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Ich, gottlos, aber gläubig

Wolf Biermann erklärt in einem Brief an eine Freundin, warum er glaubt, dass junge Menschen in der Schule viel über die großen Religionen der Welt erfahren sollen

Liebe Suzanna, Du fragst nach meiner Meinung im Streit um Ethikunterricht oder Religionsunterricht an den Berliner Schulen, wenn ich richtig verstehe, geht es um die Frage Wahlfach oder Pflichtfach. Ich habe darüber noch nicht genug nachgedacht, und deshalb kann ich mich nicht so prägnant fassen, wie Du es als ein schlagkräftiges Statement des Berliner Ehrenbürgers Wolf Biermann brauchen könntest.

Ich selbst kann an diesen oder jenen Gott nicht glauben. Aber das ist für mich kein Grund, über Gläubige zu spotten. Meine eigene gottlose Gläubigkeit ist wohl noch weniger vernünftig zu begründen. Mein Glaube wurde oft widerlegt, wurde enttäuscht, ja sogar ad absurdum geführt und hat sich trotz alledem unter Schmerzen immer wieder neu aufgerappelt. Du weiß es ja: Ich glaube an die Menschen.

Also erst mal eins nach dem andern: Ich möchte, dass Schulkinder, die jetzt in Deutschland aufwachsen, nicht indoktriniert werden oder gar missioniert mit irgendeinem allein selig machenden Glauben. Die Trennung von Staat und Kirche ist eine kostbare Errungenschaft. Aber mit einem anmaßend intoleranten Atheismus sollen die Kinder stattdessen auch nicht deformiert werden. Darauf könnte man sich doch erst mal einigen.

Ich möchte aber, dass die Kinder, so wie sie Erdkunde und Biologie und Mathematik und Schreiben und Lesen und Musik lernen, auch die Chance haben, die Religionen kennenzulernen, mit denen sie im Laufe ihres Lebens direkt oder indirekt zu tun haben werden. Hier in Europa haben wir die beiden Variationen des Christentums im Angebot. Die Schüler sollten am Ende begreifen, was Katholizismus und Protestantismus eint, aber auch das, was sie trennt. Ich möchte, dass die Kinder wissen, aus welcher Religion diese beiden Spielarten sich entwickelt haben, und das ist nun mal die ältere Religion der Juden.

Die Kinder in Deutschland sollten mithilfe des Lehrers erfahren, warum der geniale Schöpfer der deutschen Sprache, Martin Luther, gegen Ende seines Lebens immer fanatischer ein Judenfresser geworden ist. Und ich möchte, dass die Kinder lernen, was die viel jüngere Religion der Muslime bedeutet, was sie verbindet und was sie trennt von Juden, Protestanten und Katholiken. In der christlich-jüdischen Tradition steckt in den Urtexten genauso grauenhafte Barbarei wie im Islam, nicht etwa nur die mörderische Frauenfeindlichkeit. Der Hauptunterschied: Die Christen hatten Voltaire und Kant, die Juden Moses Mendelssohn. Toleranz kann nur aus Kenntnissen kommen. Die sanfte Gewalt der Vernunft muss den brutalen Glauben entblöden. Die Kinder sollen auf diese Weise Respekt entwickeln, sie sollen den menschlichen guten Kern würdigen können, der rational in jeder Religionsauffassung steckt. Diese humane Substanz aller Religionen müssen die jungen Leute kennen und anerkennen, schon damit sie im Streit der Welt Partei ergreifen können, wenn im Namen irgendeiner Religion radikale Machtmenschen fromm heucheln, frech lügen oder Andersdenkende unterdrücken, foltern und abschlachten.

Egal, in welcher Kultur sie erzogen werden, die Schüler sollen durchschauen können, dass jemand, der im Namen seiner Religion mordet, ein Mörder ist: auch gemessen an den Normen seiner eigenen Religion. Die Ethik ist der gemeinsame große Nenner aller moralischen Rechenarten. Also ist die momentane Streitfrage Ethikunterricht oder Religionsunterricht an Schulen irreführend, eine ideologische Scheinfrage. Und wenn ein Ethiklehrer genügend Witz und gute Laune hat, dann könnte er nach der systematischen Darstellung aller relevanten Religionen auch noch eine Stunde extra liefern: etwa die gescheiterte Religion des Kommunismus. Erst im real existierenden Sozialismus der DDR konnte ich begreifen, dass unser Kommunismusglaube das falsche Hoffen auf ein irdisches Paradies ist. Anders gesagt: Erst im kommunistischen Tierversuch an lebendigen Menschen konnten wir erkennen, dass die kindische Illusion einer Idylle des ewigen Friedens und die totalitäre Utopie einer Endlösung der sozialen Frage ein blutiger Irrweg ist.

Ich selbst versuche, ohne irgendwelche religiösen Krücken zu laufen, sei es auf allen vieren oder hüpfend auf einem Bein. Also möchte ich, dass die Schüler auch meine atheistische Religion lernen: die europäische Tradition der Aufklärung, die Geschichte der Renaissance, die Tradition des Humanismus, die Philosophie der Vernunft und bei dieser guten Gelegenheit noch gewarnt werden vor den Tücken der Wissenschaftsgläubigkeit, die man ja auch als eine Art Religion loben oder skeptisch verspotten könnte. Es ist nicht einfach, diese komplizierten Zusammenhänge einfach genug in die Schüler einer Grundschule reinzulöffeln. Aber gute Pädagogen können das sehr wohl. Meine Mutter Emma ist der Beweis. Sie war eine Arbeiterin, wenig höhere Bildung, hatte aber genügend Lebensklugheit, besaß die Gedankenschärfe und Treffsicherheit in der Sprache. Sie hat mir den Kern all dieser Überlegungen schon vor meiner Schulzeit beigebracht: Lessings "Nathan der Weise" im Kinderformat. Und die starken Lehrer, die ich im Leben fand, haben mir dasselbe immer noch einmal komplexer eingefüttert.

Liebe Suzanna, lies mal bei Gelegenheit eins der witzigsten Bücher Europas, die freche französische Satire über einen deutschen Gutmenschen Mitte des 18. Jahrhunderts, der frei nach Leibniz glaubt, er lebe in der besten aller möglichen Welten: "Candide - oder der Optimismus". Der große Aufklärer Voltaire lieferte darin das goldene Wort: "Il faut cultiver notre jardin". Ja ja, wenn man ihnen diesen Fünfwortesatz vor die Nase hält, dann nicken alle gebildeten Leute sofort, und die Skeptiker lächeln melancholisch. Erst wenn es konkret wird, kommen die Probleme. Es mangelt wahrscheinlich gar nicht am guten Willen der Pädagogen, nicht an demokratischen Absichten bei den Politikern. Aber an kultivierten Gärtnern, die wissen, was sie da im Schulgarten in die Kinderseelen reinpflanzen sollen.

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