Stay away from Gretchen: Eine unmögliche Liebe – besprochen von Raimund Bayer

Dies sei vorausgeschickt: Geschichten müssen mich berühren, müssen mich mitnehmen auf eine Achterbahn der Gefühle. Nur wenn ich von ihnen durcheinandergewirbelt werde, mich in den Personen wiederfinde und dadurch selbst Teil der Geschichte werde, fühle ich mich am Ende eines Romans glücklich. Denn dann gehören diese Personen, ihre Geschichten zu mir, sind Teil meines Lebens geworden.

Neugierig hat mich der Titel gemacht. Er ist in sich so merkwürdig widersprüchlich. „Halte dich von Gretchen fern“, dann: „eine unmögliche Liebe“. Ich mag Liebesromane, ich schreibe sie sogar, noch mehr mag ich ungewöhnliche, sogar unmögliche Geschichten.

Ich fragte mich: Warum dieser englische Ansatz? Dann las ich den Klappentext

„Der bekannte Kölner Nachrichtenmoderator Tom Monderath macht sich Sorgen um seine 84-jährige Mutter Greta, die immer mehr vergisst. Was anfangs ärgerlich für sein scheinbar so perfektes Leben ist, wird unerwartet zu einem Geschenk. Nach und nach erzählt Greta aus ihrem Leben – von ihrer Kindheit in Ostpreußen, der Flucht vor den russischen Soldaten im eisigen Winter, der Sehnsucht nach dem verschollenen Vater und ihren Erfolgen auf dem Schwarzmarkt in Heidelberg. Als Tom jedoch auf das Foto eines kleinen Mädchens mit dunkler Haut stößt, verstummt Greta. Zum ersten Mal beginnt Tom, sich eingehender mit der Vergangenheit seiner Mutter zu befassen. Nicht nur, um endlich ihre Traurigkeit zu verstehen. Es geht auch um sein eigenes Glück.“

Der Klappentext überzeugte mich (noch) nicht, aber als ich den Aufbau des Romans überflog, konnte ich ihn nicht mehr weglegen. Abwechselnd lesen wir über die Gegenwart im Jahre 2015 und die Vergangenheit, die 1939 beginnt. Ich gebe zu, die Gegenwart hat mich erst nicht so gefesselt, aber das änderte sich im Laufe der Zeit. Die Geschichte von Greta allerdings war so interessant, so spannend, ich konnte das Buch nicht zur Seite legen. Über große Strecken habe ich mit der Familie und besonders mit Greta gelitten und geweint. Mit jeder Seite überzeugte es mich mehr.

Tom Monderaths Mutter Greta ist dement

Tom Monderath ist ein erfolgreicher Kölner Nachrichtensprecher, kein wirklich sympathischer Charakter; eingebildet, narzisstisch, bindungsunfähig sowie sex- und karrieresüchtig.

Seine Mutter Greta, die jenseits der 80 ist, besucht er nur selten, obwohl sie auch in Köln lebt. Aber dann kommt der Tag, an dem er seine Mutter abholen muss, die völlig orientierungslos auf der Autobahn von der Polizei aufgegriffen wird. Sie leidet an Demenz im Anfangsstadium. Ihr Sohn holt sie ab, er ist jedoch mit seiner Karriere beschäftigt, hat dafür keine Zeit. Und ehrlich gesagt auch keine Lust. Das Problem aber erledigt sich nicht von selbst und so ist Tom gezwungen, sich mit der Krankheit und zwangsläufig auch mit seiner Kindheit auseinanderzusetzen, denn Greta erzählt erstmals aus ihrem Leben. Als Tom in Gretas Sachen das Foto eines kleinen Mädchens mit dunkler Haut findet, weigert sich Greta, ihm zu verraten, wer das ist. Tom fängt an, nachzuforschen und findet Unglaubliches heraus.
Und hier beginnt der Roman sich zu einer erschütternden, bewegenden und großartigen Geschichte zu entwickeln. Das zeigt sich spätestens beim Zeitsprung in den zweiten Weltkrieg.

Erinnerungen an den zweiten Weltkrieg und was dann geschah

Wie sie und ihre Familie durchhielten und was sie aushalten mussten, wie ihr Weg nach Heidelberg führte. Was dort alles geschah, wird nach und nach berichtet. Durch die Wechsel in 2015 wird Tom deutlich, dass damals irgendwas Bewegendes passiert sein muss und so beginnt der Journalist tiefer zu graben, auch wenn seine Mutter irgendwann nichts mehr dazu sagen will und kann. Dabei wird deutlich:

Der Roman hat mich berührt, gefesselt und teilweise auch fassungslos den Kopf schütteln lassen. Da sind die Ereignisse während des Krieges, aber auch der Umgang mit den Flüchtlingen und den dunkelhäutigen GI’s und manchmal auch das Verhalten von Tom, der mit seiner Bekanntheit sehr arrogant und großkotzig umgeht. Aber er fängt sich ja nach und nach und bedient nicht mehr sämtliche Klischees und das Verständnis für seine Unsicherheiten wächst. Mit der Zeit habe ich ihn sogar ins Herz geschlossen, denn so arrogant und unangenehm wie er zu Beginn war, so empathisch und engagiert ist er später.

Meine Begeisterung war erst verhalten, doch am Ende überzeugt der bildhafte Erzählstil über die Brown Babys

Zugegeben, ich war zwar nicht schon nach den ersten Seiten Feuer und Flamme, aber lange gedauert hat es nicht. Dabei musste ich feststellen, dass mich der Zeitstrang in der Vergangenheit, während und nach dem zweiten Weltkrieg, extrem gefesselt hat, während jener in 2015 erst ein wenig Fahrt aufnehmen musste. Die Flucht aus Ostpreußen, Gretas Angst um den Vater, die Probleme eine Wohnung zu finden und das Fraternisierungsverbot sind aber auch wirklich sehr fesselnd. Und dennoch: Rassismus in der US-Armee und der Umgang mit „Brown Babys“ spielen eine zentrale Rolle – eine ganz schön heftige Geschichte.

Wie erwähnt hat mich das Buch einfach extrem gut unterhalten, und bei all den schwierigen Themen gab es auch immer wieder lustige Momente und Dinge, die einem einfach ein Lächeln ins Gesicht zaubern. Der Schreibstil ist flüssig, bildhaft und somit leicht zu lesen, wenngleich die Inhalte oft schwer verdaulich sind. Die Charaktere sind authentisch gezeichnet, vor allem bei Greta hat mich das tief beeindruckt, denn sie zeigt, wie die Erinnerungen so langsam schwinden und was das für die Betroffenen bedeutet. Gefallen hat mir, dass die Autorin auch originale Ausschnitte von Texten und Nachrichten einbaut.

Die Autorin verbindet hier Fakten mit Fiktion und das macht sie so außergewöhnlich gut, dass man kaum unterscheiden kann, was wahr und was erfunden ist.

Es ist sehr gut erzählte Zeitgeschichte in Romanform. Das Szenario, die Hintergründe, und nicht zuletzt die abscheuliche Menschenverachtung gegenüber anders Denkenden und besonders Menschen mit einer anderen Hautfarbe, wurden von der Autorin bis in Detail genau recherchiert und in einem großartigen, berührenden und spannenden Schreibstil zu Papier gebracht.

Ich kann diesen Roman jedem uneingeschränkt empfehlen.


Buchbesprechung: Raimund Bayer

Stay away from Gretchen: Eine unmögliche Liebe (von Susanne Abel)

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