12 Warum wir immer noch neue Tierarten entdecken

Autor: Joachim Budde

Alles schon bekannt – oder?

Wie groß ist die Chance, heute noch eine völlig neue Tierart zu entdecken? Nicht schlecht, wenn man bedenkt, dass der Wissenschaft in jüngerer Zeit selbst neue Kängurus oder Wildrinder bekannt wurden. Wobei die meisten neu entdeckten Spezies kleiner sind – wie etwa der Krebs, den ein Mitarbeiter des Senckenberg-Instituts nach seiner Lieblingsband „Metallica“ benannte.

Dass die Liste der bekannten Tierarten länger und länger wird, liegt zum einen daran, dass es immer noch Lebensräume gibt, die bislang nur unzureichend erforscht sind. Die Tiefsee etwa oder Böden. Zum anderen stellt man aber auch fest, dass um uns herum immer weiter neue Arten entstehen oder dass sich hinter einer Art in Wirklichkeit mehrere ähnliche verbergen – dank neuer Forschungstechniken, etwa aus der Molekulargenetik.

Wie beschreibt man eine neue Art?

Nach ihrer Entdeckung werden die „neuen“ Arten wissenschaftlich beschrieben und dann in einigen Exemplaren in Sammlungen hinterlegt – alles geregelt durch die Forschungsdisziplin der Zoologischen Systematik. Wie läuft so ein Beschreibungsgprozess ab? Stößt die Systematik auch einmal an Grenzen? Hat sie Bestand für die Zukunft oder weist der Trend eher in die Richtung, statt einzelner Arten ganze Lebewesen-Gemeinschaften begreifen und ordnen zu wollen? Und wie wird mit neuen systematischen Erkenntnissen in der Praxis umgegangen? In der Evolutionsbiologie etwa oder im Artenschutz, wo die Systematik auch dabei hilft, Gefährdungsgrade und Schutzmaßnahmen festzulegen.

Zoologische Systematik wird dadurch zur wichtigen Grundlagenwissenschaft. Sie hat aber auch Probleme, die etwa durch kurzfristige förderpolitische Trends und den Wunsch nach Anwendungsorientierung entstehen. Der Haken daran: Ohne Grundlagenforschung wird langfristig auch die anwendungsorientierte Forschung gefährdet.

Folge 12 anhören:

Sendung in hr-iNFO: 13.03.2021, 11:30 Uhr

Gesprächspartner*innen dieser Folge

  • Prof. Dr. Angelika Brandt, Meeresbiologin (Schwerpunkt: Krebstiere und Tiefsee), Senckenberg Naturmuseum und Forschungsinstitut Frankfurt
  • Prof. Dr. Bernhard Misof, Biodiversitätsforscher, Direktor des Zoologischen Forschungsmuseums Alexander König, Bonn
  • Dr. Ralph S. Peters, Insektenforscher, Zoologisches Forschungsmuseum Alexander König, Bonn
  • Prof. Dr. Volkmar Wolters, Tierökologe, Justus-Liebig-Universität Gießen, Wissenschaftlicher Beirat des Funkkollegs

Zusatzmaterial

  1. (Das Wirrwarr von) biologischer Systematik und Taxonomie
  2. Tanapuli Orang-Utan
  3. Prof. Wolters und die Arbeitsgruppe Tierökologie der JLU
  4. Die Tiefsee
  5. Carl von Linné

1. (Das Wirrwarr von) biologischer Systematik und Taxonomie

Für die hierarchische Einordnung von Arten sind die biologischen Teildisziplinen „Systematik“ und „Taxonomie“ zuständig. Die beiden Ansätze können nicht klar voneinander getrennt werden, denn nicht einmal die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sind sich über deren Abgrenzung einig. Manche setzen die beiden gleich, andere unterscheiden „die Systematik, als Wissenschaft von der Vielgestaltigkeit der Organismen, von der Taxonomie, als der Theorie und Praxis der Klassifikation.“
Bei den Konzepten zur Einteilung von Organismen kann man grob drei Ansätze unterscheiden: die numerische Taxonomie, die konsequent phylogenetische Systematik (nach Willi Hennig) und die evolutionäre Klassifikation (nach Ernst Mayr). Die numerische Taxonomie sortiert die Organismen rein nach der Ähnlichkeit von Merkmalen, während die beiden anderen Ansätze zusätzlich Abstammungsverhältnisse und Verwandtschaftsbeziehungen mit einbeziehen. Letztlich spiegeln aber diese und andere Ordnungssysteme nicht die Natur wider, sondern wurden von Menschen künstlich festgelegt. Obgleich die Kategorisierung der Organismen für das Verständnis der biologischen Vielfalt unerlässlich ist, kann man vor diesem Hintergrund durchaus diskutieren, ob die Beschränkung auf ein einzelnes Klassifikationsschema überhaupt sinnvoll und für die Wissenschaft nützlich ist.

