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Teigtaschen nach Dolomiten-Art Kochkunst der Ladiner

Lange Zeit lebte das Dolomiten-Volk der Ladiner im Clinch mit den größeren Nachbarvölkern. Die Annäherung findet heutzutage auch in der Küche statt - zum Beispiel beim Teigtaschen-Kochkurs.
Von Martin Cyris

Um das weiß gekalkte Gemäuer schleicht eine unscheinbare Gestalt. Die Arbeitskleidung ist von einfacher Machart, das Gesicht wettergegerbt und braungebrannt von der Arbeit im Freien. Flüchtig mustert sie den Besucher aus den Augenwinkeln. Kurzes Kopfnicken, aber kein Grußwort. Als habe die Gestalt an diesem Ort nicht viel zu melden. Ein Tagelöhner vielleicht. Einer, der sich auf dem alten Bauernhof im Südtiroler Gadertal (ladinischer Name: Val Badia) sein täglich Brot erschuftet.

Durch eine schwere Holztür gelangt man ins Innere. Der eiserne Türgriff ist angeraut von Regen, Schnee und dem Schweiß der Eintretenden. Der Hof Sotciastel  liegt auf 1400 Metern Höhe in der Gemeinde Abtei (Ladinisch: Badia) und ganz in der Nähe des berühmten Heiligkreuzkofel. Das fotogene Bergmassiv stellt bei Sonnenuntergang in der Bergdisziplin "Alpenglühen" die Nebenbuhler locker in den Schatten und ist auf vielen Postkarten und Gemälden verewigt.

In der Wohnstube des Hauses ist alles an seinem Platz: der Kachelofen in der Ecke, die Fotos der Urgroßeltern an der Wand, das Kruzifix über der Tür - und ein halbes Dutzend Touristen auf der Eckbank, die bei der Hausherrin Erika Pitscheider lernen wollen, wie die ladinischen Bäuerinnen schon vor Generationen kochten. Und es noch heute tun.

Männer auf die Piste, Frauen in den Kochkurs

Erika Pitscheider trägt eine karierte Kochschürze, ihre kräftigen Unterarme sind mit Mehl bestäubt. Spuren der Vorbereitungen für ihren Kochkurs, den sie einmal pro Woche abhält und an dem meist Deutsche und Italiener teilnehmen. In der Überzahl sind es Frauen, die ihren Männern nicht auf die berühmten Skipisten von Alta Badia oder auf die wildromantischen Wanderwege folgen wollen.

Ladinische Gerichte leben von simplen Zutaten. Den kargen Böden in den Steilhängen der Dolomitentäler ist nur unter viel körperlicher Anstrengung mehr zu entlocken als Gras fürs Vieh. Obst, Getreide, Fleisch und Gemüse wurden früher hart erwirtschaftet. Heute wird vieles aus Tälern mit einem milderen Klima eingeführt.

Die Kochkurse, in denen Erika Pitscheider die schlichten regionalen Gerichte des Gadertals zubereitet, sind ein ordentliches Zubrot für die Familie. Sie hat es zu einem gewissen lokalen Bekanntheitsgrad gebracht - als Bewahrerin der ladinischen Küche. Und damit eines Teils der ladinischen Kultur.

Am liebsten zeigt Erika Pitscheider die Herstellung von Turtres. Das sind frittierte Teigtaschen mit einer Füllung aus Spinat und Quark. Es gibt auch welche mit Kartoffel- oder Sauerkrautfüllung. Im benachbarten deutschsprachigen Pustertal, dem Einfallstor ins Gadertal, sind die Turtres unter der Bezeichnung Tirtlan bekannt. Die Bezeichnungen stammen vom lateinischen Wort torta ab, "rundes Brot".

"Ein einfaches Gericht mit einfachen Zutaten", sagt Erika Pitscheider, "und einfach nachzukochen". Die Turtres seien ein Symbol für die Geschichte der Ladiner: Das Beste aus dem machen, was man vorfindet. In jeder Hinsicht. Jahrhundertelang lebten die Ladiner in völliger Abgeschiedenheit und bitterer Armut. Bis in den fünfziger Jahren der Tourismus das hinreißende Bergpanorama des Gadertals entdeckte und vor allem den Nationalpark Fanes-Sennes-Prags, der fast unwirklich idyllisch wirkt. Die Fremden brachten den Wohlstand in die Bergwelt.

Spielball der Politik

Doch die Mentalität vieler Ladiner ist noch immer von Zurückhaltung geprägt. Gästen begegnen sie höflich, aber reserviert. Man vermietet Zimmer, aber lässt Fremde nicht ins Innerste blicken. "Es dauert lange, bis sich ein Ladiner öffnet", sagt Erika Pitscheider, "man bleibt unter sich und redet nicht viel. So wie mein Mann da draußen." Bei dem vermeintlichen Tagelöhner vor dem Haus handelt es sich also um den Ehemann von Erika Pitscheider, den Eigentümer von Sotciastel.

Jahrhundertelang waren die Ladiner ein Spielball der Politik. Das hat sich über Generationen ins Gemüt der Menschen gegraben. Einst besiedelten romanische Bergvölker ein Gebiet, das von der Adria bis zum Gotthard in der Schweiz reichte. Völkerwanderungen und Gebietsverluste engten das Territorium immer stärker ein. In Italien leben heute etwa 30.000 Ladiner. Sie verteilen sich auf fünf Täler, die in drei verschiedenen Provinzen liegen: Südtirol, Trentino und Veneto. Ihre Sprache ist mit dem weitaus bekannteren Rätoromanischen verwandt, das im schweizerischen Kanton Graubünden gepflegt wird.

