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Wie Willy Brandt den Nahost-Frieden verspielte

Von Hagai Tsoref, Michael Wolffsohn
Veröffentlicht am 09.06.2013Lesedauer: 19 Minuten

Im Sommer 1973 reist Bundeskanzler Willy Brandt nach Israel. Ministerpräsidentin Golda Meir bittet den Sozialdemokraten, zwischen Ägypten und Israel zu vermitteln. Doch Meir setzt auf den Falschen.

Bundeskanzler Willy Brandt, als Friedensstifter hoch gelobt, hätte den verlustreichen Jom-Kippur-Krieg vom Oktober 1973 verhindern können. Ohne diesen Waffengang, in dem Ägypten und Syrien vor genau vierzig Jahren durch ihren Überraschungsangriff am höchsten jüdischen Feiertag beinahe Israels Existenz ausgelöscht hätten, wäre die erste globale Ölkrise der Jahre 1973/74, wenn überhaupt, später ausgebrochen.

Möglicherweise wäre uns die Atomenergiedebatte, jedenfalls in der bekannten Form, erspart geblieben, denn als Reaktion auf das arabische Ölembargo, das jenem Krieg unmittelbar folgte, wurde in Europa auf Atomenergie umgeschaltet.

Hat Willy Brandt aus politischen oder persönlichen Gründen Unterlassungsschuld auf sich geladen? Israels damalige Ministerpräsidentin, die als kompromissloser Falke geltende Golda Meir, war im Sommer 1973 zu einem Frieden mit Ägypten bereit, praktisch alle im Sechstagekrieg vom Juni 1967 auf der Sinai-Halbinsel eroberten Gebiete zu räumen.

Weil sie nicht mehr auf den Vermittlungswillen der Großmächte vertraute, bat die Sozialdemokratin Golda Meir den deutschen Sozialdemokraten Willy Brandt bei seinem Israel-Besuch im Juni 1973 um Rat und Tat. Er sollte helfen, den Friedensprozess in Gang zu setzen. Brandt versagte die Hilfe.

Für Brandt war Israel ein Störfaktor

Erstens, weil er grundsätzlich kein großes Interesse an engen Kontakten zu Israel hatte. Das entsprach (und entspricht bis heute) der Mehrheitsmeinung der SPD-Basis. Einer der Gründe dafür war der 1968 einsetzende Zustrom aus den Reihen der neulinken, außerparlamentarischen Opposition, die zionismusfeindlich war und dem Staat der Juden zumindest skeptisch gegenüberstand.

Zweitens war Brandt prinzipiell nicht bereit, in Nahost zu vermitteln. Die Bundesrepublik werde sich dabei überheben, meinte er. Drittens übertrug er die von Golda Meir als Chefsache gedachte Initiative dem Auswärtigen Amt (AA), das nicht israelfreundlich war und die arabische Welt favorisierte.

Dessen Kopf, der FDP-Vorsitzende Walter Scheel, hatte seine Partei zwar seit 1966 von rechts- auf linksliberal umorientiert, doch deren israelkritische Grundhaltung beibehalten. Diese war erstmals 1952/53 bei der Ablehnung des Wiedergutmachungsabkommens erkennbar geworden.

Für Brandt und seine Regierung galt Israel als Störfaktor ihrer Nahostpolitik. Frau Meir hatte also den falschen Helfer erkoren. Diese Schlussfolgerungen basieren auf neuen Dokumentenfunden aus Deutschland und Israel. Brandts friedenspolitisches Fiasko von 1973 war weder Zufall noch Unfall. Es passte zu seiner Nahoststrategie.

Gehässiger Grundton

Die Richtlinie des Kanzlers war im Kabinettsgespräch vom 11. Februar 1970 eindeutig: „Unsere Nahostpolitik sollte ausgewogen sein“ und „ohne Komplexe“ betrieben werden. „Normalisierung“ ohne „eine Abwertung“ sei das Ziel.

Über Israel: „Er (Brandt) liebe keine Erpressungen, selbst wenn sie von Freundesseite kämen.“ Außenminister Scheel sekundierte: „Auch er sei kein Freund irgendwelcher Erpressungen.“ Verteidigungsminister Helmut Schmidt verwies darauf, dass „in den USA immer noch mehr Juden lebten als in Israel, dass unsere Israel-Politik also stets leicht auf das Verhältnis zu den USA zurückwirken könne“.

