Wo der Weltgeist weht

In seiner späteren, überarbeiteten Fassung gehört William Wordsworths «Prelude» zu den literarischen Ecksteinen der englischen Romantik. Erstmals liegt nun die Urfassung in deutscher Übersetzung vor.

Werner von Koppenfels
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William Wordsworth, porträtiert von Henry Edridge im Jahr 1805. (Bild: Ullstein)

William Wordsworth, porträtiert von Henry Edridge im Jahr 1805. (Bild: Ullstein)

Es hätte ein wunderbarer Brückenschlag werden können. Im Herbst 1798, in der ersten Genie-Epoche der englischen Romantik, animierte der Dichter Samuel Taylor Coleridge seinen Freund William Wordsworth und dessen Schwester Dorothy («three people but one soul») zu einer längeren Deutschlandreise. Man plante, gemeinsam deutsche Landschaft, Philosophie und Literatur zu erkunden. Gleich in Hamburg gab es ein langes – französisch geführtes – Gespräch mit dem greisen Klopstock. «Ich konnte ihn, den Wohltäter seines Landes, den Vater der deutschen Dichtung, nicht ohne tiefe Bewegung betrachten», notierte Dorothy in ihrem Tagebuch.

Vorhalle eines Denkgebäudes

Aber es wurde wenig daraus. Göttingen, wo Coleridge seinen geistigen Interessen nachging, hatte seine literarische Glanzzeit hinter sich. Der sagenumwobene Gipfel des Brocken inspirierte ihn nur zu ein paar heimwehkranken Versen. Es war ein nasskalter Winter, der Winter, in dem Lichtenberg starb – kein guter Stern für deutsch-englische Begegnungen. Weimar stand nicht auf der Agenda. Im nahen Goslar litten derweil die Wordsworths unter mangelnden Sprachkenntnissen, Geldknappheit und dem kleinstädtischen Milieu. Vielleicht lag ihre Isolation auch daran, dass dortzulande (wie Coleridge später Dritten gegenüber andeutete) «Schwester» als Euphemismus für Mätresse galt.

Die meiste Zeit von seinem Dichterfreund getrennt und ganz auf sich gestellt, begann William unter diesen beengten Umständen ein autobiografisches Gedicht im Blankvers, das bis zu seiner Fertigstellung 1805 auf 13 «Bücher» anwuchs. Sein Thema war die Geburt des eigenen Dichtertums aus dem Geist der Natur, seine eigenwillige Form eine Vermischung von Versepistel (an Coleridge gerichtet) und Epos. Diese gewagte Kreuzung aus Rousseau und Milton, ein zentraler Text der englischen Romantik, war nach den Worten des Autors als Vorhalle eines philosophischen Gebäudes gedacht – das freilich nie errichtet wurde. Dafür hat der Dichter an seiner «ante-chapel» noch eine Weile regularisierend herumgebaut: Eine stark überarbeitete Version wurde nach seinem Tod 1850 unter dem Titel «The Prelude» veröffentlicht; Hermann Fischer hat sie vor Jahren einfühlend für Reclam übertragen. Die unebenere, dafür spontanere Erstfassung musste bis 1926 auf ihre Veröffentlichung warten. Sie liegt nun erstmals, übersetzt von Wolfgang Schlüter, auf Deutsch vor.

Es ist die Dichtung eines Lebens, das seine Kraft aus intensiv erinnerten Momenten der Kindheit und Jugend schöpft: «Ein Segen wars in jenem Morgengrauen, lebendig / zu sein – nur jung zu sein, das war der Himmel selbst!» Beseelte und beseligende spots of time, quasi mystische Zeit-Punkte der Vergangenheit, scheinen dem Erinnernden eine enthusiastisch-ehrfürchtige Einswerdung mit Natur und Weltgeist zu verbürgen: Es sind ihm erste Offenbarungen der poetischen Imagination. Am Anfang steht der numinose Schauer einer verstohlenen nächtlichen Kahnfahrt des Jungen in Wordsworths Herzlandschaft, dem Lake District, am Ende die Caspar David Friedrichsche Szenerie einer Besteigung des Snowdon – der Wanderer im Mondlicht über dem Nebelmeer.

