• Zentrum für Prävention und Intervention im Kindes- und Jugendalter (ZPI)

    © Universität Bielefeld

Die Suszeptibilität von Jugendlichen für Antisemitismus im Gangsta Rap und Möglichkeiten der Prävention

Projektlaufzeit:

  • ab 01.05.2020

Projektleitung:

Projektmitarbeit:

Gefördert durch:

  • Antisemitismusbeauftragte des Landes Nordrhein-Westfalen, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger

    Staatskanzlei NRW

Die Hiphop-Kultur ist derzeit die größte und wichtigste Jugendkultur. Im Gangsta-Rap lässt sich seit längerer Zeit beobachten, dass ein hypermaskuliner Körperkult, autoritäre Machtfantasien sowie Heroisierungs- und Martialitätsvorstellungen zentrale Motive der Selbstinszenierung der meist männlichen Künstler bilden. Diese vermitteln in ihren Liedern, Musikvideos und Stellungnahmen in sozialen Netzwerken seit einigen Jahren sexistische und antifeministische Rollenbilder, autoritäre Moral- und Gesellschaftsvorstellungen sowie verschwörungsideologische und antisemitische Interpretationen globaler Herrschaftsverhältnisse. Während in der Forschung weitgehend Einigkeit herrscht, dass die Texte der Künstler unbestreitbar Ideologien der Ungleichheit transportieren, liegen aktuell keine belastbaren Daten über die Wirkung und den Einfluss der Ideologien auf die Wahrnehmung und das Denken von Jugendlichen vor.

Das Forschungsprojekt wird hier erste Daten liefern und den Wirkungszusammenhang des Konsums von Gangsta-Rap und der Empfänglichkeit von Antisemitismus und Ideologien der Ungleichheit mit quantitativen und qualitativen Methoden untersuchen. Darüber hinaus werden auf Grundlage der Ergebnisse Empfehlungen für den Umgang mit Gangsta-Rap im Kontext schulischer sowie außerschulischer Bildung gemacht.


Forschungsleitende Fragen

Rap ist die derzeit größte und bedeutsamste Jugendkultur in Deutschland. In den letzten 20 Jahren hat sich der deutschsprachige Gangsta-Rap zum ökonomisch erfolgreichsten und reichweitenstärksten Rap-Genre herausgebildet (vgl. Seeliger 2021: 34). Heute erreichen die Vertreter*innen des Gangsta-Rap sowohl über ihre Musik als auch über ihre Social-Media-Präsenz Millionen von Jugendlichen und junge Erwachsene. Im April 2018 lösten antisemitische Textzeilen der beiden Gangsta-Rapper Kollegah und Farid Bang eine breite Mediendebatte über antisemitische Inhalte im deutschsprachigen Rap aus (vgl. Baier 2019ff.). Bereits seit über zehn Jahren zeigt sich, dass antisemitische Motive und Narrative sowohl offen als auch subtil in die meist hypermaskuline und misogyne Selbstinszenierung von bekannten, hauptsächlich männlichen Vertretern des Gangsta-Rap eingebunden sind (vgl. Grimm/Baier 2020).

Mit Blick auf die Bedeutsamkeit von jugendkulturellen Inhalten, Ästhetiken und Handlungspraxen  im Allgemeinen (vgl. Pfaff 2006: 9ff.) und die im Gangsta-Rap vermittelten Identitätsangebote im Speziellen, stellen sich Fragen zum Wirkungspotential von deutschsprachigen Gangsta-Rap:

  • Wie nehmen Jugendliche die Inhalte des Gangsta-Rap wahr und wie beurteilen sie das Verhältnis von genrespezifischer Inszenierung und den von Gangsta-Rapper*innen erhobenen Anspruch auf Authentizität?
  • Inwiefern erkennen Jugendliche antisemitische Inhalte und auf welche Weise korrespondieren die im Gangsta-Rap vermittelten antisemitischen Motive mit den Einstellungsmustern der jugendlichen Hörer*innenschaft?
  • Gibt es einen Zusammenhang zwischen Gangsta-Rap-Konsum und antisemitischen Einstellungsmustern von Jugendlichen? Welche Unterschiede und/oder Parallelen zeigen sich beim Verhältnis von Gangsta-Rap-Konsum und misogynen und/oder rassistischen Einstellungen?

