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Nie waren Prognosen so schlecht wie 2009

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Nichts geht mehr: Vorraussagen über die Wirtschaftsentwicklung waren zuletzt kaum zuverlässiger als eine Wette beim Roulette
Quelle: dpa/Uli Deck
Blamiert bis auf die Knochen stehen die Ökonomen da, wenn man ihre Konjunkturprognosen mit der Wirklichkeit vergleicht. Die aufwendigen Modelle, mit denen sie rechnen, sind nur bedingt krisentauglich. In Zukunft werden die Modelle weitere Faktoren mit in Betracht ziehen müssen.

Worum geht es

Die Arbeit eines Konjunkturforschers gleicht der eines Komponisten. Wie bei der Komposition eines Musikstücks setzt der Wissenschaftler viele verschiedene kleine Teile nach und nach zusammen, bis sich am Ende alles in ein harmonisches Gesamtbild fügt: Der Komponist fügt Noten zu einer Melodie, der Wirtschaftsforscher Zahlenkolonnen zu einer Konjunkturprognose.

Doch leider gibt es auch bei den Schwierigkeiten einige Parallelen zwischen Musik und Ökonomie: Greift ein Musikant nur leicht daneben, ist gleich der der ganze Akkord ruiniert. Genauso ist es bei Konjunkturforschern: Schon kleine Fehler können dazu führen, dass der Ausblick völlig misslingt.

2009 ist genau das passiert. Nachdem die Wirtschaftsforscher zuvor schon die Finanzkrise nicht vorausgesehen haben, lagen sie nun auch noch bei der Vorhersage der Tiefe der Krise ziemlich daneben. Gleich um ein paar Prozentpunkte waren die meisten Prognosen weg von der tatsächlichen Entwicklung.

Zur Jahreswende 2008 zu 2009 waren die Prognostiker noch zu optimistisch, die meisten Banken und Institute rechneten beim Bruttoinlandsprodukts (BIP) nur mit einem Rückgang von ein bis zwei Prozent. Im April, als sich die Konjunktur im freien Fall befand, überboten sich die Prognostiker Woche für Woche und hielten ein Minus von bis zu sieben Prozent für möglich.

Herauskommen wird dieses Jahr wohl ein Minus von etwa 4,8 Prozent. Blamiert bis auf die Knochen hätten sich die Forscher, sagt der Ökonom Rudolf Hickel von der Universität Bremen. Der Finanzwissenschaftler Stefan Homburg fordert sogar ein Ende sämtlicher Konjunkturprognosen – sie brächten nichts außer den Instituten Geld in die Tasche, sagte er der „Zeit“. Und über allem schwebt die Frage, warum die Forscher dieses Jahr so fulminant daneben lagen.

Schon vor der Krise galt die Regel, dass Konjunkturprognosen um rund einen Prozentpunkt nach oben oder nach unten von der tatsächlichen Entwicklung abweichen können. Das hat ein paar einfache Gründe. Ein zentraler: „Wir prognostizieren das Verhalten von Menschen, und das kann man nun mal nicht genau vorhersagen“, sagt Christian Dreger, Konjunkturchef des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW).

Besonders nicht in dieser Krise. Nach der Pleite der Investmentbank Lehman Brothers haben Unternehmen quasi von einem Tag auf den anderen ihre Aufträge storniert, über Monate hielt dieser bis dahin nie gekannte Vertrauensverlust an. „Das kann kein Konjunkturforscher der Welt voraussehen“, sagt Jörg Krämer von der Commerzbank. Ein weiteres Problem: Die vorliegenden Wirtschaftsdaten, über die die Konjunkturforscher verfügen, sind nicht genau. Das Statistische Bundesamt revidiert die tatsächliche Wachstumsrate bis zu vier Jahre nach Erstveröffentlichung. Die Forscher bauen ihre Prognosen aber immer auf den aktuellsten Zahlen auf – die demnach abweichen können von den tatsächlichen Zahlen.

Lehman-Schock war eine Überraschung

Als spezielles Problem in diesem Jahr kam noch hinzu, dass die Wissenschaftler nicht wie üblich Entwicklungen aus der Vergangenheit auf die Zukunft übertragen konnten. „Den Vertrauensverlust nach dem Lehman-Schock konnten wir nicht vorhersehen, weil es so eine Situation in der Vergangenheit nicht gab“, sagt Michael Bräuninger vom Hamburgischen Weltwirtschaftsinstitut (HWWI).

Krisen auf dem Immobilien- und Bankenmarkt, mangelndes Vertrauen in der gesamten Wirtschaft, eine schon seit Frühjahr 2008 einsetzende Abwärtsbewegung der Weltwirtschaft – das alles war für die Konjunkturforscher eine Gemengelage, wie sie sie noch nie zuvor auch nur im Ansatz gesehen hatten. Über Jahre gewonnene Überzeugungen waren plötzlich außer Kraft gesetzt.

