Gewalt gegen Kinder: Wenn Eltern foltern

Celestine wurde von ihren Eltern geschlagen und gedemütigt - und hat überlebt, weil das Jugendamt sie noch rechtzeitig da rausgeholt hat. Ihre Eltern erhielten nun Bewährungsstrafen.

Die 5-jährige Lea-Sophie starb letzte Woche. Celestine überlebte ihre Misshandlung. Bild: dpa

Celestine: Immer wieder werden tödliche Fälle von Kindesmisshandlung bekannt. Der Fall Celestine gehört nicht dazu, weil das Mädchen sein Martyrium überlebt hat. Als das Berliner Jugendamt 2003 die damals Siebenjährige den Eltern wegnahm, hatte sie Schreckliches erlebt: In ihrer neunköpfigen Familie wurde sie gefoltert. Celestine lebt heute in einer Pflegefamilie, sie wird ihr Leben lang seelisch behindert bleiben.

Lea-Sophie: In der vergangenen Woche starb in Schwerin die fünf Jahre alte Lea-Sophie. Ihre Eltern hatten sie verhungern lassen. Eine Woche vor ihrem Tod hatte der zuständige Sozialarbeiter nicht darauf bestanden, das Kind zu sehen. Gegen das Jugendamt laufen Anzeigen wegen unterlassener Hilfeleistung.

Jacqueline: Im März dieses Jahres wurde im hessischen Bromskirchen der Hungertod der 14 Monate alten Jacqueline bekannt. Das Mädchen wog mit sechs Kilo nur noch halb so viel wie andere Kinder in ihrem Alter. Das Kind hatte seit Monaten keinen Arzt gesehen.

Leon: Im Dezember 2006 verdurstete im thüringischen Sömmerda der 9 Monate alte Leon. Die Mutter hatte ihn und seine zweijährige Schwester in der Wohnung zurückgelassen. Das Mädchen wurde nach vier Tagen gerettet, nachdem sich Mitarbeiter des Jugendamtes Zugang zu der Wohnung verschafft hatten.

Mehmet: Im Oktober 2006 starb im sächsischen Zwickau der vierjährige Mehmet an Hirnblutungen. Sein Stiefvater hatte das Kind unter anderem mit einem Bambusstock geschlagen und ihn nachts an sein Bett gefesselt. Die Eltern mussten sich wegen Totschlags verantworten, dem Jugendamt konnte kein Fehlverhalten nachgewiesen werden. Mehmets drei Geschwister leben heute bei Pflegefamilien.

Kevin: Im Oktober 2006 fand die Bremer Polizei den zwei Jahre alten Kevin tot in einem Kühlschrank. Sein Ziehvater soll den Jungen brutal misshandelt und schließlich getötet haben. Der Fall sorgte bundesweit für Entsetzen, weil der Junge unter der Vormundschaft des Jugendamtes gestanden hatte. Ein Urteil in dem Prozess steht noch aus.

Jessica: Im März 2005 verhungerte in Hamburg die siebenjährige Jessica. Das Kind war an seinem Erbrochenen erstickt. Zum Todeszeitpunkt wog sie nur noch 9,6 Kilo, sie konnte weder sprechen noch gehen. Die Eltern wurden wegen Mordes zu lebenslanger Haft verurteilt. Die Stadtregierung gestand eine Mitverantwortung ein. Mehrfach hatte ein Mitarbeiter der Schulbehörde an der Tür geklingelt, weil Jessica nicht in der Schule erschienen war, und war unverrichteter Dinge wieder gegangen.

