Experte: Habecks Vorschlag zur Netzreserve ist unseriös. Das könnte Absicht sein

Ein ehemaliges Mitglied der Reaktor-Sicherheitskommission sagt: Den AKW-Betreibern wurde ein Angebot gemacht, das sie nicht annehmen können. War das Absicht?

Will Robert Habeck gar nicht, dass die AKW-Betreiber in die Reserve gehen?
Will Robert Habeck gar nicht, dass die AKW-Betreiber in die Reserve gehen?dpa

In Berlin hat Minister Habeck am Montag vorgestellt, welche Folgerungen er aus dem zweiten Stresstest zum Stromsystem gezogen hat. Er schlägt vor, „eine neue zeitlich und inhaltlich begrenzte Atomkraftwerk-Einsatzreserve aus den beiden südlichen Atomkraftwerken Isar 2 und Neckarwestheim [zu] schaffen“. Die Anlagen sollen für die Einsatzreserve abgeschaltet und kalt gefahren werden. Die Aktivierung der Netzreserve stellt Habeck sich so vor:

·       Bei einer kritischen Entwicklung der Energieversorgung folgt eine vertiefte Analyse unter Beteiligung der Bundesnetzagentur und der Übertragungsnetzbetreiber.

·       Im Fall der Fälle schlägt das Wirtschaftsministerium der Bundesnetzagentur vor, den Abruf der Reserve zu empfehlen.

·       Eine Entscheidung erfolgt dann im Wege einer Regierungsverordnung mit Widerspruchsmöglichkeit des Bundestages.

·       Schließlich erteilt die zuständige Atomaufsichtsbehörde dann die Wiederanfahrgenehmigung.

Danach erst kann mit den Maßnahmen zum Wiederanfahren begonnen werden.

Habeck erwartet so, dass die Anlagen mit großer Wahrscheinlichkeit nicht mehr betrieben werden und bis April still stehen verbleiben. Dann sollen sie ganz zurückgebaut werden.

Dieser Vorschlag kann nur als unseriös bezeichnet werden

Leider berücksichtigt Habeck bei seinem Plan die technischen Gegebenheiten bei einem Streckbetrieb nicht: Nach den Betriebsvorschriften muss dem Kühlmittel im Reaktorkreislauf im Zustand „kalt, abgefahren“ der Neutronenabsorber Bor zugemischt werden. Eine Anlage im Streckbetrieb benötigt jedoch für den Leistungsbetrieb eine Borkonzentration von nahezu null, d.h. vor dem Anfahren müsste zunächst durch Kühlmittelentnahme und Einspeisung von Deionat („destilliertem Wasser“) der Anteil des Bor im Kühlmittel auf nahezu null gesenkt werden.

Bei einem Inventar von über 300 Kubikmetern Kühlmittel müssten riesige Mengen Wasser umgesetzt und wiederaufbereitet werden. Das würde mindestens eine Woche dauern. Zusammen mit dem von Habeck oben vorgesehenen bürokratischen Hindernislauf vor dem Beginn eines Wiederanfahrens könnten zwei und mehr Wochen zwischen Erkennen des Problems und dem Beginn einer Leistungserzeugung verstreichen. Und wenn in einer besonderen Kältephase, in der typischerweise auch der Stromverbrauch höher liegt, der Kühlturm wegen des Nichtbetriebs vereist sein sollte, ginge praktisch gar nichts mehr.

Da sich Notfälle im Netz, wie beispielsweise der Ausfall eines größeren Einspeisers bei angespannter Netzsituation, in der Regel plötzlich ereignen, ist ein Vorschlag, der frühestens zwei Wochen später zusätzlichen Strom bringt, abwegig.

Die Netzbetreiber selbst wollten etwas ganz anderes

Der Vorschlag weicht auch von den Empfehlungen der Netzbetreiber ab: In der Tabelle zu den Empfehlungen der Übertragungsnetzbetreiber am Ende der Sonderanalysen Winter 2022/2023 ist eingetragen, dass die drei Kernkraftwerke mit der im Streckbetrieb maximal möglichen Leistung betrieben werden. Warum es dennoch mit Blick auf die Netzsicherheit vertretbar wäre, faktisch auf die Kraftwerke zu verzichten, wird von Minister Habeck nicht nachvollziehbar oder mit fragwürdigen Argumenten begründet.