https://www.spektrum.de/lexikon/biologie/numerische-taxonomie/47003
https://www.spektrum.de/lexikon/biologie/phylogenetische-systematik/51552
https://www.spektrum.de/lexikon/biologie/systematik/65147

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2. Tapanuli Orang-Utan

Lange glaubte man, es gäbe nur zwei Orang-Utan Arten: den Borneo-Orang-Utan (Pongo pygmaeus) und den Sumatra-Orang-Utan (Pongo abelii). Im Jahre 2017 bestätigten jedoch genetische Analysen und morphologische Untersuchungen an dem Skelett eines Männchens, dass es noch eine weitere Art gibt: den Tapanuli-Orang-Utan (Pongo tapanuliensis). Ebenfalls auf Sumatra heimisch, gehört diese Art wahrscheinlich zur ältesten Orang-Utan-Linie auf dem Sunda-Archipel in Südostasien. Schätzungen ergaben, dass es nur noch circa 800 Tapanuli-Orang-Utans gibt. Damit gehört diese Art zu den am stärksten bedrohten Affenarten der Erde. Ein wichtiger Grund für den Rückgang dieser auf einen sehr engen Bereich begrenzten Art ist die Rodung ihrer Lebensräume für die Landwirtschaft. Gegenwärtig stellt allerdings der geplante Bau eines hydroelektrischen Dammes im größten Verbreitungsgebiet der Tapanuli-Orang-Utans eine besondere Bedrohung dar.

https://www.dpz.eu/de/aktuelles/neuigkeiten/einzelansicht/news/dritte-orang-utan-art-entdeckt.html
https://www.nationalgeographic.de/tiere/2019/03/wasserkraftwerk-koennte-todesurteil-fuer-tapanuli-orang-utans-sein

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3. Prof. Wolters und die Arbeitsgruppe Tierökologie der JLU

Der Zoologe Professor Dr. Volkmar Wolters ist der wissenschaftliche Beirat dieses Funkkollegs und leitet die Arbeitsgruppe Tierökologie an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Prof. Wolters ist Mitglied des wissenschaftlichen Beirates für Biodiversität und genetische Ressourcen des Bundeslandwirtschaftsministeriums und Mitglied des Beirates des Verbands Biologie, Biowissenschaften und Biomedizin in Deutschland (VBIO e.V.). Seine Arbeitsgruppe erforscht unter anderem die Wirkungen der Landnutzung auf die Vielfalt und die Leistungen von Bestäubern, räuberischen Arthropoden und Bodentieren aber auch von Mikroorganismen, Vögeln, Feldhamstern und Fledermäusen.

https://www.uni-giessen.de/fbz/fb08/Inst/tsz/tieroekologie

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4. Die Tiefsee

Die Tiefsee ist der nicht von Licht durchdrungene Teil der Meere unterhalb einer Grenze von – je nach Definition – 200 bis 800 Metern. Sie ist das größte Ökosystem unseres Planeten. 1898 startete die Vivaldi-Expedition des deutschen Kaiserreichs unter der Leitung des deutschen Biologen Carl Chun. Seine Reiseberichte erzählen unter anderem von ersten Forschungsinteressen im Lebensraum Tiefsee sowie dem Nachweis, dass, entgegen der Annahme jener Zeit, Leben bis in eine Tiefe von ca. 4000 Meter existiert. Seit den 1960er-Jahren sind Forscher vermehrt bestrebt, diesen noch weitgehend unerforschten Lebensraum zu erkunden und dessen Artenvielfalt zu beschreiben. Doch das ist nicht einfach. Mit zunehmender Wassertiefe steigt auch der vorherrschende Druck und erschwert wissenschaftliche Aktivitäten im Dauerdunkel der Tiefsee.
Circa 50 % der von den Weltmeeren bedeckten Fläche liegt in einer Tiefe von über drei Kilometern. Für die Erforschung und Kartografie dieser sogenannten Tiefseetafel eigenen sich vor allem unbemannte Tauchboote. Doch obwohl das wissenschaftliche Interesse an der Tiefsee seit Jahren zunimmt, bleiben die verfügbaren Ressourcen beschränkt. Zudem gibt es nur wenige spezialisierte Fachleute, welche die gefundenen Arten bestimmen können. Auch wenn das Wissen über die Tiefsee noch dürftig ist, so wissen wir eines doch genau: menschliche Spuren sind dort bereits in Form von Müll angekommen.

