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Tibet-Krise Für jeden Einwohner ein Soldat

Panzer auf den Straßen, brennende Häuser, Festplatten-Razzien im Hotel: Als Radreisender besucht der Deutsche Benjamin Jacob Tibets Hauptstadt Lhasa und erlebt jetzt eine der größten Gewaltwellen des Landes mit.

Hamburg - Vor zwei Tagen kamen die antichinesischen Proteste gefährlich nahe. "Über hundert wütende Leute zogen an unserem Hotel vorbei und warfen mit Molotow-Cocktails", erzählt Benjamin Jacob. Bei einer Demonstration eskalierte die Situation, "die Polizei griff ein, die Menge geriet außer Kontrolle". Menschen kletterten auf Dächer, warfen mit Flaschen, es fielen Schüsse. "Die Hoteltür riegelten wir mit einer Tischtennisplatte ab."

Die Internationale Jugendherberge in Lhasa ist die ideale Station für Weltenbummler - günstig, sauber, mitten im Zentrum der tibetischen Hauptstadt. Doch seit einigen Tagen ist hier nichts mehr, wie es war. "Die Häuser links und rechts vom Hostel sind komplett ausgebrannt", erzählt Jacob am Mobiltelefon. Mit seiner Freundin Mandy Helmis ist er nun seit zwei Monaten in Lhasa. Als sie anreisten, ahnten sie nicht, dass sie in einen der größten Aufstände des Landes geraten würden.

Dass die Herberge selbst kaum etwas abbekommen hat, ist wohl Zufall - das Haus steht versetzt in einem Hinterhof. Die gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Tibetern und Chinesen haben Spuren hinterlassen: Vom Lebensmittelladen um die Ecke ist nur noch Asche übrig; vor der Einfahrt steht ein ausgebranntes Autowrack, erzählt der 27-Jährige. "Seit Tagen gibt es im Viertel keinen Strom und warmes Wasser. Der Müll stapelt sich auf den Straßen."

Chinas Armee greift durch

Nach Angaben des tibetischen Exilparlaments sind bei den antichinesischen Protesten der vergangenen Tage mehrere hundert Menschen getötet worden - die offiziellen Zahlen sind weit niedriger. Auch Jacob kann wenig über mögliche Opfer sagen, "aber es gibt weit mehr, als Peking behauptet, da sind sich hier alle sicher".

Klar ist: Die chinesische Armee greift durch. Die Soldaten im Stadtzentrum sind schwer bewaffnet und fahren mit Panzern durch die Straßen, erzählt Jacob, "so schnell, dass die Häuser wackeln". Vereinzelt seien Schüsse zu hören. Der Jokhang in Lhasa, der älteste tibetische Tempel, sei umstellt "von 20 bis 30 Militär-Lastwagen". Ein mit dem Paar befreundeter Deutscher, der seit zehn Jahren in Tibet lebt, schätzt, dass bislang "500 bis 600 tibetische Mönche festgenommen", möglicherweise auch gefoltert wurden.

Organisierte Hausdurchsuchungen seien zu beobachten, berichtet Jacob. Bereits am Wochenende hatte das exiltibetische Zentrum für Menschenrechte und Demokratie (TCHRD) Razzien gemeldet. Dabei sollen Hunderte Tibeter, insbesondere junge Leute, festgenommen, einige geschlagen worden sein.

Festplatten-Razzia im Hotel

Informationen über die Landesgrenzen hinaus zu verbreiten ist schwierig. "Man bekommt zwar eine Internetverbindung, wenn mal Strom da ist. Aber wenn man ein paar Mails rausschickt, kommen neunzig Prozent davon wieder zurück", berichtet Jacob. Als die Konflikte hochkochten, beobachtete der Student, dass chinesische Sicherheitskräfte von "jedem zweiten Touristen" die Speicherkarten der Digitalkameras einsammelten. "Es sollten keine Fotos der Aufstände nach draußen gelangen."

Vor zwei Tagen rückten bewaffnete Kräfte sogar in den Internetraum des Hostels ein - um wenige Minuten später mit sämtlichen Festplatten im Gepäck wieder abzumarschieren, damit keine Fotos oder Videos gesichert werden können. In der Stadt kursiert das Gerücht, dass eigens für die Überwachung des Internets 30.000 chinesische Kontrollbeamte abkommandiert wurden.

Viele Touristen im Hotel seien abgereist, erzählt Jacob. Die meisten Besucher hätten Lhasa aus freien Stücken verlassen. Museen und Tempel sind seit Beginn der Aufstände geschlossen, während der Rast im Café ziehen immer neue Soldaten vorbei. "Im Moment werden wir nicht zur Ausreise gezwungen", aber sicherheitshalber halte er Kontakt mit der deutschen Botschaft.

An Kontrollstellen "rigoros abgetastet"

Seit fast zwei Jahren ist das Paar mit Fahrrädern, Rucksäcken und einem Zelt auf Weltreise; sie waren in der Türkei, in Pakistan, Nepal und Indien, haben in den Bergen und an Eisbächen übernachtet. Die Militärpräsenz sei schockierend, sagt Jacob. "An jeder Kreuzung warten 50 Polizisten, die jeden kontrollieren. Gestern haben wir für einen Kilometer zurück zum Hotel zwei Stunden gebraucht."

Für Ausländer sei die Situation noch halbwegs erträglich - im Gegensatz zu vielen Tibetern, die keinen Ausweis haben und zwischen den Straßensperren oft stundenlang festgehalten werden. "Die Einheimischen werden rigoros und brutal abgetastet", zermürbend intensiv durchsucht, berichtet Jacob. Viele Tibeter blieben aus Angst zu Hause, verschanzten sich hinter verschlossenen Türen.

Aufgebrachte Tibeter hatten in den vergangenen Tagen Läden wohlhabender Chinesen zerstört, die Scheiben eingeworfen, Brandsätze geworfen. Ein kanadischer Backpacker habe beobachtet, wie ein junger Chinese von zehn Einheimischen "fast zu Tode geprügelt" wurde.

Heute scheint die Angriffswelle zu verebben, "die Gewalt ist fürs Erste vorbei". Die permanente Militärpräsenz zeige Wirkung, sagt Jacob: "Die Armee hat die Stadt besetzt - im Moment sind im Zentrum genauso viele Soldaten wie Einwohner."

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