Stéphane Hessels Nachruhm :
Pariser Empörungsplatz

Jürg Altwegg
Ein Kommentar von Jürg Altwegg
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Frankreich benennt Schulen und Straßen nach Stéphane Hessel. Ganz Frankreich? Nein, in einer großen Stadt im Herzen des Landes regt sich Widerstand.

Dass im Fischerdorf Trouville-sur-Mer an der französischen Atlantikküste die „Maison des Associations“ nach Stéphane Hessel benannt wurde, ist verständlich: Er hatte hier eine Ferienwohnung. In Nevers gehen die Kinder, wenn sie aus der Albert-Camus-Schule kommen, fortan im „Espace Stéphane-Hessel“ in den Nachhilfeunterricht; das ist keine große Sache. In Montpellier, wo immerhin ein Platz nach ihm benannt wurde, ist der Verlag seines Bestsellers „Empört euch“ zu Hause.

Jetzt aber wurde auch in Paris eine „Place Stéphane Hessel“ eingeweiht – nur acht Monate nach dem Tod des „Botschafters Frankreichs, Widerstandskämpfers und Deportierten, Verteidigers der Menschenrechte“, wie es zur Begründung der Benennung heißt. Diese vorschnelle Verewigung erfolgt gegen alle Pariser Gepflogenheiten und Reglements, die für solche postumen Ehrungen eine Wartefrist von mindestens fünf Jahren nach dem Tod vorschreiben.

Demokratische Spielregeln

Doch im kommenden Frühjahr tritt der Pariser Bürgermeister Bertrand Delanoë zurück; von ihm ging die Anregung zur Benennung des im 14. Arrondissement gelegenen Platzes aus. Und bis 2018 könnte die Geschichte den 1917 in Berlin geborenen, aber erst im hohen Alter populär gewordenen Hessel längst vergessen haben. Seine Gegner rüsten denn auch sofort nach der Zeremonie zum Denkmalsturz auf dem „Gemeinplatz der politischen Korrektheit“.

Für den französischen Philosophen Alain Finkielkraut verkörpert Hessel die Empörung als Selbstzweck und Emotionen ohne Nachdenken. Die Zeitschrift „Actualité juive“ spricht sogar vom „Platz des intellektuellen Betrugs“ und denunziert Hessels Lebenslügen: Er hatte sich selbst als Mitverfasser der Deklaration der Menschenrechte bezeichnet, was ziemlich übertrieben war. Dem Magazin geht es jedoch vor allem um Hessels Unterstützung für die Palästinenser, bei der er sich auf sein Judentum berief: Auch das, so „Actualité juive“, sei ein Betrug; ein Überlebender der Schoa sei Hessel „trotz Buchenwald“, wo er in Haft saß, nicht gewesen. Überhaupt ein Jude? „Die Großeltern väterlicherseits hatten sich taufen lassen, die Mutter hatte mit dem Judentum rein gar nichts gemein.“ Die berühmte und leicht amoralische Liebesgeschichte von Hessels Eltern ist mit „Jules und Jim“, dem Film von François Truffaut, Teil der Kulturgeschichte geworden.

Das Lebenswerk des Sohns von Franz Hessel als Widerstandskämpfer und Autor besteht weitgehend aus moralischen Lektionen. Politiker, die es vereinnahmen wollen, sollten sich an die Gesetze der Geschichte und die demokratischen Spielregeln halten.