Erstaunlich ist der unfreundliche, geradezu gehässige, stammtischnahe Grundton, den die führenden Politiker der sozialliberalen Regierung anstimmten.

Die Ouvertüre 1971/72

Anders als Israels Staatsgründer David Ben-Gurion glaubte Golda Meir nicht an das „neue Deutschland“. Warum bat sie dann ausgerechnet den deutschen Bundeskanzler um Hilfe? Weil sie ihn als sozialdemokratischen Genossen und als erfolgreichen Friedenspolitiker schätzte.

Artig hatte sie ihm zum Friedensnobelpreis gratuliert, woraufhin er am 29. November 1971 versprach, dass ihm die Auszeichnung „ein Ansporn“ sei, „auch künftig mit ganzer Kraft einer Politik der Friedenssicherung zu dienen, die eine Wiederholung der Schrecken der Vergangenheit verhindern hilft“.

Und konkret: „ … wenn immer Sie meinen, dass ich für meine Überlegungen und Gespräche etwas wissen sollte, was über die offiziellen Verlautbarungen hinausgeht, zögern Sie bitte nicht, es mich wissen zu lassen.“

Hinter ihrem Rücken sprach Brandt nicht gerade freundlich über Golda Meir. Er erzählte Frankreichs Staatspräsident Pompidou im Juli 1971: „Er habe vor ein paar Monaten Frau Golda Meir getroffen. Sie habe eine sehr kämpferische Haltung an den Tag gelegt und das Bild vermittelt, dass Israel allein stehe, keine Freunde habe und notfalls bis zum letzten Mann kämpfen wolle. Von Freunden habe er gehört, dass Mosche Dajan (Israels Verteidigungsminister) eine etwas kritischere Einstellung habe. Nach dem israelischen Parteiensystem könne Mosche Dajan aber nicht erster Mann des Landes werden“, was Brandt offenbar bedauerte.

Meirs Glacéhandschuhe für Brandt

Am 6. Februar lud Golda Meir Brandt „besonders herzlich“ nach Israel ein. Botschafter Ben Horin übergab das überaus freundliche, ja einschmeichelnde Schreiben am 8. Februar in Bonn. Kurz danach lobte sie seine „visionären und mutigen Aktivitäten“, die – welch Höhenflug – „Hoffnung auf eine bessere Welt“ weckten. Es war die erste Einladung nach Israel, die ein amtierender Bundeskanzler erhielt.

Brandt war jedoch wenig begeistert, wie er dem dezidiert antiisraelischen Georges Pompidou erzählte. Er „befinde sich in einer schwierigen Lage, weil er sich der unter etwas seltsamen Umständen ergangenen Einladung von Ministerpräsidentin Meir praktisch nicht entziehen könne … und gleichzeitig sehen müsse, wie er das auf arabischer Seite ausbalancieren könne“.

Selbst das tölpelhafte Versagen der Bundesregierung beim Terroristenmassaker der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) am 5. September 1972 in München konnte Golda Meirs Wertschätzung Brandts nicht erschüttern.

Als im Oktober 1972 PLO-Terroristen eine Lufthansa-Maschine nach Zagreb entführten, um die festgenommenen Terroristen freizupressen, gab Brandt augenblicklich nach. Obwohl in Israel Empörung darüber herrschte, fasste Golda Meir Brandt weiterhin mit Glacéhandschuhen an. Nur wenige Wochen nach München und Zagreb begannen die Vorbereitungen für Brandts Israelreise.

Vorbereitungen

Dem Kanzler wurde es mulmig. Im Januar 1973 schickte er seinen Intimus Egon Bahr zu Botschafter Ben-Horin. Der fragte, ob so kurz nach dem Olympia-Massaker und der erpressten Terroristen-Freilassung der Kanzlerbesuch angebracht sei.

Wärmstens riet Israels Botschafter zur Visite – trotz der proarabischen Bemühungen des Auswärtigen Amtes. Brandt ja, Scheel nein, SPD ja, FDP nein. Scheel sagte dem israelischen Botschafter, Jerusalem müsse wissen, dass die USA nicht Israels „Agentur“ seien.

