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Gesundheit Organe

Der Blinddarm ist gar nicht so nutzlos wie gedacht

Dies ist ein der Länge nach durchgeschnittener, entzündeter Wurmfortsatz Dies ist ein der Länge nach durchgeschnittener, entzündeter Wurmfortsatz
Dies ist ein der Länge nach durchgeschnittener, entzündeter Wurmfortsatz
Quelle: Ed Uthman, MD
Blinddarm, Steißbein und Milz galten lange als Überbleibsel vergangener Zeiten. Nutzlos sind die rudimentären Organe keineswegs.

Der Blinddarm? Kann raus. Macht nur Probleme, wenn er sich entzündet. Und hat keinen sinnvollen Nutzen mehr. So lautet die weitverbreitete Annahme über den Wurmfortsatz des Darms. Wenn der Blinddarm von schädlichen Bakterien besiedelt wird und sich entzündet, kann es sogar gefährlich werden: Kommt es zum Blinddarmdurchbruch, kann der Darminhalt in den Bauchraum gelangen. Chirurgen greifen daher schnell zum Skalpell und entfernen den Blinddarm – und die Patienten nehmen an, dass er sowieso keine wichtigen Funktionen erfüllt. Doch das ist ein Trugschluss. Denn vermeintlich verkümmerte Organe wie der Blinddarm, die Mandeln oder auch die Milz sind wichtiger als gedacht.

Seinen Ruf als nutz- und funktionslos gewordenes rudimentäres Organ – teilweise sogar als „Abfallorgan“ – verdankt der Blinddarm dem Vater der Evolutionstheorie, Charles Darwin. In seinem Werk „Die Entstehung der Arten“ erklärt er, wie sich die verschiedenen Spezies im Laufe der Jahrtausende und Jahrmillionen weiterentwickelt haben – durch Anpassung an äußere Umstände und natürliche Selektion. Mutationen des Erbgutes ließen manche Arten besser mit veränderten Lebensumständen zurechtkommen als andere.

Teil dieser Anpassung war auch, dass viele Organe ihre ursprüngliche Funktion langsam verloren. Sie blieben nur noch als Rudimente aus einer vergangenen Zeit fortbestehen. Darwins Lieblingsbeispiel für diese These ist der Blinddarm. Dieser stamme aus einer Zeit, als die Menschen noch reine Pflanzenfresser waren und den Blinddarm brauchten, um nicht spaltbare, organische Nährstoffverbindungen im Futter mithilfe von Mikroorganismen zu nutzbaren Nährstoffen zu verarbeiten. Pferde haben aus diesem Grund einen besonders stark ausgeprägten Blinddarm.

Im Jahr 1893 stellte der deutsche Anatom Robert Wiedersheim eine Liste von 86 angeblich im Laufe der Evolution nutzlos gewordenen Organen vor. Ganz oben auf der Liste steht wiederum der Blinddarm. Auch Rachenmandeln sind Teil dieses Katalogs, genau wie das menschliche Steißbein oder auch die Milz. „Meyers Großes Konversationslexikon“ aus dem Jahr 1909, das rudimentäre Organe als „Körperteile, die ihres verkümmerten Zustandes wegen fast oder vollkommen leistungsunfähig sind“ definiert, führte sie alle auf – und machte sie als damals führendes deutsches Nachschlagewerk der breiten Bevölkerung zugänglich. Der Blinddarm sei demnach „nur noch als Sitz gefährlicher Erkrankungen von Bedeutung“. Weit gefehlt, kann man dazu nach heutigem Stand der Forschung sagen.

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Was die angeblich rudimentären Organe eint: Ihre einstige physiologische Funktion haben sie im Laufe der Evolution verloren. Aus Mangel an Gebrauch erinnert sich der Körper immer weniger an ihre Existenz und greift immer seltener auf sie zurück. Da hatten die Evolutionsbiologen des 19. Jahrhunderts recht. Doch viele dieser Organe haben noch andere wichtige Funktionen, manche haben eine Funktion als eine Art Back-up und übernehmen die Aufgaben eines anderen Organs, falls dieses ausfällt.

Der Blinddarm spielt eine wichtige Rolle im Immunsystem: Er beherbergt viele Zellen des Lymphsystems, das die Körperabwehr gegen Krankheiten darstellt. Zudem ist er Rückzugsgebiet für nützliche Bakterien. Werden Darmbakterien bei einer Infektion zerstört, überleben die „guten“ Keime im Blinddarm. Von dort aus können sie sich wieder ausbreiten und die natürliche Darmflora rekonstruieren. Wer keinen Blinddarm mehr hat, dem fehlt dieser Vorratsspeicher an Verdauungsbakterien – eine Infektion verläuft oft komplizierter.