Zum einen ist der Vorschlag menschlich unfair. Es liegt hinsichtlich des Kraftwerkpersonals eine spezielle Situation vor: Wegen der politischen Vorgaben enden die Arbeitsverträge etlicher Mitarbeiter mehr oder weniger kurz nach dem 31. Dezember 2022. Diese Personen müssten für Habecks Reservevorschlag bereit sein, ihre Lebensplanung zu ändern. Glaubt Habeck wirklich, das qualifizierte Anlagenpersonal mit der Botschaft motivieren zu können, sie sollten drei Monate aller Wahrscheinlichkeit nach unproduktiv verbringen, der kritischen Energiesituation tatenlos zuschauen und parallel immer gezeigt bekommen, wie politisch unerwünscht ihre Kompetenz ist? Was ist das für ein Menschenverständnis?

Zum anderen ist der Vorschlag wirtschaftlich hanebüchen: Die Anlagen in der Reserve zu halten, das Personal zu bezahlen, alle für die Stilllegung geplanten Arbeiten zu verschieben und den vertraglich gebundenen Firmen wegen der Kurzfristigkeit Konventionalstrafen zu zahlen, würde zig Millionen Euro pro Anlage kosten, die von der Bundesregierung übernommen werden müssten. Offenbar hat Habeck sich vor der Entwicklung des Vorschlags auch nicht mit den Betreibern wegen Umsetzbarkeit und Folgekosten abgestimmt. Dazu wird auch noch auf die preisdämpfende Möglichkeit der sehr kostengünstigen Stromproduktion dieser Kernkraftwerke verzichtet, deren Erzeugungskosten im Bereich von 2 Cent pro Kilowattstunde liegen.  – Wie wichtig ist dem Wirtschaftsministerium eigentlich noch die Wirtschaftlichkeit in dieser angespannten Energiesituation?

Habecks Idee kann ein seriöser Kraftwerksbetreiber nur ablehnen

Man fragt sich, ob der Vorschlag bewusst so konstruiert wurde, um eine Absage zu provozieren. Damit man anschließend behaupten kann „Ich hätte ja gewollt, aber …“? Oder wurden übers verlängerte Wochenende, als der Vorschlag formuliert wurde, keine Personen befragt, die etwas vom Kernkraftwerksbetrieb verstehen?

Darüber hinaus macht der Vorschlag Deutschland international unglaubwürdig: Habeck begründet die Begrenzung der Reservehaltung bis April 2023 unter anderem so: „Die Situation im Stromsystem in diesem Winter ist nicht mit der im Winter 2023/24 zu vergleichen. …. Wir erhöhen die Gas-Importkapazität über schwimmende LNG-Terminals (FSRU) zum Winter 23/24 so stark, dass keine Gasmangellage an den Gaskraftwerken mehr zu befürchten ist.“

Das bedeutet doch im Klartext: Auf dem Weltmarkt wird LNG anderen „weggekauft“, auch denen, die in der Dritten Welt und Europa weniger Möglichkeiten haben, auf andere Energieträger wie Atomkraft auszuweichen. Es wird berichtet, dass es in Pakistan und anderen südlichen Ländern schon wegen Gasmangels zu Stromabschaltungen kommt. Deutschland verbrennt dafür wieder in wachsendem Umfang Erdgas, statt die einsetzbaren Kernkraftwerke zu betreiben. In einigen europäischen Ländern nimmt ebenfalls Kritik über diese Strategie zu. In Schweden gibt es bereits offenen Unmut, dass 600 Megawatt nach Deutschland fließen, die Preise in Schweden hochgetrieben werden und schwedische Kohlekraftwerke wieder ins Gespräch kommen. Ist das mit einer „werteorientierten Außenpolitik“ vereinbar?

Wie ist die Netzreserve mit den Klimazielen vereinbar?