Die Ergebnisse aus dem Forschungsprojekt „Die Suszeptibilität von Jugendlichen für Antisemitismus im Gangsta-Rap und Möglichkeiten der Prävention“ geben (erste) Antworten auf diese Fragen.


Forschungsdesign

In Kooperation mit dem IPSOS-Forschungsinstitut wurden im Zeitraum von Mai bis November 2020 insgesamt drei konsekutive Studien zum Gangsta-Rap-Konsum von Jugendlichen und jungen Erwachsenen aus Nordrhein-Westfalen durchgeführt:

  1. eine qualitative Vorstudie durch die Universität Bielefeld
  2. eine qualitative Studie durch das Ipsos Forschungsinstitut
  3. die quantitative Hauptstudie durch das Ipsos Forschungsinstitut

Im Rahmen einer (1) qualitativen Pilotstudie wurden im Mai bis August 2020 zunächst sechs Jugendliche im Alter von 10 bis 22 Jahren in Einzel-Interviews zu ihren Hör- und Konsumgewohnheiten im Bereich Rap befragt. Auf Basis der Einzel-Interviews wurde ein Leitfaden für Gruppen-Interviews entwickelt. Anschließend wurden in einer (2) qualitativen Studie im August und September 2020 insgesamt acht Online-Einzelinterviews sowie sechs Online-Gruppendiskussionen mit jeweils sechs Teilnehmenden durchgeführt.

Schließlich wurden in einer (3) quantitativen Hauptstudie insgesamt 500 in NRW lebende Jugendliche und junge Erwachsene im Alter von 12 bis 24 Jahren mittels eines Online-Fragebogen zu ihrem Gangsta-Rap-Konsum befragt. Neben der Genre-Orientierung, Hip-Hop- und Gangsta-Rap-Präferenzen sowie (online-)Hörgewohnheiten wurden auch Text-, Bild- und Videointerpretationen erfragt. Außerdem wurden soziodemografische Merkmale, der Bildungsgrad, Angaben zum familiären Wohlstand, Formen der Mediennutzung und Medienkompetenz erhoben. Darüber hinaus wurden Einstellungen zu Chauvinismus & Hypermaskulinität, Gewalt und Ungleichheit erhoben.


Forschungsergebnisse

Gangsta-Rap-Lieder handeln häufig von Gewalt und Delinquenz, thematisieren jedoch auch immer wieder Aspekte sozialer Randständigkeit und Prekarisierung. Gangsta-Rapper beschreiben darin ihre sozioökonomische Aufstiegsaspirationen, die sie mit Hilfe von musikalischen und kriminellen Erfolg zu realisieren versuchen. In den Einzel- und Gruppeninterviews erklärten die befragten Jugendliche, dass sie sich mit den Aufstiegsaspirationen und der Prekarisierungskritik identifizieren können. Sie schätzen die Geschichten von Gangsta-Rapper die sich aus sozioökonomisch schwierigen Verhältnissen und/oder der kriminellen Vergangenheiten hochgearbeitet haben. Sie nehmen die Aufstiegserzählungen im Gangsta-Rap wahr und bewerten sie positiv. Häufig werden sympathisch wirkende Gangsta-Rapper als Personen angesehen, die uneigennützig auf Missstände in der Welt aufmerksam machen. 

Bei den Interviewten besteht wenig Wissen über das Thema Antisemitismus. Sie identifizieren Juden und Jüdinnen als Religionsgruppe und verfügen über ein Grundwissen über die Judenverfolgung unter dem Nationalsozialismus, die sie als schockierend erachten und ablehnen. Mit Juden und Jüdinnen assoziierte Klischees oder Verschwörungserzählungen kennen sie nur sehr selten und sie sind auch nicht in der Lage, entsprechende antisemitisch konnotierte Codes (z.B. „Rothschild“ oder „Bilderberger“) im Rap zu erkennen. Gleiches gilt für israelbezogenen Antisemitismus.

