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Der deutsche Konsument verdrängt die Krise

Schnäppchenjagd: Die Deutschen sind trotz Wirtschaftskrise im Einkaufsrausch Schnäppchenjagd: Die Deutschen sind trotz Wirtschaftskrise im Einkaufsrausch
Schnäppchenjagd: Die Deutschen sind trotz Wirtschaftskrise im Einkaufsrausch
Quelle: Getty Images/Getty/Sean Gallup
Die Wirtschaftskrise hat Deutschland im Griff, viele Menschen bangen um ihren Arbeitsplatz. Doch auf den Konsum hat sich das bislang kaum ausgewirkt. Ein Grund dafür ist möglicherweise die Werbung: Denn die manipuliert derzeit gekonnt die Verbraucher, wie ein Psychologe auf WELT ONLINE analysiert.

Früher arbeitete im Kölner Rheingold-Gebäude der Verfassungsschutz. Jetzt versucht Stephan Grünewald (49) mit seinem Team von 70 festen und 140 freien Mitarbeitern – meist Diplom-Psychologen – herauszufinden, was in den Köpfen der Verbraucher vor sich geht. Die Auftraggeber aus Konsumgüterindustrie und Handel wollen wissen, wie sie ihre Kunden ansprechen sollen und wie deren Psyche arbeitet. Um das herauszufinden, legt Rheingold jedes Jahr rund 7000 Konsumenten auf die Couch. Mit seiner sogenannten qualitativ-psychologischen Wirkungsforschung setzt das Institut rund elf Millionen Euro im Jahr um.

Der Psychologe Grünewald gründete das Institut 1987 zusammen mit Jens Lönneker. Er ist verheiratet, hat vier Kinder und ist Fan und Dauerkartenbesitzer von Borussia Mönchengladbach – das dürfte bei jemanden, der in der Stadt des 1.FC Köln lebt und arbeitet, psychologisch interessant sein.

WELT ONLINE: Herr Grünewald, wie hat die Krise die Verbraucherpsyche verändert?

Stephan Grünewald: Sie hat eine Menge verändert. Vor allem werden Werte beim Konsumenten wieder wichtiger. Interessant ist aber, dass es psychologisch betrachtet für den Verbraucher eigentlich gar keine Krise gibt. Krise ist das gefühlte Mittel zwischen den Extremen „völlige Normalität“ und „Trauma“, also einer Handlungsunfähigkeit. Derzeit aber haben die meisten Konsumenten weiterhin ihren Job, ihr Häuschen oder ihre Wohnung und die Lebenshaltungskosten sind sogar gesunken. Viele Verbraucher erleben die Krise als mediale Drohkulisse, meinen aber, dass die in ihrem Leben nicht stattfindet. So gesehen sind wir noch sehr nah an der Normalität.

WELT ONLINE: Aber die Verbraucher sehen auch, dass der Staat mit Milliardenbeträgen Banken rettet. Das ist alles andere als Normalität.

Grünewald: Das ist die zweite Seite der Medaille. Jetzt bekommt dieses Krisenszenario aus den Medien eine unfassbare Dimension. Man hat das Gefühl, da öffnet sich ein riesiges schwarzes Loch. Und in dem können Banken, Firmen, ganze Staaten verschwinden. Die Folgen sind unvorstellbar, durch nichts zu beeinflussen, der Einzelne ist quasi entmachtet.

WELT ONLINE: Aber die Leute gehen trotzdem noch einkaufen.

Grünewald: Ja sie feiern einen Konsumkarneval mit nicht datiertem Aschermittwoch. Bevor die drohende Fastenzeit heran bricht, lässt man es noch mal krachen und beschenkt sich. Darüber hinaus haben wir bei den Konsumenten in diesem Jahr zwei diametral entgegengesetzte Reaktionen beobachtet: zum einen die Leugnungsstrategie, bei der sich die Leute selber beruhigen und nicht für betroffen halten. Und zum anderen die Aktivierungsstrategie nach dem Motto: Ich muss jetzt mein Leben ändern und mich der Krise entgegen stellen. Alle Trends des Jahres in Wirtschaft, Politik, Werbung oder Wahlkampf kann man zwischen diesen Extremen aufspannen. Leugnung wie Aktivierung sind Versuche, nicht in dieses fürchterliche Trauma zu fallen

WELT ONLINE: Und wie haben Marken und Händler darauf reagiert?