Jenseits der Schulmeisterei gab es Handfestes: Der FDP-Vorsitzende Scheel war, anders als Brandt, gegen Waffenkäufe aus und Waffenverkäufe an Israel. Doch Brandt wollte sich nicht mit Scheel anlegen.

Israels Vizepremier Allon gegenüber legte er Wert darauf, in seiner Einschätzung mit Scheel einig zu sein. Keinesfalls werde der Kanzler wegen Nahost mit seinem Koalitionspartner Scheel streiten, erklärte auch Bremens Bürgermeister Hans Koschnick, ein Freund Israels.

Hegte Brandt Vorurteile gegenüber Israel?

Kurz vor seiner Israelreise sprach der Kanzler mit Jugoslawiens Regierungschef Tito und sagte ihm, er erwarte nicht viel von seinem Israelbesuch: „Israel ist zurzeit besonders unbeweglich, weil nach der Sommerpause Wahlen bevorstehen. Es gibt dort militante rechte Gruppen. Frau Golda Meir selbst ist auch nicht besonders flexibel.“

Das war starker Tobak, denn militante rechte Gruppen waren in Israel damals politisch ziemlich bedeutungslos, und Frau Meir war erheblich flexibler, als es der Kanzler erwartet hatte. Hegte ausgerechnet der Antifaschist Brandt Vorurteile?

„Wir haben von alters her ein gutes Verhältnis zu den Arabern, sind aber Israel gegenüber zu besonderer Ausgewogenheit verpflichtet; durch deutsche Schuld sind Millionen von Juden umgekommen. Als Junge war ich Antizionist, wie übrigens auch meine jüdischen Freunde damals. Durch den Krieg und nach dem Krieg durch Bildung des Staates Israel ist jedoch eine neue Lage entstanden.“

Wusste Brandt nicht, dass die deutsch-arabische Freundschaft gar nicht so alt und vor allem NS-braun war?

Krieg in Sicht

Es war fünf Minuten vor zwölf. „Die Araber bereiten sich auf den totalen Krieg vor … Sie sind bereit, Israel zu vernichten, und sie haben auch die Mittel dazu“, erklärte Tito dem Kanzler. Tito schätzte die ägyptischen Kriegsvorbereitungen richtig ein, Golda Meir nicht. Und Brandt hatte die Information fast aus erster Hand, denn Tito verfügte seit je über sehr enge Kontakte nach Kairo.

Die endgültige, mit dem Auswärtigen Amt abgesprochene Themenliste lag Brandt am 1. Juni vor. Sie enthielt wörtlich ausformulierte, mundgerechte Argumente der „Sie könnten sagen“-Art. Der eigentlich die Richtlinien bestimmende Kanzler wurde ziemlich unverblümt an die außenpolitische Leine genommen.

Etwa so: „Sie könnten Frau Meir nur sagen, dass …“ Viel zu sagen hatte er im eigenen Hause offenbar nicht. Die von den Sachbearbeitern formulierte Einleitung wie der ganze Text strotzten vor neudeutschem Selbstbewusstsein. Geschichtliche Pietät, Demut oder wenigsten Bescheidenheit und Zurückhaltung? Fehlanzeige. Gewiss, ein bisschen Geschichte: Natürlich war eine Kranzniederlegung in der Jerusalemer Holocaustgedenkstätte Yad Vashem vorgesehen. Abgehakt. Dann zur Sache.

Rolle des Auswärtigen Amtes

Sehr wohl wusste man im Kanzleramt, dass Israels Beliebtheit in Afrika ab- und die der Araber zugenommen hatte. Deshalb war man an deutsch-israelischen Kooperationsvorhaben in Drittländern „nicht sehr interessiert“. Im Klartext: Israel wurde als Störfaktor deutscher Außen- und Wirtschaftspolitik betrachtet.

Es überrascht nicht, dass die Reisevorlage des Auswärtigen Amtes, dessen Chef Scheel als Erster von den Friedensabsichten Ägyptens 1973 überzeugt war, ebenfalls keine Israel-Lyrik enthielt. Sachlich (wenngleich, wie sich bald danach zeigte, falsch) war die AA-Vorlage der von Ministerialdirektor Lahn geleiteten Abteilung 3, datiert am 1. Juni 1973.

