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Sonnenstürme Wenn die Hölle vom Himmel scheint

Sonnenstürme können auf der Erde Stromausfälle verursachen und ganze Kontinente ins Chaos stürzen. Die nächste Sturmsaison erwarten Experten im Jahr 2010. Die USA sind bereits alarmiert, die Europäer jedoch planlos. Der Sonnensturm wird auch Deutschland treffen.
Von Max Rauner

Es war zehn Uhr abends, als Volker Bothmer mit einem Kompass vor sein Haus trat. Wie von Geisterhand bewegt, schwankte die Nadel hin und her. Um Mitternacht huschten plötzlich grüne Schleier über den Himmel. Bothmer weckte seine Frau, damit sie das seltene Spektakel der Polarlichter nicht verpasste.

Ein Sonnensturm hatte 19 Stunden zuvor eine gigantische Wolke elektrisch geladener Teilchen in Richtung Erde geschleudert. Der Sonnenbeobachtungssatellit Soho hatte sie fotografiert, ein Kollege hatte Bothmer per E-Mail alarmiert.

Bothmer erforscht seit 20 Jahren Sonnenstürme, er berät Europas Weltraumorganisation Esa und ist Deutschlands Mann fürs Weltraumwetter. An jenem Tag im Jahr 2003 konnte er die Folgen eines Sonnensturms erstmals nicht in Skandinavien, sondern direkt vor seiner Haustür beobachten, in Göttingen.

Der nächste Sonnensturm könnte für Deutschland weit dramatischere Auswirkungen haben als ein Flackern am Himmel, glauben Bothmer und andere Wissenschaftler. Und er kommt womöglich schon bald. Etwa alle elf Jahre beobachten Astrophysiker eine erhöhte Sonnenaktivität, das nächste Maximum erwarten sie für 2012. Allerdings: "Nicht im Maximum gibt es die stärksten Knaller, sondern zwei Jahre vorher und zwei Jahre nachher", sagt Bothmer. "Es ist wie beim Wasserkochen: Die großen Blasen entstehen, bevor es richtig kocht."

Schon der Vorfall von 2003 war nicht ungefährlich und hatte Folgen für die Stromversorgung: Um 19.55 Uhr fielen im schwedischen Malmö ein Trafo und Teile des Hochspannungsnetzes aus, 50.000 Einwohner saßen im Dunkeln. Zudem empfahl die US-Luftfahrtbehörde Fluggesellschaften, nördlich des 35. Breitengrades tiefer zu fliegen, weil die Strahlendosis in dieser Höhe geringer war. Und die Navigationssysteme für den automatischen Landeanflug auf US-Flughäfen fielen teilweise aus, weil die Signale der GPS-Satelliten gestört wurden.

Ein solarer Supersturm könnte noch mehr Unheil anrichten, er könnte das Rückgrat der technisierten Welt zerschmettern - das Stromnetz. Davor warnte kürzlich die National Academy of Sciences (NAS) in den USA. Ihr Report gleicht dem Drehbuch eines Science-Fiction-Films.

Die Materieauswürfe der Sonne bringen das Erdmagnetfeld zum Schwanken und verursachen starke Stromspitzen in Überlandleitungen: geomagnetisch induzierte Ströme, kurz GICs. In den USA, so der NAS-Report, könnten 360 Trafos während eines Supersturms beschädigt werden, in manchen Bundesstaaten mehr als die Hälfte der vorhandenen. Das Problem: Im Trafo brennt nicht nur eine Sicherung durch, die Geräte verschmoren regelrecht. Bis zu 130 Millionen Amerikaner wären tage- oder gar wochenlang ohne Elektrizität.

Der stärkste jemals registrierte Sonnensturm traf die Erde am 28. August 1859. Menschen in Rom und Havanna bewunderten die Polarlichter, in den Telegrafenämtern Europas und Nordamerikas schlugen Funken aus den Leitungen, manche Station fing Feuer. Damals gab es noch kein Internet, kein großes Elektrizitätsnetz, keine Satelliten. Heute wäre solch ein Sturm der Super-GAU. Geschätzte Kosten für die USA: ein bis zwei Billionen Dollar im ersten Jahr. Vier bis zehn Jahre brauchte das Land, um sich zu erholen.

Auch in Deutschland gehört ein längerer Stromausfall zu den gruseligsten Szenarien. Im Grünbuch des Zukunftsforums Öffentliche Sicherheit, einer überparteilichen Initiative von vier Bundestagsabgeordneten, haben Katastrophenschützer und Sicherheitsexperten unlängst zwei Schlüsselgefahren beschrieben: eine Seuche und einen Stromausfall. Gewiss, es gibt Notstromaggregate. Doch der Kraftstoffvorrat reicht oft nur für 12 bis 48 Stunden. Nachtanken? Von 2200 Shell-Tankstellen haben nur 15 eine Notstromversorgung, erfuhren die Parlamentarier. Nun rätseln Experten, ob ein längerer Stromausfall durch Sonnenstürme auch in Europa denkbar sei. Wie verwundbar ist das Netz? Wie kann man sich vor Sonnenstürmen schützen? Einen Supersturm wie 1859 erwarten Astrophysiker zwar nur alle 500 Jahre, aber ein Sturm mit der halben Intensität tritt statistisch gesehen schon alle 50 Jahre auf.

