Herr Kujat, will Wladimir Putin die ganze Ukraine oder begnügt er sich doch noch mit den sogenannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk im Landesosten?

KujatIch war der Meinung, die russischen Streitkräfte würden lediglich die beiden Volksrepubliken besetzen und deren Gebiete auf die ehemaligen Verwaltungsbezirke Luhansk und Donezk ausdehnen. Der Überfall auf die gesamte Ukraine ist für Putin ein Risiko. Ich hatte Zweifel, ob er diesen großen Fehler begehen würde. Wir sehen jetzt aber eine großangelegte Invasion, deren Ziel auch die Absetzung der gewählten Regierung von Präsident Wolodymyr Selenskyj ist. Die russischen Streitkräfte sind hochmodern ausgerüstet und demonstrieren, wie ein Krieg im 21. Jahrhundert geführt wird. Zunächst werden die ukrainischen Luftstreitkräfte, die Luftverteidigung und Kommandozentralen mit weitreichenden Waffensystemen ausgeschaltet. Luftlandeeinheiten sichern Flugplätze für die eigenen Luftstreitkräfte und besetzen strategische Schlüsselpositionen. Dann greifen Kampfhubschrauber und schließlich die Landstreitkräfte mit gepanzerten Verbänden in die Kampfhandlungen ein. Auf diese Weise wird das Risiko für den Vormarsch russischer Bodentruppen so gering wie möglich gehalten.

Mit welchem Widerstand muss Putin rechnen?

KujatWladimir Putin muss sich auf einen Krieg nach dem Krieg einstellen. Das war für mich auch der Grund, weshalb ich Zweifel hatte, dass er diese Option wählt. Am Beispiel der Sowjetunion in Afghanistan kann Putin doch sehen, wie lang, verlustreich und letztlich erfolglos ein Guerillakrieg ist. Auch in der Ukraine könnte ihm so etwas drohen, wenn etwa die USA den Widerstand der Ukrainer mit Waffen unterstützen, so, wie sie die Mudschaheddin seinerzeit mit Flugabwehrwaffen und anderen modernen Waffen ausgerüstet haben. Die großen Verluste, die die Sowjets in Afghanistan hatten, sind in Russland bis heute präsent. Es besteht also auch die Möglichkeit, dass die Stimmung im Land kippen und sich auch gegen den Präsidenten richten könnte. Putin hat ja selbst gesagt: Russland und die Ukraine seien zwei Staaten, aber ein Volk. Das heißt, er führt einen Bruderkrieg, der zu Hause nicht gut ankommt. Die ersten Proteste haben bereits stattgefunden, sie werden sich über die Zeit noch verstärken.

Kann ein Szenario mit einem Atomkrieg drohen, ist das Putin zuzutrauen?

KujatMan kann Putins Worte durchaus so verstehen, dass er bereit ist, auch Nuklearwaffen einzusetzen, falls es durch das Eingreifen des Westens zu einem großen Krieg zwischen Russland und der Nato kommt. Übrigens hat auch Präsident Biden dieses Risiko gesehen, als er den Einsatz amerikanischer Truppen in der Ukraine ausschloss.

Was bedeutet die derzeitige Situation für Deutschland? Müssen Reservisten einberufen und sollte bei uns die Wehrpflicht wieder aktiviert werden?

KujatWir sollten uns darum bemühen, unseren Beitrag zur Nato-Response Force so schlagkräftig wie möglich zu gestalten. Das ist das, was jetzt möglichst schnell geschehen muss. Darüber hinaus muss die Politik jetzt auch eine Bundeswehrreform in Angriff nehmen, um die sogenannte Neuausrichtung der Bundeswehr von 2011 zu revidieren und die Bundeswehr wieder zu befähigen, ihre verfassungsmäßige Aufgabe der Landes- und Bündnisverteidigung zu erfüllen. Kleinere Korrekturen und punktuelles Flickwerk bringt uns jetzt nicht weiter. Personalumfang, Struktur, Ausrüstung und Bewaffnung müssen so verändert werden, dass wir unsere eigene Sicherheit und die unserer Verbündeten gewährleisten können. Die Politik muss sich endlich in einer fundierten sicherheitspolitischen und geostrategischen Lageanalyse den Realitäten stellen und verantwortungsbewusst die notwendigen Maßnahmen treffen.