Synthese des Gegensätzlichen

Wenn man das Zentrum dieser stossweise erzählten, von reflexiven Durststrecken unterbrochenen inneren Biografie suchte, könnte man es im 6. Buch finden. Auch hier geht es bei einem Aufstieg, diesmal zur Höhe des Simplon-Passes, um Einswerdung: «Tumult und Frieden, Dunkelheit und Licht / warn wie das Wirken eines Geistes, Züge / desselben Antlitzes, die Blüten eines Baumes / Symbole und Emblemata der Ewigkeit. . .» Coleridge, der in diesem Gedicht intensiv gegenwärtig ist, hat bekanntlich die Imagination mit einem deutschen Wortspiel als «Ein-Bildungskraft», als Synthese des Gegensätzlichen, definiert.

Der Status dieser Kraft ist prekär. Eindringlich schildert der Dichter ihre Gefährdung durch den materialistischen Zeitgeist von Fernrohr und Schmelztiegel, und durch den Trubel der Hauptstadt, die er, wie Rousseau, mit infernalischen Zügen ausstattet. Heilung bietet die Rückkehr in die Berge der Kindheit und die Gemeinschaft mit der kongenialen Schwester. Was freilich seine Rousseau-Nachfolge angeht, so gibt es da gewisse Grenzen der Konfession. Auf einer Frankreichreise, mitten im Gefühlssturm der Französischen Revolution, verliebte er sich in ein Mädchen aus Blois, eine Royalistin noch dazu. Sie gebar ihm eine Tochter; der Krieg zwischen England und Frankreich erzwang die Trennung. Die dramatische Episode erscheint, in ihrem persönlichen Bezug unkenntlich gemacht, poetisch zur bittersüssen Romeo-und-Julia-Romanze verkitscht. Bei seiner Überarbeitung hat der Autor diesen Fremdkörper zu Recht ausgeschieden.

Stilistischer Spagat

Keine Frage, wir kennen die bedeutende Dichtung unserer Nachbarn zu wenig und sollten sie besser kennenlernen – aber wie überträgt man sie? Schlüter ist ein Übersetzer von beachtlicher Sprachkraft und Kompetenz: Er hat bereits zwei vorromantische Quasi-Epen, Thomsons «Seasons» und Cowpers «Task», sowie eine Auswahl aus Wordsworths Lyrik übertragen. Vom Ideal des unsichtbaren Übersetzers hält er wenig. Zu seiner Signatur gehören auch diesmal wieder Anleihen bei der Goethezeit wie Thränen, Ahndung, kömmt, beut, Gemüth, Sammet – seltsame Patina für das relativ unvergilbte Englisch der Vorlage; im Gegenzug Modernes wie auratisch, Megacity, Schlagabtausch, Sättigungsbeilage, akademscher Campus. Das macht sich manchmal recht gut, etwa, wenn der Dichter in Paris als «Revolutionstourist» wie ein Berliner Mauerspecht einen Splitter von den Trümmern der Bastille als «Souvenir» – die Vorlage sagt: Reliquie – mitgehen lässt.

Nicht selten aber wird der Leser bei diesem stilistischen Spagat gleichzeitig in zwei verschiedene Richtungen gezerrt («ich frug ein Loch / ihm in den Bauch») und darüber hinaus mit einem Wortschwall aus diversen Fremdsprachen beworfen («o zage Vraisemblance»), so, als hätte der Übersetzer das dauernde Bedürfnis, sich von seinem Text zu distanzieren. Das Nachwort erklärt uns, nicht restlos überzeugend, warum dies so sein muss. Schmerzhaft vermisst man das Original als Korrektiv solcher Kapriolen: Wer zu diesem Buch greift, kann sicher mehr als nur Basic English.

William Wordsworth: Gedicht, noch ohne Titel, für S. T. Coleridge. Aus dem Englischen übersetzt und herausgegeben von Wolfgang Schlüter. Matthes & Seitz, Berlin 2015. 380 S., Fr. 52.–.