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Das merkte etwa das DIW. Noch im Oktober 2008 sagte das Institut ein Wachstum von ein Prozent für 2009 voraus. „Es gibt keine Anzeichen für eine Rezession in Deutschland“, sagte Dreger damals. Zwei Monate später war das Institut schon auf ein Minus von 1,1 Prozent gegangen, aber auch das war noch viel zu optimistisch. „Wir hielten damals die Entkopplungsthese für stichhaltig“, sagt Dreger heute. Die besagte, dass auch wenn die Industriestaaten in einer Rezession steckten, Schwellenländer wie weiter wachsen und die Weltwirtschaft am Laufen halten. Doch auch das ist eine neue Erkenntnis dieser Krise: Die ganze Weltwirtschaft kann auch synchron ins Elend fallen.

Autobranche schwer einschätzbar

Ebenfalls eine Fehlannahme sei der abnehmende Einfluss der Automobilbranche auf die Konjunktur gewesen, räumt Dreger ein. In der Dotcom-Krise 2001 hatte das DIW die Erkenntnis gewonnen, dass die Autobranche weniger stark das Wachstum bestimmte als zuvor. In der Krise 2009 riss die Autobranche aber die Konjunktur mächtig nach unten, auch weil sie in einer Strukturkrise steckte.

Als es im Frühjahr des Jahres richtig bitter wurde und Auftragseingänge, Exporte und Industrieproduktion historische Tiefs erreichten, weigerte sich das DIW im April sogar, eine genaue Prognose für 2010 abzugeben. „Wir konnten den Boden nicht mehr sehen und wollten nicht beim Spiel mitmachen, Woche für Woche die Prognose abzusenken“, sagt Dreger.

Das DIW war da aber die Ausnahme. Im April kamen die düstersten Prognosen, die Bundesregierung ging hinunter auf bis zu Minus sechs Prozent. „Diese Vorhersage war aus damaliger Sicht nicht falsch“, sagt Joachim Scheide, der als Konjunkturchef des Kieler Instituts für Weltwirtschaft (IfW) an der Prognose beteiligt war.

Das aber ist diskussionswürdig. Was die Ökonomen damals unterschätzten, war, dass auch wenn die Daten aus der realen Wirtschaft weiter katastrophal waren, die Frühindikatoren schon wieder stiegen. Der Ifo-Indikator, bei dem das Münchener Ifo-Institut 7000 Unternehmen nach ihren Wirtschaftsaussichten befragt, legte schon seit Januar ununterbrochen zu.

Eingriffe der Regierungen waren nicht vorhersehbar

Was es in diesem Jahr für die Konjunkturforscher besonders schwer machte und wofür die Forscher nichts können, waren die starken, nicht vorhersehbaren wirtschaftspolitischen Eingriffe. „Im Dezember 2008 konnte niemand wissen, dass die Regierung 2009 mit fünf Mrd. Euro den Konsum ankurbelt und 50 Mrd. Euro für ein Konjunkturprogramm ausgibt“, sagt Peter Hohlfeld vom gewerkschaftsnahen Institut für Makroökonomie- und Konjunkturforschung (IMK).

Commerzbank-Chefvolkswirt Krämer findet deshalb, dass ein Konjunkturforscher in solch einer Ausnahmesituation weniger an Zahlen gemessen werden sollte, sondern nur daran, ob er die großen Trends voraussagt. „Fast alle Ökonomen haben Ende 2008 die schwerste Rezession der Nachkriegsgeschichte vorausgesagt und für die zweite Jahreshälfte 2009 eine Erholung prognostiziert. Wir lagen also nicht so verkehrt“, sagt Krämer. Eine Analyse der „Financial Times Deutschland“ kommt allerdings zu dem Schluss, dass fast alle Auguren den genauen Wendepunkt nicht erkannt haben.

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Zukünftig werden die Konjunkturforscher ihren Blick stärker auf die Daten legen, die die Finanzmärkte aussenden. Denn die wohl zentrale Lehre dieser Krise ist, dass die Finanzwirtschaft extrem negative Auswirkungen auf die reale Wirtschaft haben kann. Auch dies hatten die Forscher so nicht auf der Rechnung. Doch an dieser Stelle besteht noch großer Forschungsbedarf. Doch auch wenn es hier große Fortschritte geben sollte, werde die Forschung nicht immer jede Krise voraussagen können, sagt Bräuninger.

Er kann sich vorstellen, dass in drei Jahren die diesjährige Rezession milder ausfallen könnte. Auch die Krise in den Siebziger Jahren habe erst schlimm ausgesehen, später habe das Statistische Bundesamt den Wirtschaftseinbruch deutlich nach oben korrigiert. Dann bekämen die Institute doch ein wenig Recht.

Lesen Sie in der "Welt am Sonntag": Wie glaubwürdig und einflussreich Bürger Wirtschaftsforscher im Vergleich zu anderen Berufen halten

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