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Grünewald: Die Leugnungs- und Beschwichtigungsstrategie ist vor allem von der Süßwarenindustrie bedient worden. Da hat man versucht, das Schwarze Loch mit Schokolade zu stopfen. Die Konsumenten sollten mit den Produkten bei sich ein süßliches, beruhigendes und einigelndes Trostgefühl erzeugen und sich in ihre heile Welt zurückziehen. Das wurde in der Werbung auch bedient. Bis in den Herbst hinein hat die Branche richtig davon profitiert. Wir haben noch keine Antwort darauf, warum das dann abbrach. Vielleicht ist die Beschwichtigungsstrategie an ihre Grenzen gestoßen.

WELT ONLINE: Haben Sie ein aktuelles Beispiel für Beschwichtigungs-Werbung?

Grünewald: Es gibt einen sehr erfolgreichen Spot von T-Mobile, bei dem ein junger Mann erst einsam in einer Bar sitzt. Dann bekommt er einen Anruf, folgt dem Ruf seines Handys nach draußen, wo er auf einen Platz mit vielen freundlich lachenden Menschen trifft. Der Himmel öffnet sich, es regnet sogar Rosenblätter und alle sind in Frieden und Freude vereint. Das ist ein sehr gutes kommunikatives Beschwichtigungsangebot, das auch Werte wie Gemeinschaft transportiert. Das hat wegen der Krise sehr gut funktioniert.

WELT ONLINE: Wer hat noch auf Beschwichtigung gesetzt und gewonnen?

Grünewald: Eigentlich alle, die das Thema Cocooning, also den Rückzug ins Häusliche und das Wohlfühlen, gespielt haben. Von Bettzeug über die DVD bis zu Möbeln – also alles, was der Weltflucht dient.

WELT ONLINE: Ikea, also.

Grünewald: Ikea auch, aber Ikea verheißt eher einen Aufbruch. Das verrückte Möbelhaus aus Schweden, das mal gegen die Unverrückbarkeit unserer Lebensverhältnisse angetreten war; gegen die für die Ewigkeit gebauten Eichenschrankwände. Ikea hat das aufgebrochen, Möbel wurden mobil und unperfekt.

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WELT ONLINE: Und was hat das mit der Krise zu tun?

Grünewald: Ikea hat von der Krise besonders profitiert. Denn die Kunden fragten sich: Was kommt nach der Krise? Ist dann alles anders? Was muss ich neu und anders machen? Und Ikea gibt im Idealfall das Gefühl, dass man mit deren Möbeln immer wieder von vorn beginnen kann, egal was passiert. Der neue Blick aufs neue Schlafzimmer als anderer Blick auf die Welt nach der Krise, sozusagen.

WELT ONLINE: Wo zeigt sich die zweite Konsumenten-Strategie gegen die Krise, die Aktivierung?

Grünewald: Die haben wir besonders bei den Baumärkten gesehen. Denn hier gibt es die Produkte, mit denen ich aktiv etwas schaffen und gegen die Krise anarbeiten kann. Ich werkele, also bin ich. Das ist ein typisch deutsches Moment. Die Deutschen begegnen ihrer inneren Identitätsproblematik und ihrer Unsicherheit darüber, was Deutschsein eigentlich ist, oft mit unruhigem Tun. Im Hobbykeller entwickelt sich eine Selbstgewissheit, die den Menschen gerade in Krisenzeiten eine ungeheuere Stabilität verleihen kann.

WELT ONLINE: Das hat allen Baumarktketten geholfen?

Grünewald: Es gibt sehr interessante Unterschiede. Besonders profitiert hat Hornbach. Die fahren ja seit längerem Kampagnen, die das Aktive propagieren. ‚Mach es zu deinem Projekt’. In der Fernsehwerbung sieht man den Heimwerker, der mit glücklichem Gesichtsausdruck durch ein völlig heruntergekommenes Haus geht, aber genau vor sich sieht, wie toll es nach der Renovierung mal aussehen wird. Dieses Anpacken, diese Zuversicht passt hervorragend in die Krisenzeit. Und Hornbach hat mit seinen aktivierenden Botschaften offenbar bessere Geschäfte gemacht als Praktiker, die vor allem mit ‚20 Prozent Rabatt auf alles’ geworben haben.

WELT ONLINE: Welche Folgen hatte die Krise für den Reiseweltmeister Deutschland?

Grünewald: Die Deutschen verreisen weiterhin. Aber die ganz exotischen Ziele stehen seltener auf dem Plan. Es ist auch weniger schick, davon zu erzählen.

WELT ONLINE: Weil das Geld nicht mehr da ist?