Bei der Auseinandersetzung mit spezifischen Verschwörungserzählungen wird deutlich, dass besonders unplausible Erzählungen (wie die der flachen Erde) abgelehnt werden; teilweise wird hier aber auch eingeräumt, dass man seine Überzeugungen zugunsten der Verschwörungserzählungen kritisch hinterfragen muss. Bei etwas plausibler wirkenden politischen, komplexen Verschwörungserzählungen zeigt sich wenig Gespür für deren Wahrheitsgehalt – stattdessen wird zugrundeliegenden Annahmen der Unterteilung der Welt in machtlos und mächtig unkritisch zugestimmt.

Die für NRW repräsentative quantitative Erhebung in der Zielgruppe der 12- bis 24-Jährigen (n=500) mittels Fragebogen ergibt, dass Gangsta-Rap – entgegen der weitläufigen Auffassung – nicht primär von prekarisierten Jugendlichen konsumiert wird. Das Sozialprofil (bemessen an einem Indikator für den familiären Wohlstand) der Gangsta-Rap-Hörer*innen ist ressourcenstärker als das der Nicht-Hörer*innen.

Abbildung 1: Verteilung von Familienwohlstand bei Gangsta-Rap-Hörer*innen

Gangsta-Rap-Hörer*innen sind im Schnitt häufiger männlich. Knapp drei von fünf (58,9%) Gangsta-Rap-Hörer*innen sind männlich, nur rund zwei von fünf (41,1%) sind weiblich.

Abbildung 2: Geschlechterverteilung bei Gangsta-Rap-Hörer*innen

Gangsta-Rapper werden von jungen Menschen als gesellschaftskritisch wahrgenommen; ein bedeutender Teil der Jugendlichen wertschätzt ihre sozialkritischen Äußerungen. So gibt ein Viertel der Befragten (26,7%) an, Gangsta-Rapper würden unbequeme Wahrheiten aussprechen. Jede*r Dritte (36,6%) glaubt, dass Gangsta-Rapper auf wichtige politische Themen aufmerksam machen. 43,6 Prozent der Jugendlichen nimmt Gangsta-Rap als Musikgenre wahr, in dem Menschen mit viel Geld und Macht kritisiert werden.

Abbildung 3: Wahrnehmung von politischen Inhalten im Gangsta-Rap

Um mögliche Korrelationen von Gangsta-Rap-Konsum und antisemitischen Einstellungen zu ermitteln, wurde zunächst die Zustimmung der Gangsta-Rap-Hörer*innen zu klassischem, sekundärem und israelbezogenen Antisemitismus erhoben. Es wurde eine Indexvariable Antisemitismus aus den Items gebildet, auf deren Grundlage die Befragten in drei Gruppen geteilt wurden: sehr antisemitisch (26,5%), etwas antisemitisch (37%) sowie nicht antisemitisch 36,5%).

Abbildung 4: Verteilung Antisemitismusgruppen (Darstellung in Prozent)

Die Ergebnisse der Studie zeigen, dass es einen direkten Zusammenhang zwischen dem Konsum von Gangsta-Rap und antisemitischen Einstellungen gibt: Gangsta-Rap-Hörer*innen neigen im Durchschnitt häufiger dazu, antisemitische Einstellungen zu vertreten. So geben 81,4 Prozent der sehr antisemitischen Gruppe an, sehr gerne oder gerne Gangsta-Rap zu hören, während nur knapp ein Drittel (31,3 %) der etwas antisemitischen Gruppe und knapp die Hälfte (48,9%) der nicht antisemitischen Gruppe (sehr) gerne Gangsta-Rap hört.