Wenn man die Pressemitteilung des Wirtschaftsministeriums ganz genau liest, kann man auch erkennen, dass ein wichtiger Grund für die erhofft bessere Situation im übernächsten Winter in der Erwartung liegt, dass französische Kernkraftwerke, die jetzt keinen Strom erzeugen, das dann wieder tun werden. Explizit ist das zwar nicht erwähnt, wohl um die Frage zu vermeiden, welche grüne Logik es hat, auf „deutschen Atomstrom“ zu verzichten, nur um „französischen Atomstrom“ zu beziehen. Meint Habeck, dass französische Kernkraftwerke sicherer seien als deutsche?

Und weiter: Ein anderer von Habeck angeführter Grund für eine veränderte Situation im nächsten Jahr versteckt sich in der Formulierung „Wir steigern bis dahin die Verfügbarkeit … . Das Gleiche gilt für … die Kraftwerkskapazitäten“. Gemeint ist damit, dass alte, stillgelegte Kohlekraftwerke wieder in Betrieb genommen werden, die dann die Kernkraftwerke ersetzen sollen und pro ersetztem Kernkraftwerk über 10 Millionen Tonnen CO2 pro Jahr zusätzlich in die Atmosphäre abgeben werden. Wie glaubwürdig ist das in der Klimadiskussion?

Auf Dauer auf Kante genäht

Warum wird so heftig die Einsicht unterdrückt, dass mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit im nächsten Herbst die Situation wieder ähnlich sein könnte? Redlicherweise muss man doch zugeben, dass ein Ersatz durch Wind, Sonne und Speicherung insbesondere wegen der fehlenden wirtschaftlich umsetzbaren großtechnischen Speichermöglichkeiten noch Jahre dauern wird. Es ist ja kein Zufall, dass Monika Grimm, unter den „Wirtschaftsweisen“ Spezialistin für Energiemärkte, kürzlich feststellte, es werde viel Kohleverstromung im System behalten werden müssen, das werde den CO2-Preis nach oben treiben. „Insofern wäre es gut, um diese Effekte abzufedern, die Kernkraft noch ungefähr fünf Jahre laufen zu lassen“. Darf über diese Einsicht erst nach dem 9. Oktober, dem Datum der Landtagswahl in Niedersachsen, gesprochen werden? Oder gar nicht, weil ein Weiterbetrieb zwar nicht für die Umwelt, aber für den Zusammenhalt der Grünen problematisch wäre? Soll stattdessen jetzt halb- oder vierteljährlich an akuten Notlösungen rumgebastelt werden?

Schließlich: Fast am Ende seiner Pressemitteilung äußert Habeck: „Die Einsatzreserve soll im Energiesicherungsgesetz geregelt werden. Sie setzt zudem voraus, dass keine Abstriche von den üblichen Sicherheitsanforderungen gemacht werden. Entsprechend ist eine belastbare Prüfung des Sicherheitszustandes nötig.“ – Dass keine Abstriche an Sicherheitsanforderungen gemacht werden, ist unstrittig. Umso mehr verwundert es, dass genau die Institution, die von der Bundesregierung für eine Beratung in kerntechnischen Sicherheitsfragen vorgesehen und berufen wurde, die Reaktor-Sicherheitskommission, von Habecks Kabinettskollegin, Umweltministerin Lemke, trotz wiederholter Hinweise bis jetzt nicht in die Bewertung des Sicherheitszustands eingebunden wurde. – Warum? Weil diese Kommission sich in den vergangenen Jahren an die satzungsgemäße Aufgabe einer wissenschaftlich fundierten Beratung der Regierung gehalten hat und für Vorgaben zu politisch gewünschten Beratungsergebnissen unzugänglich war? – Wie glaubwürdig ist das Ausschließen der Reaktor-Sicherheitskommission denn, wenn von „ergebnisoffenen Prüfungen“ gesprochen wird?

Eigentlich ist das Ganze nur noch traurig

Nach Putins Angriff auf die Ukraine war vielen Menschen klar, dass es eine „Zeitenwende“ geben müsse – nicht nur in der Außenpolitik, sondern auch in der stark betroffenen Energiepolitik. Eigentlich musste klar sein, dass eine ergebnisoffene Prüfung mit Festhalten am jeweiligen Behauptungskanon aus den vergangenen Jahrzehnten, mit oft nur konstruierten Argumenten, nicht funktionieren konnte. Und ich habe bei vielen auch die Bereitschaft wahrgenommen, jetzt zusammen anzupacken und nicht die „alten Schlachten“ erneut aufzuführen.

