Kritik am Arbeitsplatz:Das Ende der Nettigkeit

In deutschen Büros gibt es ein Kommunikationsproblem: Wir kritisieren nicht zu viel, sondern zu wenig. Kollegen halten sich untereinander oft an einen unausgesprochenen Stillhaltepakt.

Julia Bönisch

In deutschen Büros wird nicht zu viel kritisiert, sondern zu wenig. Das erstaunt angesichts der Tatsache, dass sich unterschiedlichen Studien zufolge zwei Drittel aller Arbeitnehmer mehr Lob wünschen - allerdings von ihrem Chef.

Mund Kritik, iStock

Pssst: Viele Mitarbeiter schlucken ihren Ärger lieber runter, als sich mit einem Kollegen anzulegen.

(Foto: Foto: iStock)

Dabei sind Fehler und Konflikte in einem Unternehmen völlig normal. Jeder ärgert sich oft genug über unzuverlässige Kollegen, den dickköpfigen Zimmernachbarn, geplatzte Projekte, nicht eingehaltene Absprachen und Zeitpläne.

Doch untereinander sind viele Kollegen geradezu handzahm und paktieren in unausgesprochenen Stillhalteabkommen: "Solange du mich nicht anschießt, schieß ich auch nicht zurück, und alle sind zufrieden."

Vor allem Berufsanfänger sind besonders zurückhaltend wenn es darum geht, anderen Mitarbeitern ein negatives Feedback zu geben. Auch dass ein junger Kollege mal den Vorgesetzten kritisiert, kommt so gut wie nie vor.

Die Leistung sinkt

Dabei leidet jeder darunter, wenn er Ärger immer nur in sich hineinfrisst und Kritik herunterschluckt. Auch Unternehmen schadet solch ein Verhalten: Nach einer Studie der Akademie für Führungskräfte der Wirtschaft sinkt die Leistung am Arbeitsplatz vor allem dann, wenn Konflikte weder angesprochen noch ausgetragen werden und im Unternehmen zu wenig kommuniziert wird.

Lukas Sehlmann, 27, arbeitet seit acht Monaten in einem großen Telekommunikationsunternehmen. In seinem Team muss er sich mit 17 Kollegen herumschlagen und ärgert sich oft genug. "Aber ich schaffe es nie, den Mund aufzumachen. Ich denke jedes Mal, dass die anderen schon länger dabei sind und ich kein Recht habe, sie zu kritisieren." Außerdem fürchte er sich vor der Reaktion. "Ich will es mir mit niemandem verderben. Ich habe Angst, dass meine Kollegen nachtragend sind. Und ich weiß einfach nicht, wie ich das anstellen soll."

Fehlende Vorbilder

Viele von uns haben nie gelernt, Kritik zu üben oder vernünftig damit umzugehen, bestätigt die Mediatorin Barbara Kramer. "Im Grunde müsste uns das allen in der Schule beigebracht werden", sagt sie. "Doch leider fehlt das völlig." Unter Klassenarbeiten steht häufig genug nur eine Zensur statt eines Feedbacks mit der Begründung der Note. Auch an der Uni bekommen Studenten den Schein einfach nur im Prüfungsamt ausgehändigt. Kaum ein Professor nimmt sich die Zeit, eine Seminararbeit ausführlich zu besprechen.

So fehlen Vorbilder, bei denen man sich abschauen könnte, wie konstruktive Kritik funktioniert. Das einzige, das jeder lernt: Kritik einzustecken fühlt sich nicht besonders angenehm an. Besonders schwer wird sie im Unternehmen dann, wenn Kollegen auch noch Freunde sind: Geht man mit dem Team Abends noch auf ein Bier in die nächste Kneipe und spricht dort über die privaten Probleme, fällt es in der Teambesprechung am nächsten Morgen doppelt schwer, seine Meinung zu sagen.

