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Massensterben: Tausende Tierarten verschwinden pro Jahr

Foto: MIGUEL ALVAREZ/ AFP

Artensterben Jedes Jahr verschwinden bis zu 58.000 Tierarten

Große Artensterben gab es fünf Mal in den vergangenen 540 Millionen Jahren - und ein weiteres sei in vollem Gange, warnen Forscher. Fünf bis neun Millionen Tierarten gebe es derzeit weltweit, und jedes Jahr verschwänden Tausende von ihnen.

Mammuts, Terrorvögel, Säbelzahntiger, sieben Meter hohe Faultiere, gepanzerte Gürteltiere von der Größe eines Autos: Die Liste der Riesen, die noch im Pleistozän - also jenem Zeitalter, das vor etwa 10.000 Jahren endete - die Erde bevölkerten, ist lang. "Heute sind wir mit einer ziemlich verarmten Tierwelt zurückgeblieben, und wir verlieren weiter Arten", heißt es in einem Themenschwerpunkt im Fachmagazin "Science".  Es zeichne sich immer deutlicher ab, dass der Mensch für das Aussterben der Megafauna des Pleistozän verantwortlich war und auch weiterhin Arten ins Aus dränge.

Fünf Mal gab es in den vergangenen 540 Millionen Jahren gewaltige Artensterben, zeigen Fossilienfunde. Forscher sehen eine sechste Welle in vollem Gange. Allein seit dem Jahr 1500 seien mehr als 320 terrestrische Wirbeltiere ausgestorben, die Bestände der verbliebenen seien im Schnitt um ein Viertel geschrumpft, schreiben Wissenschaftler um Rodolfo Dirzo von der Stanford University in "Science". Ähnlich düster sieht es demnach bei den Wirbellosen wie etwa Insekten aus.

Das Ausmaß des Artenschwunds könnte mit den fünf bisherigen großen Aussterbewellen der Erdgeschichte vergleichbar sein. Aus evolutionärer Sicht sei das Aus einzelner Arten von großer Bedeutung. Dabei werde aber leicht übersehen, dass schon ein Rückgang einzelner Spezies und eine veränderte Artenzusammensetzung in einem Gebiet immense Auswirkungen haben könnten.

Jährlich gehen 11.000 bis 58.000 Arten verloren

Derzeit gingen von den - vorsichtig geschätzt - fünf bis neun Millionen Tierarten weltweit jährlich 11.000 bis 58.000 verloren, heißt es in dem "Science"-Überblick. Das Verschwinden oder der Rückgang von Arten nur in einzelnen Regionen sei dabei nicht berücksichtigt. Und es betreffe nicht alle Tiergruppen gleichermaßen: So seien 41 Prozent der Amphibienarten, aber nur 17 Prozent der Vogel-Spezies bedroht. Zudem gebe es regionale Unterschiede - groß sei die Zahl gefährdeter Arten vor allem in tropischen Gegenden.

"Science"-Autor Erik Stokstad beschreibt in einem weiteren Artikel den erschreckenden Niedergang des Lambir-Hills-Nationalparks im Westen der Insel Borneo. Dieser sei einer der vielfältigsten Wälder der Welt gewesen. In den vergangenen drei Jahrzehnten aber verschwanden demnach etliche größere Tiere wie Flughund, Malaienbär, Gibbon und Rhinozeroshornvogel aus dem Park. Übrig blieben vor allem Tiere mit weniger als einem Kilogramm Gewicht: kleine Vögel, Nager, Geckos, für die vielen illegalen Jäger als Beute uninteressant.

Die Penan, eine indigene Volksgruppe Borneos, hätten als Nomaden das Gefüge des Waldes über lange Zeit nicht beeinflusst, so Stokstad. Von 1970 an aber seien immer mehr Menschen von außerhalb in das Gebiet gezogen: Nahe des Parks liegt die Stadt Miri, Zentrum der Ölindustrie Malaysias. Viele Einwohner hätten die Jagd zu ihrem Hobby gemacht.