Deren „Gesprächsvorschlag (Neufassung)“ vom 6. Juni 1973, also unmittelbar vor Brandts Abflug, war geradezu polemisch gegen Israels Wunsch nach direkten Gesprächen gerichtet und behauptete, „dass Verhandlungen auf dieser Basis (einer) ,imposed solution‘ gleichkämen“. Lahn – den Namen merke man sich.

Von direkten Verhandlungen zwischen Israel und den arabischen Staaten versprachen sich im AA-Papier die Verantwortlichen Lahn und Redies zumindest als Anfang des Friedensprozesses nicht viel. Hilfestellung von außen sei nötig, am sinnvollsten von den UN und den Großmächten. Genau das wollte Golda Meir nicht – und deswegen erkor sie Brandt zum Vermittler israelisch-ägyptischer Verhandlungen. Sie wählte falsch und hoffte vergebens.

Alles andere als demütig sprach der Kniefall-Kanzler mit Israels Botschafter kurz vor dem Abflug nach Israel. Keinesfalls solle ihm Israel Forderungen stellen. Dann nämlich müsse seine Reaktion harsch ausfallen. In Deutschland dürfe nicht der Eindruck entstehen, dass er in Wiedergutmachungsfragen unter Druck gesetzt worden wäre.

Fenster zum Frieden? Der Besuch

Vom 7. bis 11. Juni 1973 weilte Brandt in Israel. Bereits im ersten Delegationsgespräch setzte Staatssekretär Paul Frank Akzente. In Abwesenheit der beiden Regierungschefs gab er die Richtung vor. Er sagte, „dass niemand, der in verantwortlicher Position mit den deutsch-israelischen Beziehungen zu tun habe, daran denke, dass die Vergangenheit vergessen werden könne. Es sei jedoch an der Zeit, die Debatte hierüber abzuschließen.“ Also Schlussstrich – und das Bekenntnis zur Ausgewogenheit deutscher Nahostpolitik.

Das erste Vieraugengespräch zwischen Frau Meir und dem Kanzler fand bereits am Ankunftstag statt. Sie bat ihren Gast, er möge ihr doch „etwas über die verschiedenen allgemeinen und globalen Dinge erzählen“. Ja, „erzählen“.

Ebenso exakt war des Kanzlers Analyse und Prognose, die zunächst der Sowjetunion galt. Außenminister Gromyko werde wohl nicht länger in diesem Amt bleiben (er blieb dann weitere zwölf Jahre). Und weiter: Parteichef Breschnew interpretiere die Watergate-Affäre als „antikommunistische Arglist gegen die Entspannungspolitik von US-Präsident Nixon“. Das war zumindest originell.

Brandt stößt auf taube Ohren

Irgendwann scheint Frau Meir der Geduldsfaden doch gerissen zu sein. Sie erwähnte die vergeblichen Versuche, mit Ägypten ins Gespräch zu kommen. Der Kern des Palästinenserproblems sei, dass die arabische Seite Israel vernichten wollte. Das israelische Protokoll vermerkt: „Brandt sagte, er verstehe das.“ Was er verstand, konnte man so oder so verstehen. Faktisch hatte er nichts gesagt.

Am 8. Juni trafen sich beide Delegationen gemeinsam mit Golda Meir und Willy Brandt. Als man über „Friedensbemühungen“ sprach, empfahl der Kanzler die UN „als besonders geeigneten Rahmen“, was, kein Wunder, bei Frau Meir und ihren Kollegen auf taube Ohren stieß.

War man in Bonn so schlecht vorbereitet oder tat man nur so? Israels Wertschätzung der UN konnte (und kann man bis heute) nur in Negativgrößen ausdrücken.

Was die bislang freigegebenen deutschen Akten nicht, wohl aber die israelischen enthüllen: Tags darauf bat Frau Meir Willy Brandt um aktive Vermittlung in Kairo.