Weder Ladinisch noch Rätoromanisch sind italienische Dialekte, wie oft fälschlicherweise vermutet wird. "Das verletzt unseren Stolz", sagt Erika Pitscheider. Sogar ihren italienischen Gästen muss sie nach eigener Aussage Nachhilfe in Sachen Landeskunde geben. "Viele wissen gar nicht, dass wir eine eigene Sprache sprechen", sagt Erika Pitscheider. Erst die dreisprachigen Ortsschilder - in Italienisch, Ladinisch und Deutsch - lassen es bei manchem klingeln.

Kulinarische Annäherung

Die Ladiner und ihren Gästen nähern sich heute auf kulinarischem Wege an - Gegenliebe geht durch den Magen. Ein paar Kilometer taleinwärts lieben gut betuchte Touristen etwa die preisgekrönte Küche: Nirgendwo sonst in Italien ist die Dichte an Michelin-Sternen so hoch wie in Alta Badia am südlichen Ende des Gadertals. Eines der drei Sterne-Restaurants von Alta Badia ist das "Stüa de Michil" in Corvara. Die Turtres werden hier mit ladinischer Gerstensuppe gereicht.

Namensgeber der Gourmetstube ist Michil Costa. Mit seinem Hotel La Perla und einem ausgeprägten Sinn für Stil und Feingeistiges hat er mit dafür gesorgt, dass sich Alta Badia nach und nach zu einem In-Treff der Alpenprominenz gemausert hat. Bis vor kurzem war Costa Präsident der ladinischen Interessengemeinschaft "Uniun Generela di Ladins". Er gilt als einer der Vordenker der ladinischen Sache. Bedächtig zitiert er Weisheiten von Goethe und dem Dalai Lama. Den früheren italienischen Ministerpräsidenten Romano Prodi erwähnt er beiläufig als einen "sehr guten Bekannten".

Im Hintergrund seines Hotels La Perla  überstrahlt der mächtige Berg Sassongher die Szenerie. In seinem Privatsalon lässt Costa Mürbegebäck und Kaffee mit einem Schuss seltener Grappas kredenzen. "Vergangenheit funktioniert nur mit Gegenwart und Zukunft", sinniert er. "Als Minderheit haben wir nur eine Chance, wenn wir diesen Spagat schaffen."

Veränderung wird im Gadertal argwöhnisch betrachtet. Nur wenige Hoteliers wagten bislang den Schritt in die Moderne. Anders Walter Craffonara. In dem Dorf Stern (Ladinisch: La Ila), unweit von Corvara, hatte Craffonara ein gut gehendes Hotel - und ließ es abreißen, um es gegen das moderne Vier-Sterne-Haus "Ciasa Lara" einzutauschen. "Ich hätte auch in Rente gehen können", sagt Craffonara, "aber meine Frau und ich wollten es noch mal wissen." Die zeitgemäße Architektur seines Hotels wird zwar von den Gästen, aber nicht von den älteren Dorfbewohnern geliebt. "Wir Ladiner müssen mit der Zeit gehen, wenn wir überleben wollen", sagt der erfahrene Hotelier.

Veränderung ist in der Bauernküche von Erika Pitscheider kein Thema. Die Gäste suchen hier das alte Ladinien - und in Form von Turtres können sie es sogar ausbacken und probieren. Zubereitet nach einem alten Hausrezept, das bis heute unverändert blieb.

Rezept: Turtres mit Spinat-Topfen-Füllung

Zutaten (für vier Personen):

Für den Teig: 300 Gramm Mehl, 1 Ei, 30 Gramm Butter, etwas Milch. Für die Füllung: 150 Gramm blanchierter Spinat, 150 Gramm Quark (Topfen), 1 Blatt Salbei, 1 Esslöffel Schnittlauch, Muskatnuss, Pfeffer, Salz

Zubereitung:

Mehl, Ei und Butter miteinander vermengen. Etwas Milch stoßweise dazugeben. Den Teig gut durchkneten - die Masse sollte die Konsistenz eines Pizzateigs bekommen - und anschließend mit den Händen zu einer langen Rolle von etwa vier bis fünf Zentimetern Durchmesser formen. Kleine Stücke in der Größe eines Tischtennisballs abschneiden und zu einem runden Teigfladen von etwa zwölf Zentimetern Durchmesser auswalzen.

Den blanchierten Spinat klein hacken und mit dem Quark verrühren. Knoblauch, Salbei und Schnittlauch mit dem Wiegemesser sehr fein schneiden und mit der Quark-Spinat-Masse vermischen. Mit Salz, Pfeffer und Muskatnuss würzen.

Pro Turtres wird ein Esslöffel dieser Mischung in der Mitte eines Teigfladens plaziert und mit einem weiteren Teigfladen bedeckt. Die Ränder andrücken. In heißem Öl frittieren. Wenden, sobald die Unterseite hellbraun ist. Vor dem Verzehr das Öl auf einem Krepptuch abtropfen lassen.

Korrekturhinweis: In einer vorherigen Version dieses Artikels war fälschlicherweise von 500 Millilitern Milch die Rede - wir bitten all diejenigen, die mit einem überraschend flüssigen Pfannkuchenteig zu kämpfen hatten, um Entschuldigung.