Er sang das Lied der Rhone

Wer ein Buch von Pierre Imhasly liest, kann das Lesen noch einmal neu lernen. Der Walliser, der die Welt in seiner Dichtung immer wieder neu erschaffen hat, ist 77-jährig gestorben.

Roman Bucheli
Drucken
Wenige haben im Buch der Natur so genau gelesen wie Pierre Imhasly. (Bild: PD)

Wenige haben im Buch der Natur so genau gelesen wie Pierre Imhasly. (Bild: PD)

Er gehörte zu den verrücktesten Dichtern der Schweiz. Wer seine Manuskripte gesehen hatte, wusste: Das geht nicht mit rechten Dingen zu. Da ist ein Zauberer am Werk, ein Hexenmeister, ein Schamane der Wörter, der sich am Klang berauscht und am Schriftbild. Er war ein Albtraum für die Verleger, weil seine Bücher mehr waren als nur sorgsam Satz für Satz gefügte Prosa. Das schoss hier ganz hemmungslos in alle Richtungen ins Kraut. Und er war ein Glücksfall für die Literatur, weil mit seinen Büchern keiner schnell und leicht an ein Ende kam. Sie gaben zu tun und verwandelten jeden Leser in einen Fährtensucher im bekannten Gelände.

Neu lesen lernen

Mit Pierre Imhasly konnte man das Lesen noch einmal neu lernen. Vor allem lernte man in seinen Büchern das Schauen neu, das Riechen, das Hören, man wunderte sich, wie man sich noch nie gewundert hatte, man staunte, taumelte und brach auf zu Reisen, die alles Vertraute exotisch werden liessen und zugleich alles Fremde ins irritierend Bekannte verwandelten. Die Grenzen zwischen Wirklichkeit und Imagination verwischten sich, das Wirkliche wurde eingebildet, das Imaginäre wahr. Aber keiner verlor sich mit diesen Werken im Ungefähren: Klarer und präziser hat kaum je einer die Topografien des Daseins gezeichnet und benannt. Er war unter den Schriftstellern der Ethnograf und unter den Archäologen des alpinen Raums der Künstler.

Während vieler Jahre hat Pierre Imhasly an einem Werk gearbeitet, dessen Vollendung er bisweilen schon nicht mehr zu erhoffen wagte. Er wollte das Hohelied der Rhone singen. Im November 1939 in Visp geboren, blieb er dem Wallis, den Bergen und ihren Menschen sein Leben lang treu. Aus der Rhone aber schuf er sich das Zentralgestirn seiner dichterischen Existenz. Sie verband ihn mit allem, was ihm teuer war. Sie reichte hinan bis ins nepalesische Hochland, sie knüpfte ein Band vom Matterhorn bis zum Mont Ventoux, am Ufer des Flusses lebten all jene, die seinen Horizont geprägt hatten, von den Bäuerinnen mit ihren wetterfesten Gesichtern bis zu den Dichtern: Maurice Chappaz, den er verehrte und übersetzte, Nicolas Bouvier, René Char. Aber auch Mandelstam oder Ezra Pound wohnten in diesem Universum der Poesie.

Litanei des Todes

Doch das Werk wollte nicht gelingen, das Material wuchs, aber es fand keine Form. Erst vom Süden her und durch Zufall erhielt die «Rhone Saga» (1996) Gestalt, nun freilich in einer auch biografisch zwingenden Form: Eros und Thanatos fanden zueinander. Das Buch wurde zu einem Hymnus auf die Liebe und zu einer Litanei des Todes. In Nîmes ereilte den Erzähler in der Gestalt einer Mitarbeiterin der Stierkampfarena ein «coup de foudre». Von hier hob gebieterisch, betörend, unaufhaltsam der Gesang an. Es entstand eines der erstaunlichsten Werke der jüngeren Literaturgeschichte: Epos und Hochamt in einem, pathetisch im Duktus und präzise in den Fakten, anarchisch in der Verbindung des Entferntesten mit dem Nächstgelegenen, der vielen Sprachen, der verwegensten Formen.

Im Buch der Natur haben wenige so genau gelesen wie Pierre Imhasly. Am 17. Juni ist dieser Poet, der die Welt in der Dichtung immer neu geschaffen hat, 77-jährig in Visp gestorben. Seinem alpin-mediterranen Offizium über die Rhone, das Leben und den Tod gehen wilde poetische Aufbrüche voraus: «Sellerie, Ketchup und Megatonnen» (1970) sowie «Widerpart oder Fuga mit Orgelpunkt vom Schnee» (1979). In den späten Werken «Paraíso sí» (2000) und «Maithuna/Matterhorn» (2005) klingt die «Rhone Saga» zauberhaft fort.