Israel will Geheimverhandlungen

Am 9. Juni fand das zweite Vier-Augen-Chefgespräch statt. Diesmal wurde nur über Nahost gesprochen, und zwar präzise. Die Europäische Gemeinschaft, besonders England und Frankreich würden „die Araber“ in ihrer Ablehnung bestärken, mit Israel zu verhandeln, „und das erschwert die Friedensbemühungen“.

„Brandt stimmte der Einschätzung der Ministerpräsidentin zu“, heißt es im amtlich israelischen, „streng geheimen“ Protokoll. Dann ließ Frau Meir die Katze aus dem Sack: Der Kanzler könne „Sadat sagen, dass er, Brandt, davon überzeugt sei, dass wir Frieden wollen, denn wir wollen nicht ganz Sinai oder halb Sinai oder den Sinai-Großteil“.

Er könne Sadat verdeutlichen, dass „wir ihn zunächst nicht um öffentlich sichtbare Verhandlungen bitten. Wir sind bereit, Geheimverhandlungen zu beginnen.“ Ihre Bitte an Brandt: Er persönlich solle Sadat die israelische Botschaft nahebringen.

„Ganz allgemein“ skizzierte Frau Meir „unsere Haltung zur Grenzfrage“. Eine „Rückkehr“ zu den Positionen vom 4. Juni (1967) sei Jordanien, Syrien und Ägypten gegenüber ausgeschlossen. Nebenbei: Sie sprach von einer Rückgabe an Jordanien, nicht Palästina, und schloss: „Die Grenze muss zwischen den Linien vom 4. Juni und denen des (damaligen) Waffenstillstands liegen. Über die Festsetzung dieser Linien können wir verhandeln.“

Brandts Bemerkungen wirken wirklichkeitsfern

Brandt verpflichtete sich der israelischen Gesprächsaufzeichnung zufolge zu nichts. Die deutsche ist (noch) nicht zugänglich, oder es gibt keine. Man darf jedoch vermuten, dass er schwieg. Das israelische Protokoll hätte Brandts Antwort wohl in jedem Fall festgehalten.

Hatte sich Brandt nicht getraut, Frau Meir zu fragen oder ihr gar zu widersprechen? Der Eindruck drängt sich beinahe auf, wenn man das Gesprächsprotokoll mit Vizepremier Yigal Allon liest. Ja, er, Brandt, habe in seinen Gesprächen mit Frau Meir den Eindruck gewonnen, dass Israel Frieden wolle, sie aber – anders als er und Scheel – den Absichten der Ägypter und Araber misstraue.

Einerseits erwähnte Brandt, Ägypten sei zu Territorialkompromissen bereit, andererseits sah er hier eine „große Kluft“ zwischen Kairo und Jerusalem. Seltsam, denn Frau Meir hatte ihm tags zuvor doch ihre weitgehende Flexibilität bekundet. Hatte er das überhört, vergessen, absichtlich nicht erwähnt, war er unkonzentriert, hatte er an anderes gedacht? Einige Kanzlerbemerkungen wirken merkwürdig wirklichkeitsfern.

Ob Brandt jenseits der Territorialfragen etwa im Bereich Tourismus und Regionalentwicklung größere Möglichkeiten einer israelisch-ägyptischen Zusammenarbeit sehe, wollte Alon wissen. Ja, meinte Brandt. Welche, fragte Allon. „Er könne keine Beispiele nennen, aber es könne sein, dass es um diese Themen gehe.“ Wo waren Brandts Gedanken? Er wirkte peinlich abwesend.

Brandt soll die „Dinge“ ins Laufen bringen

Präsent und frisch wirkte er dagegen am Abschiedstag, am 11. Juni, auf dem Weg zum Flughafen. Er fragte Frau Meir, wie er vorgehen solle, wenn er ihr etwas Sensibles unter Umgehung der üblichen Bürokratie mitteilen wolle. Kein Problem, meinte Israels Premier. Alles, was er dem Botschafter Israels in Bonn direkt übergebe, erreiche sie persönlich.

Staatssekretär Frank hatte auch noch etwas auf dem Herzen: Hafes Ismail, Sadats Sicherheitsberater, habe ihm gesagt, Israel müsse entscheiden, ob es ein Mittelmeerstaat sei. Was das bedeute, fragte Frau Meir. „Er stotterte und sagte nichts Klares“, vermerkt das Protokoll genüsslich – wahrscheinlich nach persönlichem Diktat der Ministerpräsidentin.