Schildhornvögel in Lambir Hills fast verschwunden

Bis in die Achtzigerjahre hinein habe zunächst nur ein rumpeliger Weg für den Holztransport zum Park geführt, das Rauschen der Schwingen großer Schildhornvögel habe die Luft erfüllt. Inzwischen sei die Straße asphaltiert und der Park eine einsame Insel in einem Meer von Palmölplantagen. Schildhornvögel gibt es in Lambir Hills nicht mehr, ebenso kaum mehr Bartschweine und andere größere Pflanzenfresser.

Auch in vielen anderen Wäldern Asiens, Afrikas und Lateinamerikas gebe es nur noch kleine, für Jäger uninteressante Tiere, schreibt Stokstad. Das sei nicht nur traurig, sondern auch folgenreich. "Ein leerer Wald ist ein verlorener Wald", wird Kent Redford von der University of Florida zitiert.

Eine weitere Erkenntnis der Forscher: Die Verteilung der Baumarten verändert sich. Spezies, deren Samen vom Wind verbreitet werden, hätten nun einen Vorteil gegenüber solchen mit Früchten, die auf die Verbreitung durch Tiere angewiesen seien. Vor allem Bäume mit großen Früchten wüchsen oft nur noch nahe den Elternbäumen heran.

Bestäuber schwinden weltweit

Die Folgen des Verlustes an Biodiversität seien denen von Umweltverschmutzung und Überdüngung vergleichbar, schreibt Dirzos Team. Mit jeder Veränderung werde eine Kaskade von Folgeveränderungen in Gang gesetzt. Ein eindrucksvolles Beispiel sei die Bestäubung durch Insekten - wichtig für drei Viertel aller vom Menschen angebauten Nahrungspflanzen. "Bestäuber scheinen weltweit zu verschwinden - sowohl hinsichtlich ihrer Zahl als auch ihrer Artenvielfalt."

Eine weitere Kaskade betreffe die für den Pflanzenanbau relevanten Schädlinge: Fielen deren Fressfeinde - etwa kleine Wirbeltiere - weg, könnten verheerende Massenvermehrungen folgen. Insekten und andere Arthropoden seien für 8 bis 15 Prozent der Ernteverluste bei den wichtigsten Feldfrüchten verantwortlich. "Ohne natürliche biologische Kontrolle könnte dieser Anteil auf 37 Prozent steigen", so die Forscher. Allein in den USA werde der ökonomische Wert solcher Fressfeinde auf 4,5 Milliarden US-Dollar jährlich geschätzt.

Der Verlust an Tierarten werde sich auch auf vielen anderen Wegen auf den Menschen auswirken, betonen die Forscher. Demnach gelten zwischen 23 und 36 Prozent der vom Menschen als Nahrung genutzten Vögel, Säugetiere und Amphibien als bedroht. Indirekt könne vor allem das Aussterben kaum wahrgenommener Begleiter wie Fadenwürmer, Käfer oder Fledermäuse schwerwiegende Folgen haben. Der Klimawandel, das Anwachsen der Weltbevölkerung und der steigende Pro-Kopf-Ressourcenverbrauch verstärkten diese Effekte noch.

"Tiere werden Verlierer sein"

"Die Geschwindigkeit, mit der Tierarten von unserem Planeten verschwinden, ist ein Kennzeichen dieses Zeitalters, ebenso sicher ein Zeichen der menschlichen Dominanz wie unser Einfluss auf den Stickstoff-, Phosphor- und Kohlenstoffkreislauf." Zu diesem Schluss kommen Joshua Tewksbury, Direktor des Luc-Hoffmann-Instituts der Umweltschutzorganisation WWF in Gland, und Haldre Rogers von der Rice University im texanischen Houston.

"Tiere sind den Menschen wichtig, im Vergleich aber nicht so wichtig wie Essen, Arbeit, Geld und wirtschaftliche Entwicklung", schreiben sie in "Science".  "Solange wir Tiere in Ökosystemen weiter als irrelevant für diese Grundbedürfnisse halten, werden Tiere die Verlierer sein." Schon bald werde es acht bis neun Milliarden Menschen auf der Erde geben, die Mittelklasse wachse auf drei Milliarden an, die von Städten vereinnahmte Fläche verdopple sich. Den Tieren unter diesen Umständen Platz zum Leben einzuräumen, werde nicht leicht sein.

Annett Stein, dpa