Dennis: Im Juni 2004 wurde im brandenburgischen Cottbus die Leiche von Dennis gefunden. Der sechsjährige Junge starb laut Gutachten um Weihnachten 2001 an Unterernährung. Die Mutter des Kindes wurde im August 2007 in einer Neuauflage des Prozesses wegen Totschlags zu 13 Jahren Haft verurteilt, der Vater zu elf Jahren. AM

BERLIN taz Celestine erträgt Handwerkermärkte nur schwer. Als die zwölfjährige Berlinerin vor ein paar Monaten in einem Bauhaus war, sah sie in den langen Regalen ein silberfarbenes Klebeband liegen - und musste das Gebäude sofort verlassen. Das Klebeband erinnerte sie an ihr Martyrium, das sie einst mit knapper Not überlebt hat. Weil sie so laut war, hatten ihre Eltern ihr wochenlang, vielleicht länger, mit einem solchen Tape den Mund zugeklebt. Es blieb nur ein kleines Loch, damit sie noch atmen konnte. Soll man sagen: immerhin?

Am Dienstag wurde ihren Eltern vor dem Amtsgericht Berlin, Saal B 143, der Prozess gemacht. Die Anklage lautete auf Misshandlung einer Schutzbefohlenen. Das Ehepaar Michael und Silke R. sollen die damals siebenjährige Celestine im Juni und Juli 2003 mehrfach schwer misshandelt haben. Als sie Anfang Juli vom Jugendamt aus der Familie gerettet und in das Berliner St.-Josef-Krankenhaus gebracht wurde, musste sie dort zwei Wochen stationär behandelt werden - sie hatte überall am Körper Verletzungen, am schwersten an der Scheide und unter einem Auge.

Silke und Michael R. erscheinen vor Gericht, schnell laufen sie an den Fotografen vorbei, die sie mit einem Blitzlichtgewitter empfangen, bevor sie den Gerichtssaal mit seiner niedrigen Decke betreten. Die Angeklagten halten sich bei den Händen. Silke R., Jahrgang 1967, ist gekleidet in Jeans und einem rosa-ocker-farbenen Pullover, sie trägt Turnschuhe und eine sorgsam geschnittene Kurzfrisur, die Angeklagte hat Friseurin gelernt. Ihr Mann Michael R., Jahrgang 1961, ist Elektroinstallateur, er trägt ebenfalls Jeans, Turnschuhe und eine braun glänzende Bomberjacke, seine Ohren sind mit diversen Kettchen behängt. Unter seiner Jacke, die er bald auszieht, ist ein grauer Kapuzenpullover zu erkennen. Auf ihm steht - ausgerechnet - Lucky Punch, glücklicher Schlag. Weiß Michael R., was das heißt: Lucky Punch?

Bei der ersten Befragung der Angeklagten wird deutlich: Es gibt Parallelen zum gerade diskutierten Fall der in Schwerin verhungerten Lea Sophie. Und wenn das Wort Unterschicht überhaupt sinnvoll ist, dann gehören die beiden Angeklagten sicher dazu. Silke R. hat mit 20 ihr erstes Kind mit ihrem Mann Michael bekommen - mittlerweile sind es acht. Sie ist Hausfrau, er ist seit zwei Jahren arbeitslos, sie leben von Hartz IV. Die Familie, noch immer wohnen sechs Kinder zu Hause, lebt zu acht in einer Dreizimmerwohnung auf 77 Quadratmetern. Michael R. schätzt, dass sie monatlich samt Kindergeld mit etwa 2.250 Euro netto auskommen müssen.

"Im Wesentlichen", sagt Michael R. anfangs, treffe die Anklage zu - aber dann streitet das Ehepaar die meisten Taten nach und nach ab: Nein, Celestine sei nicht geknebelt worden, auch nicht gefesselt. Sie habe nur nachts wegen ihrer wunden, mit einer Heilsalbe eingecremten Scheide Handschuhe tragen müssen, die sie mit Klebeband am Unterarm befestigt habe, sagt die Mutter. Nein, sie habe nicht tagelang unter einer Decke auf einer Matratze liegen müssen. Und zur Toilette habe sie auch gehen dürfen, wenn sie wollte. Nein, sie habe nicht nur Haferflocken zu essen bekommen. Nein, sagt Michael R., er habe seine Tochter nicht beim Zubettbringen mit dem Kopf ins Gesicht gestoßen. Nein, man habe nicht mit dem Duschkopf ihre Scheide blutig geschlagen. Nein, weder mit dem Staubsaugerrohr noch mit dem Kochlöffel sei Celestine geschlagen worden - höchstens von ihren Geschwistern. "Unter Kindern gibt es immer mal Streitigkeiten." Sie sei eben das "schwierigste Kind" gewesen, habe in der Nacht Krach gemacht, obwohl er damals regelmäßig um vier Uhr aufstehen musste. Ja, und ab und zu habe sie auch mal den Hintern voll bekommen.