Die Dauerausstellung „Tiefsee und Meeresforschung“ des Senckenberg Museums in Frankfurt veranschaulicht neben dem Lebensraum Tiefsee und seinen Bewohnern auch dessen wissenschaftliche Erschließung.

https://www.quarks.de/gesellschaft/wissenschaft/darum-wissen-wir-von-der-tiefsee-weniger-als-vom-mond/
https://www.deutsche-biographie.de/sfz69582.html
https://www.deutschlandfunk.de/carl-chun-die-valdivia-und-die-entdeckung-der-tiefsee.740.de.html?dram:article_id=252199
https://www.museumfuernaturkunde.berlin/de/wissenschaft/bilder-der-natur/fotografien-als-beifang

Mit dem Lebensraum Tiefsee und seinen Bewohnern beschäftigen sich „Dinge Erklärt – Kurzgesagt“ und „Terra X“ in nachfolgenden Videobeiträgen.

Die Formate „Quarks“ und „TerraX“ beleuchten in den folgenden Videobeiträgen das Thema der Plastikverschmutzung der Weltmeere.

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5. Carl von Linné

Der schwedische Naturforscher und Arzt Carl von Linné reformierte die biologische Systematik, beginnend 1735 mit seinem Werk Systema naturae. In dessen zehnter Auflage wandte er 1758 erstmalig die von ihm entwickelte – und noch heute gültige – zweiteilige Benennung von Arten („binäre Nomenklatur“) durch einen Gattungs- und einen Artnamen auf alle Tiere an.
Linné war ganz ohne Zweifel Empiriker. Das heißt, er war davon überzeugt, dass man echte Erkenntnisse nur durch Sinneserfahrungen gewinnen kann. Trotzdem begründete er entsprechend seiner Zeit die Vielfalt der Natur durch einen göttlichen Schöpfer und sah die Arten als unveränderlich an. Erst mit der Evolutionstheorie, die Charles Darwin etwa 100 Jahre später veröffentlichte, etablierte sich zunehmend eine Betrachtung der Artbildung als kontinuierlicher Prozess. Dennoch war Linné nach Aristoteles der erste, der den Menschen wieder dem Tierreich zuordnete. Auch entlarvte er unter anderem das Einhorn als Fabelwesen. Mit seinen vielen Erstbeschreibungen von Tieren und Pflanzen ist Carl von Linné auch heute noch in der modernen Biologie präsent. Zudem wurde sein Skelett 1959 nachträglich als Referenzskelett des Homo sapiens bestimmt. Mit dieser Ehrung ist er in dem von ihm geschaffenen biologischen System verewigt.

https://www.spektrum.de/lexikon/biologie/linne-carl-von/39482
https://www.mdr.de/mdr-garten/schweden-garten-carl-von-linne-100.html
https://www.spektrum.de/lexikon/biologie/systematik/65147
https://www.biologie-seite.de/Biologie/Archaischer_Homo_sapiens

Das Leben des Carl von Linné wird in einem englischsprachigen Videobeitrag des „National History Museum“ noch einmal kurz zusammengefasst.

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Interessierte Hörerinnen und Hörer finden auf dieser Seite weiterführende Informationen zu den einzelnen Sendungsthemen als Zusatzmaterial.

Die taxonomische Einordnung von Tieren in diesem Zusatzmaterial basiert auf der aktuellen Fassung des Integrated Taxonomic Information System (ITIS) mit letztem Zugriff am 09.03.2021.

Die Zusatzmaterialien werden in der Reihenfolge gelistet, in der die Stichworte in der Sendung Erwähnung gefunden haben. Die Materialien wurden zum Zugriffszeitpunkt 09.03.2021 erstellt von:
M.Sc. Biol. Karl Trüller & B.Sc. Biol. Lennart Schulte

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