Frank befand man in Jerusalem für zu leicht, Brandt dagegen als Schwergewicht. Frau Meir setzte ihre friedenspolitische Hoffnung auf ihn. Er sollte die Dinge ins Laufen bringen. Sie ließ anordnen, dass „Dinge“ aus dem Büro des Bundeskanzlers nicht über den regulären Kanal des Außenministeriums, sondern den Geheimdienst Mossad gehen sollten. Dies hätten sie und der Kanzler vereinbart.

Von der Friedensinitiative zum Krieg

Am 21. Juni, zehn Tage nach seiner Rückkehr aus Israel, traf Brandt Frankreichs Präsident Pompidou auf Schloss Gymnich und informierte ihn „vertraulich“. Brandt war wie verwandelt. Es sei zwar die „schwerste Reise gewesen, die er als Bundeskanzler unternommen habe. Allerdings hätten die Verantwortlichen in Israel ihm seine Aufgabe unendlich leicht gemacht.“

Kein böses Wort mehr über die Genossin. „Er sei überrascht gewesen, wie stark in Israel der Wille sei – nicht nur bei Frau Meir –, zu einem Ausgleich zu kommen, wenn dies nur irgendwie gehe.“

Golda Meirs Bitte spielte Brandt herunter: „Halb öffentlich habe Frau Meir ihm gesagt, Israel sei zu einem Kompromiss bereit. Ob dies in eine so labile Lage, wie sie in Kairo herrsche, passe, wisse er nicht … Er habe es abgelehnt, auch wenn man es ihm angetragen habe, Mittlerfunktionen zu übernehmen, weil dies die deutschen Möglichkeiten übersteige. Er habe aber seine Bereitschaft erklärt, als Übermittler der Standpunkte tätig zu werden. Frau Meir habe dazu geäußert, sie sei nicht sicher, ob bei solchem Vorhaben irgendetwas herauskäme. Immerhin hätte man über Rumänien und Jugoslawien dergleichen schon versucht. Auch er selbst sei in dieser Frage nicht besonders optimistisch.“

Pompidou gab sich pessimistisch: Jerusalem trete zwar „neuerdings gemäßigter“ auf, aber schon bald rechnete er auch bei den Israelis mit „einer weiteren Verhärtung“. Nun schwenkte Brandt um: „Pessimismus sei hier durchaus am Platz.“ Und dann aber dies: Es gebe aber Ansätze zu Optimismus, falls Sadat bleibe. Sadat blieb.

Nichts aber blieb von Israels Friedensinitiative. Als Chefsache von Frau Meir geplant und erbeten, verwandelte sie Brandt in einen unverbindlichen Behörden- und Beamtenakt. Er übergab an Staatssekretär Paul Frank (1918–2011), parteilos, Urgestein des Auswärtigen Amtes, dem er seit 1950 gedient hatte, seit 1970 Staatssekretär und dabei, in enger Zusammenarbeit mit Walter Scheel (dem er von 1974 bis 1979 ins Bundespräsidialamt folgte), eine der ostpolitischen Schlüsselfiguren, also ein Mann mit erfolgreicher Vergangenheit.

Israel und das Auswärtige Amt

Was wollte Staatssekretär Frank 1973? Erinnerte sich Brandt nicht an dessen „Stottern“ auf Frau Meirs Nachfrage am 11. Juni auf dem Weg zum Flughafen? Dass ausgerechnet Paul Frank, den Jerusalems resolute Dame nach seiner Hafiz-Ismail-Belehrung auf die Plätze verwiesen hatte, sich nun für ihre Initiative einsetzen würde, war nicht zu erwarten.

Strategisch bemerkenswert waren schon Franks frühe Positionspapiere, die er als Ministerialdirektor am 22. Oktober 1969, vor der Vereidigung der neuen SPD-FDP-Regierung, geschrieben hatte, sowie seine Kabinettsvorlage, die er dem neuen Kabinett am 13. November 1969 vorgelegt hatte. Dass in der arabischen Welt „von der Achse Washington-Bonn-Tel Aviv“ gesprochen werde, missfiel ihm offenkundig, und die deutsche Finanzhilfe an Israel nannte er „unproportional“.

