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Rekord-Pechvogel Roy Sullivan: Wenn der Blitz dich acht Mal trifft

Foto: Anonymous/ AP

Rekord-Pechvogel Roy Sullivan Wenn der Blitz dich acht Mal trifft

Man nannte ihn "den Blitzableiter von Virginia": Kein Mensch wurde öfter von Stromstößen aus dem Himmel heimgesucht als der Amerikaner Roy Sullivan. Achtmal durchzuckte ihn ein Blitz, achtmal überlebte er. Die Umstände seines Todes 1983 hingegen blieben ebenso mysteriös wie seine einzigartige Pechsträhne.

Dieses Mal würde es ihn nicht erwischen! Roy Sullivan trat das Gaspedal durch, als er am 7. August 1973 den Skyline Drive entlang raste. Tausende Touristen bezahlen Jahr für Jahr Eintritt, um die Aussicht auf die Blue Ridge Mountains genießen zu dürfen. Sullivan aber, ein wettergegerbter Naturpark-Ranger Anfang Sechzig, hatte keine Augen für die sanften Hänge und Wälder des Shenandoah-Nationalparks. Seine Blicke hingen am Rückspiegel - und der dunklen Gewitterwolke, die ihm zielstrebig zu folgen schien.

Sullivan hatte von dieser Situation geträumt, bereits ein Jahr zuvor. Kurz nach seinem fünften Blitzschlag. Aber anders als in seinem Traum sah es nun so aus, als würde er davonkommen: Der Himmel über ihm klarte auf. Als er in sicherer Entfernung von der Wolke war, wagte er anzuhalten und auszusteigen.

Der Lichtbogen, der in diesem Augenblick in seinen Körper einschlug, katapultierte einen seiner Schuhe weg, bevor er aus seinem Fuß in den Boden zuckte. "Ich konnte buchstäblich den Blitz aus der Wolke schießen sehen - und er kam genau auf mich zu", zitierte die "Washington Post" den Unglücksraben 2013.

Roy Sullivan, auch als "Blitzableiter von Virginia" bekannt, dürfte zu den unglückseligsten Rekordhaltern gehören, die je im Guinness-Buch landeten: Kein Mensch wurde öfter vom Blitz getroffen als der Mann, dessen Pech wohl nur von seinem Optimismus übertroffen wurde. Jedenfalls war er auch nach seinem sechsten Blitzschlag 1973 guter Dinge: Ein Traum sagte ihm, dass seine Pechsträhne nun vorbei sei. Doch Sullivan irrte sich gründlich.

"Mein Stiefel war voll Blut"

Roy war am 7. Februar 1912 als viertes Kind von Arthur und Ida Bell Shifflett Sullivan in Greene County, Virginia, auf die Welt gekommen. Er wuchs naturverbunden auf und entdeckte früh seine Affinität zu Blitzen. Oder genauer: die Affinität von Blitzen zu ihm. Eines Tages schnitt er mit seinem Vater Weizen, als plötzlich ein gleißend heller Lichtbogen aus den Wolken hervorzuckte. Der Blitz schlug in die Klinge seiner Sense ein, fuhr von dort in den Boden - und setzte das Feld in Flammen.

Das Erlebnis hielt den jungen Sullivan nicht davon ab, weiter die meiste Zeit in der Natur zu verbringen. Bald kannte er die Wälder seiner Heimat wie seine Westentasche. Und so wurde er mit 28 Jahren als Ranger im Shenandoah-Nationalpark eingestellt. Dass das Berggebiet in dem Park häufig von Gewittern heimgesucht wird, selbst wenn im Umland Sonnenschein herrscht, schien ihn nicht zu beunruhigen. Vielleicht wähnte er sich nach seiner ersten Begegnung mit einem Blitz statistisch vor einem zweiten Schlag gefeit.