Ich hatte gehofft, dass Habeck, der nach einem Ukraine-Besuch im letzten Jahr eine bemerkenswerte Offenheit für wichtige Neubewertungen zeigte, dies auch beim Energiethema schaffen würde. Aber das von ihm mitgetragene, regelmäßige Abspulen des „Anti-Atomkraftwerk-Kanons“ mit in den 80er-Jahren entstandenen Behauptungen, selbst wenn diese inzwischen auch für Laien erkennbar falsch sind, hat die „Schützengräben“ erneuert. Von wem hat sich Habeck da beraten lassen? – Traurig, diese Chance für eine Zeitenwende wurde bisher verpasst.

Man sollte Brücken erst einreißen, wenn ausreichend neue vorhanden sind

Offensichtlich wird Zeit benötigt, die Energiesituation und Auswege aus der Krise noch einmal – jetzt tatsächlich – offen zu diskutieren. Nicht nur offen hinsichtlich des Ergebnisses, sondern auch offen für unbequeme, aber fundierte Einschätzungen, nicht nur zu Kernkraftwerken, sondern insgesamt zu den diversen, wichtigeren Problemen einer Energiewende. Um diese Zeit zu bekommen, wäre es zielführend, die Kernkraftwerke im Streckbetrieb, danach eventuell auch unter Nutzung noch nicht „ganz abgebrannter“ Brennelemente in den internen Lagerbecken bis in den Frühsommer 2023 mit der möglichen Leistung zu betreiben, sowie parallel frische Brennelemente für je eine Nachladung zu bestellen. Im Sommer könnte dann bei geringeren Engpässen in der Stromversorgung eine ausführliche Revision mit Brennelementwechsel erfolgen.

Damit wäre bis ins Jahr 2024 genug Zeit, besser zu klären, wann ausreichend Wind, Sonne und Speicherkapazität zu welchen Kosten realistischerweise zur Verfügung stehen könnten. Wenn das – wie manche hoffen –in etwa einem weiteren Jahr so sein sollte, könnte nach einem weiteren Brennelementewechsel Schluss gemacht werden, falls das politisch-gesellschaftlich unter Berücksichtigung der Strompreise dann gewollt ist. Eine Betriebszeit von zusätzlich drei Jahren könnte – ohne sicherheitstechnische Abstriche und vorbehaltlich einer entsprechenden Stellungnahme der Reaktor-Sicherheitskommission – wohl relativ einfach bewältigt werden.

Wunschdenken ohne Realitätsbezug

Wenn sich – wie von vielen Fachleuten erwartet – jedoch zeigen sollte, dass dieser Zeitpunkt einer ausreichenden Alternative deutlich weiter in der Zukunft liegen dürfte, würde der erforderliche Aufwand für einen gewünschten Weiterbetrieb größer werden, zum Beispiel bei der Einarbeitung von neuem Personal oder bei der Ersatzteilbeschaffung. Aber das könnte dann auf Basis einer solideren Kenntnis der Sachlage entschieden werden, ohne Hauruckaktionen auf Basis von Wunschdenken, die einem schon nach ein paar Monaten wieder auf die Füße fallen.

Wenn man sich die vom Bundeswirtschaftsministerium zusammengestellte Liste anschaut, auf der die Maßnahmen verzeichnet sind, die im Jahr 2023 die Situation entscheidend verbessern sollten, findet man Zusammengekratztes und viel „Prinzip Hoffnung“. Damit sind weitere Diskussionen zu den Auswirkungen einer Energiemangellage für 2023/24 und die Folgejahre programmiert. Allerdings hätte Habeck im Herbst 2023 mit der Aussage recht, dass nun der Weiterbetrieb der vorhandenen Kernkraftwerke wegen längeren Nichtbetriebs und begonnener Abbaumaßnahmen doch schwieriger geworden sei. Dann aber wären in der Hoffnung, dass der Bau neuer Brücken schneller gelungen wäre, die vorhandenen Brücken schon abgerissen.