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Terrorismus Al-Qaidas Agenda 2020

Er gilt als einer der besten Kenner der Qaida: Der jordanische Journalist Fuad Hussein hat Vordenker des Terrornetzwerkes nach ihrer langfristigen Strategie befragt. Heraus kam ein Szenario des Schreckens - und des Wahns.
Von Yassin Musharbash

Amman/Berlin - Irgendetwas muss den Philosophen des Terrors an diesem Mann vertrauenswürdig erscheinen. Ist es die gemeinsame Zeit, die Fuad Hussein und der jordanischstämmige Chef-Terrorist al-Sarkawi vor etlichen Jahren im Gefängnis verbracht haben? Immerhin hatte der politische Gefangene Hussein damals die Freilassung des Islamisten al-Sarkawi aus der Einzelhaft mit der Gefängnisleitung verhandelt. Oder ist es die Art, wie er ihre Ideen zu Papier bringt, authentisch und direkt? Ein Film Husseins über al-Sarkawi kursierte seinerzeit auch auf Qaida-nahen Websites.

Auch für einen arabischen Journalisten ist es keine Kleinigkeit, Kontakt zu den Vordenkern der Qaida zu halten. Hussein ist es dennoch gelungen, aus seiner Korrespondenz hat der Autor und Filmemacher mit Wohnsitz in Amman nun ein bemerkenswertes Werk gestrickt: "Al-Sarkawi - die zweite Generation der Qaida".

Wer Hussein trifft, etwa im Café Vienna in der Neustadt von Amman, begegnet einem ruhigen Naturell ohne Geheimdienstallüren. Doch was der kleine, schlanke Mann zu berichten hat, ist kaum weniger als ein Strategieplan des gefährlichsten Terrornetzwerkes der Welt - eine Art Agenda 2020 der al-Qaida. Es ist erschreckend und absurd zugleich, ein wahnwitziger Plan von Fanatikern, die in ihrer eigenen Welt leben - und durch ihre brutalen Akte doch immer wieder in die reale Welt einbrechen.

Zu den Befragten, und das ist eine Sensation, zählt nach Angaben Husseins gegenüber SPIEGEL ONLINE auch Seif al-Adl. Das FBI hat für Hinweise zur Ergreifung des Ägypters eine Belohnung von immerhin 5 Millionen US-Dollar ausgelobt. Er wird verdächtigt, an den Terroranschlägen gegen die US-Botschaften in Daressalam und Nairobi 1998 beteiligt gewesen zu sein. In Geheimdienstkreisen wird al-Adl derzeit in Iran vermutet.

Um seinen Kontakt zu al-Adl zu belegen, präsentiert Hussein in seinem Buch ein Faksimile der ersten zwei Seiten eines handschriftlichen Briefes des Gesuchten an den Autor. Insgesamt ist das Dokument 15 Seiten lang. Adl beschreibt darin die Unstimmigkeiten, die zwischen Abu Musab al-Sarkawi und Osama Bin Laden während des Afghanistankriegs herrschten. "Aussagen von Seif al-Adl sind aber auch in das Kapitel über die Strategie der al-Qaida eingeflossen", erklärt Fuad Hussein.

Sieben Phasen bis zum Kalifat

"Ich habe eine Reihe von Qaida-Ideologen interviewt, um herauszufinden, wie die Zukunft des offenen Krieges zwischen al-Qaida und Washington aussehen wird", schreibt der Jordanier im Vorwort. Was er dann auf den Seiten 202 bis 213 vorlegt, ist ein Szenario, das von der Verblendung der Terroristen ebenso zeugt wie von ihrer brutalen Kompromisslosigkeit. In sieben Phasen, geht daraus hervor, hofft das Terrornetzwerk ein islamisches Kalifat zu errichten, welches zu bekämpfen die westliche Welt dann zu schwach sein wird.



  • Die erste Phase, "das Aufwachen" genannt, ist demnach bereits abgeschlossen; sie soll von 2000 bis 2003 gedauert haben, genauer gesagt von den Vorbereitungen der Anschläge vom 11. September 2001 in New York und Washington bis zum Fall Bagdads 2003. Das Ziel der Anschläge soll es gewesen sein, die USA zu Kriegen in der islamischen Welt zu provozieren, um die Muslime "aufzuwecken". "Das Resultat der ersten Phase war - nach Empfinden der Vordenker und Strategen der al-Qaida - sehr gut", schreibt Hussein. "Das Schlachtfeld wurde ausgeweitet, die Amerikaner und ihre Verbündeten wurden zu einem einfacher zu treffenden und näherem Ziel." Dem Netzwerk sei es außerdem gelungen, seine Botschaften "an jedem Ort" hörbar zu machen.