Ein verhängnisvoller Irrtum, wie Sullivan sich 1972 in der Tageszeitung "The Ledger" erinnerte: Im April 1942 sei er allein auf den Millers-Head-Feuerturm geklettert, als ein Gewitter losbrach. "Der Turm war noch neu", so Sullivan, "und sie hatten noch keine Blitzableiter installiert." In wenigen Augenblicken seien sieben oder acht Blitze eingeschlagen. "Überall war Feuer, also nahm ich die Beine in die Hand. Ich kam nur ein paar Meter vom Turm weg - und dann, bum!" Der Blitz brannte einen Streifen sein rechtes Bein hinunter und riss Teile seines großen Zehs ab. "Mein Stiefel war voll Blut", sagt Sullivan, "es lief aus einem Loch in meiner Sohle." Ein Arzt und Parkleiter R. Taylor Hoskins dokumentierten den Unfall - der deshalb auch als Sullivans erster "offizieller" Blitzschlag gilt.

Vom Unglücksraben zum Medienliebling

Es blieb nicht der letzte: Im Juli 1969 fuhr er den Skyline Drive entlang, als am Straßenrand ein Blitz in zwei Bäume einschlug und zu einem Eukalyptusbaum auf der anderen Straßenseite übersprang. Direkt dazwischen befand sich just in diesem Moment Sullivans Auto. Eigentlich hätte es als faradayscher Käfig fungieren und ihn abschirmen müssen - wenn nicht beide Fenster offen gewesen wären. Der Blitz verkohlte Sullivans Armbanduhr und brannte ihm alle Haare bis zur Hutkrempe weg. Er verlor das Bewusstsein, rollte aus und kam kurz vor einem Abgrund zum Stehen.

Ein Jahr später, im Juli 1970, arbeitete er im Garten, als ein Blitz in den Netztransformator neben seinem Wohnwagen einschlug, von dort in seine linke Schulter schoss und ihn durch die Luft schleuderte. Nur einen Monat später wurde in dem Garten auch Sullivans Ehefrau Patricia vom Blitz getroffen. Wurde seine Pechsträhne auch für seine Umwelt zur Gefahr?

"Natürlich fingen die Leute an, mich zu meiden", so Sullivan in John S. Friedmans "Out of the Blue: A History Of Lightning". "Einmal lief ich mit dem leitenden Ranger durch den Park, als weit weg ein Blitz zuckte. Er sagte nur: 'Bis später!'" Auch Sullivan schien allmählich daran zu glauben: Wenn ein Gewitter aufzog, riet er seinen Kollegen, von ihm fernzubleiben.

Es half natürlich auch wenig, dass mit seinem fünften Blitzschlag 1972 die Medien auf ihn aufmerksam wurden. Sullivan arbeitete im Kassenhaus des Loft-Mountain-Campingplatzes, als ein Blitz mit gewaltigem Donner in das Häuschen einschlug. "Als das Pfeifen in meinen Ohren verstummte", so Sullivan, "hörte ich ein Brutzeln. Es waren meine Haare, die Feuer gefangen hatten." Er erstickte die Flammen mit seiner Jacke und kam wieder leichtverletzt davon.

Ross und Norris McWhirter, Herausgeber des "Guinness-Buchs der Rekorde", hörten von Sullivans Schicksal. Sie fügten ihn der 1972er-Ausgabe hinzu - als den Menschen, der am häufigsten vom Blitz getroffen wurde. Sullivan wurde eine kleine Berühmtheit: Wenig später interviewte ihn der britische Starreporter David Frost, Sullivan trat in der US-Fernsehshow "To Tell The Truth" auf. Dass sein Schicksal mitunter peinlich vorgeführt wurde - etwa, als er sich 1980 in der US-Fernsehsendung "That's Incredible!" mit dem Satz "Ein Blitz setzte meine Unterwäsche in Brand!" vorstellen musste - schien ihn nicht zu stören.