Grünewald: Nein, das Geld ist schon noch da. Die Tendenz könnte eine Form des Cocoonings sein, sozusagen ein Cocooning in der Fremde. Die Leute bleiben lieber in der Nähe, im Kulturkreis, den sie kennen. Ich begebe mich nicht ans andere Ende der Welt, wo ich die Sprache nicht verstehe und mir irgendwelche Gefahren drohen, die mich vielleicht sogar handlungsunfähig machen können.

WELT ONLINE: Warum genau werden denn Werte angeblich wieder wichtig?

Grünewald: Diese Wirtschaftskrise ist auch eine Glaubenskrise. Der Glaube, dass gesellschaftliche Gegensätze und Probleme durch Wachstum übertüncht werden können, schwindet. Jetzt setzt die Überlegung ein, was uns eigentlich wichtig ist im Leben. Und damit kommen die Werte wieder ins Spiel. Manche Leute besinnen sich auf Religion und Spiritualität. Aber auch beim Einkauf geht es weg vom Einerlei hin zum bewussteren Handeln: Manche Konsumenten teilen Nahrungsmittel in gute und schlechte ein, manchmal mit fast religiösen Eifer. Andere unterscheiden wieder stärker zwischen Alltag und Sonntag. Mittwochs kann es zum Abendessen mal wieder eine Scheibe belegtes Brot sein, dafür kommt sonntags der selbst gemachte Braten auf den Tisch. Die Binnennachfrage ist auch deswegen stabil geblieben, weil die Leute Angst hatten, dass sich abstrakte Geldwerte über Nacht in Luft auflösen können. Das Silberbesteck wird wichtiger als der Silberbarren und man investiert in fassbare Güter wie den Flachbildschirm, das Sofa oder das neue Auto.

WELT ONLINE: Was haben die Preissenkungsrunden der Discounter psychologisch ausgelöst?

Grünewald: Sie haben nicht nur Werte vernichtet, sie haben auch Vertrauen zerstört. Die Kunden waren ja immer davon ausgegangen, dass Aldi ohnehin die niedrigsten möglichen Preise hatte. Dass man dort einkaufen konnte, ohne auf den Preis zu achten. Und nun senken die fast jeden Monat irgendwelche Preise. Das bringt die Kunden zum Zweifeln, ob er nicht der Depp ist, wenn er sofort kauft – möglicherweise sind die Produkte im nächsten Monat ja noch billiger. Aber es ist ein Grundsatzproblem des deutschen Einzelhandels, dass er auf Probleme meist mit der denkbar schlichtesten Lösung reagiert: Er senkt den Preis. Und das hat sich in diesem Jahr wirklich gerächt: Keiner der Lebensmittelhändler, die die Preise gesenkt haben, konnte wirklich gewinnen.

WELT ONLINE: Können Sie erklären, warum die Läden sonntags oft so voll sind, wenn sie denn mal geöffnet sind?

Grünewald: Der Sonntag bringt die Leute oft in eine existenzielle Krise. Während der Woche bin ich im Hamsterrad und brauche mir in dieser besinnungslosen Betriebsamkeit keine Gedanken machen. Am Sonntag aber ist das anders, da kann ich selbst bestimmen. Und hier beginnt das Problem: Ich will auf der einen Seite Freiraum und auf der anderen Seite etwas Besonderes erleben. Beides schließt sich aber aus: Wenn ich mich entscheide, dieses oder jenes zu erleben, schränke ich meinen Freiraum ein. Das bringt eine seelische Zerreißprobe. Shopping am Sonntag ist so beliebt, weil das ein bewährter Ausweg zu sein scheint: Ich habe immerhin noch den Freiraum, zu wählen, in welchen Laden ich gehe. Und das Besondere erlebe ich, wenn ich etwas Tolles kaufe.

WELT ONLINE: Sonntagskauf als Flucht vor sich selbst?

Grünewald: Ja. Viele wollen sich damit von ihrer Sonntagsneurose befreien. Shoppen ist ein exzellentes Ablenkungsmanöver von quälenden Sinnfragen. Dabei ist das problematisch. Wir brauchen Besinnungspausen und Phasen, in denen wir brach liegen, um auf neue Gedanken zu kommen. Aber das ist vielen unangenehm und sie versuchen, sich abzulenken.

WELT ONLINE: Dann könnten Shoppingcenter am Sonntag zehn Euro Praxisgebühr erheben, wenn Einkaufen Neurosen lindert?

Grünwald: Ja. Viele Leute würden Eintritt zahlen, davon bin ich überzeugt.

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