Die Richterin und die Staatsanwältin haken nach, hartnäckig, aber höflich - und recht schnell wird klar: Doch, es hat sich alles so abgespielt, wie die Anklage es festgehalten hat. Stück für Stück räumen die Angeklagten die Vorwürfe ein. "Es war so, ist schon so", sagt Michael R. am Ende. Auch Silke R. flüstert schließlich bei jeder Beschuldigung: "Ja." Mehr nicht. Die Richterin sagt: "Das ist Folter, was sie da gemacht haben."

Die Pflegemutter der Geschädigten wird als Zeugin gehört, seit vier Jahren lebt Celestine nun bei der gelernten Erzieherin. "Mindestens zweimal die Woche", erzählt die 45-Jährige, habe ihr Pflegekind Alpträume. Erst langsam fasse sie wieder Vertrauen zu anderen und zu sich. Zweieinhalb Jahre lang habe Celestine eine Therapie für traumatisierte Kinder bekommen, dann aber wegen "Therapiemüdigkeit" beendet. Nun sei sie in einer Reittherapie, aber die Prognose sei schlecht. Ihre Betreuer sagten, sie werde wohl "ihr Leben lang" unter der Folter leiden. Sie bleibe "seelisch behindert durch mehrere Traumata". Anfangs habe es noch ein paar Telefonate mit den Eltern gegeben. Sie hätten dabei "Gemeinheiten" geäußert. Als Celestine einmal erzählte, dass ihre Pflegemutter ihr abends etwas vorlese, habe Silke R. gesagt: "Ach, lesen kannst du immer noch nicht?" Die Pflegemutter sagt, bei drei arrangierten Treffen nach der Rettung aus ihrer Familie habe sie den Eindruck gehabt, dass es Celestines Eltern am Ende gar nicht mehr um ihre Tochter gegangen sei: "Es ging immer nur darum: weg, weg, weg."

Die Pflichtverteidigerin und ihr Kollege befragen Silke R. und ihren Mann - es geht um die Entlastung der Angeklagten. Silke R. erzählt, ihr Vater, ein Justizvollzugsbeamter, habe sie in ihrer Kindheit immer geschlagen, wenn sie schlechte Noten nach Hause gebracht habe: "Am liebsten hat er es dann immer mit der Hundepeitsche getan."

Auch Michael R. sagt, sein Vater habe ihn als Kind dauernd geprügelt. Als er 13 Jahre alt war, sei sein Papa gestorben. "Ich habe das als Wohltat empfunden, dass er gestorben ist." Michael R. sagt, seine Schwester sei seit Jahrzehnten drogenabhängig und auf den Strich gegangen. Sie sei eine Freundin der berühmten Fixerin Christiane F. vom Bahnhof Zoo. Als seine Schwester Ende der Achtzigerjahre eine Zeit lang bei ihnen gewohnt und dort auch Drogen gelagert habe, habe er sie rausgeschmissen, sagt Michael R.: "aus Angst um die Kinder".

Mit ihrem Urteil folgt die Richterin im Wesentlichen dem Antrag der Staatsanwältin: Wegen Misshandlung einer Schutzbefohlenen werden Silke und Michael R. zu zwei Jahren auf Bewährung verurteilt. Für sie sprächen unter anderem die Geständnisse und der späte Zeitpunkt des Prozesses. Die Angeklagten nehmen nach kurzer Absprache mit ihren Anwälten das Urteil an. Nach gut drei Stunden ist alles vorbei, Celestine wird ihr Leben lang leiden. In einer Prozesspause schauen sich Silke und Michael R. gemeinsam Fotos an. Es sind Kinderbilder.

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