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Das Ende der Nettigkeit

Kritik erfordert Mut

"Gerade wenn jemand neu in einer Firma ist oder gerade erst angefangen hat zu arbeiten, hat er auch viel zu verlieren", sagt Kramer. "Zur Unfähigkeit kommt also noch die Angst vor den Konsequenzen: Was tun, wenn die Kollegen mich nicht mehr mögen oder der Chef mich rausschmeißt?" Doch durch schlichtes Ignorieren sei noch kein Problem beseitigt worden. "Keiner kommt darum herum, Konflikte auszutragen. Doch das erfordert Mut."

Hinzu kommen Selbstzweifel. "Fast jeder, der kritisiert, fragt doch nach der eigenen Legitimation: Darf ich das überhaupt, bin ich dazu eigentlich berechtigt?", bestätigt der Psychologe Karl Berkel von der Münchner Ludwig-Maximilian-Universität.

Man darf, sagt Barbara Kramer, aber nur nach einer gründlichen Vorbereitung. Wer kritisieren will, solle sich über seine Gesprächsziele klar werden und vor allem die richtige Situation abwarten. Konfliktscheue würden schwierige Situationen gern zwischen Tür und Angel klären, weil sie es möglichst schnell hinter sich bringen wollten. "So kommen die Beteiligten aber nie zueinander."

Rückkehr zur Du-Botschaft

Zudem empfiehlt sie ein Zweier-Gespräch, statt die Probleme gleich mit dem ganzen Team auszudiskutieren. Berkel rät, sich zusätzlich im Vorhinein mit anderen zu besprechen. Das helfe, den eigenen Gedanken eine Struktur zu geben.

Von der sogenannten Ich-Botschaft, ein Klassiker in sämtlichen Coaching-Ratgebern, halten beide allerdings nicht so viel. Dabei sollen die Beteiligten ihre Gefühle in der Ich-Form ausdrücken. "Als ich gemerkt habe, dass du zu spät kommst, war ich wirklich enttäuscht", lautet etwa so ein Satz.

"Wenn es richtig knallt, besitzt aber kaum jemand die Fähigkeit, sich so auszudrücken", sagt Kramer. "Sobald man sich richtig ärgert, hat man keine Ich-Botschaften mehr." Sie plädiert deshalb für eine Rückkehr zur Du-Botschaft. Schließlich müsse jeder erst mal sagen, was gerade Sache ist: "Dass du ständig zu spät kommst, ist echt total daneben!"

Dreimal tief Luft holen

Ebenso fehlgeleitet sei es, von einem Kritikgespräch Lösungen oder Besserungen zu erwarten. Coaches, die nach Konflikten den Himmel auf Erden versprächen, lägen falsch. "Nach der Kritik ist nicht automatisch alles gut, aber wenigstens ist die Situation geklärt." Deshalb müsse man lernen, ein Patt zu akzeptieren. Lösungen stünden nach einer Kritik eben nicht automatisch parat.

Lukas Sehlmann hat sich schon oft vorgenommen, einer ganz bestimmten Kollegin endlich mal zu sagen, dass er ihr Verhalten in Meetings für unproduktiv und unprofessionell hält. Oft genug hat er das mit einem Teamkollegen besprochen, doch getraut hat er sich immer noch nicht.

Für Karl Berkel ist das eine völlig normale Reaktion. "Bei Konflikten reagieren wir mit unseren Urinstinkten: Flucht oder Kampf." Nichts zu sagen sei völlig menschlich und im Zweifel die bessere Reaktion als verbal draufloszuschlagen.

Großmutters Regeln, dreimal tief Luft zu holen und leise bis zehn zählen, gelten also immer noch. "Trotzdem mal zu schreien, ist aber auch nicht so schlimm", sagt Barbara Kramer. "Wichtig ist nur, dass man später noch einmal in Ruhe drüber spricht." Schließlich kritisieren und ärgern wir uns nur da, wo wir uns persönlich berührt fühlen. So gesehen ist das fast ein Kompliment für unsern Kontrahenten.

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