Abbildung 5: Gangsta-Rap-Konsum nach Antisemitismusgruppen | Frage: Würdest du sagen, dass du gerne sogenannten „Gangsta-Rap“ hörst? (Darstellung in Prozent)

Mit Blick auf antisemitische Einstellungen der Gangsta-Rap-Hörer*innen zeigen sich Unterschiede entlang der Variablen Alter, Geschlecht und Bildungsweg. So ist die Gruppe der sehr antisemitisch eingestellten Gangsta-Rap-Hörer*innen tendenziell jünger als die der nicht antisemitisch eingestellten Gangsta-Rap-Hörer*innen. So sind 79,7 Prozent der sehr antisemitischen Gruppe zwischen 12 und 18 Jahren alt, während im Vergleich dazu 70,1 Prozent der etwas antisemitischen und 72,3 Prozent der nicht antisemitischen Gruppe dieser Alterskategorie zuzuordnen sind.

Zudem sind antisemitische Gangsta-Rap-Hörer*innen häufiger männlich. 76,3 Prozent der sehr antisemitischen Gruppe sind männlich, aber nur 48,9 Prozent der nicht antisemitischen Gruppe.

Abbildung 6: Gangsta-Rap-Hörer*innen, Geschlechterverteilung der Antisemitismusgruppen

In Bezug auf die Variable Bildung zeigt sich, dass sehr antisemitisch eingestellte Hörer*innen häufiger einen nicht-gymnasialen Bildungsweg verfolgen oder verfolgt haben. Der Effekt ist schwach (,152), kann aber als Tendenz interpretiert werden.

Ein ähnlich messbarer Zusammenhang lässt sich für Gangsta-Rap-Konsum und misogyne Einstellungsmuster feststellen. Nicht nur bei antisemitischen, sondern auch bei chauvinistischen Einstellungen lässt sich ein Zusammenhang mit dem Hören von Gangsta-Rap erkennen: Gangsta-Rap-Hörer*innen sind im Schnitt chauvinistischer eingestellt als Nicht-Hörer*innen. Ähnlich wie beim Verhältnis von Intensität des Gangsta-Rap-Konsums und Antisemitismus zeigt sich, dass die Gruppe mit häufigem bzw. intensiven Gangsta-Rap-Konsum zu stärkeren misogyn-chauvinistischen Einstellungen neigt.

Somit befinden sich antisemitische Ressentiments in einer wahrnehmbaren Wechselwirkung mit Misogynie. Beide Muster werden von den befragten Jugendlichen konsistent artikuliert. Sie nehmen beide in ihrer Intensität zu, wenn mehr Gangsta-Rap konsumiert wird und dabei vor allem spezifische Interpreten gehört werden. Dagegen lässt sich kein messbarer Zusammenhang zwischen Konsum von Gangsta-Rap und rassistischen Einstellungen feststellen. Damit liegen erstmals in einer Jugendbefragung Hinweise darauf vor, dass antisemitische Einstellungen unabhängig von rassistischen Einstellungen existieren.

Trotz der messbaren Bedeutung des Bildungsgrades und des familiären Wohlstands ist der artikulierte Antisemitismus nicht nur das Problem einer isolierbaren, prekarisierten Gruppe unter den Jugendlichen. Die Wahrscheinlichkeit für antisemitische Haltungen bleibt in allen gesellschaftlichen Gruppen hoch. Zwar konnten Anspielungen auf antisemitische und/oder israelfeindliche Verschwörungserzählungen in den präsentierten Musikvideos und Liedern selten dechiffriert werden, allerdings wird gesellschaftskritischen Aussagen von Gangsta-Rapper*innen ein hohes Maß an Authentizität und Plausibilität zugeschrieben. Zudem zeigt sich, dass die Befragten manichäische Gesellschaftsvorstellungen vertreten. Jene Weltdeutungsmuster, welche die soziale Umwelt entlang dichotomer Kategorien (wie etwa gut/böse, oben/unten, Freund/Feind) einteilen, können als Scharnier zur Ressentimentbildung fungieren.