Seine Zielsetzung: eine größere „Gleichgewichtigkeit unserer Wirtschaftshilfe für arabische Staaten und Israel“. Alles andere als diplomatisch unterkühlt war, bezogen auf die arabischen Staaten, seine Empfehlung ans Bundeskabinett: „Es ist für die Bundesrepublik auf die Dauer unerträglich, in so einer wichtigen Region … nicht ausreichend vertreten zu sein.“ Mit dem Ergebnis seiner Oberen konnte Frank zufrieden sein. Unausgesprochen folgten sie weitgehend seinen Empfehlungen.

Verpatzt

Ende Juni informierte Brandt Golda Meir, „in naher Zukunft“ werde eine „hochstehende Persönlichkeit in Kairo eine Mitteilung übergeben“. Er meinte den Verhandlungsvorschlag der Ministerpräsidentin. Zuvor hatte er „befreundete Staatsmänner“ aus den USA, Frankreich und der Sowjetunion über seine „positiven Eindrücke“ bezüglich des israelischen Friedenswillens informiert: Nixon, Pompidou und – ohne diplomatische Beziehungen mit Israel „befreundet“? – Leonid Breschnew.

Brandt hoffte, „all das diene dazu, Friedensgespräche in Gang zu setzen“. Das war sicher auch deshalb nicht zu erwarten, weil der Kanzler einen krassen Kunstfehler beging. Er hob zwar Israels Bereitschaft zu nahöstlicher Wirtschaftskooperation hervor, nicht jedoch Frau Meirs ausdrücklich bekundete gebietspolitische Nachgiebigkeit.

Vier Monate später griff Ägypten (mit Syrien) Israel an. Brandt hatte die Friedenskarte in der Hand. Er verspielte sie, indem er die Großmächte – eher nebenbei – zu aktivieren versuchte. Am Ende waren Spatz und Taube weggeflogen. Das ist die eine Seite. Die andere: Brandt tat genau das, was Frau Meir ursprünglich vermeiden wollte. Er brachte die Großmächte ins Spiel. Soll man das als Sabotage, Gedankenlosigkeit, Fahrlässigkeit, Unfähigkeit, gar Dummheit bezeichnen?

Die Initiative wurde gesichtslos

Am 1. Juli 1973 weilte Ministerialdirektor Lothar Lahn in Kairo. Derselbe Lothar Lahn, dessen Abteilung vor der Kanzlerreise direkte Verhandlungen als durch Israel auferlegte („imposed“) Lösung bezeichnet hatte, der keine Gebietskompromisse Israels erwartet und Ägyptens Friedensabsicht gepriesen hatte.

Dieser Lothar Lahn flog nach Ägypten, weil Staatssekretär Frank in der Schweiz weilte. Der Herr Staatssekretär konnte „den von seinen Ärzten verordneten Urlaub nicht unterbrechen“ und bat über den deutschen Botschafter Sadats Sicherheitsberater Hafiz Ismail, zu ihm zu kommen. Ismail lehnte ab. Nun wurde ausgerechnet Lahn beauftragt, und so scheiterte Frau Meirs Initiative.

Vom Kanzler über den Staatssekretär zum Ministerialdirektor wurde sie gesichts-, gewichts- und bedeutungslos. Der deutsche Beamte, der Brandt und Frank nach Israel begleitet hatte, wurde vom ägyptischen Berater regelrecht abserviert.

Das lag auch daran, dass Lahn das israelische Friedensangebot erkennbar widerwillig überbrachte. Warum wohl? Er selbst beschrieb es so: „Dabei betonte ich, dass ich diese Mitteilung lediglich als Bote überbringe, ohne selbst zu ihr Stellung zu nehmen.“ Klarer konnte keine Botschaft sein: Brandt, Bonn und Bonns Bürokraten erfüllten eine ihnen eher lästige Pflicht.