Besonders oft trifft es Finnland

Finnland wird von Sonnenstürmen besonders oft getroffen, weil die Ionen der Sonne vom Erdmagnetfeld in polnahe Regionen gelenkt werden. Die Trafos des finnischen Stromnetzes sind für plötzliche Stromspitzen gewappnet. Für die anderen europäischen Länder würde Risto Pirjola vom finnischen Wetterdienst seine Hand nicht ins Feuer legen: "Das verwobene europäische Hochspannungsnetz ist vergleichbar mit dem Stromnetz der USA. Es müsste also ähnlich anfällig sein."

Vor vier Jahren wollte Pirjola, Europas führender GIC-Experte, die Verwundbarkeit des europäischen Netzes gemeinsam mit den Betreibern erforschen. Doch RWE und Vattenfall reagierten nicht auf seine Einladung, und die EU lehnte den Forschungsantrag ab.

Die deutschen Netzbetreiber ignorieren die Gefahr. Weltraumwetter sei "höhere Gewalt", sagt der Sprecher der RWE-Netzsparte. Vattenfall Deutschland verweist auf Blitzableiter in den Umspannwerken (die gegen GICs nichts ausrichten können). Und die Sprecherin der E.on-Netzsparte sagt: "Unsere Ingenieure würden das eher als Esoterik abstempeln."

Kein Grund zur Sorge? Der Trafo, der am 30. Oktober 2003 den Blackout in Malmö verursachte, gehörte E.on. Vattenfall stand zuletzt wegen defekter Trafos im AKW Krümmel in den Schlagzeilen. Der Mythos vom unverwundbaren europäischen Stromnetz ist ohnehin längst zerstört, seitdem E.on am 4. November 2006 eine Höchstspannungsleitung über der Ems abschaltete, um die gefahrlose Unterquerung eines Kreuzfahrtschiffs zu gewährleisten. Der Strom verteilte sich auf andere Leitungen - und überlastete sie. Nacheinander brachen Teile des Stromnetzes zusammen, sogar in Frankreich. 15 Millionen Menschen hatten eineinhalb Stunden lang keinen Strom. Wenn es im Weltall stürmt, könnten es Tage oder Wochen sein.

"In Europa gibt es ähnliche systemische Risiken wie in Nordamerika", sagt der Stromnetz-Gutachter John Kappenman. Er hat die Weltraumwettergefahr für die Stromnetze in den USA, England, Schweden, Norwegen und Japan untersucht, auf seine Analysen stützt sich die NAS. "Die richtig großen Stürme werden auch Kontinentaleuropa bedrohen", befürchtet Kappenman.

Netz- und Satellitenbetreiber könnten Schäden verhindern, wenn sie früh genug gewarnt würden. Der Sturm von 2003 war da ein Glücksfall: Mit dem Materieauswurf ging ein starker Röntgenblitz einher, den der Soho-Satellit beobachtete. Die US-Weltraumwetterwarte verschickte daraufhin eine Warnung, einige Atomkraftwerke in den USA drosselten ihre Leistung. Doch solche Maßnahmen sind teuer, und die Weltraumwettervorhersage ist noch sehr ungenau. Während des vergangenen Zyklus zählten Nasa-Wissenschaftler auf der Sonne 21.000 Blitze und 13.000 Materieauswürfe. Die wenigsten richteten Schaden an. Dass eine gefährliche Teilchenfront auf die Erde zurast, lässt sich zweifelsfrei erst mit dem älteren, ausfallgefährdeten ACE-Satelliten beurteilen, der die Teilchenfront direkt nachweist. Die Vorwarnzeit beträgt dann aber nur noch 15 bis 45 Minuten.

In den USA diskutieren Politiker und Experten nun darüber, wie sich das Frühwarnsystem verbessern ließe. Die beiden Nasa-Satelliten der "Stereo"-Mission, seit drei Jahren im All, werden dabei helfen. Auch Europa könnte davon profitieren - wenn nur jemand die Warnungen ernst nähme. Volker Bothmer, an Stereo beteiligt, hat schon eine Idee, wie man das Thema auf die Tagesordnung bringt: "Den nächsten großen Knaller von der Sonne in Richtung Erde werden wir mit Stereo direkt verfolgen. Wenn alles klappt, gibt es sofort eine Sturmwarnung."

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