Plötzlicher Schwefelgeruch

Sein Pech blieb ihm treu: 1973, als Sullivan auf dem Skyline Drive vergeblich versuchte, der anhänglichen Regenwolke davonzufahren, konnte er seinen Rekord auf fünf verifizierte Blitzschläge aufstocken. Und am 5. Juni 1976, als er gerade einen Zeltplatz für Wanderer überprüfen wollte, auf sechs.

Auch wenn er stets glimpflich davongekommen war - nur fünf Monate später beschloss der 64-Jährige, seinem Beruf, bei dem er sich ständig bei Wind und Wetter im Freien befand, den Rücken zu kehren, und ging in Rente. Mit seiner Frau zog er in eine kleine Gemeinde, um im Wohnwagen ein einfaches Leben zu führen. Doch bereits der Name seiner Wahlheimat war ein schlechtes Omen: Dooms ("Verhängnisse").

Sullivan ging auf Nummer sicher: An jeder Ecke seines Wohnwagens brachte er dicken Kupferdraht an, dessen Ende zwei Meter in die Erde reichte, um jeden Blitz, der sich in seine Nähe verirren sollte, abzufangen. Und um wirklich allem vorzubeugen, versah er auch gleich seine Antenne, den Stromzähler und sechs der größten Bäume ringsherum mit Blitzableitern.

Sein Plan hatte nur einen Schwachpunkt: Natürlich hielt er sich nicht ständig in der Nähe seines Wagens auf. Und so dümpelte er am 25. Juni 1977, eine Angel in der Hand, auf einem See, als er Schwefelgeruch bemerkte und spürte, wie sich die Haare auf seinen Armen aufrichteten. Einen Augenblick später schoss ein Blitz in seinen Kopf und schleuderte Sullivan aus dem Boot. Benommen taumelte er in seiner verkohlten Kleidung zum Wagen - wo ihn zu allem Überfluss ein Schwarzbär erwartete, der sich an seinen gefangenen Forellen gütlich tun wollte. Der wenig zimperliche Ex-Ranger vertrieb das Tier mit einem Ast, stieg ins Auto und fuhr ins Krankenhaus.

Mysteriöser Tod

So viel Glück im Unglück Sullivan auch gehabt hatte, sein Leben fand schließlich ein tragisches Ende: Was acht Blitzschläge nicht fertiggebracht hatten, erledigte 1983 eine Kugel vom Kaliber 22. Am frühen Morgen des 28. September, so die Rekonstruktion der Polizei, lag Sullivan neben seiner Frau Patricia im Bett, hielt sich eine Pistole ans rechte Ohr und drückte ab.

Offiziell war es Suizid, auch wenn das Motiv unklar blieb: Angst vor weiteren Blitzschlägen? Oder, wie gemunkelt wurde, Liebeskummer? Und wie konnte es sein, dass Sullivans Frau seinen Tod erst Stunden später bemerkt haben wollte - obwohl sie direkt neben ihm gelegen hatte? Bis heute kursieren düstere Gerüchte in der Gegend, Gerüchte über eine unglückliche Ehe zwischen Sullivan und seiner 30 Jahre jüngeren Frau. Gerüchte, dass es kein Selbstmord war. Die Hintergründe seines Todes blieben letztendlich ebenso mysteriös wie die Pechsträhne, die ihn sein Leben lang verfolgt hatte.

Roy Sullivan wurde am 1. Oktober 1983 in Grottoes, Virginia, beigesetzt. Auf seinem Grabstein steht die Inschrift: "Wir haben dich geliebt - aber Gott liebte dich noch mehr". Das Erstaunlichste an der Geschichte des "Blitzableiters von Virginia" bleibt vielleicht, dass der gläubige Baptist sich nie gewundert zu haben scheint, dass der Allmächtige ihn immer wieder niederstreckte. "Ich glaube nicht, dass Gott hinter mir her ist", hatte Sullivan 1972 einem Reporter gesagt, "Wenn er es wäre, hätte schon der erste Blitzschlag gereicht."

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