Brandt ließ den Vorhang zu

Lahns Friedenseinsatz fehlte das innere Feuer Ismails, der unverblümt arabisches Kriegsfeuer ankündigte. Da sowohl der Westen als auch die Sowjetunion an Nahost desinteressiert seien, „dürfe man die arabischen Länder auch nicht hindern, die Lösung ihrer Schicksalsfrage notfalls auch mit militärischen Mitteln selbst in die Hand zu nehmen. … Zu Kämpfen werde es früher oder später ohnehin kommen müssen, wenn eine politische Lösung nicht gefunden würde“, die er justement ausgeschlagen und für die sich Brandt/Frank/Lahn nicht wirklich eingesetzt hatten. Lahn selbst informierte in Bonn den Botschafter Israels über das Scheitern seiner „Botendienste“.

Des Kanzlers Reaktion? Er ließ dem Auswärtigen Amt seinen „Wunsch“ übermitteln, „dass nach den Gesprächen von MD Lahn in Kairo bis auf Weiteres nichts in dieser Sache … unternommen wird“. Vorhang zu.

Die Nahost-Friedenschance hatte der Friedenskanzler durch den Einsatz politischer Leichtgewichte verspielt. Brandts Emissär Lahn fehlte nahöstliches Wissen und der Glaube an Israels Konzessionsbereitschaft. Wie hätte ausgerechnet er eine friedenspolitische Wende einleiten können?

Weitere Enttäuschungen

Wie reagierte Golda Meir? Freundlich, dankbar, souverän, geradezu umschmeichelnd. Aus Überzeugung? Frau Meirs Freundlichkeit hatte bar der gescheiterten Friedensinitiative einen handfesten Grund: Jerusalem hoffte auf Bonner Unterstützung bei Verhandlungen über ein neues, für Israel günstigeres Abkommen mit der Europäischen Gemeinschaft.

Nach Rücksprache mit Außenminister Scheel war Brandts geheime Antwort äußerst kühl. „Im Herbst“ werde man „die Angelegenheit im Einzelnen … besprechen. Ich hoffe, dass dann eine im Rahmen unserer Möglichkeiten liegende Lösung gefunden werden kann.“ Kein Versprechen, keine angekündigte Kraftanstrengung, fast nichts.

Botschafter Ben Horin war viel skeptischer als seine Chefin: Die Bundesrepublik trete international immer selbstsicherer auf und werde in den UN womöglich auch antiisraelische Entschließungen mittragen. Vor allem das Auswärtige Amt dränge. „Die Entscheidungskraft von Brandt war innenpolitischen Gegenkräften gegenüber nie stark.“ Im Klartext: Er hielt den Kanzler für einen Schwächling, der, so seine Vorhersage, noch schwächer würde.

Die Schuldfrage

Heute wissen wir: Es war eine, wenn nicht sogar die letzte Möglichkeit, den Jom-Kippur-Krieg zu verhindern. Das konnte der Kanzler nicht wissen. Seines weltpolitischen Gewichts, seines enormen Ansehens als der Friedenspolitiker seiner Zeit war er sich bewusst, und er hatte bekanntlich Golda Meir im November 1971 versprochen, „mit ganzer Kraft einer Politik der Friedenssicherung zu dienen“. Diesen starken Worten folgten nahostpolitisch schwache Taten.

Subjektiv trifft Brandt an diesem Krieg keine Unterlassungsschuld. Und objektiv? O ja. Jenseits der Schuldfrage beging der Kanzler einen krassen Fehler: Er entwertete Jerusalems unalltägliche Initiative, indem er sie der alltäglichen Routine von Berufsdiplomaten überließ. Schwerwiegender: Er hat, anders als von Frau Meir gewollt, die Großmächte mit einbezogen.

Damit hat er Israels Führung vielleicht nicht subjektiv, doch objektiv getäuscht. Friedenskanzler Brandt hat 1973 den Nahostkrieg nicht verhindert. Er hätte es gekonnt. Und Ägypten? Es hätte ohne Krieg 1973 bekommen, was es nach dem Krieg von Frau Meirs Nachnachfolger Menachem Begin erhielt: Land für Frieden.

Hagai Tsoref ist Leiter des Dokumentationsreferats des Staatsarchives Israel, Michael Wolffsohn ist Historiker an der Bundeswehruniversität München

Mitarbeit: Thomas Brechenmacher, Ines Keil

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