„Schwurbelnde“ Intellektuelle?
In letzter Zeit breitete sich ein Wort von Twitter in die Feuilletons der großen Zeitungen aus: „Schwurbeln“. Der Schwurbel-Verdacht beendet jeden Diskurs und hat auch innerhalb der Philosophie eine Tradition.
In den letzten Wochen breitete sich ein Begriff von Twitter in die Feuilletons der großen Zeitungen aus: „Schwurbeln“. Bezeichnet werden mit diesem Begriff vor allem Äußerungen, die sich zum vorherrschenden Umgang mit der Pandemie und Ungeimpften kritisch verhielten. Als Schwurbler gelten unterschiedslos Verschwörungstheoretiker, Querdenker und oft auch diejenigen, die pauschale Verurteilungen von Ungeimpften problematisierten.
„Schwurbeln“ leitet sich vom mittelhochdeutschen „swerben“ („taumeln, sich im Kreise drehen“) ab und bedeutet dem Duden zufolge „Unsinn reden“. Interessant ist die plötzliche Häufung des Begriffs nicht nur, weil das Wort noch 2009 so ungebräuchlich war, dass es nicht im Duden vorkam. Bemerkenswert ist sie vor allem, weil sich damit eine Diskursstrategie durchsetzt, mittels der nicht gesagt wird: Was du behauptest, ist falsch (wie es etwa das Wort „fake-news“ tut). Auch nicht: „Was du sagst, verstehe ich leider nicht.“ Vielmehr ist gemeint: „Was Du sagst, ist eigentlich sinnlos, du verschleierst das bloß durch intellektuelle und rhetorische Tricks.“ Während die ersten beiden Formen der Kritik einen Austausch von Argumenten zur Folge haben können („Du liegst falsch, weil…“, „Ich meine mit dem Gesagten, dass…“) ist mit Schwurbel-Vorwurf jede Diskussion abgebrochen. Denn es wird behauptet, die Aussagen des anderen wären lediglich „heiße Luft“ und damit zu uninteressant, um sich überhaupt damit auseinanderzusetzen.
Heidegger – auch ein Schwurbler?
Es ist nicht überraschend, dass der Schwurbel-Vorwurf vielfach Philosophen und Intellektuelle trifft, immerhin stehen diese schon lange unter „Laber“-Verdacht. In der aktuellen Debatte wird ihnen vorgeworfen, Dinge zu verbiegen und zu verkomplizieren, die dank der wissenschaftlichen Expertise von Virologen und Epidemiologen längst geklärt sind. Wo die Fakten und mit ihnen vermeintlich auch die politisch-gesellschaftlichen Handlungsanweisungen schon auf dem Tisch liegen, hält das intellektuelle Geschwurbel nur auf, vernebelt den Verstand, kostet wertvolle Zeit.
Der Schwurbel-Verdacht hat auch innerhalb der Philosophie Tradition. Am deutlichsten und polemischsten wurde er von den Mitgliedern des „Wiener Kreises“, den sogenannten „logischen Positivisten“, in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts formuliert. Ihr Bestreben war es, so könnte man zugespitzt sagen, die Aussagen der Metaphysik, Ethik und Ästhetik als „Geschwurbel“ zu entlarven und die Philosophie von ihnen zu reinigen. Ihr Grundprinzip lautete: „Ein Satz ist nur sinnvoll, wenn er sich empirisch (durch Erfahrung) oder analytisch (durch Definition) verifizieren lässt.“ Rudolf Carnap schreibt in Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache (1932), dass metaphysische Behauptungen über Gott, die Seele oder das Sein ebenso wie moralische und ästhetische Wertungen weder wahr noch falsch, sondern schlicht sinnlos seien – man könne ebenso gut einfach Fantasiewörter aneinanderreihen. Durch die Werke von Heidegger oder Hegel, so Carnap, erfahren wir nichts wirklich Gehaltvolles. Höchstens geben sie einem vagen Lebensgefühl Ausdruck, doch für diesen Zweck sei die Kunst eigentlich besser geeignet.
Taumel des Denkens
Die Ansichten der logischen Positivisten konnten sich philosophiegeschichtlich nicht durchsetzen. Ihr offensichtliches Problem bestand darin, dass ihr Grundprinzip selbst sich weder analytisch noch empirisch verifizieren lässt. Dennoch scheint heute in der Pandemie bisweilen ähnlich gedacht zu werden: Aussagen, die sich nicht aus den empirischen Erkenntnissen der Naturwissenschaft ergeben, sind bloßes Geschwurbel. Diese Sichtweise unterschlägt, dass sich der gesellschaftliche Umgang mit der Pandemie niemals direkt aus den Weisungen der Wissenschaft ergeben kann (– ein Punkt, auf den auch der Soziologe Alexaner Bogner aufmerksam machte). Denn erstens sind die Ergebnisse der Wissenschaft vorläufig, widersprüchlich und interpretationsbedürftig – für prognostische Aussagen (die im strengen Sinne auch nicht empirisch sind) gilt das vielleicht sogar besonders. Zweitens fließen in politische Maßnahmen und gesellschaftliche Reaktionen neben der wissenschaftlichen Expertise immer auch Normen und Werte ein. Philosophen machen dies explizit, verhandel- und diskutierbar. Das scheinbar Selbstverständliche oder Zwangsläufige wird so Gegenstand von Debatten.
Interessanterweise bedeutet „schwurbeln“ auch schwindeln, im Sinne des Gefühls, das einen erfasst, wenn man am Abgrund steht und in die Tiefe blickt. In dieser Bedeutung ist es eine passende Beschreibung für die Erfahrung philosophischen Denkens: Der Boden erscheint nicht mehr ganz so fest, an die Stelle der Gewissheit tritt Haltlosigkeit: Man schwankt, ist sich nicht sicher. Diese Art des Denkens ist zweifellos weder effektiv noch angenehm, aber sie ist eine Form der Selbstbesinnung, die gedankenloses Voranstürmen und seine Folgen bremsen kann.
Doch selbst, wer gewohnt ist, ausschließlich in Kategorien der Effizienz und Evidenz zu denken, sollte mit dem Schwurbel-Vorwurf vorsichtig sein. Denn dass sich auch nur ein einziger Impfskeptiker überzeugen lässt, indem man ihm erklärt, er gebe sinnloses Gebrabbel von sich, ist äußerst unwahrscheinlich. •
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