  • Die zweite Phase, "das Augenöffnen", läuft nach Husseins Einordnung im Moment ab; sie soll bis 2006 beendet sein. In dieser Zeit, so hoffen es laut Hussein die Terror-Strategen, werde die "islamische Gemeinschaft" sich der westlichen Verschwörung bewusst. Al-Qaida wolle sich in dieser Phase von einer Organisation zu einer Bewegung entwickeln, fasst Hussein zusammen. Das Netzwerk rechne damit, dass sich ihm viele junge Männer in diesem Jahren anschließen. Der Irak soll zudem zur Operationsbasis von globaler Bedeutung ausgebaut, eine "Armee" eben dort aufgestellt und außerdem Basen in anderen arabischen Staaten errichtet werden.


  • Die dritte Phase wird mit "Das Aufstehen und Auf-zwei-Beine-Stellen" umschrieben. Sie soll den Zeitraum von 2007 bis 2010 umfassen. "Es wird eine Konzentration auf Syrien geben", prophezeit Hussein auf der Grundlage seiner Rückmeldungen. Die kämpfenden Kader stünden bereit, zum Teil hielten sie sich im Irak auf. Auch Anschläge in der Türkei und - noch brisanter - gegen Israel würden für diese Jahre avisiert. Angriffe auf Israel, so hoffen die Vordenker des Terrors demnach, werden aus al-Qaida eine allseits anerkannte Organisation machen. Möglich sei außerdem eine Ausweitung der Anschläge in den Nachbarländern des Irak, also etwa in Jordanien.


  • In der vierten Phase, zwischen 2010 und 2013, wird es al-Qaida Hussein zufolge darum gehen, den Sturz der verhassten arabischen Regierungen zu erreichen. "Der schleichende Machtverlust der Regime wird zu einem stetigen Zuwachs an Kraft bei al-Qaida führen" - so lautet das Kalkül. Parallel sollen Angriffe gegen Ölförderanlagen durchgeführt, die US-Wirtschaft durch Cyberterrorismus ins Visier genommen werden.


  • So soll es in der fünften Phase, zwischen 2013 und 2016, gelingen, einen islamischen Staat auszurufen - und zwar ein Kalifat. Der Einfluss des Westens in der islamischen Welt werde dann bereits massiv zurückgegangen sein, sagen die Qaida-Ideologen voraus, auch Israel werde derart geschwächt sein, dass Gegenwehr nicht gefürchtet werden müsse. Der islamische Staat werde eine neue Weltordnung hervorbringen, rechnen sich die Qaida-Planer aus.


  • Die sechste Phase, beginnend 2016, sieht die "totale Konfrontation" vor, schließt Hussein aus dem, was ihm zugetragen wurde. Unmittelbar nach Ausrufung des Kalifats werde die "islamische Armee" die von Osama Bin Laden oft vorhergesagte "Schlacht zwischen Glauben und Unglauben" anzetteln.


  • Schließlich soll die siebte Phase folgen, die mit "endgültiger Sieg" beschrieben wird. Die Qaida-Strategen gehen, so Hussein, davon aus, dass das Kalifat Bestand haben wird - weil die restliche Welt angesichts der Kampfbereitschaft von "anderthalb Milliarden Muslimen" klein beigeben werde. Im Jahr 2020 soll auch diese Phase abgeschlossen sein, wobei der Krieg nicht länger als zwei Jahre dauern soll.

Im Nachhinein zurechtkonstruierte Ideensammlung?

Wie seriös ist dieses Szenario? "Al-Qaida macht keine Kompromisse", meint der Autor Fuad Hussein, der es zusammengestellt hat. Er glaubt offenbar, dass eine Reihe Qaida-Kämpfer diese Agenda 2020 zur Grundlage ihrer Arbeit machen könnten. Ein hysterischer Alarmist ist Hussein nicht - er gilt als seriös arbeitender Journalist, sein Sarkawi-Buch ist besser als das meiste, was in den arabischen Ländern zu diesem Thema erschienen ist. Erst im vergangenen Jahr hat der Journalist, der selbst kein Islamist ist, einen interessiert aufgenommenen Film gedreht, der auch im deutsch-französischen Fernsehsender arte gezeigt wurde. Darin präsentierte er tiefe Einsichten die in die Internet-Propaganda-Maschine des Netzwerks.

