Mit dem Denken Geld verdienen: Frank Madeo empfindet dafür Dankbarkeit und sucht nach Mitteln gegen das Altern der Zelle.

Foto: J. J. Kucek

Graz – Am Beginn einer solchen Geschichte kann nur die Wissenschaft stehen. Und die sagt: Spermidin ist eine ganz besondere organische Verbindung. Sie kommt nicht nur in hoher Konzentration in der Samenflüssigkeit vor, sondern auch in allen anderen Körperzellen und sogar in der Darmflora. Abgesehen davon entfaltet sie eine ziemlich charmante Wirkung: Spermidin stimuliert die Autophagie, jenen Prozess, bei dem die Zelle schadhafte Bestandteile abbaut und sich regeneriert, um wieder zu Kräften zu kommen. Die Substanz, die auch in fermentiertem Käse, in vergorenen Sojabohnen, Weizenkeimen und Zitrusfrüchten enthalten ist, scheint also eine Art Jungbrunnen zu sein. Da der Spermidingehalt des menschlichen Körpers im Alter abnimmt, wäre also nichts logischer, als den Mangel durch Zufuhr über die Nahrung oder über Medikamente zu beheben.

Die Rolle des Zufalls

Der 48-jährige deutsch-italienische Biochemiker Frank Madeo und sein Team an der Uni Graz haben 2009 erstmals über diese Wirkung von Spermidin publiziert. Die Studie war vom Zufall gesteuert: Eigentlich wollten die Forscher menschliche Gene in Hefe studieren – ohne besonderes Ziel. Dabei fiel aber auf, dass ein Stamm mit relativ wenig Spermidin schnell alterte und dass Zellen mit reichlich Spermidin länger lebten. Die Bestätigung fand man in der Fruchtfliege und im Wurm.

Die Resonanz war enorm. Die Wissenschafter lösten einen regelrechten Boom aus: Das im Fachblatt Nature Cell Biology publizierte Paper wurde mittlerweile über 500 Mal zitiert. Zwischen 40 und 50 Arbeitsgruppen weltweit beschäftigen sich mit der Anti-Aging-Wirkung von Spermidin. "Diese Forschung ist fancy", sagt Madeo. Trotzdem warnt er vor zu großen Hoffnungen – und vor Selbstmedikation. "Wir wissen nicht, ob die Substanz in größeren Mengen verträglich ist."

Was aber sicher keine negativen Folgen hat, sei "ein natürlicher Extrakt aus einer Handvoll Weizenkeimen". Madeos mittlerweile 30-köpfiges Grazer Team führt gemeinsam mit der Berliner Charité einen ersten Versuch mit 30 älteren Probanden durch, um die Wirkung von Spermidin an Menschen zu untersuchen. Verabreicht werde eine bestimmte Menge des Extrakts – sonst nichts. Madeo: "Wenn sie das vertragen, was anzunehmen ist, dürfen wir eine zweite Studie mit 100 Testpersonen durchführen." Denn: "Wir brauchen valide Daten, um unser Wissen zu Anwendungen zu führen."

Auch andere Forschergruppen hätten diese Herausforderung erkannt. Ein Team aus Großbritannien will versuchen, mit der Substanz die Produktion der im Alter absterbenden T-Zellen wieder in Gang zu setzen. Sie spielen bei der Immunabwehr eine wesentliche Rolle und sind daher eine Voraussetzung für erfolgreiche Impfungen. Gerade erst konnte ein Team um den Krebsforscher Guido Kroemer und den Genetiker Josef Penninger zeigen, dass Spermidininjektionen das Tumorwachstum bei Mäusen bremsen. Und schließlich haben die Forscher um Madeo selbst gemeinsam mit der Freien Universität Berlin vor nicht einmal drei Jahren gezeigt, dass Spermidin die Erinnerungsleistung von älteren Fruchtfliegen verbessert.

Eine simpel herzustellende Substanz als neue Hoffnung, was Erkrankungen im Alter betrifft? Was dabei herauskommt, wird man sehen. Madeo jedenfalls sagt: "Die Gesellschaft wird älter, daher gibt es auch mehr Krankheiten als früher und den Bedarf nach Forschungen." Der Wissenschafter wundert sich daher, dass in Österreich in den vergangenen zwanzig Jahren kein einziges Institut für medizinische Alternsforschung gegründet wurde, "während es in Deutschland gut zwanzig Neugründungen gab".

Hierzulande fehlt abgesehen von der biomedizinischen Alternsforschung in Innsbruck die Tradition. Und es fehlen Grundlagen, um nach Anwendungsmöglichkeiten zu suchen. Madeo will daher nach weiteren pflanzlichen Stoffen suchen, die so wie Spermidin die Autophagie auslösen. Bekannt ist derzeit nur, dass auch Fasten diese Wirkung hat. Ein Wissen, das man sich nun gemeinsam mit Thomas Pieber von der Med-Uni Graz zunutze machen will. Ältere Probanden werden getestet, die nach der "Heute nichts, morgen alles"-Diät leben. Ergebnisse gibt es noch nicht. Madeo glaubt, dass die Autophagie schon nach 20 Stunden Fastenzeit eintritt. "Ich kann es nur noch nicht beweisen."

Das liederliche Leben

Im Leben eines Biochemikers braucht es eben Fakten. Wahrscheinlich schrieb Madeo deshalb vor mehr als zehn Jahren den Roman Hymne auf ein liederliches Leben. Das Buch handelt nicht vom gesunden Fasten, sondern vom ungesunden Völlern. "Der Roman ist der Schlüssel. Ich habe darin das Umfeld beschrieben, aus dem ich komme." Die Handlung? Essen, Trinken – und das reichlich.

Madeos Vater ist Süditaliener, die Mutter Deutsche, geboren wurde der Wissenschafter in Schwerte im Ruhrpott. Da wollte er nicht bleiben. "Ich kam aus dem Chaos und sehnte mich nach Klarheit." Deshalb studierte er Biochemie in Tübingen, ein Fach, in dem es auf Fakten und nicht auf Meinungen ankommt. Schließlich war er an dieser Uni von 1997 bis 2004 auch Gruppenleiter, ehe er nach Graz berufen wurde. Hymne auf ein liederliches Leben: So heißt auch Madeos Science-Blog über Fragen aus der medizinischen Wissenschaft. Ein Forscher, der sich als Volksbildner betätigt? Dafür muss auch Zeit sein. Vielleicht auch aus Dankbarkeit, "weil ich fürs Nachdenken bezahlt werde".

Am Ende einer solchen Geschichte darf eine private Anmerkung stehen: Graz würde Madeo selbst für ein Angebot von einer US-amerikanischen Top-Uni nicht verlassen. "Wegzugehen würde bedeuten, mein Schicksal gewaltig herauszufordern." In der steirischen Landeshauptstadt laufe es bestens. Warum also wechseln? "Manchen Wissenschaftern ist es egal, wo sie arbeiten, sie könnten sich in ein Labor auf dem Mond stellen. Ich gehöre nicht dazu." Deswegen wird auch der nächste Durchbruch Madeos aus Graz kommen. (Peter Illetschko, 15.7.2016)