Deutschland kurz vor AdBlue-Engpässen: „Es drohen nicht nur leere Supermarkt-Regale!“

Hohe Gaspreise sorgen in Deutschland bereits für einen AdBlue-Mangel. Ohne diesen wichtigen Abgas-Reinigungsstoff dürfen Lkw nicht fahren. Die Folgen könnten dramatisch sein.

Eine AdBlue-Tankstelle in Deutschland
Eine AdBlue-Tankstelle in Deutschlandimago/Cord

Nicht nur Haushalte und Firmen fragen sich gerade, wie sie die hohen Preise für Energie noch bezahlen sollen. Chemieunternehmen, die auf Gas als Rohstoff in der Produktion von Chemikalien angewiesen sind, stoppen die Produktion bereits – mit unabsehbaren Folgen für uns alle.

Die Stickstoffwerke (SKW) Piesteritz gelten zum Beispiel mit einem Marktanteil von etwa 40 Prozent als Deutschlands wichtigster AdBlue-Produzent, zu ihren Kunden gehört selbst die PCK-Raffinerie in Schwedt. Seit drei Wochen produziert das Chemieunternehmen jedoch keine Düngemittel mehr und kein AdBlue, diesen für alle Lastkraftwagen unverzichtbaren Abgas-Reinigungsstoff in Form einer Harnstofflösung. Den Mitarbeitern droht Kurzarbeit.

„Ohne AdBlue stehen die meisten Lkw still“

Schon in ein paar Wochen könnten in Deutschland deswegen die ersten Engpässe infolge eines AdBlue-Mangels auftreten, warnt der Bundesverband Gütertransport und Logistik (BGL). Was bedeutet das für die Wirtschaft des Landes? Der BGL-Sprecher Martin Bullheller redet Klartext: „Seitdem der größte AdBlue-Produzent in Deutschland die Produktion eingestellt hat, läuft die Uhr. Sind die AdBlue-Reserven bei Händlern und Transportunternehmen aufgebraucht, noch bevor die Bundesregierung den Ernst der Lage erkennt und geeignete Gegenmaßnahmen ergreift? Ohne AdBlue stehen die meisten Lkw still. Es drohen nicht nur leere Supermarktregale.“

Laut der Mautstatistik des Bundesamtes für Güterverkehr wurden im Juli 2022 fast 91 Prozent der Lkw-Transporte auf deutschen Autobahnen und Bundesstraßen mit Euro-VI-Lkw durchgeführt. Und diese und andere Lkw würden zwingend AdBlue benötigen, so Bullheller. Mehr als 70 Prozent aller Güter und Waren werden in Deutschland mit Lkw transportiert. Andere Verkehrsmittel wie die Straßenbahn oder die Eisenbahn könnten mögliche Ausfälle nicht kompensieren. „Es droht wirklich eine massive Einschränkung von Wirtschaft und Bevölkerung“, warnt der BGL-Sprecher.

Der Preis für AdBlue hat sich nach seinen Angaben von Januar 2021 bis Ende August 2022 sowieso schon fast vervierfacht, bei den BGL-Mitgliedsunternehmen bis September bereits verfünft- oder versiebenfacht. Es komme nun darauf an, wie viel AdBlue bei den jeweiligen Transportunternehmen noch vorhanden und wie viel noch im Handel zu „ergattern“ sei. Zahlreiche AdBlue-Händler würden Neukunden ablehnen und Bestandskunden bereits nur mit limitierten Mengen beliefern.

Was die SKW Piesteritz dazu sagen

Die Stickstoffwerke Piesteritz hoffen inzwischen auf eine Lösung vom Bund. Die vertraulichen Gespräche mit der Bundesregierung würden gerade laufen, sagt der Sprecher Christopher Profitlich der Berliner Zeitung. Am heutigen Montag hat der AdBlue-Produzent nach eigenen Angaben damit begonnen, seine Maschinen wieder für eine mögliche Betriebsaufnahme warm zu machen – für den Fall, dass die Bundesregierung eine Lösung anbiete. Aber es werde noch nichts produziert, weil „wir uns es nicht leisten können“. Der Grund klingt einfach und bitter. „Das Gas ist zwar verfügbar. Aber es ist zu teuer. Man kann auch sagen: Es gibt genug Gas, weil das Gas einfach so teuer ist.“

Erwartet Deutschland jetzt wirklich massive Engpässe bei den AdBlue-Lieferungen? „Wenn Produzenten nicht produzieren, ist es absehbar, was passiert“, kommentiert Christopher Profitlich weiter. Wer an der Stelle die Menschen beruhigen wolle und sage, es werde nichts Schlimmes geschehen, verstehe nicht, wie ernst die Lage sei. „Wenn Sie ein Kind sehen, das auf einen Abgrund zuläuft, dann können Sie sagen: ‚Ja, aber momentan ist das Kind ja noch nicht heruntergefallen‘“, so der Unternehmenssprecher. „‚Wann handele ich: Wenn es gefallen ist? Oder verhindere ich, dass es fällt?‘ So ist die Situation. Wir produzieren im Moment kein AdBlue.“ Neben den SKW Piesteritz produzieren zwar noch BASF und Yara AdBlue in Deutschland. „Doch das Problem trifft die ganze Industrie“, so der SKW-Sprecher Profitlich.

Keine „positive Rückmeldung“ von der Bundesregierung

Der Bundesverband Gütertransport und Logistik hat dieses Problem für die gesamte Industrie schon längt erkannt und drängt auf eine allgemeine Lösung. Der Hauptgeschäftsführer des Verbandes Dirk Engelhardt fordert von der Bundesregierung die Einberufung eines „runden Tisches Logistik“. Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) fahre „Deutschland sehenden Auges gegen die Wand“, so Engelhardt. Die Importe von AdBlue seien auch schwer, weil „überall in Europa die Werke stillstehen“ und die Transportkapazitäten fehlen würden, sagte Engelhardt am Donnerstag dem Focus.

Können die Lkw dann ohne AdBlue fahren? „Das ist verboten“, sagt der Sprecher des Verbandes. Es gebe in den Lkw einen Abgassensor, der den Stickoxidanteil kontrolliere. Wenn dieser Anteil zu hoch sei, werde die Leistung des Motors automatisch gedrosselt. Sonst werden die Abgase zu schädlich für die Umwelt. „AdBlue ist auch durch nichts zu ersetzen. Es gibt einfach keine Alternative.“ Und es gebe noch keine „positive Rückmeldung“ von der Bundesregierung. Der Verband sehe im Moment nicht, dass „die Bundesregierung hier aktiv werden will“.

Das Wirtschaftsministerium sagt dazu, es gebe noch „keinen akuten Mangel an Adblue“, zitiert der Verbandssprecher mit einem bitteren Schmunzeln. „Dann hoffen wir doch mal, dass das kluge Wirtschaftsministerium Recht behält.“

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