Auch die Rachenmandeln, die im Fall einer Mandelentzündung gerne operativ entfernt werden, haben wichtige Funktionen für die Immunabwehr des Körpers – besonders im Kindesalter. Die am Übergang von Mundhöhle und Rachen gelegenen Mandeln spielen nämlich in den ersten Lebensjahren eine maßgebliche Rolle bei der Ausbildung des Immunsystems. Dabei lernt der Körper, fremde und schädliche Stoffe – etwa Viren und Bakterien – zu erkennen und abzuwehren. Vom ersten bis dritten Lebensjahr werden die Mandeln immer größer. Mit Beginn der Pubertät bilden sie sich ein Stück weit zurück, enthalten aber immer noch lymphatische Zellen und bleiben Teil des Immunsystems.

Verkannt wird auch die Milz. Sie bereitet selten Probleme, daher wissen die meisten Menschen nicht viel über das Organ. Wird sie verletzt, muss sie entfernt werden – sonst drohen lebensgefährliche Blutungen. Überflüssig ist sie jedoch nicht: Im Kindesalter sorgt sie für die Bildung von roten Blutkörperchen. Diese Funktion wird zwar später vom Knochenmark übernommen, bei Knochenmarkerkrankungen kann die Milz aber auch im Alter wieder zu einem blutbildenden Organ werden. Zudem ist sie ein wichtiger Blutfilter: Sie sortiert überalterte rote Blutkörperchen aus.

Außerdem hat ein Forscherteam um Filip Swirski von der Harvard Medical School kürzlich herausgefunden, dass die Milz auch bei der Heilung von Herzerkrankungen eine Rolle spielt. Bei Labormäusen, die kurz zuvor eine Herzattacke erlitten hatten, befand sich rund die Hälfte aller im Körper zirkulierenden weißen Blutkörperchen, die für die Immunabwehr und Gewebeheilung verantwortlich sind, in der Milz. „Wenn man einen Herzinfarkt erleidet, muss das Herz dies auf geeignete Weise heilen, und das ist von den weißen Blutzellen abhängig“, sagt Swirski. Bislang wurde vermutet, dass sich die weißen Blutkörperchen, die sich unmittelbar nach einer Herzattacke bilden, im Blut befinden. Doch bei den Mäusen, denen man zuvor die Milz entfernt hatte, wurden nach einer Herzattacke deutlich weniger weiße Blutzellen im Blutkreislauf entdeckt. Vereinfacht gesagt: Die Labormäuse ohne Milz erholten sich von einem Herzinfarkt schlechter als die mit Milz. Dass sich diese Ergebnisse auf Menschen übertragen lassen, zeigt eine Langzeitstudie bei amerikanischen Veteranen aus dem Zweiten Weltkrieg: Dabei kam heraus, dass jene Veteranen ohne Milz zweimal wahrscheinlicher an einer Herzkrankheit oder einer Lungenentzündung starben als jene mit Milz.

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Ein weiteres gern zitiertes Beispiel für nutzlose Körperteile ist das Steißbein. Der verkümmerte Überrest eines Schwanzes sei es, mehr nicht. „In ihm befinden sich rudimentäre Muskeln, die früher zum Hervorbringen einer Bewegung dienten“, heißt es in „Meyers Großem Konversationslexikon“. Doch was die Evolutionsbiologen der alten Schule verkannt haben: Das Steißbein ist mitverantwortlich für eine der größten Errungenschaften der Evolution des Menschen – den aufrechten Gang. Denn es dient als Ansatzpunkt für verschiedene Muskeln und Bänder. Ohne Steißbein könnten wir nicht richtig gehen und nicht richtig sitzen. Der Schließmuskel würde nicht funktionieren, und auch das Urinieren wäre schwierig.

„Die medizinische Forschung hat im Laufe der Zeit schon viele Körperteile als nutzlos bezeichnet, nur weil man ihre Funktion nicht verstanden hat“, sagt Jeffrey Laitman, Direktor für Anatomie und funktionelle Morphologie an der Mount Sinai School of Medicine in New York. „Viele Leute sagen, dass man ein Organ entfernen kann, ohne dabei zu sterben. Aber mit dieser Logik sollte man vorsichtig sein. Man kann sich auch sein linkes Bein abtrennen und trotzdem weiterleben.“ Sobald ein Körperteil versetzt oder verändert werde, müsse man einen bestimmten Preis dafür bezahlen.

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