Trotzdem kann man das von ihm vorgestellte Szenario keinesfalls als einen Plan betrachten, den al-Qaida nun nach und nach abarbeiten wird. So funktioniert das Netzwerk heute nicht mehr. Die Bedeutung der zentralen Führung und ihrer konkreten Anweisungen ist enorm zurückgegangen. Der vermeintliche Masterplan 2000/2020 liest sich in Teilen eher wie eine im Nachhinein - nämlich nach dem 11. September und dem Fall Bagdads - zurechtkostruierte Ideensammlung, in der alles, was bis dahin geschehen ist, als von langer Hand geplant und vorausberechnet präsentiert wird. Und nicht zuletzt ist die Terror-Agenda schlicht unumsetzbar: Die Vorstellung, al-Qaida könnte in 15 Jahren ein die gesamte islamische Welt umfassendes Kalifat errichten, ist absurd. In dem 20-Jahre-Plan spielen religiös begründete Vorstellungen eine überragende Rolle; mit der Wirklichkeit haben insbesondere die Phasen 4 - 7 kaum noch etwas zu tun.

Einfach vom Tisch wischen sollte man die Erkenntnisse Husseins aber auch nicht. Einige Schritte, die in der Agenda zusammengetragen wurden, sind plausibel. Dass Syrien in den Blickpunkt der Mudschahidin gerät, gilt unter einigen Experten als wahrscheinlich. "Schließt die Reihen, konzentriert euch auf die Rekrutierung, gründet Zellen!", heißt es etwa in einem Aufruf "an die Mudschahidin in Syrien", der Anfang August auf einer Internetseite verbreitet wurde.

Israel und die Türkei sind aus dem Blickwinkel der Dschihadisten betrachtet ebenso logische wie für eine Eskalation geeignete Ziele. "Al-Qaida betrachtet jede Auseinandersetzung als Sieg, weil die Muslime so lange nicht zu den Waffen gegriffen haben", meint Hussein, womit er richtig liegen dürfte. Qaida-Anführer wie al-Sarkawi im Irak haben schon früher Jordanien attackiert. Auch hat er mehrfach erklärt, Jerusalem sei sein eigentliches Ziel.

Welche Rolle spielen Anschläge im Westen?

Die Vorstellung, al-Qaida würde sich gegenwärtig immer mehr zu einer Bewegung entwickeln und für junge, frustrierte Männer an Attraktivität gewinnen, ist ebenfalls nicht aus der Luft gegriffen. Das Netzwerk steckt viel Aufwand in seine Propaganda - offenbar, wie man nun mit etwas mehr Gewissheit vermuten darf, in der Absicht, seine Basis zu erweitern.

Interessanterweise finden Großanschläge gegen den Westen in den Antworten an Fuad Hussein keine Erwähnung. Wegdenken darf man sie sich deswegen wohl kaum - sie gelten für al-Qaida aber anscheinend eher als Begleitung ihrer Aktivitäten auf dem Weg zur Errichtung des Kalifats. Anschläge wie in New York, Madrid und London wären demnach nicht der Grund, aus dem al-Qaida sich gebildet hat, sondern Mittel zum Zweck - Etappenziele auf dem Weg zur totalen Verunsicherung des Westens.

Al-Qaida ist heute schwieriger einzuschätzen als je zuvor: Die Organisation ist in Filialen und lose angebundene Zellen zerfallen, verwandte Organisationen gehen in ihr auf, Menschen, die vorher mit al-Qaida kaum etwas zu tun hatten, führen in ihrem Namen Anschläge durch. Von der "Zentrale" ausgesandte Direktiven sind nicht mehr vorstellbar, weil die Führung um Osama Bin Laden vor allem mit Überleben beschäftigt ist. Zugleich wird die Trennung zwischen Kadern und Sympathisanten immer unschärfer. Es ist leicht, auf Desinformation hereinzufallen - auch auf diesem Gebiet tut sich al-Qaida hervor. Das von Hussein entworfene Szenario ist nicht über jeden Zweifel erhaben.

Seine Studie sollte man deshalb als das lesen, was sie in Wahrheit ist: ein Versuch, sich in die Gedankenwelten der Qaida-Terroristen hineinzuversetzen und aus diesen Vorstellungen ein Puzzle zusammenzusetzen, das Auskunft darüber gibt, was das Terrornetzwerk will und auf dem Weg dahin für nötig hält.

Al-Qaidas Phantasien vom Endsieg über den Rest der Welt minus all das, was Sicherheitsbehörden und Militärs im Kampf gegen den Terrorismus verhindern werden können minus all das, was al-Qaida wegen mangelnder Kapazitäten nicht gelingen wird: Was am Ende dieser Gleichung übrig bleibt, ist das Szenario, mit dem man realistischerweise rechnen muss.