingewiesen, dass selbst bei einem Ereignis wie einem Terrorangriff auf Hotels - wie einst im indischen Mumbai - in Deutschland nicht zwangsläufig Soldaten zum Einsatz kämen. Hierfür wären Landes- und Bundespolizei ausreichend gerüstet. Wie aber sieht es mit anderen, ähnlich dramatischen Aktionen aus, etwa der Besetzung eines deutschen Atomkraftwerks durch Terroristen? Gut möglich, dass dann durchaus Soldaten, etwa Spezialkräfte, in den Einsatz geschickt würden. Zumindest lässt der Richterspruch diese Interpretation zu.
Das Gericht gibt allerdings keinen Freibrief für die Bundeswehr. "Die Verfassung begrenzt einen Streitkräfteeinsatz im Inneren in bewusster Entscheidung auf äußerste Ausnahmefälle", heißt es in dem Beschluss. So weist Karlsruhe ausdrücklich darauf hin, dass nicht in jeder Gefahrensituation, die die Polizei nicht beherrschen kann, die Bundeswehr gleich in Marsch gesetzt wird. Der Einsatz der Streitkräfte wie der "Einsatz spezifisch militärischer Abwehrmittel" sei in einer Gefahrenlage "nur als ultima ratio zulässig".
Zudem hat Karlsruhe eine weitere, neue Hürde eingebaut, die darauf schließen lässt, wie kontrovers die Entscheidungsfindung im Plenum letztlich wohl war: Über den Einsatz der Bundeswehr zur Gefahrenabwehr im Inland muss stets die Bundesregierung als Kollegialorgan entscheiden. Auch in Eilfällen darf sie nicht auf ein einzelnes Regierungsmitglied, in diesem Falle den Verteidigungsminister, übertragen werden.
Abweichende Stellungnahme des Richters Gaier
Das Urteil von Karlsruhe ist ambivalent. Das Gericht hat sich bemüht, seinen Begriff von der "katastrophischen Dimension" einzuengen. Und damit keinen Freischein für Einsätze in besonderen polizeilichen Lagen zu geben. Vor fünf Jahren war der Einsatz der Bundeswehr mit Schützenpanzern und Tornado-Fliegern bei den Demonstrationen gegen das Treffen der Staats- und Regierungschefs beim G-8-Gipfel in Heiligendamm höchst umstritten. Das haben die Richter bei ihrer Urteilsfindung ebenfalls vor Augen gehabt. So heißt es nun in der Karlsruher Entscheidung, "Gefahren für Menschen und Sachen, die aus oder von einer demonstrierenden Menschenmenge drohen", stellten "keinen besonders schweren Unglücksfall" dar, der es rechtfertigen könnte, Streitkräfte einzusetzen.
Auch auf den Extremfall, den Bürgerkrieg, geht das Gericht ein: Die Bundeswehr dürfe selbst zur Bekämpfung organisierter und militärisch bewaffneter Aufständischer nur dann zum Einsatz kommen, wenn das betreffende Land zur Bekämpfung der Gefahr nicht bereit oder in der Lage sei. Und die Streitkräfte dürften in einem solchen Fall nur eingesetzt werden, wenn "Gefahr für den Bestand oder die freiheitliche demokratische Grundordnung des Bundes oder eines Landes besteht".
Unter den 16 Richtern des Bundesverfassungsgerichts gab es zum letzten, dritten Teil der Entscheidung eine abweichende Meinung. Richter Reinhard Gaier, Mitglied des Ersten Senats, stellte seinen Kollegen dabei kein günstiges Zeugnis aus: Mit den Formulierungen des "unmittelbar bevorstehenden" Schadenseintritts "von katastrophischen Dimensionen" werde die Rechtsanwendung zwar um neue Begrifflichkeiten bereichert. Nicht aber um die nötige Klarheit und Berechenbarkeit. "Es handelt sich um gänzlich unbestimmte, gerichtlich kaum effektiv kontrollierbare Kategorien, die in der täglichen Anwendungspraxis viel Spielraum für subjektive Einschätzungen, persönliche Bewertungspräferenzen und unsichere, wenn nicht gar voreilige Prognosen lassen", so Gaier.
Und er wird konkret: Wie sei es beispielsweise zu verhindern, dass im Zusammenhang mit regierungskritischen Großdemonstrationen - wie etwa beim G-8-Gipfel in Heiligendamm - "schon wegen befürchteter Aggressivität einzelner teilnehmender Gruppen 'mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit in Kürze' eintretende massive Gewalttätigkeiten mit 'katastrophalen Schadensfolgen' angenommen werden und deswegen bewaffnete Einheiten der Bundeswehr aufziehen?"
Gaiers warnendes Fazit: Der Plenarbeschluss aus Karlsruhe habe "im Ergebnis die Wirkungen einer Verfassungsänderung."