An diesem Dienstag erschien das Buch "Delete - Die Tugend des Vergessens in digitalen Zeiten" von Viktor Mayer-Schönberger. Der Autor fordert darin, dem Netz das Vergessen technisch beizubringen. Unsere Autoren Karsten Polke-Majewski und Kai Biermann argumentieren in einem Pro und Contra, weshalb dieses technische Vergessen unabdingbar ist beziehungsweise warum wir längst darüber hinaus sind, ein solches Instrument zu brauchen.

Wir brauchen digitales Vergessen, fordert Viktor Mayer-Schönberger. Aber stimmt das? Ist die Forderung nicht nur Ausdruck einer Hilflosigkeit? Ist seine These, das Internet erinnere alles und vergesse nichts, nicht sogar falsch?

Ja, Vergessen erfüllt eine wichtige Funktion: Der Gedanke, dass jeder unserer Schritte, jedes unserer Worte auf ewig wiederholt und zitiert werden könnte, macht unfrei. "Wollen wir wirklich eine Zukunft, die niemals mehr vergibt, weil sie nicht vergisst?", fragt Mayer-Schönberger.

Nein, so eine Zukunft wollen wir nicht. Wir würden uns selbst zensieren – wenn diese Erinnerung denn tatsächlich so absolut wäre.

Das ist sie aber nicht. Unser digitales Erinnern ist nicht total. Es gibt ein Vergessen: leere Links, vergessene Blogs, abgeschaltete Server, geschlossene Archive, gelöschte Kommentare, von Klagen durchlöcherte Archive. Dazu kommt der digitale Tod: Wenn Firmen sterben, gehen auch ihre Inhalte verloren. Wenn beispielsweise ein Unternehmen aufgibt, dass Links zur einfacheren Verwendung auf Twitter kürzt, versteht seine Kürzel niemand mehr. Die Links sind dann kaputt, der einst verlinkte Inhalt nicht mehr zu finden, nicht einmal mehr zu identifizieren. Hinzu kommt die Flüchtigkeit: Viele Datenbanken generieren ihr Wissen dynamisch. Erst eine gezielte Anfrage bringt es hervor. Für Suchmaschinen bleibt es verborgen.

Manche dieser Hürden werden von Google und Bing, Ixquick und Metager schrittweise überwunden, andere nicht. Neue wachsen, beispielsweise Bezahlschranken und bewusst hinter Mauern versteckte Communitys.

Was aber Suchmaschinen nicht finden , weil sie es nicht finden können, existiert nicht. Auch wenn es irgendwo im Datenraum treibt. Das Phänomen hat sogar einen Namen: dark web oder hidden web . Darin sind all die Dinge, die wir einmal wussten, an die wir uns nun aber kaum noch erinnern können. Beispielsweise werden viele Websites regelmäßig überarbeitet. Das Design ändert sich, manchmal sogar die ganze Grundstruktur. Wenn dieser Prozess abgeschlossen ist, weiß niemand mehr, wie die Seite vorher aussah. Vom Layout, das ZEIT ONLINE 1996 oder 2001 hatte, gibt es etwa nur noch unvollkommene Reste. Wie in unserem Kopf, ist auch das vergessene Wissen im Netz der ungleich größere Bereich . Wer vergessen werden will, kann außerdem seinen Namen ändern, wie der Google-Chef Eric Schmidt im Scherz vorschlug. Er kann aber auch den Crawlern der Suchmaschinen den Zutritt zu seinen Seiten verwehren.

Es stimmt, das Netz merkt sich viel. Doch wir lernen längst, damit zu leben. Der Leitsatz: "Google niemanden vor dem ersten Date" ist ein Beispiel dafür. Wir wissen, dass uns zu viel Wissen schaden kann. Aber nur, wenn wir es auch abrufen.