Der vergessene Atomunfall von Lucens

Am 21. Januar 1969 ereignete sich in Lucens ein gravierender Zwischenfall, doch die politischen Folgen blieben minim. An jenem Tag um 17 Uhr erhitzt sich Brennelement 59 in der Atomanlage – es kommt zur Explosion. Noch bemerken die Bewohner des Orts nichts.

Daniel Gerny
Drucken
Personal mit Schutzausrüstung betritt nach dem Reaktorunfall am 29. Januar 1969 die Kaverne bei Lucens. (Bild: Photopress-Archiv / Keystone)

Personal mit Schutzausrüstung betritt nach dem Reaktorunfall am 29. Januar 1969 die Kaverne bei Lucens. (Bild: Photopress-Archiv / Keystone)

Es geht gegen Abend zu im kleinen Waadtländer Städtchen Lucens, als es im Inneren einer bewaldeten Anhöhe südlich der Gemeinde zu einer Explosion kommt, von der zunächst niemand etwas vernimmt. Bei Lucens befindet sich, tief in den Fels gebaut, der erste und einzige rein schweizerische Reaktor, errichtet, um die Entwicklung eines eigenen Kernreaktors zur Energiegewinnung zu befördern. Keine drei Kilometer ist die Anlage vom Ortskern entfernt. An diesem Tag im Januar 1969 soll sie nach monatelanger Revisionsphase wieder hochgefahren werden. Beunruhigt ist man in Lucens deswegen nicht. Man vertraut der Technik und den Versprechungen. Es herrscht winterliche Ruhe und Feierabendstimmung.

Optimieren Sie Ihre Browsereinstellungen

NZZ.ch benötigt JavaScript für wichtige Funktionen. Ihr Browser oder Adblocker verhindert dies momentan.

Bitte passen Sie die Einstellungen an.

Eine «kreatürliche Angst»

Auch in der Felskaverne auf dem Gelände der Centrale nucléaire expérimentale deutet nichts auf Unregelmässigkeiten hin, als der Reaktor um 4 Uhr 23 in der Früh wieder angefahren wird. Die Grenzwerte werden eingehalten, alle Vorschriften beachtet. Kurz nach 17 Uhr abends erreicht der Reaktor eine Leistung von 12 Megawatt. Doch dann wird die Equipe von einer automatischen Schnellabschaltung überrascht, wie das Eidgenössische Nuklearsicherheitsinspektorat (Ensi) später rekonstruiert. Bei der soeben abgeschlossenen Revision hat sich in einigen Brennelementen Wasser angesammelt und zu Korrosion geführt, die jetzt die Kühlung des Reaktors beeinträchtigt. Das Brennelement 59 erhitzt sich so stark, dass es schmilzt und schliesslich das Druckrohr zum Explodieren bringt. Schweres Wasser und radioaktives Material werden durch die Reaktor-Kaverne geschleudert. Personal hält sich dort zum Glück nicht auf. Doch die Radioaktivität steigt rasch auch in den übrigen Teilen der Kaverne an. Die Equipe muss die Anlage fluchtartig verlassen.

Erst um 11 Uhr am nächsten Morgen erfährt die erstaunte Bevölkerung von Lucens aus dem Radio von der schweren Havarie in der Nachbarschaft. Unmittelbare Gefahr für die Gesundheit besteht nicht, doch der Unfall wird später auf der internationalen Bewertungsskala auf der gleichen Stufe wie der Unfall von Three Mile Island klassiert werden. Leise kippt an diesem 22. Januar die Stimmung in Lucens. Es mache sich, schreibt die NZZ, «eine gewisse kreatürliche Angst bemerkbar, mehr unterschwellig als klar artikuliert». Im Zentrum bemerkt der Reporter einen im Atomwerk beschäftigten Angestellten, «der von einem älteren Bewohner besorgt befragt» wird. «In den Cafés und Wirtschaften begann nach 14 Uhr allmählich die Diskussion über den Zwischenfall», liest die Schweiz in der NZZ-Morgenausgabe vom Folgetag.

Auch später gilt der Unfall von Lucens als einer der schwersten in der Geschichte der Atomenergie. Folgen aber hat er kaum: Die Wirtschaft hat ihr Interesse an einem Kraftwerk made in Switzerland schon Jahre zuvor verloren und ist auf amerikanische Technologie umgeschwenkt. Ein gutes halbes Jahr nach dem Unfall von Lucens geht Beznau 1 ans Netz, mit einem in den USA schlüsselfertig eingekauften Reaktor.

Noch fehlen die AKW-Gegner

Für die Anti-AKW-Bewegung kommt der Fast-GAU um Jahre zu früh: Noch immer herrscht Fortschrittsglaube. Selbst der zaghafte Widerstand gegen die Kernkraft ist noch nicht von atomaren Ängsten geprägt. Erst 1975 besetzt die Bewegung das Gelände des geplanten Atomkraftwerks in Kaiseraugst. Von jenem 21. Januar 1969 aber ist auch da nie die Rede – die Demo-Transparente in Kaiseraugst kommen ohne «Lucens» aus.

Jahre und Jahrzehnte vergehen, bis zwei Atomunfälle die Energiepolitik nachhaltig beeinflussen. Am 26. April 1986 explodiert erneut ein Reaktor – diesmal in Tschernobyl, und am 11. März 2011 trifft es die Anlage Fukushima in Japan. Da sind die unruhigen Tage von Lucens aus dem kollektiven Gedächtnis längst gelöscht.

Zum Thema